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Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

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CHANCENGLEICHHEIT IN DER BILDUNG BEI RAWLS 471<br />

wenn sich Menschen nicht an die Gerechtigkeitsgrundsätze halten, d.h. vollständige<br />

Konformität nicht gegeben ist. So befasst sich nicht-ideale Theorie mit der „Theorie der Strafe<br />

[...], des gerechten Krieges und der Kriegsdienstverweigerung, des zivilen Ungehorsams und<br />

des militanten Widerstands“ (TdG, 387). Der andere Fall, in dem nicht-ideale Theorie greift,<br />

ist der unverschuldeter ungünstiger Umstände, wie z.B. angesichts „natürlicher<br />

Beschränkungen und geschichtlicher Zufälligkeiten“ (TdG, 277f.).<br />

Das Problem der Realisierbarkeit von Chancengleichheit angesichts des familiären Einflusses<br />

ist offenkundig ein Problem für nicht-ideale Theorie im zweiten Sinn. Denn der soziale<br />

Einfluss der Familie, der faire Chancengleichheit unterläuft, hat nichts damit zu <strong>tun</strong>, dass sich<br />

Menschen nicht an Gerechtigkeitsgrundsätze halten, sondern gehört zu den „ungünstigen<br />

Bedingungen“, von denen ideale Theorie abstrahiert. 9<br />

Im Folgenden werde ich zeigen, inwiefern diese Abstraktion zu einem verzerrten Bild der<br />

Wirklichkeit <strong>bei</strong>trägt und inwiefern die Leitfunktion der idealen Theorie <strong>bei</strong> dem speziellen<br />

Problem der Chancengleichheit problematisch ist.<br />

4.1. Vorwurf der Verzerrung<br />

Die Abstraktion vom Einfluss der Familie führt zu einem verzerrten Bild der Wirklichkeit,<br />

insofern die Rede von natürlichen Fähigkeiten und natürlicher Leis<strong>tun</strong>gsbereitschaft und<br />

Motivation fälschlicher Weise als unproblematisch dargestellt <strong>wir</strong>d. Nur unter der Annahme,<br />

dass einige Menschen „von Natur aus“ in bestimmten Hinsichten talentierter sind als andere<br />

oder aufgrund ihres naturgegebenen Charakters eher bereit und motiviert sind, ihre<br />

Fähigkeiten zu entwickeln und einzusetzen, ist Rawls’ Chancenprinzip überzeugend. Denn<br />

nur unter dieser Annahme rechtfertigt das Chancenprinzip Ungleichheiten in den beruflichen<br />

Aussichten, indem es diese an die individuellen Entscheidungen der Personen bindet, wo<strong>bei</strong><br />

die Entscheidungen aufgrund von nahezu unveränderlichen natürlichen Gegebenheiten<br />

getroffen werden. Doch <strong>wir</strong>d die Abstraktion vom Einfluss der Familie fallen gelassen, ändert<br />

sich das Bild drastisch: Es <strong>wir</strong>d deutlich, dass die Erziehung und das Vorbild der Eltern so<br />

starken Einfluss auf die Entwicklung von Fähigkeiten der Kinder und deren Einstellung zum<br />

Lernen und Ar<strong>bei</strong>ten hat, dass der Anteil des „Natürlichen“ ins nahezu Unkenntliche<br />

zusammenschrumpft. Selbst wenn dies nicht „bis auf Null“ geschieht, führt doch die<br />

Berücksichtigung des familiären Einflusses dazu, mit viel größerer Vorsicht auf das Argument<br />

zurückzugreifen, eine Person sei eben begabter als eine andere und deshalb in einer besseren<br />

beruflichen Position. 10 Es fragt sich, ob das Chancenprinzip nicht sinnlos bzw. intrinsisch<br />

unerfüllbar <strong>wir</strong>d, wenn seine Anwendbarkeit es von einer idealisierten Annahme (der<br />

Existenz rein natürlicher Fähigkeiten) abhängt.<br />

Meines Erachtens trifft der Vorwurf der Verzerrung einen wahren Kern, ist aber nicht<br />

vernichtend für das Chancenprinzip, da die Annahme natürlicher Fähigkeiten nicht<br />

schlichtweg falsch zu sein scheint. Man kann davon ausgehen, dass es natürliche<br />

Unterschiede der Begabungen gibt. Chancengleichheit lässt sich daher weiterhin als<br />

Gleichheit der Aussichten <strong>bei</strong> gleicher Begabung verstehen. Die genannte Kritik sollte jedoch<br />

dazu führen, den Begriff der „natürlichen Fähigkeiten“ mit der gebotenen Vorsicht zu<br />

verwenden, was auf Grundlage der Idealtheorie nicht notwendig wäre.<br />

9<br />

Allerdings gehört das Problem der Chancengleichheit nicht zu den Fragen, die Rawls als Gegenstände<br />

der nicht-idealen Theorie aufzählt. Dazu gehört „unter anderem die Theorie der Strafe und der<br />

ausgleichenden Gerechtigkeit, des gerechten Krieges und der Kriegsdienstverweigerung, des zivilen<br />

Ungehorsams und des militanten Widerstands“ (TdG, 387).<br />

10<br />

Bourdieu und Passeron machen darauf aufmerksam, dass der Verweis auf „natürliche Begabung“<br />

„hypothetisch bleibt, solange sich der unterschiedliche schulische Erfolg auf andere Ursachen<br />

zurückführen läßt“ (Bourdieu/Passeron 1971, 40). Der Verweis auf natürliche Fähigkeiten birgt die<br />

Gefahr, die Bildungsunterschiede aufgrund sozialer Privilegien in Naturgegebenheiten umzudeuten und<br />

Ungleichheit auf diese Weise zu legitimieren (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, 45).

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