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Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

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472 BLÖSER<br />

4.2 Vorwurf des fehlenden Leitbildes<br />

Wenden <strong>wir</strong> uns dem Einwand zu, dass ideale Theorie keine hilfreichen Leitlinien für nichtideale<br />

Umstände liefern kann. Das folgende Dilemma zeigt, dass dieser Vorwurf zumindest<br />

teilweise berechtigt ist. Der Einfluss der Familie auf natürliche Fähigkeiten und Motivation<br />

lässt zwei Möglichkeiten offen, um mit dem Problem der Chancengleichheit umzugehen:<br />

Entweder man strebt es an, den Einfluss der Familie auszugleichen, oder man versucht die<br />

Nachteile von Personen mit sozial schlechter gestellten Herkunftsfamilien zu kompensieren.<br />

Letzteres hieße dann, dass Chancengleichheit zwar nicht bzw. unvollkommen realisiert <strong>wir</strong>d,<br />

aber die schlechter Gestellten von den Bessergestellten profitieren können. In die Rich<strong>tun</strong>g<br />

des zweiten Vorschlags weist Rawls, indem er sagt:<br />

Hier ist das Differenzprinzip relevant, denn wenn ihm Genüge getan <strong>wir</strong>d, fällt es<br />

Menschen mit geringeren Chancen leichter, die von der Familie und sonstigen sozialen<br />

Bedingungen auferlegten Zwänge zu akzeptieren (GaF, 251).<br />

Das Dilemma besteht darin, dass <strong>bei</strong>de Möglichkeiten in Spannung zu jeweils einer<br />

Rawlsschen Annahme stehen: Der erste Vorschlag – den Einfluss der Familie zu verringern –<br />

läuft Gefahr, eine Einschränkung der Grundfreiheiten der Familie mit sich zu bringen, und<br />

dies widerspricht dem Vorrang des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes vor dem zweiten. Der<br />

zweite Vorschlag zielt darauf ab, Aspekten des Ausgleichs für Nachteile mehr Gewicht<br />

einzuräumen als der Herstellung von Chancengleichheit, und schwächt den Vorrang des<br />

Chancenprinzips vor dem Differenzprinzip.<br />

Die Unsicherheit bezüglich des letzten Punktes gesteht Rawls zu, wenn er sagt:<br />

Manche <strong>glauben</strong>, daß der lexikalische Vorrang des Grundsatzes der fairen<br />

Chancengleichheit vor dem Differenzprinzip zu ausgeprägt ist; eine abgeschwächte<br />

Vorrangstellung oder eine schwächere Form des Chancenprinzips seien besser und<br />

stünden im Grunde eher in Einklang mit manchen Grundgedanken der Konzeption der<br />

Gerechtigkeit als Fairneß. Derzeit weiß ich nicht, welche Lösung hier die beste ist, und<br />

damit möchte ich schlicht meine Unsicherheit zu Protokoll geben. Wie das<br />

Chancenprinzip bestimmt und gewichtet werden sollte, ist eine überaus schwierige<br />

Frage, und es kann durchaus sein, daß eine der genannten Alternativen besser ist (GaF,<br />

252, Anm. 44).<br />

Rawls räumt hier die Möglichkeit ein, dass das Differenzprinzip doch stärker gewichtet<br />

werden könnte, als es der Vorrang des Chancenprinzips unter idealen Umständen erlauben<br />

würde. Um zu verstehen, was <strong>bei</strong> der Frage der Rangordnung der Prinzipien auf dem Spiel<br />

steht, rekapitulieren <strong>wir</strong> kurz Rawls’ Gründe für den lexikalischen Vorrang 11 des<br />

Chancenprinzips vor dem Differenzprinzip.<br />

Eine Antwort im Rawlsschen Sinne stützt sich meines Erachtens erstens auf die Idee der<br />

moralischen Gleichheit der Personen, zweitens auf die politische Idee einer Gesellschaft, in<br />

der die als gleich aufgefassten Bürger auch in gleicher Weise sozial, politisch und ökonomisch<br />

teilhaben können, und drittens auf die Relevanz von Ämtern und Positionen für die<br />

Selbstach<strong>tun</strong>g.<br />

Der erste Punkt, die moralische Gleichheit der Personen, ist eng mit der Idee verknüpft, dass<br />

es nicht von Geburt an feststehen soll, ob ein Lebenslauf einer Person besser oder schlechter<br />

verläuft als der einer anderen. Wenn Personen moralisch gleich sind, dann sollten ihre<br />

Lebensaussichten sich nicht aufgrund von Faktoren (wie der sozialen Herkunft)<br />

unterscheiden, für die sie nichts können.<br />

11<br />

Dass ein Gerechtigkeitsprinzip lexikalischen Vorrang vor einem anderen hat, bedeutet, dass es nicht<br />

zugunsten einer Umsetzung des nachgeordneten Gerechtigkeitsprinzips verletzt werden darf. Ein<br />

Prinzip kommt erst dann zum Tragen, „wenn die ihm vorgeordneten entweder voll erfüllt oder nicht<br />

anwendbar sind“ (TdG, 62).

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