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Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

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44 EL KASSAR<br />

Ginsborgs „anthropological claim“ (Ginsborg 2011b: 240) behauptet auch die Zuschreibung<br />

von primitiver Normativität zu Erwachsenen: primitive Normativität und entwickelte<br />

Normativität koexistieren <strong>bei</strong> Erwachsenen. Ginsborg argumentiert also für folgendes Bild:<br />

Wenn eine Erwachsene die Addiere-Zwei-Reihe mit ‚42‘ vervollständigt, dann tut sie das, weil<br />

sie die Regel Addiere-Zwei versteht und weil sie das primitive Bewusstsein hat, dass sie so<br />

handeln sollte. Dieses Bild führt jedoch zu meinem zweiten Einwand: <strong>Was</strong> ist <strong>bei</strong><br />

Erwachsenen überhaupt noch die Rolle von primitiver Normativität?<br />

Ginsborg ist sich bewusst, dass primitive Normativität <strong>bei</strong> Erwachsenen leicht zu übersehen<br />

ist, bietet aber sogar Erklärungen dafür an, wie es dazu kommen kann, dass man sie übersieht<br />

(ibid.: 429f.). Sie fügt hinzu, dass man primitive Normativität allerdings sichtbar machen<br />

könne, indem man sich die Aneignung von Begriffen und Regeln aus empirischer Erfahrung<br />

sowie ihre eigene Interpretation der kantischen Konzeption ästhetischer Urteile anschaue.<br />

Ginsborgs Kant-Interpretation kann hier nicht angemessen entwickelt, geschweige denn<br />

bewertet werden, doch die Grundidee soll knapp skizziert werden, da sich an dieser<br />

Argumentationsweise ein grundlegendes Problem für Ginsborgs Theorie primitiver<br />

Normativität manifestiert.<br />

Das von Kant diskutierte Standardproblem ästhetischer Urteile (z.B. ‚Dieses Bild ist schön.‘)<br />

ist, dass sie einerseits die Zustimmung anderer Beobachter verlangen, andererseits aber auf<br />

keine Eigenschaft hinweisen können, die die Zuschreibung der Schönheit rechtfertigen<br />

könnte. Die Lösung liegt laut Ginsborgs Kant-Interpretation in der Einführung einer<br />

primitiven Normativität, die nicht auf objektiv erkennbaren Objekt-Eigenschaften basiert.<br />

Das Subjekt hat das primitive Bewusstsein, dass sie das Objekt als schön bewerten sollte.<br />

Ginsborg folgert hieraus zweierlei: Erstens, das Bestehen primitiver Normativität in<br />

ästhetischen Urteilen; zweitens, die Koexistenz von entwickelter und primitiver Normativität<br />

<strong>bei</strong> Erwachsenen (Ginsborg 2006a).<br />

Jedoch kann die Position durch diese Ergänzung nicht rehabilitiert werden. Vielmehr<br />

schwächt sie die Koexistenz-These: Ginsborgs Argumente für die Koexistenz bestehen aus<br />

weiteren Theorien, die mit guten Gründen bezweifelbar sind. Sowohl Kants Analyse, als auch<br />

Ginsborg Interpretation ebendieser sind nicht unumstritten. 6 Gleiches gilt auch für ihre<br />

Konzeption der Aneignung von Begriffen aus der Wahrnehmung. 7 Der Verweis auf weitere<br />

Theorien schwächt die Koexistenz-These und auch den Begriff primitive Normativität an<br />

sich, da die Stärke <strong>bei</strong>der essentiell von der Gültigkeit der zugrundeliegenden Theorien<br />

abhängt und keine unabhängige Plausibilität hat. Primitive Normativität <strong>wir</strong>d damit zu einem<br />

bloßen theoretischen Postulat. 8<br />

Die ersten <strong>bei</strong>den Einwände bezogen sich auf den Begriff der primitiven Normativität. Der<br />

dritte Einwand kehrt nun zurück zur Funktion des Begriffs primitive Normativität in<br />

Ginsborgs Konzeption. Ginsborg führt den Begriff ein, um auf Kripkes Regelfolgen-Skeptiker<br />

zu antworten. Das regelgemäße Verhalten, das noch nicht auf dem Verständnis der Regel<br />

basiert, ist durch Dispositionen gerechtfertigt, die von einem Bewusstsein primitiver<br />

Normativität begleitet sind. Die Dispositionen gehören zur Natur der Spezies Mensch. Die<br />

6<br />

Siehe z.B. (Allison 2001).<br />

7<br />

Für einen Einblick siehe z.B. (Peacocke 2009).<br />

8<br />

Hinter diesem Einwand steht die folgende allgemeinere Diagnose: Ginsborgs Konzeption ist<br />

grundlegend falsch, da sie ein layer-cake model der Normativitätsentwicklung entfaltet: Die erste<br />

Schicht primitive Normativität <strong>wir</strong>d im Laufe der Entwicklung des Individuums durch eine weitere<br />

Schicht, entwickelte Normativität, ergänzt. Die Gegenthese, die in diesem Rahmen nicht weiter<br />

begründet werden kann, lautet, dass Normativität gemäß eines Ersetzungsbildes verstanden werden<br />

muss; die Aneignung von entwickelter Normativität geht mit der Ersetzung von primitiven Vorstufen<br />

einher. Weitere Implikationen, die sich aus unserer Verwendung des Begriffs layer-cake model ergeben<br />

könnten, müssen unbeachtet bleiben, da es hier nur um die strukturelle Ähnlichkeit zwischen den so<br />

kategorisierten Theorien geht. Für Kritik an verschiedenen Arten von layer-cake models, siehe z.B.<br />

(Sellars 1973) und (Lauer 2012).

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