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Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

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466 BLÖSER<br />

1. <strong>Was</strong> heißt „faire Chancengleichheit“ <strong>bei</strong> Rawls?<br />

Das Prinzip der fairen Chancengleichheit (im folgenden auch kurz „Chancenprinzip“ genannt)<br />

spielt in Rawls’ zweitem Gerechtigkeitsgrundsatz eine zentrale Rolle. Dieser Grundsatz<br />

formuliert die Bedingungen für gerechtfertigte soziale und ökonomische Ungleichheiten in<br />

zwei Teilen: Das erste Teilprinzip ist das Chancenprinzip, das fordert, dass Ungleichheiten<br />

nur die Folge einer Verteilung von „Ämtern und Positionen“ sein <strong>dürfen</strong>, „die allen unter<br />

Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen“ (vgl. z.B. PL, 70f.). Das zweite<br />

Teilprinzip, das Differenzprinzip, besagt, dass sich die Ungleichheiten „zum größtmöglichen<br />

Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder aus<strong>wir</strong>ken“ (ebd.) müssen.<br />

Obwohl Rawls dem Chancenprinzip einen prominenten Stellenwert einräumt, äußert er sich<br />

nur an wenigen Stellen zu der Frage, worin die geforderte faire Chancengleichheit genauer<br />

besteht. Da es im Chancenprinzip um die Verteilung von Ämtern und Positionen geht, liegt es<br />

nahe, die Forderung nach Chancengleichheit als Forderung nach diskriminierungsfreien<br />

gesetzlichen Rechten auf berufliche Positionen zu verstehen. Tatsächlich ist es ein Bestandteil<br />

der fairen Chancengleichheit, den Zugang zu Ämtern und Positionen gesetzlich so zu regeln,<br />

dass keine Gruppen aus religiösen, ethnischen oder anderen Gründen prinzipiell<br />

ausgeschlossen oder benachteiligt werden. Doch diese Art der Chancengleichheit nennt Rawls<br />

bloß „formal“ (TdG, 92). <strong>Was</strong> der formalen Chancengleichheit nach Rawls fehlt, ist die<br />

Berücksichtigung von „natürlichen und gesellschaftlichen Zufälligkeiten“ (TdG, 92). Rawls<br />

bezieht sich damit auf die Tatsache, dass Menschen natürliche und gesellschaftliche<br />

Bedingungen als gegeben vorfinden, die ihre Chancen auf Ämter und Positionen beeinflussen,<br />

ohne dass sie selbst Einfluss auf diese Bedingungen nehmen können – in diesem Sinn sind<br />

die Faktoren „zufällig“. Die <strong>bei</strong>den Klassen von Zufälligkeiten sind (i) natürliche Fähigkeiten<br />

und Leis<strong>tun</strong>gsbereitschaft und (ii) die ökonomische Stellung der Familie.<br />

Über die formale Chancengleichheit hinaus hängen die realen Möglichkeiten einer Person<br />

stark davon ab, welche natürlichen Fähigkeiten und Talente sie hat und welche<br />

ökonomischen Möglichkeiten ihre Familie besitzt. Diese Abhängigkeit kritisiert Rawls als „die<br />

krasseste Ungerechtigkeit“ (TdG, 93), da die genannten Faktoren „unter moralischen<br />

Gesichtspunkten so willkürlich sind“ (ebd.). Unter Berücksichtigung dieser Überlegung<br />

gelangt Rawls zu folgender Bestimmung der fairen Chancengleichheit:<br />

In allen Teilen der Gesellschaft sollte es für ähnlich Begabte und Motivierte auch<br />

einigermaßen ähnliche kulturelle Möglichkeiten und Aufstiegschancen geben. Die<br />

Aussichten von Menschen mit gleichen Fähigkeiten und Motiven <strong>dürfen</strong> nicht von ihrer<br />

sozialen Schicht abhängen (TdG, 93). 3<br />

Diese Formulierung der Bedeu<strong>tun</strong>g fairer Chancengleichheit ist in einer Hinsicht<br />

überraschend. Nach Rawls gibt es, wie erwähnt, zwei Arten von Bedingungen – nämlich<br />

natürliche Fähigkeiten und ökonomische Stellung der Familie –, die gleichermaßen zufällig<br />

sind. So sagt Rawls:<br />

[W]enn man einmal mit dem Einfluß entweder gesellschaftlicher oder natürlicher<br />

Zufälle auf die Verteilung unzufrieden ist, dann <strong>wir</strong>d man durch Nachdenken dazu<br />

geführt, mit <strong>bei</strong>dem unzufrieden zu sein. Vom moralischen Gesichtspunkt aus<br />

erscheint <strong>bei</strong>des als gleich willkürlich (TdG, 95, H.v.m.).<br />

Eine Person kann weder etwas dafür, mit welchen natürlichen Fähigkeiten sie auf die Welt<br />

kommt, noch hat sie Einfluss darauf, in welche soziale Schicht sie hineingeboren <strong>wir</strong>d. Und<br />

dennoch besteht faire Chancengleichheit nach Rawls nicht darin, die Verteilung von Ämtern<br />

und Positionen unabhängig von <strong>bei</strong>den zufälligen Faktoren zu machen, sondern nur von<br />

sozial-ökonomischen Zufälligkeiten. Er stellt nicht die Maximalforderung, dass der Zugang zu<br />

3<br />

Diese Bestimmung behält Rawls in Gerechtigkeit als Fairness <strong>bei</strong> (vgl. GaF, 79).

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