25.12.2013 Views

Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

SHOW MORE
SHOW LESS

You also want an ePaper? Increase the reach of your titles

YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.

470 BLÖSER<br />

nehmen, wie für Rawls die Frage nach der Realisierung von Chancengleichheit zu seiner<br />

Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie steht. Es ist Rawls’ idealer<br />

Theorie in neuerer Zeit vorgeworfen worden, dass sie aufgrund ihrer Abstraktionen ein<br />

verzerrtes Bild der Wirklichkeit liefert (Mills 2005) und keinen Leitfaden für drängende<br />

Gerechtigkeitsprobleme unter realen, d.h. „nicht-idealen“ Umständen zu bieten hat<br />

(„guidance critique“ 8 ). Ich möchte zunächst zeigen, dass diese Vorwürfe in Bezug auf das<br />

Problem der Chancengleichheit berechtigt sind, aber anschließend Rawls’ ideale Theorie in<br />

ergänzter Form verteidigen.<br />

Nach Rawls ist der Grund, warum Chancengleichheit (sowohl in Bezug auf Ämter und<br />

Positionen als auch auf Bildung) nur schwer zu realisieren ist, der Einfluss der Familie:<br />

[D]er Grundsatz der fairen Chancen [lässt sich, CB] nur unvollkommen durchführen,<br />

mindestens solange es die Familie in irgendeiner Form gibt. Der Grad der Entwicklung<br />

und Betätigung natürlicher Fähigkeiten hängt von allen möglichen gesellschaftlichen<br />

Verhältnissen und klassengebundenen Einstellungen ab. Selbst die Bereitschaft zum<br />

Einsatz, zur Bemühung, die im üblichen Sinne verdienstvoll ist, hängt noch von<br />

günstigen Familienumständen und gesellschaftlichen Verhältnissen ab (TdG, 94).<br />

Das ist eine ungünstige Prognose für das Chancenprinzip. Dieses fordert, dass jede Person<br />

unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dieselben Chancen (auf Bildung) haben soll. Die<br />

Faktoren, die laut Rawls legitimen Einfluss auf die Verteilung der Chancen nehmen <strong>dürfen</strong>,<br />

sind natürliche Fähigkeiten und Leis<strong>tun</strong>gsbereitschaft bzw. Motivation. Das Chancenprinzip<br />

geht jedoch davon aus, dass diese <strong>bei</strong>den Faktoren Variablen sind, die ihrerseits von der<br />

sozialen Herkunft unabhängig sind. Rawls meint nun, dass der Einfluss der Familie diese<br />

Unabhängigkeit untergräbt: Selbst die <strong>bei</strong>den Faktoren der natürlichen Fähigkeiten und<br />

Leis<strong>tun</strong>gsbereitschaft tragen durch den Einfluss der Familie auch den Stempel der sozialen<br />

Herkunft. In Bezug auf natürliche Fähigkeiten hängt die „Entwicklung und Betätigung“ dieser<br />

natürlichen Fähigkeiten vom Einfluss der Familie ab. Selbst unter der Annahme, dass es<br />

natürliche Anlagen für Fähigkeiten und Talente gibt, lässt sich im Allgemeinen kaum<br />

unterscheiden, welcher Anteil an einer Fähigkeit natürlich gegeben und welcher später<br />

entwickelt worden ist. Somit stellt die Tatsache, dass die Entwicklung einer Fähigkeit stark<br />

von sozialen Faktoren abhängig ist, einen gewichtigen Einwand gegen die Annahme dar, mit<br />

„natürlichen Fähigkeiten“ eine Variable gefunden zu haben, die von sozialer Herkunft<br />

unabhängig ist, sodass sie legitimen Einfluss auf die Verteilung von Chancen haben darf.<br />

Genau dasselbe gilt für die Variable der Leis<strong>tun</strong>gsbereitschaft bzw. Motivation.<br />

4. Das Problem der Chancengleichheit im Spiegel der Unterscheidung<br />

zwischen idealer und nicht-idealer Theorie<br />

Ich möchte im Folgenden aufzeigen, inwiefern das Problem der Realisierbarkeit von<br />

Chancengleichheit ein Problem für Rawls’ ideale Theorie darstellt. Dazu ist es nötig, die<br />

Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie zu skizzieren: Nach Rawls spaltet<br />

sich seine Theorie der Gerechtigkeit in zwei Teile auf, einen idealen und einen nicht-idealen<br />

(vgl. z.B. TdG, 25, 277f., 337, 387). Der ideale Teil enthält die Gerechtigkeitsgrundsätze für<br />

eine „wohlgeordnete Gesellschaft unter günstigen Umständen“, in der sich alle Bürger<br />

vollständig an die Prinzipien halten, d.h. „vollständige Konformität“ mit den<br />

Gerechtigkeitsgrundsätzen herrscht (TdG, 277). Im Gegensatz dazu beschäftigt sich nichtideale<br />

Theorie mit Grundsätzen „unter weniger günstigen Umständen“ (ebd.). Diese<br />

umfassen zwei verschiedene Arten von Umständen: Erstens greift nicht-ideale Theorie dann,<br />

8<br />

Vgl. für eine Darstellung der guidance critique Valentini 2009, die allerdings nicht in eigener Stimme<br />

diesen Vorwurf an Rawls erhebt.

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!