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Chefärzte und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens

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Vom Halbgott in Weiss zum Unternehmer:<br />

<strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

DISSERTATION<br />

der Universität St.Gallen,<br />

Hochschule für Wirtschafts-,<br />

Rechts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

sowie Internationale Beziehungen (HSG)<br />

zur Erlangung der Würde einer<br />

Doktorin der Sozialwissenschaften<br />

vorgelegt von<br />

Tina-Maria Willner<br />

von<br />

Rüfenach (Aargau)<br />

Genehmigt auf Antrag der Herren<br />

Prof. Dr. Franz Schultheis<br />

<strong>und</strong><br />

Prof. Dr. Ullrich Bauer<br />

Dissertation Nr. 4055<br />

Difo-Druck GmbH, Bamberg 2012


Vom Halbgott in Weiss zum Unternehmer:<br />

<strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

DISSERTATION<br />

der Universität St.Gallen,<br />

Hochschule für Wirtschafts-,<br />

Rechts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

sowie Internationale Beziehungen (HSG)<br />

zur Erlangung der Würde einer<br />

Doktorin der Sozialwissenschaften<br />

vorgelegt von<br />

Tina-Maria Willner<br />

von<br />

Rüfenach (Aargau)<br />

Genehmigt auf Antrag der Herren<br />

Prof. Dr. Franz Schultheis<br />

<strong>und</strong><br />

Prof. Dr. Ullrich Bauer<br />

Dissertation Nr. 4055<br />

Difo-Druck GmbH, Bamberg 2012


Die Universität St.Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- <strong>und</strong> Sozialwissen-<br />

schaften sowie Internationale Beziehungen (HSG), gestattet hiermit <strong>die</strong> Drucklegung<br />

der vorliegenden Dissertation, ohne damit zu den darin ausgesprochenen Anschau-<br />

ungen Stellung zu nehmen.<br />

St.Gallen, den 29. Mai 2012<br />

Der Rektor:<br />

Prof. Dr. Thomas Bieger


Vorwort<br />

Eine Dissertation zu schreiben ist ein Privileg <strong>und</strong> eine grosse Herausforderung<br />

zugleich, <strong>die</strong> ich dank der Unterstützung meiner Familie, meines Partners <strong>und</strong><br />

der beiden Referenten annehmen konnte. Ihnen <strong>und</strong> den weiteren Menschen,<br />

<strong>die</strong> mich auf <strong>die</strong>sem Weg unterstützt haben, möchte ich zu Beginn <strong>die</strong>ser Arbeit<br />

einen grossen Dank aussprechen.<br />

Die vorliegende Dissertation ist dank eines Forschungsprojektes in Zusammen-<br />

arbeit mit dem soziologischen Seminar der Universität St.Gallen <strong>und</strong> einem<br />

Schweizer Kantonsspital entstanden. Das gemeinsame Projekt gab mir <strong>die</strong><br />

Chance mich von meiner beruflichen Tätigkeit in der Privatwirtschaft zu dis-<br />

tanzieren <strong>und</strong> mich drei Jahre auf meine Dissertation zu konzentrieren. Gleich-<br />

zeitig stand mir <strong>die</strong> Initiatorin <strong>des</strong> Projektes <strong>und</strong> Chefärztin am besagten Kan-<br />

tonsspital als Expertin jederzeit hilfsbereit <strong>und</strong> beratend zur Seite.<br />

Professor Franz Schultheis möchte ich meinen tiefen Dank aussprechen, da er<br />

als Referent <strong>und</strong> in seiner Funktion als Ordinarius <strong>des</strong> Soziologischen Seminars<br />

der Universität St.Gallen, aber auch als Mensch <strong>und</strong> Zuhörer, stets bereit war<br />

meine Arbeit kritisch zu hinterfragen, meine Fragen zu soziologisch <strong>und</strong> ethno-<br />

logisch relevanten Themen zu beantworten, mir den Zugang ins Feld ermög-<br />

lichte <strong>und</strong> in mir <strong>die</strong> Faszination für <strong>die</strong> Soziologie <strong>und</strong> <strong>die</strong> explorative Sozial-<br />

forschung geweckt hat. Ein Schritt, der sowohl meine akademische Laufbahn<br />

als auch meinen persönlichen Lebensweg massgeblich geprägt hat. Professor<br />

Franz Schultheis stand mir unermüdlich mit Rat zur Seite, schärfte meinen Blick<br />

für gesellschaftliche <strong>und</strong> soziale Ungleichheiten <strong>und</strong> inspirierte mich zu einer<br />

objektiv-kritischen Haltung.<br />

Mein Dank gebührt auch Professor Ullrich Bauer, der <strong>die</strong>se Arbeit als Korrefe-<br />

rent begleitet hat. Durch seine Forschung im Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong><br />

insbesondere über den Krankenhaussektor <strong>und</strong> Pflegebereich konnte er wesent-<br />

liche <strong>und</strong> höchst relevante Forschungsergebnisse erzielen, an welche ich hof-<br />

fentlich mit der folgenden Dissertation anschliessen kann.<br />

An <strong>die</strong>ser Stelle möchte ich auch der Chefärztin danken, da sie mir durch ihr<br />

Renommee <strong>und</strong> ihre hohe fachliche Kompetenz Türen öffnete, <strong>die</strong> mir ohne sie<br />

verschlossen geblieben wären, wodurch ein privilegierter Zugang ins Feld <strong>und</strong><br />

zu den Interviewpartnern überhaupt ermöglicht wurde. Gerne möchte ich auch<br />

v


all jenen Ärzten, <strong>die</strong> mir Rede <strong>und</strong> Antwort standen, <strong>die</strong> mir einen tiefen Ein-<br />

blick in ihren Berufsalltag gewährten <strong>und</strong> mir ihre persönlichen Sichtweisen auf<br />

auserlesene Themen zugänglich gemacht haben, einen grossen Dank ausspre-<br />

chen.<br />

Esther Kobler <strong>und</strong> Alice Grünfelder, <strong>die</strong> meine Doktorarbeit minutiös lektoriert<br />

haben, gebührt ein grosser Dank. Die Zusammenarbeit mit Esther Kobler be-<br />

ruht auf einer langjährigen <strong>und</strong> schönen Fre<strong>und</strong>schaft.<br />

Diese Dissertation verdanke ich der Unterstützung meiner Familie <strong>und</strong> meines<br />

Partners, Sebastian Sturm, <strong>die</strong> mir unermüdlich mit Ihrer Liebe <strong>und</strong> Zuversicht<br />

zur Seite standen, <strong>und</strong> Professor Franz Schultheis, der mich beständig ermutig-<br />

te <strong>und</strong> förderte.<br />

Meiner Familie <strong>und</strong> meinem Partner widme ich <strong>die</strong>se Dissertation, da sie mich<br />

stets vorbehaltlos unterstützt haben.<br />

Im Juni 2012<br />

Tina-Maria Willner<br />

vi


Inhaltsverzeichnis<br />

VORWORT V<br />

INHALTSVERZEICHNIS VII<br />

ABBILDUNGSVERZEICHNIS X<br />

TABELLENVERZEICHNIS XI<br />

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS XII<br />

ZUSAMMENFASSUNG XV<br />

ABSTRACT XVII<br />

1 EINFÜHRUNG IN DAS THEMA 1<br />

1.1 EINLEITUNG 1<br />

2 TRANSFORMATION – ÖKONOMISIERUNG – ENTZAUBERUNG 19<br />

2.1 FELDÖFFNUNG 19<br />

2.1.1 THEORETISCHE VERORTUNG IN DER MEDIZIN- UND GESUNDHEITSSOZIOLOGIE 23<br />

2.1.2 AKTUELLE DISKURSE ZUR GESUNDHEITSÖKONOMIE 31<br />

2.2 DIE FELDTHEORIE BOURDIEUS – IMPLIKATION DER MAKROEBENE 39<br />

2.2.1 DIE KONSTITUTIVEN PFEILER DES SCHWEIZER GESUNDHEITSWESENS 49<br />

2.2.1.1 Der Föderalismus 49<br />

2.2.1.2 Das Sozialversicherungssystem 51<br />

2.2.1.3 Das Krankenversicherungsgesetz 53<br />

2.3 TRANSFORMATIONSPROZESSE − MESO- UND MIKROEBENE 60<br />

2.3.1 MESOEBENE − ÖFFENTLICHE UND PRIVATE KRANKENHÄUSER 64<br />

2.3.1.1 Der Krankenhaussektor 64<br />

2.3.1.2 Das Privatspital 74<br />

2.3.2 MIKROEBENE − DIE ÄRZTESCHAFT 79<br />

2.4 EINE THEORIEGELEITETE ANNÄHERUNG AN DIE TRANSFORMATIONSPROZESSE 98<br />

2.4.1 GESUNDHEIT − VERMARKTBAR, HANDELBAR, KÄUFLICH 98<br />

2.4.2 PUBLIC HEALTH, NEW PUBLIC HEALTH UND PUBLIC HEALTH ETHIK 108<br />

2.4.3 DRG − DIE EINFÜHRUNG DER NEUEN SPITALFINANZIERUNG IN DER SCHWEIZ 113<br />

2.4.3.1 Auswirkungen der DRGs auf <strong>die</strong> Ärzteschaft − empirische Erkenntnisse 126<br />

3 FORSCHUNGSKONZEPT 131<br />

3.1 FORSCHUNGSANSATZ 132<br />

3.1.1 QUALITATIVE VERSUS QUANTITATIVE SOZIALFORSCHUNG 134<br />

3.1.2 DIE AUFTRAGSFORSCHUNG 138<br />

3.2 QUALITATIVE EXPLORATIONSPHASE 144<br />

3.2.1 EPISTEMOLOGISCHE VERORTUNG DER GROUNDED THEORY 149<br />

3.2.2 DATENERHEBUNG UND UNTERSUCHUNGSSAMPLE 152<br />

vii


3.2.3 DATENAUSWERTUNG 162<br />

3.2.3.1 Der Stellenwert theoretischen Vorwissens 167<br />

3.2.3.2 Offenes Ko<strong>die</strong>ren 169<br />

3.2.3.3 Axiales Ko<strong>die</strong>ren 170<br />

3.2.3.4 Selektives Ko<strong>die</strong>ren 173<br />

3.2.4 GÜTEKRITERIEN 174<br />

4 LEBENSWELTEN 179<br />

4.1 BEAT U. − „... ENTWEDER DURCH DAS GELD ODER DIE MACHT MOTIVIERT.“ 179<br />

4.1.1 DER STAYER − PORTRÄT EINES CHEFARZTES 179<br />

4.1.2 IM GESPRÄCH MIT BEAT U. − ARZT AM KANTONSSPITAL 203<br />

4.2 BERNARD S. − „MÖGLICHST SCHNELL UND MÖGLICHST VIEL ...“ 230<br />

4.2.1 DER RÜCKKEHRER − PORTRÄT EINES LEITENDEN ARZTES 230<br />

4.2.2 IM GESPRÄCH MIT BERNARD S. − ARZT AM KANTONSSPITAL 241<br />

4.3 XAVIER R. − „... ES SPIELT EINE DOMINANTE ROLLE, GELD UND MACHT.“ 261<br />

4.3.1 DER LEAVER − PORTRÄT EINES EHEMALIGEN CHEFARZTES 261<br />

4.3.2 IM GESPRÄCH MIT XAVIER R. − ARZT AM PRIVATSPITAL 281<br />

4.4 LOUIS B. − „... DIE MÜSSEN DAS BUTTERBROT ESSEN“ 318<br />

4.4.1 DER CEO − PORTRÄT EINES CEO EINER PRIVATSPITALGRUPPE 318<br />

4.4.2 IM GESPRÄCH MIT LOUIS B. − DEM CEO UND ARZT 349<br />

5 ENTZAUBERUNG 379<br />

5.1 BIOGRAPHISCHE FLUGBAHNEN UND PROFILE DER PROBANDEN 396<br />

5.1.1 DIE SOZIALE HERKUNFT DER PROBANDEN 402<br />

5.1.2 DIE BERUFLICHE LAUFBAHN – KARRIEREN UND IHR PREIS 421<br />

5.1.2.1 Der Karriereverlauf <strong>und</strong> seine Etappen 428<br />

5.1.2.2 Karrierebrüche <strong>und</strong> Entweihungen 432<br />

5.1.2.3 Die Etappen der Konsekration <strong>und</strong> ihr institutioneller Rahmen 451<br />

5.2 SOZIALE STRUKTUREN DER ARBEITSWELT 472<br />

5.2.1 HIERARCHIEN – ANGLEICHUNGEN UND DIFFERENZEN 474<br />

5.2.1.1 Die Herrschaft der Ökonomen 486<br />

5.2.1.2 Privatspital versus öffentliches Spital 492<br />

5.2.2 ROLLENVERTEILUNG – MANAGER VERSUS HUMANMEDIZINER 505<br />

5.2.3 ARZT-PATIENTEN-VERHÄLTNIS – VOM PATIENTEN ZUM KUNDEN 518<br />

5.2.3.1 K<strong>und</strong>enbeziehung, K<strong>und</strong>enakquise versus Patientenbetreuung 519<br />

5.2.3.2 K<strong>und</strong>enselektion versus Gr<strong>und</strong>versorgung 522<br />

5.2.3.3 Ganzheitlichkeit versus Zumutbarkeit ärztlicher Leistungen 530<br />

5.2.3.4 Der mündige Patient 543<br />

5.3 SPANNUNGSVERHÄLTNIS DER ÄRZTLICHEN ARBEITSWELT 552<br />

5.3.1 DEPROFESSIONALISIERUNG UND/ODER PROFESSIONALISIERUNG 552<br />

5.3.1.1 (De)Professionalisierung durch <strong>Ökonomisierung</strong> 556<br />

5.3.2 JOB, BERUF ODER BERUFUNG 571<br />

5.3.2.1 Die Feminisierung 575<br />

viii


5.3.2.2 Die Work-Life-Balance 579<br />

5.3.2.3 Die Altersguillotine 588<br />

5.3.3 GEHALTSSTRUKTUREN 592<br />

5.3.3.1 Die verschleierte Zahl 606<br />

5.3.3.2 Der Markt als Orientierungsrahmen 612<br />

6 ÖKONOMISIERUNG: ZUR DYNAMIK DES WANDELS VON ARBEITSWELT UND<br />

HABITUS DES ARZTES 625<br />

6.1 KOMMERZIALISIERUNG DES GESUNDHEITSWESENS UND SEINES GUTES „GESUNDHEIT“ 634<br />

6.2 ÄRZTLICHE DENK- UND HANDLUNGSSCHEMATA: ZWISCHEN HUMANISMUS UND<br />

ENTREPRENEURSHIP 643<br />

LITERATURVERZEICHNIS 655<br />

APPENDIX A: INTERVIEWLEITFADEN UND TRANSKRIPTIONSREGELN 677<br />

APPENDIX B: AUSTRITTE AUS DREI KANTONSSPITÄLERN VON 1998-2008 684<br />

ix


Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildung 1: Ebenen der Versorgungssteuerung ....................................................................... 62<br />

Abbildung 2: AHV-pflichtiges Einkommen aller in freier Praxis tätigen Ärzte 2006 ............ 98<br />

Abbildung 3: Anteile der Männer <strong>und</strong> Frauen mit guter bis sehr guter wahrgenommener<br />

Ges<strong>und</strong>heit ...................................................................................................................................... 101<br />

Abbildung 4: Kosten <strong>und</strong> Finanzierung von Versicherten (allg., HP, P) in öffentlichen,<br />

öffentlich subventionierten <strong>und</strong> privaten Spitälern .................................................................. 117<br />

Abbildung 5: Finanzierung der Leistungen öffentlicher Spitäler <strong>und</strong> privater Spitäler ...... 122<br />

Abbildung 6: Finanzierung der Leistungen öffentlicher Spitäler <strong>und</strong> privater Spitäler nach<br />

Einführung der DRG ..................................................................................................................... 124<br />

Abbildung 7: Genese formaler Theorien nach Glaser <strong>und</strong> Strauss ......................................... 149<br />

Abbildung 8: Axiales Ko<strong>die</strong>ren am Beispiel Loyalität gegenüber dem öffentlichen<br />

Spitalwesen <strong>und</strong> Ausführung von administrativen <strong>und</strong> nicht-ärztlichen Tätigkeiten ........ 172<br />

x


Tabellenverzeichnis<br />

Tabelle 1: Jährliche Zunahme <strong>des</strong> Bruttoinlandprodukts <strong>und</strong> der Ges<strong>und</strong>heitsausgaben im<br />

Mittel der Jahre 1980 bis 2003 ......................................................................................................... 37<br />

Tabelle 2: Kompetenzen <strong>und</strong> Aufgaben <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es .................................................................. 50<br />

Tabelle 3: Kompetenzen <strong>und</strong> Aufgaben der Kantone ................................................................. 51<br />

Tabelle 4: Anzahl Krankenhäuser für allgemeine Pflege <strong>und</strong> Spezialkliniken 2001/2005/2008<br />

............................................................................................................................................................ 67<br />

Tabelle 5: Krankenhäuser nach rechts-wirtschaftlichem Status ................................................ 68<br />

Tabelle 6: Anzahl Beschäftigte im Vollzeitäquivalent 2004 & 2008 .......................................... 68<br />

Tabelle 7: Case-Mix-Index brutto nach Krankenhaustyp 2008 .................................................. 70<br />

Tabelle 8: Medizinische <strong>und</strong> ärztliche Leistung an der Hirslanden Bern ................................ 77<br />

Tabelle 9: Pflege Leistungen an der Hirslanden Bern ................................................................. 77<br />

Tabelle 10: Vergleich zwischen quantitativer <strong>und</strong> qualitativer Sozialforschung .................. 135<br />

Tabelle 11: Merkmale der Differenzierung zur qualitativen Sozialforschung ...................... 136<br />

Tabelle 12: Untersuchungssample – Interviewpartner aus Kantonsspitälern <strong>und</strong><br />

Privatspitälern ................................................................................................................................ 156<br />

Tabelle 13: Anzahl Austritte der <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leitenden Ärzte <strong>des</strong> Kantonsspitals A inkl.<br />

Kündigungen, Pensionierungen <strong>und</strong> befristete Arbeitsverhältnisse...................................... 685<br />

Tabelle 14: Anzahl Austritte der <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leitenden Ärzte <strong>des</strong> Kantonsspitals B inkl.<br />

Kündigungen, Pensionierungen <strong>und</strong> befristete Arbeitsverhältnisse...................................... 686<br />

Tabelle 15: Anzahl Austritte der <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leitenden Ärzte <strong>des</strong> Kantonsspitals C inkl.<br />

Kündigungen, Pensionierungen <strong>und</strong> befristete Arbeitsverhältnisse...................................... 688<br />

xi


Abkürzungsverzeichnis<br />

AHV Alters- <strong>und</strong> Hinterlassenenversicherung<br />

ALV Arbeitslosenversicherung<br />

AP-DRG All Patient Diagnosis Related Groups (vergleichbare Fälle werden zu<br />

xii<br />

kostenhomogenen Fallgruppen zusammengeführt)<br />

BAG B<strong>und</strong>esamt für Ges<strong>und</strong>heit (Schweiz)<br />

BFS B<strong>und</strong>esamt für Statistik (Schweiz)<br />

BV B<strong>und</strong>esverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.<br />

April 1999<br />

BV Berufliche Vorsorge<br />

BVG B<strong>und</strong>esgesetz über <strong>die</strong> berufliche Alters-, Hinterlassenen- <strong>und</strong> Invali-<br />

denvorsorge (BVG-Gesetz)<br />

DRG Diagnosis Related Groups (diagnosebezogene Fallgruppen)<br />

EbM Evidence Based Medicine (nachweisgestützte Medizin)<br />

EL Ergänzungsleistungen<br />

EO Erwerbsersatzordnung seit 2005 inkl. Mutterschaftsversicherung<br />

EVG Eidgenössischen Versicherungsgerichts<br />

FMH Verbindungen der Schweizer Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzte (früher: Federation<br />

Medicorum Helveticorum)<br />

GfS Schweizerische Gesellschaft für praktische Sozialforschung<br />

GRAT Gesamtrevision Arzttarif<br />

HMO Health Maintenance Organisations<br />

HP Halbprivatversicherter<br />

KV Krankenversicherung<br />

KVG B<strong>und</strong>esgesetz über <strong>die</strong> Krankenversicherung vom 18. März 1994<br />

INFRA Infrastrukturabgeltung<br />

IPA Individual Practice Associations<br />

IV Invalidenversicherung<br />

MV Militärversicherung


OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit <strong>und</strong> Entwicklung<br />

OKP Obligatorische Krankenpflegeversicherung<br />

P Privatversicherter<br />

PPO Preferred Provider Organization<br />

SLK Spitalleistungskatalog<br />

TARMED tarif médical oder Medizinischer Tarif bzw. Ärztetarif (seit 2004 für<br />

ambulanten Sektor in Kraft)<br />

UV Unfallversicherung<br />

VAG Versicherungsaufsichtsgesetz<br />

VVG Versicherungsvertragsgesetz<br />

WAMP Wandel von Medizin <strong>und</strong> Pflege im DRG-System<br />

WHO Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />

WZW Wirksamkeit, Zweckmässigkeit <strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit<br />

xiii


Zusammenfassung<br />

„Ansonsten bin ich ein Spezialist, der seine Produktpalette<br />

auf dem Markt anbietet. Mein Challenge ist, meine Produkte<br />

den Leuten schmackhaft zu machen, damit sie mir Patienten<br />

zuweisen“, äussert sich Walter I., Arzt eines Privatspitals <strong>und</strong> ehemaliger<br />

Chefarzt eines Kantonsspitals, im Interview.<br />

Unsere Arbeitswelten sind von immer rapideren <strong>und</strong> tiefgreifenderen Transformationsprozessen<br />

geprägt, denen wir uns nicht oder nur schwer entziehen<br />

können <strong>und</strong> <strong>die</strong> je nach sozialer Klasse, Bildungs- <strong>und</strong> Berufsstand, Geschlecht<br />

oder Alter, also je nach Zugang zu <strong>und</strong> Besitz von „ökonomischem, kulturellem,<br />

sozialem <strong>und</strong> symbolischem Kapital“ (Bour<strong>die</strong>u) unterschiedliche Prägungen,<br />

Intensitäten <strong>und</strong> Auswirkungen annehmen. Einem solchen Transformationsprozess<br />

ist seit geraumer Zeit auch verstärkt das Ges<strong>und</strong>heitswesen ausgesetzt.<br />

Dieser hat unter anderem zur Folge, dass <strong>die</strong> darin tätigen Akteure, <strong>die</strong><br />

Pflege <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ärzteschaft ihr eigenes berufsethisches Selbstverständnis zusehends<br />

infrage gestellt sehen. Ges<strong>und</strong>heitsversorgung <strong>und</strong> -vorsorge als öffentliche<br />

Güter bzw. „Gemeinwohl“, von denen niemand ausgeschlossen werden<br />

dürfte, sieht sich zusehends einer Kommodifizierung ausgesetzt. Dies lässt <strong>die</strong><br />

Schlussfolgerung zu, dass das Gut Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Konsum auch inskünftig<br />

immer weniger den gr<strong>und</strong>legenden Prinzipien der Nicht-<br />

Ausschliessbarkeit <strong>und</strong> der Nicht-Konkurrenzierbarkeit gehorchen <strong>und</strong> der<br />

dem spezifischen ärztlichen Ethos zugr<strong>und</strong>e gelegte Hippokratische Eid zusehends<br />

an Wirkkraft verlieren könnte. Die Ges<strong>und</strong>heitsversorgung scheint bei<br />

<strong>die</strong>sem Transformationsprozess zusehends <strong>die</strong> Form einer handelbaren Ware<br />

anzunehmen <strong>und</strong> einer zunehmenden Vermarktlichung zu unterliegen, <strong>die</strong><br />

nicht zuletzt auf den Eintritt neuer Marktakteure, den Privatspitälern, zurückzuführen<br />

ist. Das öffentliche Krankenhaus als bedeutende Institution <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Dienstes sieht sich nämlich durch den Eintritt marktwirtschaftlich orientierter<br />

Privatspitäler gr<strong>und</strong>legend neuen Spielregeln ausgesetzt. Die für das<br />

Feld der Produktion <strong>und</strong> Zirkulation von Gemeingütern kennzeichnende „Illusio“<br />

(Bour<strong>die</strong>u), beruhend auf einer kollektiven Verkennung der ökonomischen<br />

Interessen <strong>die</strong>ses Fel<strong>des</strong> <strong>und</strong> seiner Akteure, <strong>und</strong> der Glaube an <strong>die</strong> Uneigennützigkeit<br />

<strong>des</strong> eigenen Handelns, der gerade von der im öffentlichen Krankenhauswesen<br />

tätigen Ärzteschaft geteilt wird, erfahren durch den Eintritt <strong>die</strong>ser<br />

neuen privaten Akteure ins Feld der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung eine unverkenn-<br />

xv


are Erschütterung, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> konstant zunehmende <strong>Ökonomisierung</strong> der<br />

Funktionslogik der öffentlichen Institutionen, etwa in der Gestalt <strong>des</strong> New<br />

Public Managements, massiv verstärkt wird.<br />

Anhand einer Reihe von qualitativen Interviews mit <strong>Chefärzte</strong>n öffentlicher<br />

Krankenhäuser <strong>und</strong> mit Ärzten privater Kliniken, <strong>die</strong> zuvor zumeist Chefarztposten<br />

inne hatten, konnten <strong>die</strong> Auswirkungen <strong>die</strong>ser Transformationsprozesse<br />

auf einen Berufsstand, dem ein hohes symbolisches Kapital <strong>und</strong> ein spezifisches<br />

„Amtscharisma“ (Weber) zugesprochen wird, erforscht werden. Die befragten<br />

Ärzte stellen für unsere Erkenntnisinteressen aufgr<strong>und</strong> ihrer über zwanzigjährigen<br />

Tätigkeit im Krankenhauswesen wertvolle ethnographische Informanten<br />

<strong>und</strong> Experten dar, <strong>die</strong> aus eigener direkter Betroffenheit von <strong>die</strong>ser <strong>Ökonomisierung</strong><br />

ihres Berufsstan<strong>des</strong> Zeugnis ablegen können. Unsere ethnographischen<br />

Informanten gehören zu jener Arztgeneration, <strong>die</strong> ihren Beruf zumeist als Berufung<br />

<strong>und</strong> als Dienst für <strong>und</strong> an der Allgemeinheit verstand, wodurch sich seitens<br />

der dem öffentlichen Krankenhaus gegenüber loyalen Kaderärzte ein regelrechtes<br />

Festhalten an <strong>die</strong>ser Art „totalen sozialen Rolle“ (Goffman) manifestiert.<br />

Diese Generation teilte <strong>und</strong> hielt den Glauben an <strong>die</strong> im Feld geltenden<br />

Spielregeln, <strong>die</strong> kollektive (Ver-)Leugnung der ökonomischen Einsätze <strong>und</strong><br />

Interessen ihrer ärztlichen Tätigkeit, aufrecht. Einige <strong>die</strong>ser <strong>Chefärzte</strong> erlagen<br />

jedoch im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn dem Lockruf der privaten Krankenhäuser<br />

<strong>und</strong> offenbarten, sowohl anhand eines offenk<strong>und</strong>ig ökonomisch<br />

konnotierten Jargons als auch anhand der habituellen Anpassung an <strong>die</strong> Erfordernisse<br />

der neuen Marktkonformität, oft ohne Verbrämungen <strong>die</strong> materialistisch-utilitaristischen<br />

Motive ihrer beruflichen Praxis.<br />

Das empirische Material enthüllte zugleich eine Angleichung <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Spitals <strong>und</strong> <strong>des</strong> berufsethischen Selbstverständnisses der Kaderärzte an das<br />

Diktat der Marktgesetze, das mehr <strong>und</strong> mehr auch von den dortigen <strong>Chefärzte</strong>n<br />

eine ökonomisch rationale, effiziente <strong>und</strong> konkurrenzfähige Patientenbetreuung<br />

verlangt. Somit setzt sich <strong>die</strong> Logik der „Marktvergesellschaftung“ (Weber)<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Gutes Ges<strong>und</strong>heit auf breiter Front <strong>und</strong> mit grosser Geschwindigkeit<br />

durch.<br />

xvi


Abstract<br />

“Apart from that I am a specialist who offers his range of<br />

products on the market. My challenge is to make my products<br />

appealing to people so that they refer patients to me,” says<br />

Walter I., a private hospital physician and former chief physician of a cantonal<br />

hospital, in an interview.<br />

Our working environments are characterised by increasingly rapid and profo<strong>und</strong><br />

transformation processes which we cannot evade or only evade with<br />

difficulty, and depending on social class, educational backgro<strong>und</strong> and profession,<br />

sex or age – i.e. depending on access to and possession of „economic, cultural,<br />

social and symbolic capital” (Bour<strong>die</strong>u) – entail different characters, intensities<br />

and ramifications. Healthcare has also been increasingly subjected to<br />

such a transformation process for quite some time. Among other things, this<br />

leads to the fact that the players employed in this field – the physicians and<br />

nursing personnel – increasingly see their own professional ethical self-image<br />

called into question. Healthcare and preventive health care, as elements of public<br />

goods or common good from which nobody may be excluded, is being increasingly<br />

subjected to a commodification. This leads to the conclusion that in<br />

the future the „commodity health” and its consumption will also comply less<br />

and less with the f<strong>und</strong>amental principles of non-excludability and noncompetitiveness<br />

and the specific medical ethos based on the Hippocratic Oath<br />

could increasingly lose efficacy. In this transformation process healthcare increasingly<br />

appears to take on the form of a tradable commodity and to be subject<br />

to an increasing marketization, which is not least attributable to the entry of<br />

new market players, the private hospitals. As an important public service institution,<br />

the public hospital sees itself exposed to f<strong>und</strong>amentally new gro<strong>und</strong><br />

rules, namely through the entry of private hospitals oriented towards the market<br />

economy. The „illusio“ (Bour<strong>die</strong>u) characteristic of the field of production<br />

and circulation of common goods based on a collective misjudgement of the<br />

economic interests of this field and its players and the belief in the altruism of<br />

one’s own action, which is particularly shared by the medical profession employed<br />

in the public hospital sector, experience an unmistakable shock through<br />

the entry of these new private players in the healthcare field, which is massively<br />

intensified through the constantly increasing economisation of the functional<br />

logic of public institutions, for example in the form of new public management.<br />

xvii


By means of a series of qualitative interviews with chief physicians in public<br />

hospitals and with physicians in private clinics who for the most part held chief<br />

physician positions beforehand, the ramifications of these transformation processes<br />

on a profession – to which high symbolic capital and a specific<br />

„Amtscharisma“ (official/office charisma) (Weber) is attributed – could be researched.<br />

Due to their over twenty years of employment in the hospital sector,<br />

for our knowledge interests the interviewed physicians represent valuable<br />

informants and experts who can bear witness based on their personal direct<br />

consternation by this economisation of their profession. Our ethnographic informants<br />

belong to that generation of physicians who for the most part <strong>und</strong>erstood<br />

their profession as a vocation and as a service for and to the general public,<br />

whereby a real adherence to this type of „total social role” (Goffman) becomes<br />

manifest on the part of chief physicians loyal towards the public hospital.<br />

This generation shared and preserved the belief in the gro<strong>und</strong> rules established<br />

in the field, the collective (dis-)avowal of economic stakes and interests of<br />

their medical activity. However, some of these chief physicians succumbed to<br />

the call of private hospitals in the course of their professional career and revealed<br />

– often without embellishments – the materialistic-utilitarian motives of<br />

their professional practice by means of an apparent economically connoted<br />

jargon as well as by means of habitual adaptation to the requirements of the<br />

new market conformity.<br />

At the same time, the empirical material revealed a conformation of the public<br />

hospital and the professional ethical self-image of chief physicians to the dictates<br />

of market laws that also increasingly demand economically rational, efficient<br />

and competitive patient care from local chief physicians. Consequently,<br />

the logic of the „Marktvergesellschaftung“ (market sociation) (Weber) of the<br />

public ‘commodity health’ prevails on a broad front and with great speed.<br />

xviii


1 Einführung in das Thema<br />

1.1 Einleitung<br />

Er war mein Patient im Guten <strong>und</strong> im Schlechten.<br />

Andreas L., Chefarzt eines Schweizer Kantonsspitals<br />

Nach einem breiten Konsensus unter Sozialwissenschaftlern leben wir in einer<br />

Zeit rascher <strong>und</strong> tief gehender Transformationsprozesse, welche in besonderer<br />

Weise <strong>die</strong> Arbeitswelt betreffen. Gerade der öffentliche Dienst als ein zentraler<br />

Bereich der zeitgenössischen Arbeitswelt sieht sich seit geraumer Zeit zahlreichen<br />

Reformbewegungen ausgesetzt, was mit der Komplexität <strong>die</strong>ses Fel<strong>des</strong>,<br />

das durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet ist, zusammenhängt: eine<br />

hohe Anzahl an Akteuren1 mit teils intransparenten Aufgabenbereichen <strong>und</strong><br />

konkurrierenden Interessen, eine Vielfalt rechtlicher Instrumente, eine organisatorische<br />

Komplexität, eine Fülle staatlicher Instrumente zur Herstellung <strong>und</strong><br />

Steuerung der gesellschaftlichen Ordnung <strong>und</strong> eine Vielzahl an Problemen mit<br />

höchst relevanten sozialen Interdependenzen. Wird im öffentlichen Dienst von<br />

Reform gesprochen, so geht es in der Regel wohl nicht primär um den Versuch<br />

soziale Ungerechtigkeiten <strong>und</strong> Missstände zu beseitigen, sondern es geht um<br />

Kosteneinsparung, Leistungseffizienz, Prozessorientierung <strong>und</strong> Verschlankung<br />

<strong>des</strong> operativen Apparats (Czerwick, 2007, S. 238).<br />

Kaum ein anderes Feld sieht sich mit einem solch hohen Ausmass an politischen,<br />

ökonomischen, institutionellen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Forderungen <strong>und</strong><br />

Regulierungen konfrontiert, wie der öffentliche Dienst. Auch kommt kaum<br />

einem anderen Feld eine solch hohe Verantwortung für <strong>die</strong> Bevölkerung <strong>und</strong><br />

demzufolge auch für <strong>die</strong> Schwachen, Kranken <strong>und</strong> Unterprivilegierten der<br />

1 Anmerkung der Autorin: Aus Gründen der besseren Verständlichkeit wird in der folgenden Dissertation <strong>die</strong> männliche<br />

Form im geschlechtsneutralen Sinn verwendet.<br />

1


Gesellschaft zu. Der Wandel innerhalb <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes <strong>und</strong> <strong>des</strong> Ge-<br />

s<strong>und</strong>heitswesens, ein an symbolischen Kapitalien <strong>und</strong> ideellen Werten reiches<br />

Feld (Bour<strong>die</strong>u), fusst auf einer geschichtlichen Entwicklung, <strong>die</strong> zumeist anhand<br />

quantitativer Daten <strong>und</strong> ökonomisch relevanter Eckwerte abgebildet<br />

wird. Die Kosten <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens, <strong>die</strong> Beschäftigtenzahlen der Pflege,<br />

der Ärzteschaft <strong>und</strong> der Verwaltung, das darin herrschende Geschlechterverhältnis<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Trägerverhältnisse innerhalb <strong>des</strong> Krankenhaussektors stellen<br />

nur wenige der angewandten quantifizierbaren Indikatoren dar. Den Arbeitserfahrungen,<br />

subjektiven Befindlichkeiten <strong>und</strong> Interessen der im Feld tätigen<br />

Akteure, <strong>die</strong> eine sukzessive Entzauberung ihres Berufsstands <strong>und</strong> eine Erosion<br />

ihres Berufsethos erfahren, kommt eine in soziologischer Sicht min<strong>des</strong>tens<br />

ebenso grosse Relevanz zu.<br />

Der Beruf <strong>des</strong> Arztes nimmt seit jeher eine besondere gesellschaftliche Stellung<br />

ein <strong>und</strong> <strong>die</strong>s nicht nur innerhalb der unterschiedlichen Berufsgattungen, wo<br />

ihm, gemäss gängigem Verständnis, nebst dem Beruf <strong>des</strong> Lehrers <strong>und</strong> Pfarrers<br />

ein Sonderstatus einer ausseralltäglichen Reputation zugesprochen wird. Dem<br />

Arzt, der dem Dienst am Patienten im Sinne humanistischer Ideale verpflichtet<br />

ist, kommt, aufgr<strong>und</strong> der für eine solche „Mission“ notwendig erscheinenden<br />

„Berufung“, eine besondere, ausseralltägliche gesellschaftliche Stellung zu, was<br />

auch mit seinem berufsspezifischen „Charisma“ 2 einhergeht. Dieses Charisma,<br />

das Weber als „Amtscharisma“ bezeichnet, verdankt er u.a. dem besonderen<br />

Vertrauensverhältnis zwischen Arzt <strong>und</strong> Patient, das ihm <strong>und</strong> seiner vermeintlich<br />

uneigennützigen Tätigkeit besondere legitimiert <strong>und</strong> den noch immer herrschenden<br />

Glauben an den Dienst für <strong>die</strong> Allgemeinheit <strong>und</strong> den hippokratischen<br />

Eid festigt, der heute zwar als veraltet gilt, aber dennoch ethisch relevante<br />

ärztliche Pflichten beinhaltet. Obwohl der Eid als unzeitgemäss erachtet<br />

wird, sind einzelne darin enthaltene Aussagen auch heute noch bindend, wie<br />

<strong>die</strong> Verpflichtung auf das Wohl <strong>des</strong> Patienten zu achten, <strong>die</strong> Schweigepflicht,<br />

2 Die charismatische Herrschaft nach Max Weber stellt eine seiner drei Herrschaftsformen, nebst der rationalen <strong>und</strong><br />

traditionellen Herrschaft, dar. „Über <strong>die</strong> Geltung <strong>des</strong> Charisma entscheidet <strong>die</strong> durch Bewährung – ursprünglich stets:<br />

durch W<strong>und</strong>er – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen um Führer geborene,<br />

Anerkennung durch <strong>die</strong> Beherrschten. Aber <strong>die</strong>s ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgr<strong>und</strong>, sondern sie<br />

ist Pflicht der kraft Berufung <strong>und</strong> Bewährung zur Anerkennung <strong>die</strong>ser Qualität Aufgerufenen. Diese ,Anerkennung‘ ist<br />

psychologisch eine aus Begeisterung oder Not <strong>und</strong> Hoffnung geborene gläubige ganz persönliche Hingabe.“ (Weber,<br />

1921/2006, S. 243)<br />

2


<strong>die</strong> Schadensvermeidung <strong>und</strong> das Verbot, <strong>die</strong> Situation <strong>des</strong> Kranken zum eige-<br />

nen Vorteil auszunutzen (Wiesing, 2008, S. 39 f.) 3 . Als zeitgemässe Version, aber<br />

in derselben Tradition wie der Hippokratische Eid stehend, gilt das Genfer<br />

Gelöbnis <strong>des</strong> Weltärzteverb<strong>und</strong>es von 1948, <strong>des</strong>sen französische Untertitel auf<br />

<strong>die</strong> Tradition „Serment d’Hippocrate, formule de Genève“ (ebd.) verweist. Das<br />

Image <strong>des</strong> Arztes, das früher mit der Etikette „Halbgott in Weiss“ halb ironisch,<br />

<strong>und</strong> doch mehr von gesellschaftlicher Anerkennung <strong>und</strong> Reputation geprägt,<br />

hat sich mittlerweile dahingehend verändert, dass der Zauber <strong>des</strong> Charisma<br />

(Weber, 1921/2006, S. 243) mehr <strong>und</strong> mehr an Wirkkraft verloren hat. Nebst<br />

dem Charisma stellen auch <strong>die</strong> intrinsischen Gründe, <strong>die</strong> einen Menschen bewegen<br />

sich für den Beruf <strong>des</strong> Arztes zu entscheiden, der gesellschaftliche Habitus,<br />

den <strong>die</strong>se Ärzte aufgr<strong>und</strong> ihrer Zugehörigkeit zu <strong>die</strong>sem Berufsstand leben,<br />

<strong>und</strong> der unverkennbare Status, der sie innerhalb <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> von anderen Akteuren<br />

unterscheidet, drei äusserst relevante Unterscheidungsmerkmale dar,<br />

anhand derer auch Rückschlüsse auf das Feld selber gezogen werden können.<br />

In der verfügbaren Literatur wird von einem Prozess der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong><br />

Fel<strong>des</strong> medizinischer Versorgung gesprochen, der an einer Vielzahl an Veränderungen<br />

fest gemacht wird. Hinweise für <strong>die</strong>se Dynamik der <strong>Ökonomisierung</strong><br />

innerhalb <strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens können sein: strukturelle Veränderungen<br />

in Bezug auf zunehmende Privatisierungstendenzen <strong>und</strong> eine damit<br />

einhergehende anwachsende Anzahl privater Anbieter von Ges<strong>und</strong>heits<strong>die</strong>nstleistungen,<br />

<strong>die</strong> einerseits mit einem Herauslösen der Spitalhierarchie aus traditionellen,<br />

hierarchisch-paternalistischen Mustern <strong>und</strong> anderseits mit einer neuen<br />

Form der Unterwerfung unter ökonomische Zwänge einhergehen (Bauer &<br />

Bittlingmayer, 2010, zit. in Schultheis, Vogel & Gemperle, 2010, S. 666). Durch<br />

<strong>die</strong> zunehmende Privatisierung schaffen sich neue Akteure wie <strong>die</strong> privaten<br />

Kliniken einen neuen Markt, auf dem sie sich durch ihr Angebot <strong>die</strong> Aufmerksamkeit<br />

kaufkräftiger K<strong>und</strong>en erhoffen. Ihre Angestellten, <strong>die</strong> Ärzteschaft,<br />

3 Auch folgender Abschnitt aus dem Eid <strong>des</strong> Hippokrates ist für <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong> von zentraler Bedeutung, denn er verweist<br />

auf <strong>die</strong> Pflicht der Gr<strong>und</strong>ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses: „Ich werde, den, der mich <strong>die</strong>se Kunst gelehrt hat, gleich<br />

meinen Eltern achten, ihn an meinem Unterhalt teilnehmen lassen, ihm, wenn er in Not gerät, von dem Meinigen<br />

abgeben, seine Nachkommen gleich meinen Brüdern halten <strong>und</strong> sie <strong>die</strong>se Kunst lehren, wenn sie sie zu lernen verlangen,<br />

ohne Entgelt <strong>und</strong> Vertrag. Und ich werde an Vorschriften, Vorlesungen <strong>und</strong> aller übrigen Unterweisung meine<br />

Söhne <strong>und</strong> <strong>die</strong> meines Lehrers <strong>und</strong> <strong>die</strong> vertraglich verpflichteten <strong>und</strong> nach der ärztlichen Sitte vereidigten Schüler<br />

teilnehmen lassen, sonst aber niemanden.“ (Wiesing, 2008, S. 41)<br />

3


werben sie aus den öffentlichen Krankenhäusern ab, was zu einer zunehmen-<br />

den Abwanderung von Kaderärzten führt <strong>und</strong> bei den öffentlichen Spitälern<br />

zunehmend für Besorgnis sorgt. Die innerhalb <strong>die</strong>ser Institutionen ausgebilde-<br />

ten Kader haben sich zum Teil über mehrere Jahrzehnte eine hohe Fachkompe-<br />

tenz angeeignet, <strong>die</strong> sie befähigen <strong>die</strong> breite Öffentlichkeit in Ges<strong>und</strong>heitsfra-<br />

gen zu beraten, ihren Dienst an der Allgemeinheit zu vollbringen <strong>und</strong> als Fach-<br />

kräfte gleichzeitig <strong>die</strong> Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses zu gewährleisten. Durch<br />

ihre Abwanderung verliert das öffentliche Krankenhaus existentiell wichtige<br />

Experten, Gr<strong>und</strong>versorger <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>ausbildner. Diese Entwicklungen bieten<br />

Gr<strong>und</strong> zur Sorge, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s nicht nur auf Seiten der Patienten, <strong>die</strong> in der zunehmenden<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung <strong>und</strong> der damit einhergehenden<br />

ansteigenden Konkurrenz <strong>und</strong> Bedeutung der individuellen Ressourcen<br />

mit anwachsender sozialer Spaltung konfrontiert werden, sondern<br />

auch auf Seiten der Ärzteschaft, deren berufsständischer Ethos <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Reputation bei <strong>die</strong>sem Prozess zu leiden drohen. Mit aus <strong>die</strong>ser<br />

Sorge heraus wurde auch das hier vorliegende Forschungsprojekt <strong>und</strong> Ursprung<br />

<strong>die</strong>ser Dissertation von einer Akteurin <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>, der Chefärztin eines<br />

öffentlichen Schweizer Kantonsspitals, initiiert. Durch ihre finanzielle Unterstützung<br />

für zwei Jahre, insbesondere aber auch durch ihre Öffnung <strong>des</strong> Zugangs<br />

zu einer ansonsten schwer zugänglichen gesellschaftlichen Kategorie,<br />

wurde <strong>die</strong>ses Projekt überhaupt ermöglicht.<br />

In Zusammenarbeit mit ihr <strong>und</strong> dem Soziologischen Seminar SfS-HSG der<br />

Universität St.Gallen wurde der Gr<strong>und</strong>stein für <strong>die</strong> hier vorliegende Auftragsforschung<br />

gelegt. Die Chefärztin ermöglichte einen Blick hinter <strong>die</strong> Kulissen <strong>des</strong><br />

öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spitalalltags <strong>und</strong> den Zugang zu Kaderärzten, <strong>die</strong> als<br />

Experten auf eine über zwanzigjährige Berufserfahrung zurückblicken, <strong>die</strong> den<br />

Wandel der Gesellschaft in ihrem beruflichen als auch privaten Alltag deutlich<br />

miterleben <strong>und</strong> <strong>die</strong> in ihrem Arbeitsalltag, sowohl im öffentlichen als auch<br />

privaten Krankenhaus, der zunehmenden Ausrichtung ihrer Tätigkeit an ökonomischen<br />

Kennzahlen nicht mehr entkommen. Sie als kritische Beobachterin<br />

wünschte eine über <strong>die</strong> quantitative Erfassung <strong>des</strong> Phänomens der Abwanderung<br />

hinausgehende Analyse. Sie wollte über ihre Arztkollegen in Erfahrung<br />

bringen, weshalb sie sich für oder gegen eine Abwanderung entscheiden, da sie<br />

<strong>die</strong> Gefahr erkannte, <strong>die</strong> durch eine zunehmende Abwanderung ihrer Kaderärzte<br />

auf <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>legende Versorgungs- <strong>und</strong> Ausbildungsinstitution <strong>des</strong> öf-<br />

4


fentlichen Krankenhauses <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Patienten, Allgemein- <strong>und</strong> Zusatzversi-<br />

cherte, zukommt. Aus der Sicht <strong>die</strong>ser noch mit Leib <strong>und</strong> Seele dem traditionel-<br />

len ärztlichen Ethos verpflichteten Akteurin, entwickelte sich <strong>die</strong> Frage nach<br />

den Wechselmotiven der abgewanderten Ärzte, <strong>die</strong> ihre Ausbildung <strong>und</strong> Erfah-<br />

rung dem öffentlichen Krankenhaus verdanken, dort ihre Lehre <strong>und</strong> Forschung<br />

betrieben <strong>und</strong> eine der raren Kaderstellen innerhalb der spitalinternen Hierar-<br />

chie erreicht haben, um anschliessend dem öffentlichen Spital den Rücken zu<br />

kehren <strong>und</strong> durch ihre Abwanderung unter anderem ihrer Aufgabe der Lehre<br />

<strong>und</strong> Förderung <strong>des</strong> ärztlichen Nachwuchses nicht mehr gerecht werden. Hier-<br />

bei war es zugleich von Bedeutung zu eruieren, wie <strong>die</strong>se Ärzte einen solchen<br />

Schritt vor sich, ihrem beruflichen „Gewissen“, aber auch gegenüber den Be-<br />

rufskollegen <strong>und</strong> der Partnerin bzw. dem Partner rechtfertigen würden. Die<br />

Chefärztin suchte nach einem wissenschaftlich f<strong>und</strong>ierten Verständnis für <strong>die</strong><br />

von ihr erkannten Veränderungen innerhalb ihres beruflichen Alltages <strong>und</strong><br />

entschied sich bewusst als theoretischen Bezugs- <strong>und</strong> Erklärungsrahmen für <strong>die</strong><br />

Soziologie.<br />

Wir haben es im Falle <strong>die</strong>ser Dissertation also gleichermassen mit einer Auf-<br />

tragsforschung mit starkem Praxisbezug <strong>und</strong> einer an gr<strong>und</strong>lagenwissenschaft-<br />

lichen Fragen orientierten Stu<strong>die</strong> zu tun. Die zentralen Forschungsfragen <strong>und</strong><br />

Erkenntnisinteressen wurden durch das uns gegebene Mandat an <strong>die</strong>se Arbeit<br />

heran getragen <strong>und</strong> somit wendet sich <strong>die</strong>se Dissertation von ihrer Form <strong>und</strong><br />

Sprache her bewusst an eine nicht mit sozialwissenschaftlicher Literatur vertraute<br />

Leserschaft <strong>und</strong> verzichtet so gut es geht auf abstrakte theoretische Diskurse.<br />

Vielmehr wird es darum gehen, aus den mittels qualitativer Interviews<br />

gewonnenen Einblicke in <strong>die</strong>ses berufliche Feld, <strong>die</strong> subjektiven Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> Deutungen der Akteure verstehend nachvollziehbar zu machen, <strong>und</strong> dann<br />

einer kritischen soziologischen Objektivierung zu unterziehen. Anders formuliert<br />

wäre es das Ziel, dass <strong>die</strong>se Stu<strong>die</strong> von den betroffenen Akteuren <strong>des</strong> medizinischen<br />

Fel<strong>des</strong> als eine Art Spiegel, der sich dort abspielenden Transformationen,<br />

gelesen werden <strong>und</strong> zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den<br />

tiefgreifenden <strong>und</strong> <strong>die</strong>se Akteure in ihrer Berufsrolle <strong>und</strong> ihrem Ethos ganz<br />

f<strong>und</strong>amental tangierenden Transformationen beitragen könnte.<br />

Die hier vorgestellte Stu<strong>die</strong> zum Wandel <strong>des</strong> Arztberufs beruht auf der Befragung<br />

einer ganz besonders betroffenen Akteursgruppe, den Kaderärzten <strong>des</strong><br />

5


stationären Versorgungssektors. Dabei steht <strong>die</strong> Frage im Vordergr<strong>und</strong>, wie<br />

<strong>die</strong>se Vertreter <strong>des</strong> ärztlichen Berufsstan<strong>des</strong> <strong>die</strong> Transformationsdynamiken<br />

innerhalb ihres Arbeitsfel<strong>des</strong> wahrnehmen, wie sie damit umgehen <strong>und</strong> welche<br />

Erklärungen <strong>und</strong> Bewertungen sie für <strong>die</strong> erkennbaren Tendenzen <strong>und</strong> Indizien<br />

<strong>des</strong> Wandels haben. Die zentrale Forschungsfrage <strong>die</strong>ser Dissertation beschäftigt<br />

sich mit der Auswirkung <strong>des</strong> Eintritts einer zunehmenden Anzahl privater<br />

Spitäler <strong>und</strong> Spitalgruppen in eine bislang öffentliche, teils auch karitativ orientierte<br />

<strong>und</strong> geführte Ges<strong>und</strong>heitsversorgung. Die privaten Spitäler orientieren<br />

sich dabei an wirtschaftlichen <strong>und</strong> ökonomischen Kennzahlen, nehmen eine auf<br />

Zusatzversicherte ausgerichtete Patientenselektion vor, legen damit einhergehend<br />

Zugangseinschränkungen für allgemeinversicherte Patienten fest <strong>und</strong><br />

kommen somit sowohl der Gr<strong>und</strong>versorgung als auch der Gr<strong>und</strong>ausbildung<br />

nicht nach. Das Ziel ist in Erfahrung zu bringen, wie Ärzte in <strong>die</strong>sem neuen<br />

Spannungsfeld ihre eigene Position bestimmen <strong>und</strong> ihre berufliche Rolle definieren,<br />

wie sie mit den „Lockrufen“ der privaten Anbieter konkret umgehen,<br />

<strong>die</strong>se wahrnehmen, beurteilen <strong>und</strong> praktisch umsetzen, indem sie sich dafür<br />

oder dagegen entscheiden. Keiner der Befragten kann <strong>die</strong> veränderten Strukturen<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen zunehmende Vermarktlichung ignorieren.<br />

Auch derjenige, der sich entscheidet zu bleiben, es wird im Folgenden von<br />

Stayern gesprochen, trifft eine Entscheidung, <strong>und</strong> muss sich darüber im klaren<br />

sein, dass es „gute Gründe“ (nicht zuletzt <strong>die</strong> attraktiven monetären Anreize)<br />

gibt den öffentlichen Sektor zu verlassen, also zum Leaver zu werden, <strong>und</strong> er<br />

wird hierbei, ob gewollt oder nicht, bei seiner Entscheidung mit sowohl kognitiven<br />

wie auch moralischen Konflikten bzw. Dissonanzen zu tun haben. Nebst<br />

den Stayern <strong>und</strong> Leavern existieren auch <strong>die</strong> Rückkehrer, <strong>die</strong> den Lockrufen<br />

<strong>des</strong> Privatspitals gefolgt sind, <strong>die</strong> aber im Laufe <strong>die</strong>ser Erfahrung <strong>die</strong> Schattenseiten<br />

einer unternehmerisch ausgerichteten Berufsausübung, <strong>die</strong> zumeist mit<br />

einem hohen finanziellen Druck <strong>und</strong> Leistungsdruck einhergeht, kennengelernt<br />

haben <strong>und</strong> sich für <strong>die</strong> Rückkehr ins öffentliche Spital entschieden. Nebst der<br />

zentralen Forschungsfrage existieren weitere Fragen, <strong>die</strong> als orientierungsweisend<br />

gelten: Wie setzen sich <strong>die</strong> am neuen Geist <strong>des</strong> Kapitalismus orientierenden<br />

Anforderungsprofile in der Praxis durch? Welche weiteren Merkmale <strong>und</strong><br />

Ansätze einer Vermarktlichung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens sind heute bereits ersichtlich<br />

<strong>und</strong> inwiefern machen sich <strong>die</strong>se im Krankenhausalltag bemerkbar?<br />

Welche Reaktionen der Stayer, Leaver <strong>und</strong> Rückkehrer auf den sich im Feld<br />

vollziehenden Wandel sind zu vernehmen <strong>und</strong> inwiefern versuchen <strong>die</strong> drei<br />

6


Akteursgruppen ihren Entscheid für oder gegen <strong>die</strong> Abwanderung bzw. den<br />

Lockruf <strong>des</strong> Marktes zu legitimieren. Die strukturellen Bedingungen im Rah-<br />

men <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens als Ganzes <strong>und</strong> <strong>des</strong> Krankenhauswesens im Be-<br />

sonderen sind, wie es der kurze Überblick über <strong>die</strong> internationale Forschung<br />

zeigen wird, zunehmenden ökonomischen Transformationsprozessen ausgesetzt,<br />

welchen am Beispiel der Schweizer <strong>Chefärzte</strong>schaft nachgegangen werden.<br />

Im Fokus <strong>des</strong> Kapitels 2 stehen der Forschungsstand <strong>und</strong> <strong>die</strong> Feldöffnung, <strong>die</strong><br />

sich gegenseitig ergänzend einen Einblick in <strong>die</strong> Medizin- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitssoziologie<br />

<strong>und</strong> das Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen erlauben. Hierbei wird im Zentrum<br />

der Feldöffnung, nebst einigen wenigen öffentlichen Debatten, der Krankenhaussektor,<br />

das Krankenversicherungswesen, <strong>die</strong> neue Spitalfinanzierung<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende <strong>und</strong> am 1.1.2012 erfolgte Einführung der Leistungsabrechnung<br />

nach dem Fallpauschalensystem SwissDRG, stehen. Die von<br />

Bour<strong>die</strong>u geprägte Feldtheorie, das Habituskonzept, sowie der Kapitalsortenansatz<br />

spielen im Rahmen der Feldöffnung eine bedeutende Rolle. Einleitend<br />

ein Zitat zur Funktionsweise <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>: „So gibt es Einsätze bei <strong>die</strong>sem Spiel,<br />

Interessenobjekte, <strong>die</strong> im wesentlichen das Produkt der Konkurrenz der Spieler<br />

untereinander sind; eine Investition in das Spiel, eine Besetzung (im psychoanalytischen<br />

Sinn) <strong>des</strong> Spiels, <strong>die</strong> illusio (von ludus, Spiel): Die Spieler sind im Spiel<br />

befangen, sie spielen, wie brutal auch immer, nur <strong>des</strong>halb gegeneinander, weil<br />

sie alle den Glauben (doxa) an das Spiel <strong>und</strong> den entsprechenden Einsatz, <strong>die</strong><br />

nicht weiter zu hinterfragende Anerkennung teilen (es gibt keinen ,Vertrag‘, in<br />

dem <strong>die</strong> Spieler unterschreiben, dass sich das Spiel lohnt, dass es der Mühe<br />

wert ist; das tun sie, indem sie mitspielen), <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses heimliche Einverständnis<br />

ist der Ursprung ihrer Konkurrenz <strong>und</strong> ihrer Konflikte.“ (Bour<strong>die</strong>u, 1992/2006,<br />

S. 127f). Die „Illusio“, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Ärzte bislang innerhalb ihres Fel<strong>des</strong> miteinander<br />

teilten, beruhte auf der Verkennung der ökonomischen Dimension ihres Handelns.<br />

Durch den Eintritt privatwirtschaftlich orientierter Spitäler, <strong>die</strong> ihren<br />

eigenen Markt für Ges<strong>und</strong>heits<strong>die</strong>nstleistungen geschaffen haben, <strong>und</strong> durch<br />

Leaver, <strong>die</strong> der Wirtschaftslogik Glauben schenken, ist <strong>die</strong> Aufrechterhaltung<br />

der „Illusio“ gefährdet. Die Transformationsprozesse werden aus der Sicht der<br />

Makroebene, dem Schweizer Ges<strong>und</strong>heitssystem <strong>und</strong> den darin enthaltenen<br />

Akteuren, Reformbewegungen <strong>und</strong> Finanzierungsmodellen, der Mesoebene,<br />

den Leistungserbringern (den öffentlichen, öffentlich subventionierten <strong>und</strong><br />

7


privaten Spitälern 4 ) <strong>und</strong> der Mikroebene, den sozialen Strukturen innerhalb der<br />

Spitäler <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rollenverteilung zwischen den Akteuren, der Ärzteschaft, der<br />

Pflege <strong>und</strong> den Ökonomen, betrachtet. Seitens der staatlichen Instanzen wird<br />

ein Schwerpunkt auf den kantonalen Behörden liegen. Die Kompetenzverteilung<br />

auf B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong> Kantonsebene, <strong>die</strong> Kostenstruktur, <strong>die</strong> neue Spitalfinanzierung,<br />

<strong>die</strong> Tarifverträge zwischen Leistungserbringern <strong>und</strong> Versicherungen<br />

sowie das Krankenversicherungsgesetz stellen nur einige der Parameter dar,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Regeln in Form von Gesetzen, Verordnungen<br />

oder Verträgen festlegen. Im Bereich der stationären Versorgung kommt den<br />

Kantonen eine sehr entscheidende Rolle zu: sie sind Spitalbetreiber, -träger <strong>und</strong><br />

-planer, erteilen als Kostenträger <strong>und</strong> Einkäufer den Listenspitälern (A- <strong>und</strong> B-<br />

Liste) den Leistungsauftrag <strong>und</strong> sind als Tariffestsetzer auch für das Bezahlen<br />

der Prämienverbilligungen zuständig (CSS Versicherung, 2010, S. 4). Auch<br />

Leistungserbringer wie Pharmaindustrie, Krankenversicherer <strong>und</strong> Medikamentenhändler<br />

nehmen grossen Einfluss auf das Ges<strong>und</strong>heitswesen. In der folgenden<br />

Arbeit stehen jedoch <strong>die</strong> beiden bedeutendsten Leistungserbringer, <strong>die</strong><br />

Krankenhäuser <strong>und</strong> ihre Ärzteschaft, im Fokus. Das Personal bzw. das Humankapital,<br />

wie es von den Ökonomen genannt wird, stellt <strong>die</strong> wichtigste Ressource<br />

innerhalb <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitssektors dar <strong>und</strong> macht ungefähr 70% der<br />

Ges<strong>und</strong>heitsausgaben aus. Einige Besonderheiten zeichnen <strong>die</strong> Personalstruktur<br />

<strong>die</strong>ses Sektors aus, wie beispielsweise <strong>die</strong> durchschnittliche jährliche Wachstumsrate<br />

der Anzahl der Beschäftigten von 2.5% (Gesamtwirtschaft knappe<br />

0.4%), <strong>die</strong> hohe Anzahl an Beschäftigten ausländischer Nationalität <strong>und</strong> der<br />

Anteil von 55% Teilzeitstellen (Gesamtwirtschaft 30%), wobei 91% <strong>die</strong>ser Stellen<br />

durch Frauen besetzt sind. Insgesamt machen <strong>die</strong> Frauen mit einem Anteil<br />

von 70% (2005 bspw. 72%) <strong>die</strong> überwiegende Mehrheit der Beschäftigten <strong>die</strong>ses<br />

Sektors aus (BFS, 2007a, S. 4). Der Krankenhaussektor, seine Ärzteschaft <strong>und</strong><br />

Pflege sehen sich seit geraumer Zeit einer kontinuierlich zunehmenden <strong>Ökonomisierung</strong><br />

ausgesetzt, <strong>die</strong> sich massgeblich auf das Berufsverständnis der<br />

4 Gemäss dem B<strong>und</strong>esamt für Statistik sind im Schweizer Krankenhaussektor folgende rechtlich-wirtschaftliche Status<br />

vertreten: „öffentlich“ entspricht dem Status einer öffentlich-rechtlichen Institution, „öffentlich subventioniert“ (teilweise<br />

auch „privat subventioniert“ genannt) entspricht einer privatrechtlichen Institution, bei der eine Betriebsbeitragsoder<br />

Investitionsbeitragsgarantie <strong>und</strong>/oder eine Defizitgarantie eines Gemeinwesens vorliegt <strong>und</strong> „privat“ entspricht<br />

einer privatrechtlichen Institution, bei der weder eine Betriebsbeitrags- oder Investitionsbeitragsgarantie noch eine<br />

Defizitgarantie eines Gemeinwesens vorliegt (BFS, 2010e).<br />

8


Akteure auswirkt. Die in der Schweiz Anfang 2012 erfolgte Implementierung<br />

der neuen Spitalfinanzierung wird den Wettbewerb um kantonale Subventio-<br />

nen massiv verstärken <strong>und</strong>, dank der von den DRG vermeintlich angestrebten<br />

Vergleichbarkeit der Spitäler, zu einer deutlichen Kostenkontrolle führen. Die<br />

Mehrheit der im stationären Sektor tätigen Ärzteschaft blickt dennoch mit we-<br />

nig Begeisterung, sondern mit grosser Skepsis auf <strong>die</strong> Einführung der Fallkos-<br />

tenpauschalen. Einer der befragten Kaderärzte sieht darin eher eine scheinbar<br />

inskünftig angestrebte Durchschnittsmedizin zu Durchschnittspreisen.<br />

Mit der zunehmenden <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong> Kommerzialisierung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>-<br />

heitswesens geht <strong>die</strong> Kommodifizierung <strong>des</strong> Gutes Ges<strong>und</strong>heit einher. Ge-<br />

s<strong>und</strong>heit als universelles <strong>und</strong> öffentliches Gut, dem ein symbolischer Wert<br />

zukommt, das als fern marktwirtschaftlicher Gesetzte unterliegend erachtet<br />

wird <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Inanspruchnahme als Nicht-Konkurrierend <strong>und</strong> Nicht-<br />

Handelbar erachtet wird, sieht sich durch das ökonomische Kalkül der Waren-<br />

wirtschaft der Kommodifizierung ausgesetzt. Diese Transformation, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Gefahr eines „Zur-Ware-Werden“ 5 der Ges<strong>und</strong>heit verdeutlicht, ist in Nachbar-<br />

ländern wie beispielsweise England bereits fortgeschritten, was sich daran<br />

erkennen lässt, dass für definierte medizinische Eingriffe Altersgrenzen festge-<br />

legt wurden. Diejenigen, <strong>die</strong> über das nötige ökonomische Kapital besitzen,<br />

können den Eingriff im Ausland durchführen lassen. Der Rentner aus der sozia-<br />

len Unterschicht muss sich jedoch den englischen Vorschriften beugen <strong>und</strong> im<br />

kranken Zustand ausharren. Die Kommodifizierung <strong>und</strong> damit <strong>die</strong> Handelbarkeit<br />

<strong>des</strong> Guts bzw. der Ware Ges<strong>und</strong>heit verdeutlicht sich darin, dass der operative<br />

Eingriff in England nur noch erbracht wird, wenn sich der Aufwand wirtschaftlich<br />

lohnt, <strong>die</strong> Ware Ges<strong>und</strong>heit aber dennoch über einen operativen<br />

Eingriff im Ausland eingekauft werden kann. Die Hoffnung, dass Ges<strong>und</strong>heit<br />

ein unverkäufliches Gut bleibt, das mit der Absicht einer ausdrücklichen Verneinung<br />

<strong>des</strong> Ökonomischen sichergestellt wird, (Bour<strong>die</strong>u, 2005b, S. 52), hatte<br />

lange Bestand. Die gegenwärtigen Transformationsprozesse im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

offenbaren jedoch, dass Ges<strong>und</strong>heit mit der zunehmenden <strong>Ökonomisierung</strong><br />

zur am Markt handelbaren Ware gemacht wird. Dies hätte zur Folge, dass<br />

5 „Dabei meint ,Ware‘ ein Produkt oder eine Dienstleistung, das oder <strong>die</strong> zum Zweck <strong>des</strong> Verkaufs auf dem Markt<br />

hergestellt <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen oder deren Preis über den Mechanismus von Angebot <strong>und</strong> Nachfrage bestimmt wird.“ (Kühn,<br />

2004 zit. in Elsner, Gerlinger & Stegmüller, 2004, S. 29)<br />

9


<strong>die</strong> Fachkräfte <strong>und</strong> Experten, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Herstellung bzw. Wiederherstellung<br />

der Ges<strong>und</strong>heit sorgen, zusehends zum Dienstleister oder zum Unternehmer<br />

verkommen, der sein Fachwissen in <strong>die</strong> Betreuung kapitalstarker K<strong>und</strong>en in-<br />

vestiert.<br />

Die vorliegende Dissertation wird keine theoriegeleitete bzw. deduktive Makroanalyse<br />

der Ärzteschaft vornehmen, da im Zentrum <strong>die</strong> von den Kaderärzten<br />

konkret berichteten Erfahrungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> in den Erfahrungsberichten verborgenen<br />

<strong>und</strong> sich aus der Feldanalyse ergebenden Problematiken stehen sollen. Das<br />

Ziel der folgenden Arbeit liegt infolge<strong>des</strong>sen nicht darin dem Leser einen Überblick<br />

über verwandte Themenfelder innerhalb der Arbeitssoziologie, Medizinsoziologie,<br />

Ges<strong>und</strong>heitswissenschaften oder Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Medizinethik<br />

zu geben. Der State of the Art <strong>die</strong>ser Arbeit baut auf den Ergebnissen auf, <strong>die</strong><br />

im Rahmen <strong>des</strong> Buches „Ein halbes Leben“ 6 von Franz Schultheis, Berthold<br />

Vogel <strong>und</strong> Michael Gemperle (2010) <strong>und</strong> einem Forschungsverb<strong>und</strong> bestehend<br />

aus über 50 Forschern erarbeitet wurden. Es handelt sich bei der vorliegenden<br />

Dissertation um eine problembezogene Fallstu<strong>die</strong> mit einer gesellschaftstheoretischen<br />

Fragestellung, <strong>die</strong> sich im Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens situiert <strong>und</strong><br />

mittels qualitativer Feldforschung <strong>und</strong> einem themenfokussierten Vorgehen<br />

erforscht wird.<br />

Bezogen auf <strong>die</strong> folgende Dissertation waren im Rahmen der Publikation „Ein<br />

halbes Leben“ insbesondere <strong>die</strong> Kontextualisierung der Interviews mit einer<br />

Krankenschwester, einem Pflegedirektor, einem Klinikarzt <strong>und</strong> einer Pflege<strong>die</strong>nstleisterin<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> am Anschluss an <strong>die</strong> Interviews erstellten Interviewrahmungen<br />

von Bedeutung. Ullrich Bauer <strong>und</strong> Uwe H. Bittlingmayer, <strong>die</strong><br />

Autoren <strong>die</strong>ses Kapitels (Bauer & Bittlingmayer, 2010, zit. in Schultheis, Vogel<br />

& Gemperle, 2010, S. 665 ff.) beschäftigen sich im Rahmen ihrer Forschung r<strong>und</strong><br />

6 Ein halbes Leben“ stellt das Ergebnis eines zweijährigen Forschungsprojektes <strong>des</strong> soziologischen Seminars der Universität<br />

St.Gallen <strong>und</strong> <strong>des</strong> Hamburger Instituts für Sozialforschung dar <strong>und</strong> entstand aus der intensiven Zusammenarbeit<br />

mit 40 Sozialwissenschaftlern aus der Schweiz, Deutschland <strong>und</strong> Österreich. Das Band lässt <strong>die</strong>jenigen zu Worte<br />

kommen, <strong>die</strong> auf den unterschiedlichen medialen Kanälen nur selten Gehör erhalten. Im Rahmen <strong>die</strong>ses Buches<br />

berichten langjährige Beschäftigte unterschiedlicher Branchen als Zeitzeugen vor allem über ihren beruflichen aber auch<br />

ihren privaten Lebensalltag. Die darin gezeigten soziologischen Porträts ermöglichen das Erkennen der Veränderungstendenzen<br />

innerhalb der unterschiedlichen Branchen <strong>und</strong> teilweise auch innerhalb der hierarchischen Strukturen aus<br />

Sicht der Betroffenen, der Arbeitnehmer, wodurch ein Bild der darin stattfindenden gesellschaftlichen, sozialen <strong>und</strong><br />

beruflichen Dynamiken entsteht.<br />

10


um Public Health unter anderem intensiv mit Fragen zur Ungleichheits- <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitssoziologie, zu den sozial bedingten Unterschieden bezüglich der<br />

Zugangschancen zur Ges<strong>und</strong>heitsversorgung <strong>und</strong> zum ungleichen Zugang zu<br />

relevanten soziokulturellen, persönlichen, materiellen <strong>und</strong> finanziellen Res-<br />

sourcen, <strong>die</strong> massgeblich über den Zugang zu Versorgungsinstitutionen ent-<br />

scheiden. Im Rahmen <strong>die</strong>ser Arbeit kann nur ein kurzer Exkurs in das weite<br />

Feld <strong>des</strong> Public Health, <strong>des</strong> New Public Health <strong>und</strong> der Public Health Ethik<br />

gewagt werden, dennoch ist er in Bezug auf <strong>die</strong> ethische Fragestellung zum<br />

ärztlichen Selbstverständnis von zentraler Bedeutung.<br />

Der in Kapitel 2 erläuterte Forschungsstand wird sich zentripetal auf <strong>die</strong> zu<br />

untersuchende Problemstellung <strong>und</strong> den Problemzusammenhang beschränken.<br />

Dabei wird der Forschungsgegenstand an den Schnittpunkten unterschiedlichster<br />

Disziplinen <strong>und</strong> Teildisziplinen der Wissenschaft erfasst, um den Kontext, in<br />

welchem sich der Gegenstand befindet erklär- <strong>und</strong> fassbar zu machen, wobei<br />

eindeutig nicht der Anspruch besteht flächendeckend bisherige Forschungstätigkeiten<br />

<strong>und</strong> -ergebnisse aufzuarbeiten. Der hierbei skizzierte Forschungsstand<br />

liefert unter anderem makrostrukturelle Eckdaten, <strong>die</strong> als Hintergr<strong>und</strong>folie für<br />

<strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Probanden gelieferten subjektiven Erfahrungen <strong>und</strong> Deutungen<br />

<strong>die</strong>nen können. Schwerpunktmässig wird der State of the Art auf <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong><br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> <strong>die</strong> Veränderung <strong>des</strong> Arztberufs eingehen.<br />

Nebst der zunehmenden Privatisierung öffentlicher Versorgungsinstitutionen<br />

stellen der Anstieg der Verwaltungstätigkeiten, <strong>die</strong> Zunahme der Bürokratisierung<br />

<strong>und</strong> das immer stärkere <strong>und</strong> bewusstere Appellieren <strong>und</strong> Verankern ökonomischer<br />

Denk- <strong>und</strong> Handlungsmuster Indizien für <strong>die</strong> anhaltende <strong>Ökonomisierung</strong><br />

dar (Bauer & Bittlingmayer, 2010, zit. in Schultheis, Vogel & Gemperle,<br />

2010, S. 666). Deutschland blickt im Gegensatz zur Schweiz auf einen bedeutenderen<br />

Forschungsf<strong>und</strong>us im Bereich der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong> Privatisierung<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens, wohingegen es sowohl im schweizerischen als<br />

auch im deutschen Kontext an der Durchführung <strong>und</strong> Verbreitung soziologischer<br />

<strong>und</strong> ethnographischer Stu<strong>die</strong>n mit empirischem Datenmaterial in Form<br />

ethnographischer Zeugnisse von betroffenen Zeitzeugen mangelt. Im Rahmen<br />

der deutschen Stu<strong>die</strong>n wurde hinsichtlich der Transformationsprozesse kein<br />

homogenes Erfahrungsmuster ersichtlich, was sich darin bemerkbar macht,<br />

dass ein Teil der Beschäftigten sich mit den spürbaren <strong>Ökonomisierung</strong>stendenzen<br />

arrangiert hat oder sogar Verständnis dafür zeigt, wohingegen der<br />

11


andere Teil das Ganze als eher kritisch erachtet (Bauer & Bittlingmayer, 2010,<br />

zit. in Schultheis, Vogel & Gemperle, 2010, S. 666). Die DRG (Diagnosis Related<br />

Groups), <strong>die</strong> in Deutschland bereits seit 2003 in Kraft sind, <strong>und</strong> <strong>die</strong> zunehmen-<br />

den Klinikübernahmen durch grosse Privatklinikgruppen wie beispielsweise<br />

Röhn, Asklepios oder Helios, <strong>die</strong> unter anderem massgeblich zur Veränderung<br />

der Krankenhauslandschaft Deutschlands beigetragen haben, stellen zwei pro-<br />

minente Beweise für <strong>die</strong> in Deutschland herrschende <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

daraus resultierenden Privatisierungstendenzen dar. Nebst <strong>die</strong>sen beiden Tendenzen<br />

spielt <strong>die</strong> zunehmende Managerialisierung <strong>des</strong> Arztberufs eine weitere<br />

bedeutende Rolle, <strong>die</strong> sich anhand der verstärkenden Forderung seitens der<br />

Spitalleitung an ihre Kaderärzte nach einer Absolvierung eines postgradualen<br />

Managementstudiums wie dem Master of Business Administration (MBA)<br />

abzeichnet. Der Erwerb eines MBA hat sich zusehends zum Anstellungskriterium<br />

innerhalb <strong>des</strong> Bewerbungsprozedere von Kaderärzten entwickelt. Nebst der<br />

Managerialisierung wird von einer verstärkten Professionalisierung <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Berufsstan<strong>des</strong> gesprochen. In der gegenwärtigen Fachliteratur wird von<br />

einer Professionalisierung <strong>des</strong> Arztberufs gesprochen, der aus dem Abbau<br />

traditioneller, hierarchisch-paternalistischer Spitalstrukturen hervorgeht <strong>und</strong><br />

gleichzeitig zu einem Status- <strong>und</strong> Selbstverständnisverlust der Vertreter der<br />

ärztlichen Berufsgattung führt (ebd.). Inwiefern sich <strong>die</strong> marktwirtschaftliche<br />

Orientierung der strukturellen Rahmenbedingungen der stationären Versorgungsinstitutionen<br />

auf den Berufsalltag <strong>des</strong> Arztes, sein Habitus <strong>und</strong> <strong>die</strong> Arzt-<br />

Patienten-Beziehung auswirkt, wurde bis dato wenig erforscht. Einige Indizien<br />

einer fortschreitenden <strong>und</strong> unaufhaltsamen <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

wurden bereits genannt. Die Frage, ob Geld nun als das Leit- <strong>und</strong> Steuermedium<br />

zusehends Überhand über <strong>die</strong> Versorgungsstruktur, den Versorgungszugang<br />

<strong>und</strong> das Versorgungsangebot <strong>und</strong> demzufolge über <strong>die</strong> Versorgungsakteure,<br />

<strong>die</strong> Ärzteschaft <strong>und</strong> Pflege, <strong>und</strong> ihr Handeln, nimmt, gilt es in<br />

<strong>die</strong>ser Arbeit zu klären. Eine abschliessende Klärung kann in <strong>die</strong>sem Rahmen<br />

natürlich nicht geschehen, weshalb eine kontinuierliche Forschung im Bereich<br />

der Medizin- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitssoziologie, r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Public-Health-Thematik,<br />

<strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitsökonomie, <strong>die</strong> Arbeitssoziologie <strong>und</strong> weiteren Gebieten in der<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> vor allem auch in der Praxis, von Nöten ist.<br />

Die Kapitel zur Feldöffnung <strong>und</strong> zum Forschungsstand <strong>die</strong>nen der Verortung<br />

<strong>des</strong> Forschungsvorhabens <strong>und</strong> der zentralen Forschungsfragen in der aktuellen<br />

12


akademischen Forschungslandschaft. Sie gewähren gleichzeitig einen relevan-<br />

ten Einblick in <strong>die</strong> strukturellen Rahmenbedingungen, gesetzlichen Vorlagen<br />

<strong>und</strong> weiteren angrenzenden Forschungsgebiete <strong>und</strong> stellen <strong>die</strong> thematische<br />

Einleitung in <strong>die</strong> Interviewauswertung <strong>und</strong> <strong>die</strong> vier Porträts dar. Vor der Aus-<br />

wertung <strong>des</strong> empirisch gewonnen Materials stehen in Kapitel 3 <strong>die</strong> Erläuterun-<br />

gen zur angewandten Forschungsmethodik im Fokus. Der methodische Gr<strong>und</strong>-<br />

stein bildet <strong>die</strong> Gro<strong>und</strong>ed Theory. Die mit <strong>die</strong>ser Methode erarbeiteten Theorien<br />

sollen Prozesse erklären <strong>und</strong> mit gewissen Einschränkungen auch Tendenzen<br />

vorhersagen können (Strübing, 2008, S. 85). Die durch Gro<strong>und</strong>ed Theory<br />

produzierten Ergebnisse stehen nicht repräsentativ für eine breite Population.<br />

Die zahlenmässige Quantifizierung, <strong>die</strong> dadurch legitimiert wird, dass <strong>die</strong><br />

Resultate dem Kriterium der Objektivierung gerecht werden, ist in der Arbeitssoziologie<br />

genauso vorzufinden wie in der Betriebswirtschaft (Schultheis, Vogel<br />

& Gemperle, 2010, S. 11). Dennoch fiel der Entscheid bewusst auf eine qualitative<br />

Forschungsmethodik. Das Ziel besteht im Aufbau einer Theorie, <strong>die</strong> ein<br />

Phänomen spezifiziert, indem <strong>die</strong> Bedingungen unter welchen ein Phänomen<br />

auftaucht, der Aktionen <strong>und</strong> Interaktionen durch welche das Phänomen ausgedrückt<br />

wird <strong>und</strong> <strong>die</strong> Konsequenzen, <strong>die</strong> aus dem Phänomen resultieren, erfasst<br />

werden (Steinke, 1999, S. 75). Die Abwanderung der Ärzte aus öffentlichen<br />

Spitälern in Privatspitäler stellt das zentrale Phänomen der vorliegenden Arbeit<br />

dar. Hinsichtlich <strong>des</strong> methodischen Werkzeugs fiel der Entscheid zugunsten<br />

der qualitativen Methodik der Experteninterviews, das ein ethnologisches Instrument<br />

darstellt, welches dem Bottom-Up-Prinzip gerecht wird <strong>und</strong> welches<br />

<strong>die</strong> Erfahrungen der Experten in einem Dialog auf Augenhöhe erfasst <strong>und</strong> demjenigen<br />

Gehör schenkt, der vom Phänomen direkt betroffen ist. Diese Erfahrungen,<br />

<strong>die</strong> in Aussagen über das Berufs- <strong>und</strong> teilweise auch über das Privatleben<br />

der Ärzte resultieren, müssen anonymisiert werden, um den Interviewten <strong>und</strong><br />

sein Umfeld, über welches er sich möglicherweise auch geäussert hat, zu schützen.<br />

Im Rahmen der Ausführungen zur methodologischen Herangehensweise<br />

an das Forschungsprojekt, das Forschungsfeld <strong>und</strong> <strong>die</strong> darin agierenden Akteure<br />

wird deutlich, dass methodologischen Gütekriterien aus dem Bereich der<br />

quantitativen Forschung <strong>und</strong> der statistischen Indikatoren, wie Objektivität<br />

oder Reliabilität <strong>und</strong> Kriterien der Repräsentativität, in der folgenden Dissertation<br />

schon allein aufgr<strong>und</strong> der beschränkten Fallzahl nicht entsprochen werden<br />

kann. Dies kann <strong>und</strong> soll jedoch bei einer qualitativen Untersuchung ohnehin<br />

gar nicht Ziel <strong>und</strong> Interesse sein. Vielmehr geht es darum, gesellschaftliche<br />

13


Prozesse aus dem Blickwinkel der zu ihnen beitragenden Akteure sinnhaft<br />

nachvollziehbar zu machen <strong>und</strong> sie als soziales Handeln zu analysieren <strong>und</strong> zu<br />

verstehen. Im Zentrum der Dissertation stehen <strong>die</strong> Nachvollziehbarkeit der von<br />

den Befragten beschriebenen Erfahrungen im Spannungsfeld von öffentlichen<br />

<strong>und</strong> privaten Anbietern medizinischer Dienstleistungen, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Frage, weshalb<br />

sie gerade so <strong>und</strong> nicht anders handeln. In dem nach Weber „So-<strong>und</strong>nicht-anders-Gewordensein“<br />

ihres Verhältnisses zur Arbeit bzw. ihres Ethos,<br />

das auch als Selbstverhältnis zur Arbeit verstanden werden kann, „kommt eine<br />

lange währende Verkettung interdependenter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> -bestimmungen sowie subjektiver Entscheidungen zum Ausdruck“<br />

(Schultheis, Vogel & Gemperle, 2010, S. 16).<br />

Bei der Erarbeitung <strong>des</strong> State of the Art steht, wie bereits erwähnt, der soziologische<br />

Diskurs im Vordergr<strong>und</strong>, der sich mit dem Phänomen der zunehmenden<br />

Privatisierung im Krankenhaussektor befasst, das ein Indiz für <strong>die</strong> voranschreitende<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> im Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens darstellt. Die Ausführungen<br />

zum aktuellen Forschungsstand sollen aber keine makrosoziologische<br />

Gesellschaftsdiagnose einläuten, sondern <strong>die</strong> Forschungslücken im deutschsprachigen<br />

Forschungsraum sichtbar machen. Das Kernstück der folgenden<br />

Arbeit stellen <strong>die</strong> Interviewauswertung im Kapitel 5 <strong>und</strong> <strong>die</strong> vier exemplarischen<br />

Porträts im Kapitel 4 dar, <strong>die</strong> <strong>die</strong> konkreten Erfahrungen der Subjekte aus<br />

dem Feld wiedergeben. Die Auswertung wird nach dem verstehenden Ansatz<br />

<strong>und</strong> mit Hilfe der kritischen Objektivierung der Zeugnisse vorgenommen, wobei<br />

vereinzelt das Gesagte sozialtheoretisch reflektiert wird. Es geht aber in<br />

erster Linie darum den Habitus <strong>und</strong> folglich <strong>die</strong> Wahrnehmungs-, Denk- <strong>und</strong><br />

Handlungsschemata (Bour<strong>die</strong>u, 1987/1992a, S. 135) der Kaderärzte zu erfassen,<br />

<strong>die</strong> dem öffentlichen Krankenhaus gegenüber loyal bleiben (Stayer), <strong>die</strong>jenigen<br />

Schemata der Ärzte, <strong>die</strong> sich für <strong>die</strong> Alternative <strong>des</strong> Privatspitals (Leaver) entscheiden<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>jenigen Dispositionen zweier Rückkehrer, <strong>die</strong> vom öffentlichen<br />

ins private <strong>und</strong> wieder zurück ans öffentliche Spital wechseln. Das Erfassen<br />

der soziodemographischen Daten der Befragten, ihrer sozialen Herkunft,<br />

ihrer biographischen Flugbahn <strong>und</strong> ihrer beruflichen Laufbahn spielt dabei eine<br />

wesentliche Rolle. Von zentraler Bedeutung ist zugleich auch das Erfassen der<br />

Ertappen der Weihe <strong>und</strong> im Hinblick darauf auch der Karrierebrüche, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Leaver zur Abwanderung <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rückkehrer zur Umkehr bewogen haben.<br />

Die Zeugnisse der Kaderärzte werden auf im Vorfeld <strong>und</strong> im Laufe der Inter-<br />

14


viewauswertung definierte Kategorien hin gelesen, analysiert, nochmalig gele-<br />

sen <strong>und</strong> überprüft. Im Laufe der Interviewauswertung haben sich folgende<br />

Kategorien herauskristallisiert, <strong>die</strong> deutlich in Beziehung zum strukturellen<br />

Wandel stehen bzw. durch <strong>die</strong> zunehmende <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

hervorgerufen werden: Verwaltungsherrschaft, Bürokratisierung,<br />

Privatisierung, Spezialisierung, Vermarktlichung <strong>und</strong> (De)Professionalisierung<br />

im Sinne der rechtlichen Verankerung einer maximalen Anzahl an Arbeitsst<strong>und</strong>en<br />

(50-St<strong>und</strong>en-Woche) während der Assistenzjahre, einer verstärkten Spezialisierung<br />

<strong>des</strong> Arztberufs <strong>und</strong> Managerialisierung der Kaderärzte. Um den<br />

Wandel eines Arbeitsfel<strong>des</strong> verstehend nachzuvollziehen zu können, bedarf es<br />

<strong>des</strong> Vergleichs <strong>des</strong> gegenwärtigen Erfahrungsspektrums der ethnographischen<br />

Informanten, <strong>die</strong> von ihrem alltäglichen Berufsleben, den strukturellen Veränderungen<br />

<strong>und</strong> ihren Erfahrungen berichten, <strong>und</strong> der inkorporierten Dispositionen<br />

<strong>die</strong>ser Akteure, <strong>die</strong> massgeblich durch <strong>die</strong> in den Anfängen ihrer beruflichen<br />

Tätigkeit als Arzt herrschenden Spielregeln im Feld <strong>und</strong> ihrem herkunftsspezifischen<br />

Habitus beeinflusst wurden <strong>und</strong> als Beurteilungs- <strong>und</strong> Orientierungskriterium<br />

<strong>die</strong>nen. Die befragten Ärzte verdeutlichen anhand ihrer Aussagen<br />

<strong>die</strong> offensichtliche Diskrepanzen zwischen den heute <strong>und</strong> den früher geltenden<br />

Spielregeln in ihrem Feld. Diese Diskrepanzen werden anhand <strong>des</strong><br />

Nachzeichnens der sozialen Flugbahn <strong>des</strong> Individuums, <strong>die</strong> sowohl durch<br />

berufliche als auch gesellschaftliche Transformationsprozesse geprägt wird,<br />

<strong>und</strong> dem historischen Verlauf <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> bzw. <strong>des</strong>sen geschichtlich gewachsenen<br />

Wandels ersichtlich. Mit <strong>die</strong>sem Prozess der Historisierung wird der voreiligen<br />

Interpretation von Verhaltensco<strong>des</strong> <strong>und</strong> der oberflächlichen Orientierung<br />

an Schlagzeilen der gegenwärtigen Tagespresse entgegengehalten. Die beiden<br />

Komponenten, Zeitzeugnisse <strong>und</strong> strukturelle, feldspezifische Transformationsmerkmale,<br />

sollen in einem konvergenten Bild <strong>des</strong> massgeblich darin stattfindenden<br />

Wandels resultieren. Die Pluriperspektivität spielte bei der Auswahl<br />

der Interviewpartner eine relevante Rolle, was anhand folgender Auswahlkriterien<br />

ersichtlich wird: <strong>die</strong> befragten Ärzte entstammen zweier hierarchischer<br />

Stufen (Chefarzt <strong>und</strong> Leitender Arzt), verschiedener Arbeitgeber (drei kantonale<br />

Krankenhäuser <strong>und</strong> eine Privatklinikgruppe, wobei <strong>die</strong> Interviewpartner in<br />

unterschiedlichen Kliniken <strong>die</strong>ser Gruppe tätig sind) <strong>und</strong> zweier unterschiedlicher<br />

Trägerschaften, nämlich dem öffentlichen <strong>und</strong> dem privaten Krankenhaus.<br />

Hinsichtlich der Institution sind folgende Unterschiede, <strong>die</strong> massgeblich mit<br />

der Trägerschaft <strong>des</strong> Spitals (öffentlich versus privat) zusammenhängen <strong>und</strong><br />

15


deren Auflistung nicht abschliessend ist, von zentraler Bedeutung: Organisati-<br />

onform, Finanzierungsmodell, Beschäftigungsstruktur, Anstellungsverträge<br />

<strong>und</strong> Anstellungsbedingungen, Lohnstruktur, Patientengut, Work-Life-Balance,<br />

Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchs, Anbindung an Entwicklung <strong>und</strong> Forschung etc.<br />

Die Kontextunterschiede bzw. strukturellen Differenzen lassen einen deutlichen<br />

Transformationsprozess erkennen, der folgende Tendenzen innerhalb <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Berufsalltags zur Folge hat: Entzauberung <strong>des</strong> beruflichen Fel<strong>des</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>des</strong> ärztlichen Berufsethos <strong>und</strong> ein damit einhergehender Wandel in der sozialen<br />

Struktur ihrer Arbeitswelt, der in massgeblichen Spannungsverhältnissen<br />

resultiert. Diese haben eine (De)Professionalisierung <strong>des</strong> ärztlichen Berufsverständnisses<br />

zur Folge, <strong>die</strong> sich darin offenbart, dass der Arztberuf einerseits<br />

einer verstärkten medizinischen Spezialisierung ausgesetzt ist (Professionalisierung)<br />

<strong>und</strong> er andererseits vermehrt dazu angehalten wird sich ökonomisches<br />

Wissen anzueignen, was teils als Entfremdung seiner eigentlichen medizinischen<br />

Ausrichtung erachtet wird (Deprofessionalisierung). Er sieht sich einer<br />

langsamen aber kontinuierlichen Entkernung seines Arztberufs <strong>und</strong> einer anhaltenden<br />

Debatte über <strong>die</strong> ökonomische Dimension seines ärztlichen Handelns<br />

ausgesetzt. Dies lässt ihn seine Berufung zunehmend anzweifeln <strong>und</strong> verleugnen<br />

<strong>und</strong> zeugt zudem von einer Angleichung seiner Dispositionen an <strong>die</strong> <strong>des</strong><br />

homo oeconomicus.<br />

In der Konklusion erfolgt eine Verdichtung der gewonnen Erkenntnisse aus<br />

den Gesprächen mit den zwanzig Kaderärzten <strong>und</strong> den beiden CEOs. Die<br />

Schwerpunkte werden einerseits auf der Kommerzialisierung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong> Umgangs mit dem Gut Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> andererseits auf<br />

der Managerialisierung <strong>des</strong> ärztlichen Denk- <strong>und</strong> Handlungsschemata liegen.<br />

Für <strong>die</strong> gesamte Stu<strong>die</strong> ist <strong>die</strong> Philosophie Spinoza’s „Nicht bemitleiden, nicht<br />

auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen!“ (Schultheis, 2004, S. 65), der<br />

sich sowohl das Buch „Ein halbes Leben“ (Schultheis, Vogel & Gemperle, 2010)<br />

als auch richtungsweisend das Werk „Das Elend der Welt“ (Bour<strong>die</strong>u,<br />

1993/2005a) verschrieben haben, prägend <strong>und</strong> erlangt vor allem im Kapitel<br />

Interviewauswertung eine umfassende Verankerung. Bei der Interpretation <strong>und</strong><br />

Auswertung der Interviewaussagen ist dahingehend Vorsicht geboten, dass<br />

man als Interviewer nicht eine Verteidigungsposition oder gar gegenteilige<br />

Position einnimmt <strong>und</strong> folglich eine Sinnentstellung vornimmt. Durch <strong>die</strong> Ob-<br />

16


jektivierung <strong>des</strong> Gesagten soll dem Verzerrungseffekt, wonach alles für bare<br />

Münze genommen wird, entgegen gewirkt werden. Es gilt auch Legitimie-<br />

rungsstrategien der Befragten, <strong>die</strong> der Rechtfertigung ihres getroffenen Ent-<br />

schei<strong>des</strong> oder der Beruhigung <strong>des</strong> eigenen Gewissens <strong>die</strong>nen, zu erkennen. Die<br />

verstehende Herangehensweise arbeitet folglich mit der Interdependenz, <strong>die</strong><br />

zwischen den subjektiven Dispositionen <strong>und</strong> den objektiven gesellschaftlichen<br />

Bedingungen <strong>und</strong> Regeln besteht (Schultheis, Vogel & Gemperle, 2010, S. 13).<br />

Indem <strong>die</strong> Ungereimtheiten in Beziehung zu den sozialen <strong>und</strong> strukturellen<br />

Rahmenbedingungen <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>, in welchem sich der Akteur tagtäglich bewegt,<br />

<strong>und</strong> der darin stattfindenden Veränderungen setzt, wird deutlich, dass<br />

reale affektive <strong>und</strong> kognitive Dissonanzen bei den Betroffenen auftreten, <strong>die</strong><br />

wiederrum klare Spezifika <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> <strong>und</strong> der darin gelebten oder propagierenten<br />

Dispositionen verdeutlichen. Die zwanzig Kaderärzte <strong>und</strong> beiden CEOs<br />

wurden entsprechend dem bottom-up-Ansatz zu ihrem beruflichen Werdegang,<br />

ihrem Alltag im öffentlichen bzw. privaten Spital, ihrem Verbleib bzw.<br />

ihrem Abwanderungsschritt <strong>und</strong> ihrem sozialen Kapital befragt. In der Stu<strong>die</strong><br />

„Der neue Geist <strong>des</strong> Kapitalismus“ von Boltanski <strong>und</strong> Chiapello (2006), in welcher<br />

anhand der Untersuchung von Management-Literatur <strong>die</strong> Veränderungen<br />

der normativen Erwartungen an <strong>die</strong> Arbeitswelt erforscht werden, findet ein<br />

top-down-Verfahren Anwendung (Schultheis, Vogel & Gemperle, 2010, S. 13).<br />

Bei Boltanski <strong>und</strong> Chiapello stehen <strong>die</strong> Anforderungen, <strong>die</strong> an <strong>die</strong> Arbeitskräfte<br />

gestellt werden, im Vordergr<strong>und</strong>. Die Stu<strong>die</strong> beschreibt den Idealtypus <strong>des</strong><br />

employable man, der seinen Marktwert, der Nachfrageschwankungen unterliegt,<br />

stetig prüft <strong>und</strong> eben keinen langfristigen <strong>und</strong> gefestigten Status anstrebt,<br />

sein Lebensstil von beruflichen <strong>und</strong> folglich strukturellen Veränderungen abhängig<br />

macht, <strong>und</strong> sich dementsprechend nicht an einem definierten Lebensplan<br />

orientiert. Dieser Typus Mensch richtet sich sowohl in seinem Privat- als<br />

auch Berufsalltag an kurzfristigen Projekten aus, um den Kriterien der Flexibilität,<br />

Mobilität, Plurikompetenz, Autonomie <strong>und</strong> allzeitbereiten Verfügbarkeit<br />

gerecht zu werden (Schultheis, Vogel & Gemperle, 2010, S. 14). Diese Auflistung<br />

ist nicht abschliessend, sie zeigt aber <strong>die</strong> deutliche Tendenz, in welche sich<br />

<strong>die</strong> gegenwärtigen <strong>und</strong> vor allem auch <strong>die</strong> inskünftigen Anforderungsprofile,<br />

denen Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt gerecht werden müssen, ausrichten<br />

werden. Entsprechend dem bottom-up-Ansatz steht also das Erfassen von konkreten<br />

subjektiven Erfahrungen im Zentrum, demzufolge sollen <strong>die</strong> von den<br />

Akteuren abgelegten Berichte sich nicht in einem theoriegeleiteten Konstrukt<br />

17


verlieren, sondern als empirisch f<strong>und</strong>ierte <strong>und</strong> valide Erfahrungsberichte be-<br />

handelt werden.<br />

Wie Franz Schultheis in einer seiner Publikationen treffend erörtert hat<br />

(Schultheis, 2004), haben der Arzt <strong>und</strong> der Soziologe einiges gemeinsam. Der<br />

Arzt trifft im Rahmen seiner Tätigkeit im öffentlichen wesentlich häufiger als<br />

im privaten Spital unterschiedlichste Patienten aus unterschiedlichen sozialen<br />

Schichten <strong>und</strong> mit mannigfaltigen Krankheiten an. Genau <strong>die</strong>sen Menschen<br />

begegnet auch der Soziologe, wenn er sich dem alltäglichen Leben aussetzt <strong>und</strong><br />

sich mit Themen wie Transformation der Arbeitswelt, Auswirkungen von strategischen<br />

oder operativen Unternehmensentscheiden auf den Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

der Arbeitnehmer oder <strong>die</strong> Auswirkungen der <strong>Ökonomisierung</strong>stendenzen<br />

innerhalb <strong>des</strong> öffentlichen Sektors auf <strong>die</strong> darin tätigen Akteure, beschäftigt.<br />

Er betrachtet <strong>die</strong> Welt <strong>und</strong> darin vor allem aber <strong>die</strong> Menschen <strong>und</strong> deren<br />

Sein im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen Kontext (Schultheis,<br />

2004, S. 64). Betrachtet man den Spitalarzt <strong>und</strong> damit sein Berufsethos, seinen<br />

Berufsalltag, seine Work-Life-Balance, sein Privatleben <strong>und</strong> ihn als Mensch, so<br />

muss man auch <strong>die</strong> Institution, in welcher er sich bewegt, das Spital, das soziale<br />

Umfeld mit den Kollegen, der Pflege <strong>und</strong> den Patienten <strong>und</strong> <strong>die</strong> staatliche Verankerung,<br />

in welchem sich das Spital (öffentlich <strong>und</strong> privat) befindet, erfassen,<br />

sowie <strong>die</strong> Interdependenzen erkennen <strong>und</strong> verstehen. Sowohl der Arzt als auch<br />

der Soziologe wissen, dass staatlich <strong>und</strong> markwirtschaftlich induzierte Reformbewegungen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Ausrichtung <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes an ökonomischen<br />

Kennzahlen bedeutend Einfluss auf den Arbeitsalltag <strong>des</strong> Arbeiters, auf <strong>die</strong> an<br />

ihn gestellten normativen Anforderungen <strong>und</strong> seinen Habitus nehmen können.<br />

Eine weitere offensichtliche Gemeinsamkeit, <strong>die</strong> sich der Soziologe <strong>und</strong> der<br />

Arzt teilen, ist der Mensch (Schultheis, 2004, S. 65). Der Mensch ist aber kein<br />

Produkt, demzufolge ist auch seine Ges<strong>und</strong>heit keine Ware, das Spital ist damit<br />

auch nicht einfach eine Produktionsstätte <strong>und</strong> der Arzt kein schlichter Produktionsfaktor.<br />

Wenn man sich <strong>die</strong>se banal erscheinenden Ansichten heute überhaupt<br />

in Erinnerung rufen muss, so ist <strong>die</strong>s allein schon ein Hinweis auf <strong>die</strong><br />

tiefgreifenden Umbrüche, <strong>die</strong> den Ges<strong>und</strong>heitssektor im Allgemeinen <strong>und</strong> den<br />

Arztberuf im Besonderen durchdringen, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Krise, in <strong>die</strong> das bislang hoch<br />

gehaltene berufsständische ärztliche Ethos angesichts der fortschreitenden<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> zu geraten droht.<br />

18


2 Transformation – <strong>Ökonomisierung</strong> – Entzauberung<br />

Gleichzeitig ist man aber fre<strong>und</strong>lich,<br />

eigentlich ist es aber ein Kampf mit dem Messer,<br />

wer den Patienten machen kann, der ver<strong>die</strong>nt.<br />

2.1 Feldöffnung<br />

Daniel S., Chefarzt eines Schweizer Kantonsspitals<br />

Das Erfassen von Transformationsprozessen, ihrer Ursachen <strong>und</strong> Folgewirkun-<br />

gen bedingt <strong>die</strong> Kenntnis über <strong>die</strong> strukturellen Begebenheiten <strong>und</strong> Rahmenbe-<br />

dingungen <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>, damit einher geht das Erkennen der darin herrschenden<br />

Spielregeln <strong>und</strong> der in <strong>die</strong>sen Feldern agierenden Akteure. Gleichzeitig bedarf<br />

es der Kenntnis der bis anhin getätigten Forschungen in verwandten Disziplinen<br />

<strong>und</strong> Teildisziplinen <strong>und</strong> der daraus gewonnen Erkenntnissen. Das Ges<strong>und</strong>heits-<br />

<strong>und</strong> Krankenhauswesen sind äusserst spannende Forschungsfelder;<br />

für <strong>die</strong> hier vorliegende Arbeit war das Innenleben <strong>des</strong> Krankenhauses <strong>und</strong><br />

insbesondere das berufsethische Selbstverständnis, das <strong>die</strong> Pflege <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ärzteschaft<br />

für ihren Beruf hegen, von zentraler Bedeutung. Die Eingrenzung <strong>des</strong><br />

Fel<strong>des</strong> wurde dahingehend vorgenommen, dass der auf den öffentlichen Dienst<br />

<strong>und</strong> das Ges<strong>und</strong>heitswesen im Besonderen übergreifende Trend der <strong>Ökonomisierung</strong>,<br />

<strong>die</strong> damit einhergehende Implementierung eines Krankenhausmanagements<br />

in den öffentlichen Krankenhaussektor <strong>und</strong> <strong>die</strong> Privatisierung öffentlicher<br />

Krankenhäuser im Zentrum der folgenden Forschung standen. Aus dem<br />

sich durch <strong>die</strong> Privatisierung neu ergebende Alternative einer Tätigkeit in einem<br />

Privatspital <strong>und</strong> der damit einhergehenden Erweiterung <strong>des</strong> Möglichkeitsrahmens,<br />

wodurch sich <strong>die</strong> Möglichkeit eines Ausstritts aus dem öffentlichen<br />

Krankenhaussektor ergibt, entstehen sowohl seitens der Stayer als auch seitens<br />

der Leaver kognitive Dissonanzen. Die zunehmende moralische Dissonanz, der<br />

sich <strong>die</strong> heutige Ärzteschaft hinsichtlich <strong>des</strong> Spannungsverhältnis zwischen<br />

ihrem berufsethischen Verständnis, welchem medizinische, ethische <strong>und</strong> moralische<br />

Handlungsnormen zugr<strong>und</strong>e liegen, <strong>und</strong> dem zusehends verlangten <strong>und</strong><br />

bedingten betriebswirtschaftlichen Handlungskalkül ausgesetzt sieht, konstituierte<br />

zusammen mit den kognitiven Dissonanzen eines der zentralen For-<br />

19


schungsinteressen. Wie gehen Kaderärzte mit der zunehmenden Ökonomisie-<br />

rung ihres berufsethischen Selbstverständnisses <strong>und</strong> der ethisch wie morali-<br />

schen Diskrepanz zwischen dem Versorgungsgebot <strong>und</strong> dem Wirtschaftlich-<br />

keitsgebot um sowie <strong>die</strong> Fragen, inwiefern <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> ihres Berufs-<br />

stan<strong>des</strong> zur Abwanderung eines Kaderarztes aus dem öffentlichen Kranken-<br />

haus beiträgt <strong>und</strong> welche weiteren Faktoren zu <strong>die</strong>ser Abwanderung beitragen,<br />

stellen <strong>die</strong> zentralen Forschungsfragen dar. Die Diskussionen r<strong>und</strong> um Public<br />

Health <strong>und</strong> Public Health Ethik waren in Bezug auf <strong>die</strong> sozialen Ungleichheiten<br />

hinsichtlich Einlass zu Versorgungsinstitutionen <strong>und</strong> Inanspruchnahme von<br />

Versorgungsleistungen, dem damit einhergehenden Zugang zu Ressourcen7 ,<br />

der eine Versorgungsnutzung überhaupt ermöglicht, sowie anhaltenden ges<strong>und</strong>heitspolitischen<br />

Forderung nach verstärkter Übernahme von Selbstverantwortung<br />

<strong>des</strong> Individuums im Kontext der Bewältigung von Krankheit aller<br />

Art von zentraler Bedeutung, da all <strong>die</strong>se Komponenten eine spürbare <strong>und</strong><br />

offensichtliche soziale Implikation der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

für den einzelnen Patienten darstellen.<br />

Die Abbildung <strong>des</strong> theoretischen Rahmens wird zentripetal <strong>und</strong> problemorientiert<br />

<strong>und</strong> demzufolge nicht zentrifugal <strong>und</strong> flächendeckend stattfinden. Es wird<br />

eine Fokussierung auf <strong>die</strong> Schnittpunkte, in welchen sich der Forschungsgegenstand<br />

hinsichtlich unterschiedlicher Disziplinen <strong>und</strong> Teildisziplinen befindet,<br />

vorgenommen. Nebst Erkenntnissen aus Teilbereichen der Sozialwissenschaft<br />

werden auch Erkenntnisse aus Disziplinen der Medizin, Ethik, Politikwissenschaften,<br />

Ökonomie <strong>und</strong> Psychologie hinzugezogen.<br />

Wie bereits eingangs erläutert, besteht bei der folgenden Stu<strong>die</strong> ein klarer Praxisbezug,<br />

der sich aus der Auftragsforschung einer Insiderin aus dem öffentlichen<br />

Krankenhauswesen ergab. Die empirischen Daten <strong>die</strong>ser Auftragsforschung<br />

haben <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>lagenwissenschaftliche Relevanz <strong>und</strong> Brisanz der The-<br />

7 Ist im Zusammenhang mit den steigenden Ges<strong>und</strong>heitskosten von ressourcenoptimierendem Handeln <strong>die</strong> Rede, so<br />

wird in erster Linie von den finanziellen Ressourcen <strong>und</strong> dem Materialaufwand bei der Therapierung gesprochen. Wird<br />

von der Notwendigkeit egalitärer Versorgungsstrukturen <strong>und</strong> eines optimalen Zugangs zu Versorgungseinrichtungen<br />

Seitens aller Bevölkerungsschichten gesprochen, so ist der Zugang zu soziokulturellen, individuellen <strong>und</strong> physikalischmateriellen<br />

Ressourcen für das Individuum unabdingbar. Individuelle Ressourcen setzen sich aus Persönlichkeitsmerkmalen<br />

<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>haltungen zusammen, wie Hoffnung, Selbstwertgefühl, Vertrauen, Kontrolle über sich selber.<br />

Die soziokulturellen Ressourcen entstehen aus persönlichen Beziehungen zum sozialen Umfeld (Stichwort: Netzwerke).<br />

Nahrung, Wohnraum, finanzielle Möglichkeiten etc. bilden <strong>die</strong> physikalisch-materiellen Ressourcen, <strong>die</strong> ein Mensch<br />

benötigt, um aus der ressourcenorientierten Sichtweise ges<strong>und</strong> zu bleiben bzw. zu werden (Hornung & Lächler, 2006, S.<br />

39 ff.). Fehlende Ressourcen schränken oft den Zugang zu Versorgungsinstitutionen <strong>und</strong> Leistungsträgern ein <strong>und</strong><br />

führen so zu sozialen Ungleichheiten.<br />

20


matik verdeutlicht. Das Feld der Medizin, ein hoch exponiertes <strong>und</strong> an symbo-<br />

lischem Kapital reiches Feld, sieht sich sozio-ökonomischen, strukturellen <strong>und</strong><br />

kulturellen Transformationsprozessen ausgesetzt, mit welchen sich nebst der<br />

Ges<strong>und</strong>heitssoziologie <strong>und</strong> -ökonomie, der Medizinsoziologie <strong>und</strong> der Kran-<br />

kenhaussoziologie auch <strong>die</strong> Arbeitssoziologie befasst. Deutschland liefert be-<br />

reits einige Stu<strong>die</strong>n zur <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsfelds, <strong>des</strong> Kranken-<br />

haussektors <strong>und</strong> <strong>des</strong> beruflichen Alltags <strong>und</strong> Selbstverständnisses der Pflege<br />

<strong>und</strong> der Ärzteschaft. Wobei auch in Deutschland bis anhin wenige Stu<strong>die</strong>n<br />

existieren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Transformationsprozesse <strong>und</strong> <strong>Ökonomisierung</strong>swellen aus<br />

Sicht der Kaderärzte erläutern, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s vor allem im Hinblick auf ihre spezifi-<br />

sche Handlungsorientierung.<br />

Eine zunehmende Anzahl an Diskussionen r<strong>und</strong> um das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Finanzierung, <strong>die</strong> Institution Krankenhaus, <strong>des</strong>sen Versorgungsstruktur<br />

<strong>und</strong> Versorgungsqualität sowie <strong>die</strong> Zugangschancen zu Versorgungsleistungen,<br />

<strong>die</strong> nicht für jedermann gleich sind <strong>und</strong> in sozialen Ungleichheiten<br />

resultieren, bewegen seit einigen Jahrzehnten sowohl Wissenschaftler, Politiker<br />

als auch <strong>die</strong> breite Öffentlichkeit, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Folgen aus <strong>die</strong>sen Diskussionen <strong>und</strong><br />

Debatten im Alltag am eigenen Leibe erlebt, sei <strong>die</strong>s als Patient oder eben als<br />

Insider, als Arzt oder Pflegefachkraft. Interdisziplinäre <strong>und</strong> transdisziplinäre<br />

Forschungstätigkeiten prägen sowohl <strong>die</strong> Medizin als wissenschaftliche Einheit<br />

als auch ihre unterschiedlichen Teildisziplinen, gleichzeitig findet auch ein<br />

reger Austausch zwischen ihr <strong>und</strong> anderen Wissenschaften statt. Es sind Fragen<br />

wie – wie viel Geld ist <strong>die</strong> Gesellschaft bzw. das Individuum bereit, für <strong>die</strong><br />

eigene, aber auch für <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit der Allgemeinheit (Solidaritätsprinzip) zu<br />

bezahlen? Inwieweit dürfen Zugänge zu Ressourcen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kapitalienstruktur<br />

<strong>des</strong> Individuums den Zugang zu Versorgungsleistungen reglementieren (Eigenverantwortungsprinzip)?<br />

Dürfen medizinische Eingriffe, <strong>die</strong> dank <strong>des</strong> medizinischen<br />

Fortschritts <strong>und</strong> der zunehmenden Technisierung der Medizin<br />

zusehends fortschrittlichere <strong>und</strong> innovativere Behandlungsmethoden ermöglichen,<br />

eine bewusste Selektion <strong>des</strong> lebenswürdigen oder nicht lebenswürdigen<br />

Lebewesens durch das Individuum zulassen? Welchem ethischen Anspruch<br />

soll der Arzt im Hinblick auf das ihm auferlegte Wirtschaftlichkeitsgebot inskünftig<br />

gerecht werden, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s auch im Hinblick auf essentielle Ges<strong>und</strong>heits<strong>und</strong><br />

Lebensfragen wie Sterbehilfe oder PDI (Präimplantationsdiagnostik)? Welchen<br />

Einfluss nehmen leistungsorientiere Gehaltsstrukturen (variable <strong>und</strong> fixe<br />

21


Gehaltskomponenten) <strong>und</strong> der zunehmende monetäre Anreiz auf <strong>die</strong> berufs-<br />

ethischen Handlungsnormen von Kaderärzten (Effektivität <strong>und</strong> Effizienz bei<br />

der Mittelverwendung)? Diese Fragen bewegen disziplinübergreifend <strong>die</strong> Öf-<br />

fentlichkeit, <strong>und</strong> <strong>die</strong> gilt es inskünftig zu klären.<br />

Das folgende Kapitel über <strong>die</strong> Transformationsprozesse im Schweizer Ges<strong>und</strong>-<br />

heitswesen soll mit einer Aussage von Daniel S., Chefarzt der Inneren Medizin<br />

(Spezialist) eines Kantonsspitals, eingeleitet werden. Seine Aussage nimmt<br />

Bezug auf seine politische Stellung, <strong>die</strong> im Laufe seiner ärztlichen Laufbahn<br />

von der eher rechten in <strong>die</strong> linke politische Sichtweise gewechselt hat, wobei<br />

seine Herkunft sowie sein Berufsalltag <strong>und</strong> <strong>die</strong> darin erlebten Situationen <strong>und</strong><br />

gemachten Erfahrungen eine nicht unbedeutende Rolle dabei spielen: „In<br />

<strong>die</strong>sem klassizistischen Modell bin ich links geworden, wenn<br />

es das überhaupt gibt. Sehr viel sozialer. (…) Da viele von<br />

ihrem Schicksal nicht verwöhnt sind <strong>und</strong> es einfach durchstehen<br />

müssen. Das habe ich nicht immer so gesehen. Ich<br />

dachte, dass jeder irgendwohin kommt, wenn er nur etwas<br />

will <strong>und</strong> leisten möchte. Und nicht jammern, sondern arbeiten.“<br />

Daniel S. stammt aus einer Arbeiterfamilie, wie <strong>die</strong> Mehrheit der interviewten<br />

Ärzte, <strong>und</strong> gehört infolge<strong>des</strong>sen nicht zu den Erben einer Arztdynastie.<br />

In <strong>die</strong>sem Kapitel 2 wird eine stetige Wechselwirkung zwischen soziologischen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Paradigmen stattfinden, was im weitesten Sinne mit der<br />

Konstitution <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens zusammenhängt. Auf allen drei Ebenen –<br />

Makro-, Meso- <strong>und</strong> Mikroebene – ist eine zusehends stärkere <strong>und</strong> bewusstere<br />

Präsenz von Ökonomen feststellbar, was eines der deutlichen Indizien für <strong>die</strong><br />

Infiltration der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong> deren Gesetze in das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

<strong>und</strong> das Krankenhauswesen im Besonderen darstellt <strong>und</strong> auch einer der<br />

Hauptvorwürfe der interviewten Kaderärzte an <strong>die</strong> Spitalsitze <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitspolitik<br />

ist. Diese ökonomisch induzierte Transformation bringt nicht<br />

lediglich Veränderungen für <strong>die</strong> Pflege <strong>und</strong> Ärzteschaft mit sich, sondern trägt<br />

zur sozialen Ungleichheit in Bezug auf Versorgungsstruktur <strong>und</strong> Versorgungszugang<br />

bei <strong>und</strong> wirft gr<strong>und</strong>legende ethische Fragestellungen in Bezug auf<br />

evidenzbasierte oder nutzenorientierte Leistungserbringung auf; bei<strong>des</strong> Phänomene,<br />

<strong>die</strong> sich direkt auf <strong>die</strong> Patientenbetreuung <strong>und</strong> ihren Genesungsprozess<br />

auswirken. Um <strong>die</strong> sozioökonomischen, soziodemographischen, medizinethischen<br />

<strong>und</strong> medizinsoziologischen Fragestellungen, mit denen sich <strong>die</strong> Ak-<br />

22


teure innerhalb <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens konfrontiert sehen, verstehen zu kön-<br />

nen, bedarf es der Kenntnis hinsichtlich der strukturellen, organisatorischen,<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> personellen Konstitution <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong><br />

der Herausforderungen, denen <strong>die</strong> unterschiedlichen Ebenen ausgesetzt sind.<br />

Das Ges<strong>und</strong>heitswesen wird im Rahmen der folgenden Dissertation nicht vollumfänglich<br />

abgebildet werden können, weshalb nur ein problemzentrierter<br />

Auszug aus den Interdependenzen zwischen den verschiedenen Interessen <strong>und</strong><br />

Tendenzen innerhalb <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> <strong>und</strong> den darin vertretenen Akteuren folgen<br />

wird. Anhand <strong>des</strong> steten Vergleichs einzelner im Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

gegenwärtig bestehenden <strong>und</strong> inskünftigen zu erwartenden Regelungen <strong>und</strong><br />

Gesetzen (konstitutiven Elemente), <strong>die</strong> zu <strong>des</strong>sen Funktionieren <strong>und</strong> Versagen<br />

beitragen, feldspezifischen Eigenheiten <strong>und</strong> den in der Fachliteratur thematisierten<br />

soziologischen <strong>und</strong> ökonomischen Theoremen zum Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />

Krankenhauswesen <strong>und</strong> der Ärzteschaft wird der Versuch eines steten Abgleichs<br />

zwischen dem Feld, <strong>des</strong>sen Akteuren <strong>und</strong> dem Stand der Forschung<br />

unternommen. Dieser Spagat hat zur Folge, dass gleichzeitig Soziologen, Ges<strong>und</strong>heitsökonomen<br />

<strong>und</strong> Ethiker zu Wort kommen, wobei <strong>die</strong> Zeugnisse der<br />

befragten Ärzte im Rahmen der folgenden Arbeit eine zentrale, wenn nicht<br />

sogar <strong>die</strong> zentralste Informationsquelle darstellen, weshalb bereits in <strong>die</strong>sem<br />

Kapitel Ausschnitte aus den Interviews integriert werden. Im folgenden Abschnitt<br />

wird <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen Medizinsoziologie <strong>und</strong> Medizinischer<br />

Soziologie erläutert, wobei ihre zentralen Forschungsinteressen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Verortung der beiden Wissenschaften in der Humanmedizin <strong>und</strong> Soziologie im<br />

Vordergr<strong>und</strong> stehen werden.<br />

2.1.1 Theoretische Verortung in der Medizin- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitssoziologie<br />

Die Medizinsoziologie hat mit ihrem Diskurs zu sozialen Ungleichheiten (soziale<br />

Schicht, Lebensstil, Gender) hinsichtlich der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung (Zugang,<br />

Aufklärung, Diagnose, Therapie, Prävention) stark an Aufmerksamkeit<br />

gewonnen, wobei <strong>die</strong> Versorgungsstruktur, der Zugang zu Versorgungsinstitutionen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> sich daraus ergebenden Ungleichheiten bzw. Ungerechtigkeiten<br />

hinsichtlich der Verteilung von Versorgungsleistungen nur ein Themenspektrum<br />

darstellen, das aber im Rahmen der Diskussionen r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong><br />

<strong>und</strong> ihre Auswirkungen auf den Berufsethos der Ärzteschaft <strong>und</strong> Pflege<br />

von zentraler Bedeutung ist. Die Verhaltens- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften innerhalb<br />

der Humanwissenschaften, <strong>die</strong> in sich erstere <strong>und</strong> <strong>die</strong> Bio- sowie Kul-<br />

23


tur- bzw. Geisteswissenschaften vereinen, bilden für <strong>die</strong>se Arbeit den Orientie-<br />

rungs- <strong>und</strong> Erkenntnisrahmen, da sie den Menschen mit seinem Habitus, Denk-<br />

<strong>und</strong> Handlungsmuster, seinen kognitiven <strong>und</strong> emotionalen Fähigkeiten <strong>und</strong><br />

seiner Einbindung in gesellschaftliche Beziehungen, Interaktionen <strong>und</strong> Struktu-<br />

ren ins Zentrum <strong>des</strong> Forschungsinteresses stellen, was anhand der folgenden<br />

Arbeit mithilfe der qualitativen Forschungsmethode <strong>des</strong> Experteninterviews<br />

auf experimentelle Weise geschehen ist. Für <strong>die</strong> Medizin sind alle drei wissen-<br />

schaftlichen Bereiche (Biowissenschaften, Verhaltens- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

sowie Kultur- <strong>und</strong> Geisteswissenschaften) von Bedeutung, wobei <strong>die</strong> Biowis-<br />

senschaften wesentlich zur Diagnostik, Prävention <strong>und</strong> Therapie von Krankhei-<br />

ten beitragen <strong>und</strong> ihnen <strong>des</strong>halb bislang eine höhere Bedeutung zugemessen<br />

wurde. Seit den Siebzigerjahren finden aber auch <strong>die</strong> Verhaltens- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

stärker <strong>und</strong> vermehrt Einzug in <strong>die</strong> Medizin, <strong>die</strong>s aufgr<strong>und</strong> der<br />

Evidenz der sozialen <strong>und</strong> psychischen Einflüsse auf Entstehung <strong>und</strong> Verlauf<br />

von Krankheiten, <strong>des</strong> Nutzens von Präventions- <strong>und</strong> Therapieprogrammen, <strong>die</strong><br />

auf verhaltens- <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen <strong>und</strong> Kompetenzen<br />

aufbauen, <strong>des</strong> Einfluss <strong>des</strong> sozioökonomischen <strong>und</strong> psychosozialen Kontexts<br />

auf <strong>die</strong> Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung <strong>und</strong> der Behandlung Kranker<br />

sowie aufgr<strong>und</strong> der ethischen Entscheidungskonflikte <strong>und</strong> Mitbeteiligung von<br />

Patienten <strong>und</strong> Angehören (Siegrist, 2005, S. 5f.). Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit<br />

stellen relevante Voraussetzungen für Lebenschancen <strong>und</strong> Lebensrisiken dar,<br />

wobei eine Vielzahl an sozialen, psychischen <strong>und</strong> ökonomischen Faktoren <strong>die</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit eines Individuums bzw. einer Gesellschaft beeinflussen,<br />

was in massgeblichen Effekten auf <strong>die</strong> Bevölkerung <strong>und</strong> ihre sozialen<br />

Strukturen resultiert (Wendt & Wolf, 2006, S. 9). Der Ges<strong>und</strong>heitssoziologie<br />

kommt <strong>die</strong> Aufgabe zu, einerseits <strong>die</strong> gesellschaftlichen Einflüsse auf Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Krankheit zu eruieren <strong>und</strong> andererseits zu analysieren, wie Gesellschaften<br />

mit kranken Menschen bzw. mit Krankheit umgehen <strong>und</strong> welche Massnahmen<br />

für <strong>die</strong> Prävention, Erhaltung <strong>und</strong> Wiederherstellung von Ges<strong>und</strong>heit<br />

ergriffen werden. Die Definition von Ges<strong>und</strong>heit, <strong>die</strong> in der Präambel der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />

WHO von 22.07.1946 verzeichnet ist, erfuhr mehrere<br />

Anpassungen, <strong>die</strong> mit dem Gesellschaftswandel <strong>und</strong> den sich daraus ergebenden<br />

Auswirkungen auf das Verständnis für <strong>und</strong> den Umgang mit Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Krankheit in der Bevölkerung einhergingen <strong>und</strong> sich 1986 in folgendem<br />

Wortlaut zur Ges<strong>und</strong>heitsförderung niederschlugen: „Um ein umfassen<strong>des</strong><br />

körperliches, seelisches <strong>und</strong> soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwen-<br />

24


dig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre<br />

Wünsche <strong>und</strong> Hoffnungen wahrnehmen <strong>und</strong> verwirklichen sowie ihre Umwelt<br />

meistern bzw. verändern können. In <strong>die</strong>sem Sinne ist <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit als ein<br />

wesentlicher Bestandteil <strong>des</strong> alltäglichen Lebens zu verstehen <strong>und</strong> nicht als<br />

vorrangiges Lebensziel.“ (WHO, 1986) Dieser Definition zufolge wird klar, dass<br />

Ges<strong>und</strong>heit nicht lediglich ein wesentlicher Forschungszweck der medizinischen<br />

Wissenschaften ist, sondern der Forschung in unterschiedlichsten wissenschaftlichen<br />

Disziplinen bedarf.<br />

Medizin- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitssoziologie stellen heute einen festen Bestandteil der<br />

Ausbildung eines jeden Humanmediziners im deutschsprachigen Raum dar.<br />

Bezüglich der Begrifflichkeit, <strong>die</strong> für <strong>die</strong>ses Fach Anwendung findet, bestehen<br />

gewisse Unklarheiten bzw. eine zu schwache Differenzierung der Disziplinen<br />

Medizinsoziologie, Medizinische Soziologie <strong>und</strong> der Sozialmedizin. Robert<br />

Straus (1957) unterscheidet zwischen der Sozialmedizin „Soziologie in der Medizin“<br />

<strong>und</strong> der Medizinischen Soziologie, der „Soziologie der Medizin“, wobei<br />

<strong>die</strong>se klare Abgrenzung in der gegenwärtigen Fachliteratur nicht abschliessend<br />

besteht. Der Unterscheidung nach Straus liegt <strong>die</strong> Idee zugr<strong>und</strong>e, dass <strong>die</strong> Sozialmediziner,<br />

basierend auf soziologischen Paradigmen <strong>und</strong> Theorien, medizinisch<br />

relevante Fragestellungen ermittelten <strong>und</strong> Krankheitsursachenforschung<br />

betrieben, wohingegen <strong>die</strong> Medizinischen Soziologen, ausgehend von medizinischen<br />

Begebenheiten wie Krankheitsbildern oder institutionell-strukturellen<br />

Rahmenbedingungen, soziologisch relevante Fragen stellen (Zimmerman, o.J.).<br />

Für letztere bildeten beispielsweise Krankheitsbilder <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage, um gesellschaftliche<br />

Transformationsprozesse zu ermitteln, abzubilden <strong>und</strong> zu erklären,<br />

wohingegen erstere, ausgehend von soziologisch relevanten Transformationsbildnissen,<br />

<strong>die</strong> von einem wiedererstarkten Kapitalismus zeugen <strong>und</strong> sich in<br />

einer verstärkt geforderten Mobilität <strong>und</strong> Flexibilität, Managerialisierung <strong>und</strong><br />

Vernetzung ihrer Mitarbeiter niederschlägt <strong>und</strong> mit einer zunehmenden Prekarisierung<br />

sozialer Klassen einhergeht, Rückschlüsse auf Entstehung <strong>und</strong> Verlauf<br />

von Krankheiten zulässt. Die gegenwärtige Forschung zeugt von einer<br />

zunehmenden Verschmelzung der Medizinischen Soziologie mit der Medizinsoziologie,<br />

was auch anhand der geringeren Differenzierung zur Sozialmedizin<br />

ersichtlich wird. Die verstärkte Annäherung der Sozialmedizin an <strong>die</strong><br />

Medizinsoziologie (Teilgebiet der Soziologie) <strong>und</strong> Medizinischen Soziologie<br />

(Teilgebiet der Medizin) hängt vermutlich auch mit der zunehmenden wissen-<br />

25


schaftlichen Verankerung der Ges<strong>und</strong>heitssoziologie <strong>und</strong> <strong>des</strong> Public Health<br />

Ansatzes in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zusammen.<br />

Die seit 1973 existierende prominente Integration der Medizinischen Soziologie<br />

in das humanmedizinische Studium <strong>und</strong> damit einhergehend in den wissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> universitären Kontext hing eng mit der Forderung ehemaliger<br />

Studenten zusammen, <strong>die</strong> sich mehr psychosoziales Wissen im Studium der<br />

Medizin wünschten (Berth, Balck & Brähler, 2008, S. 13). An Schweizer Universitäten<br />

wird das Fach der Sozialmedizin im Studium der Humanmedizin gelehrt,<br />

das Institut für Sozial- <strong>und</strong> Präventivmedizin gibt es an der Universität<br />

Zürich seit 1963, <strong>die</strong>ses sieht sich ergänzend zur klinischen Ausbildung <strong>und</strong><br />

Lehre <strong>und</strong> fühlt sich dem Public Health Ansatz verpflichtet. Die Medizinsoziologie<br />

als Teilgebiet der Soziologie hat in der Schweiz seit den Achtzigerjahren<br />

an Popularität gewonnen <strong>und</strong> ist heutzutage ein fester Bestandteil der Ges<strong>und</strong>heitssoziologie.<br />

Hinzukommt, dass ihr in der Ungleichheitsforschung, der Berufs-<br />

<strong>und</strong> Professionssoziologie <strong>und</strong> im Rahmen der Ethikdiskurse, <strong>die</strong> in Bezug<br />

auf den medizinischen Fortschritt <strong>und</strong> den daraus entstehenden revolutionären<br />

Implikationen für das menschliche Lebewesen sowie das professionsbezogene<br />

Rollenverständnis der in den Versorgungsinstituten tätigen Akteure<br />

geführt werden, eine bedeutende Relevanz zugesprochen wird. Sowohl <strong>die</strong><br />

Medizinsoziologie als auch der Ges<strong>und</strong>heitssoziologie gesteht man seit geraumer<br />

Zeit eine hohe Relevanz zu, was unter anderem mit den öffentlichen Debatten<br />

zu den sozialen Ungleichheiten innerhalb der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Zugang zusammenhängt, dem Public Health Ansatz <strong>und</strong> der zunehmenden<br />

Integration der Salutogenese (Bedingungen, <strong>die</strong> zur Entstehung<br />

von Ges<strong>und</strong>heit beitragen), <strong>die</strong> auf Aaron Antonovsky <strong>und</strong> somit auf einen<br />

älteren Ansatz innerhalb der Ges<strong>und</strong>heitssoziologie zurückgeht. Ihm ist es<br />

unter anderem zu verdanken, dass der eindimensionale Ges<strong>und</strong>heitsbegriff<br />

durch eine mehrdimensionale Betrachtung <strong>und</strong> Definition erweitert wurde.<br />

Gemäss Antonovsky sollte nicht <strong>die</strong> Frage nach den Faktoren, <strong>die</strong> krank machen,<br />

im Zentrum stehen, sondern <strong>die</strong> nach den Ressourcen <strong>und</strong> Potenzialen<br />

(Antonovsky, 1979, zit. in Wydler, Kolip, & Abel, 2000, S. 11). Die Theorien von<br />

Antonovsky zielten auf <strong>die</strong> multidisziplinäre Bearbeitung ges<strong>und</strong>heitswissenschaftlich<br />

relevanter Fragestellungen ab, wobei sowohl auf <strong>die</strong> Sozial- <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitswissenschaften als auch auf <strong>die</strong> Medizinwissenschaft, <strong>die</strong> Psychologie,<br />

Philosophie usw. zurückgegriffen wurde. Das damit verfolgte Ziel lag in<br />

26


der verstärkten Annäherung <strong>die</strong>ser Disziplinen aneinander <strong>und</strong> in ihrer gegen-<br />

seitigen Ergänzung (Siegrist et al., 1998, zit. in Wydler, Kolip, & Abel, 2000, S.<br />

12). Das multidimensionale Kontinuumskonzept von Ges<strong>und</strong>heit nach Antono-<br />

vsky, das er nicht abschliessend definierte, zielt darauf ab, Ges<strong>und</strong>heit nicht<br />

lediglich als ein Zustand der Abwesenheit von Krankheit zu definieren, son-<br />

dern als ein Ges<strong>und</strong>heitskontinuum, das sowohl positive als auch negative<br />

Auswirkungen annehmen kann. Der Ges<strong>und</strong>heitsbegriff, der bislang durch eine<br />

pathogenetische 8 Zentrierung <strong>und</strong> ätiologische Herangehensweise an Krankheit<br />

geprägt war, soll durch neue Dimensionen erweitert werden, <strong>die</strong> massgeblich<br />

<strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>des</strong> Individuums <strong>und</strong> sein Wohlbefinden beeinflussen. Als<br />

Dimension, <strong>die</strong> den individuellen Lebensstil, <strong>die</strong> Lebenschancen <strong>und</strong> das eigene<br />

Ges<strong>und</strong>heitsverhalten prägen, gilt beispielsweise <strong>die</strong> soziale Schicht, <strong>die</strong> durch<br />

<strong>die</strong> Herkunft, <strong>die</strong> Bildungsabschlüsse bzw. besuchten Bildungsinstitutionen, <strong>die</strong><br />

berufliche Laufbahn oder das Einkommen massgeblich beeinflusst wird. Damit<br />

einher gehen unterschiedliche Kapitalienstrukturen, <strong>die</strong> unterschiedliche Res-<br />

sourcenzugänge ermöglichen. Die Idee, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sem Ges<strong>und</strong>heitskontinuum<br />

zugr<strong>und</strong>e liegt, lässt sich bereits in der WHO-Definition von Ges<strong>und</strong>heit aus<br />

dem Jahre 1946 finden – „Ges<strong>und</strong>heit ist ein Zustand vollständigen physischen,<br />

geistigen <strong>und</strong> sozialen Wohlergehens <strong>und</strong> nicht nur das Fehlen von Krankhei-<br />

ten <strong>und</strong> Gebrechen.“ (WHO, 1946) Anhand der Definition verdeutlicht sich <strong>die</strong><br />

Mehrdimensionalität von Ges<strong>und</strong>heit, <strong>die</strong> nebst der physischen bzw. körperli-<br />

chen Dimension von Ges<strong>und</strong>heit auch <strong>die</strong> psychische <strong>und</strong> soziale Dimension<br />

von Ges<strong>und</strong>heit beinhaltet9 . Sowohl bezüglich der Definition der WHO aus<br />

dem Jahre 1946 sowie hinsichtlich der Theorie von Antonovsky wurden Kritiken<br />

laut. An der Theorie von Antonovsky wurde <strong>die</strong> fehlende Subjektebene<br />

bemängelt, was heissen soll, dass der aktive <strong>und</strong> bewusst handelnde Akteur<br />

(Subjekt) mit seinem Habitus nicht im Modell berücksichtigt wurde. Andererseits<br />

wurde der Makroebene, also der Gesellschaft, ein zu geringer Stellenwert<br />

8 Unter Pathogenese fallen all <strong>die</strong>jenigen Faktoren, <strong>die</strong> zur Entstehung von Krankheit <strong>und</strong> ihrer Entwicklung beitragen.<br />

9 Das solutogenetische Modell von Antonovsky spricht von unterschiedlichen Ressourcen, <strong>die</strong> dazu beitragen sollen<br />

den Menschen ges<strong>und</strong> zu erhalten, wobei Stressoren in Form äusserer Einwirkungen, <strong>die</strong> den Menschen in einen<br />

Spannungszustand versetzten <strong>und</strong> <strong>die</strong> es gilt körperlich <strong>und</strong> seelisch zu bewältigen. Die gelungene Bewältigung <strong>die</strong>ser<br />

Stressoren verstärkt den „sense of coherence“, <strong>die</strong> misslungene Bewältigung führt zu Stress aber nicht unweigerlich zu<br />

Krankheit. Nebst dem „sense of coherence“ spricht Antonovsky von „salutary factors“, generalisierten Widerstandsressourcen<br />

bzw. heilsamen Faktoren, von “sense of comprehensibility”, dem Gefühl der Verstehbarkeit, von „sense of<br />

manageability“, dem Machbarkeitsgefühl, <strong>und</strong> von “sense of meaningfulness”, dem Bedeutsamkeitsgefühl (Antonovsky,<br />

1993, zit. in Wydler, Kolip & Abel, 2000, S. 22 f.). Antonovsky versteht <strong>die</strong> von ihm definierten Ressourcen <strong>und</strong><br />

Faktoren als Voraussetzung für ein erfolgreiches Bewältigungsverhalten.<br />

27


eigemessen, obwohl <strong>die</strong>se Ebene mit ihren Werten <strong>und</strong> Normen <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>-<br />

heit der Bevölkerung massgeblich beeinflusst (Faltermaier, 2000, zit. in Wydler,<br />

Kolip , & Abel, 2000, S. 189). Auch an der Ges<strong>und</strong>heitsdefinition der WHO aus<br />

dem Jahre 1946 wurde Kritik geübt, da das vollständige Wohlbefinden als Uto-<br />

pie abgetan wurde. Der Kerngedanke der Ges<strong>und</strong>heitsdefinition von 1946 wur-<br />

de in der WHO-Deklaration von Alma-Ata <strong>des</strong> Jahres 1978 festgehalten, <strong>die</strong>ser<br />

erfuhr aber eine Erweiterung in der Ottawa-Charta zur Ges<strong>und</strong>heitsförderung,<br />

wie folgender Wortlaut zeigt: „Ges<strong>und</strong>heitsförderung zielt auf einen Prozess,<br />

allen Menschen ein höheres Mass an Selbstbestimmung über ihre Ges<strong>und</strong>heit<br />

zu ermöglichen <strong>und</strong> sie damit zur Stärkung ihrer Ges<strong>und</strong>heit zu befähigen. Um<br />

ein umfassen<strong>des</strong> körperliches, seelisches <strong>und</strong> soziales Wohlbefinden zu erlan-<br />

gen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse<br />

befriedigen, ihre Wünsche <strong>und</strong> Hoffnungen wahrnehmen <strong>und</strong> verwirklichen<br />

sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In <strong>die</strong>sem Sinne ist <strong>die</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit als ein wesentlicher Bestandteil <strong>des</strong> alltäglichen Lebens zu verstehen<br />

<strong>und</strong> nicht als vorrangiges Lebensziel. Ges<strong>und</strong>heit steht für ein positives<br />

Konzept, das in gleicher Weise <strong>die</strong> Bedeutung sozialer <strong>und</strong> individueller Ressourcen<br />

für <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit betont wie <strong>die</strong> körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung<br />

für Ges<strong>und</strong>heitsförderung liegt <strong>des</strong>halb nicht nur bei dem Ges<strong>und</strong>heitssektor,<br />

sondern bei allen Politikbereichen <strong>und</strong> zielt über <strong>die</strong> Entwicklung<br />

gesünderer Lebensweisen hinaus auf <strong>die</strong> Förderung von umfassendem Wohlbefinden<br />

hin.“ (WHO, 1986) Im Glossar zur Ges<strong>und</strong>heitsförderung <strong>des</strong> Jahres<br />

1998 lässt sich <strong>die</strong> Definition von Public Health <strong>und</strong> New Public Health der<br />

WHO finden, darauf wird aber im Kapitel 2.4.2 näher eingegangen.<br />

Die Medizinsoziologie be<strong>die</strong>nt sich sowohl makrosoziologischer als auch mikrosoziologischer<br />

Theorien <strong>und</strong> sieht in Emile Durkheim, seinen von ihm verfassten<br />

„Regeln der soziologischen Methode“ (Durkheim, 1895 zit. in Siegrist,<br />

2005, S. 10) <strong>und</strong> seinen Stu<strong>die</strong>n zu den Selbstmordraten10 einen Begründer der<br />

Medizinsoziologie. Den makrosoziologischen Theorien nach Durkheim fehlten<br />

aber <strong>die</strong> mikrosoziologischen Parameter wie <strong>die</strong> menschlichen Denk-, Handlungs-<br />

<strong>und</strong> Wahrnehmungsschemata <strong>und</strong> den ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden Moti-<br />

10 Der französische Soziologe Emile Durkheim konnte anhand seiner Stu<strong>die</strong> zu den Selbstmordraten in verschiedenen<br />

sozialen Gruppen zeigen, dass im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>die</strong> Selbstmordrate bei den Protestanten höher als bei den Katholiken<br />

war. Diese Erkenntnisse prägten den Begriff der sozialen Kohäsion <strong>und</strong> zeigten, dass in Gesellschaften, in denen eine<br />

Kombination aus vielen Normen, starkem inneren Zusammenhalt <strong>und</strong> starker Einbindung <strong>des</strong> Individuums in <strong>die</strong><br />

Gemeinschaft, <strong>die</strong> Neigung, Selbstmord zu begehen, geringer ist (Berth, Balck & Brähler, 2008, S. 457).<br />

28


ven, <strong>die</strong> mannigfachsten Personenmerkmale <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich aus mündlicher oder<br />

körpersprachlicher Kommunikation bzw. Interaktionen ergebenden Abwei-<br />

chungen in Bezug auf subjektive Handlungen <strong>und</strong> objektive Realität <strong>und</strong> Wirk-<br />

lichkeit. Die Medizinsoziologie orientiert sich folglich auch an unterschiedli-<br />

chen mikrosoziologischen Theoremen wie am Thomas-Theorem, benannt nach<br />

William I. Thomas, am Symbolischen Interaktionismus nach George Herbert<br />

Mead <strong>und</strong> Herbert Blumer <strong>und</strong> hauptsächlich an Webers Beiträgen zum sozia-<br />

len Handeln, zum Konzept <strong>des</strong> Lebensstils, zur Entwicklungsgeschichte mo-<br />

derner Gesellschaften <strong>und</strong> zu der von ihm geprägten Organisationssoziologie,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage der heutigen Ges<strong>und</strong>heitssystemforschung darstellt. Dem<br />

Handlungstheorem nach Esser wird in der Medizinsoziologie eine hohe Rele-<br />

vanz beigemessen, da <strong>die</strong>ses sowohl makro- (Struktur <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens)<br />

als auch mikrosoziologische (individuelles Ges<strong>und</strong>heitsverhalten der Akteure)<br />

Ansätze beinhaltet (Siegrist, 2005, S. 9 ff.). Nebst Durkheim <strong>und</strong> Weber trug der<br />

Mitbegründer der Systemtheorie, Talcott Parsons, zur weiteren sozial-<br />

theoretischen Verankerung der Medizinsoziologie bei, wobei von besonderer<br />

Bedeutung das Kapitel X „Social Structure and Dynamic Process. The Case of<br />

Modern Medical Practice“ aus seinem Werk „The Social System“ <strong>und</strong> seine<br />

handlungstheoretische Analyse der Arzt-Patienten-Beziehung <strong>und</strong> -Interaktion<br />

waren. Gemäss Parsons ist Ges<strong>und</strong>heit eine funktionale Voraussetzung für das<br />

Bestehen einer Gesellschaft, da Krankheit <strong>die</strong> Erfüllung sozialer Rollen unmöglich<br />

mache, <strong>und</strong> er weist darauf hin, dass das medizinische System eine zentrale<br />

gesellschaftliche Kontrollfunktion innerhalb der Gesellschaft darstelle <strong>und</strong><br />

dadurch auch zur Schaffung spezifischer sozialer Rollen beitragen (Wendt &<br />

Wolf, 2006, S. 12). Die handlungstheoretische Analyse zur Arzt-Patient-<br />

Interaktion ist bis heute gr<strong>und</strong>legend, aber auch gleichzeitig nicht unumstritten.<br />

Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung<br />

nicht zuletzt auch aufgr<strong>und</strong> veränderterer ökonomischer Bedingungen im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

wandelt, <strong>die</strong> den Patienten zum K<strong>und</strong>en werden lassen, <strong>und</strong><br />

partiell eine Emanzipation <strong>des</strong> Patienten stattgef<strong>und</strong>en hat, <strong>die</strong> zu einer teilweisen<br />

Erosion der Informationsasymmetrie <strong>und</strong> seitens <strong>des</strong> Patienten zur Einforderung<br />

<strong>des</strong> aktiven Einbezugs in den Entscheidungsprozess beigetragen hat<br />

(Berth, Balck & Brähler, 2008, S. 457). Diese souveräne Handlungsweise eines<br />

selbstbestimmenden Patienten entspricht aber noch nicht annähernd dem gängigen<br />

Patienten-Habitus, da, wie bei der Mehrheit der Laien-Experten-<br />

Verhältnisse, eine deutliche Informationsasymmetrie gegeben ist, <strong>die</strong> man be-<br />

29


eits aus dem Konsumgütermarkt kennt (Reiners, 2006, S. 22). Im Falle der an-<br />

gebotsinduzierten Nachfrage im Ges<strong>und</strong>heitswesen erhält <strong>die</strong>se Asymmetrie<br />

eine besondere Brisanz, da es sich bei der Ges<strong>und</strong>heit nicht um ein Gut wie<br />

je<strong>des</strong> andere handelt, sondern um <strong>die</strong> ganz persönliche Existenz <strong>des</strong> Einzelnen<br />

<strong>und</strong> seiner Lebensperspektive bzw. Heilungs- <strong>und</strong> Überlebensmöglichkeiten.<br />

Aus <strong>die</strong>ser Situation heraus ergibt sich eine deutliche Abhängigkeit vom ärztlichen<br />

Fachwissen <strong>und</strong> eine unvergleichliche Vertrauensbeziehung, <strong>die</strong> verstärkt<br />

im Rahmen schwerwiegender Erkrankungen greift, da der Betroffene selber<br />

nicht mehr oder nur noch eingeschränkt fähig ist, über Umfang, Zeitpunkt <strong>und</strong><br />

Qualität der medizinischen <strong>und</strong> pflegerischen Versorgung zu bestimmen. Im<br />

Zusammenhang mit der Arzt-Patienten-Beziehung sind Fragen r<strong>und</strong> um <strong>die</strong><br />

Leistungserbringung <strong>und</strong> Leistungsinanspruchnahme ärztlicher <strong>und</strong> pflegerischer<br />

Leistungen, <strong>die</strong> Umsetzung neuer Versorgungsstrukturen <strong>und</strong> -modelle<br />

<strong>und</strong> ihre Implikation auf Krankheits- bzw. Heilungsverlauf, um den Zugang zu<br />

Versorgungsinstitutionen sowie zur Rolle <strong>des</strong> Arztes in Bezug auf Prävention<br />

<strong>und</strong> Vorsorge von zentraler Bedeutung.<br />

Siegrist, einer der führenden Vertreter der Medizinsoziologie in Deutschland,<br />

definiert sein Fachgebiet als „jene Wissenschaftsdisziplin, <strong>die</strong> Begriffe, Methoden,<br />

Beobachtungswissen <strong>und</strong> Theorien der allgemeinen Soziologie bei der<br />

Analyse von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit anwendet. Ihr Erkenntnisinteresse<br />

richtet sich dabei auf makro- <strong>und</strong> mikrosoziale Bedingungen der Entwicklung<br />

<strong>und</strong> auf den Verlauf von Krankheiten sowie ihrer Verhütung. Dies schliesst <strong>die</strong><br />

Analyse von Organisationsstrukturen, Berufsgruppen <strong>und</strong> Beziehungsmustern<br />

zwischen professionellen Helfern, Kranken <strong>und</strong> Angehörigen mit ein.“<br />

(Siegrist, 2005, S. 15). Gleichzeitig stellt <strong>die</strong> Medizinische Soziologie einen zentralen<br />

Bestandteil der Humanmedizin <strong>und</strong> ihrer Teildisziplin der Biowissenschaften<br />

dar. Die heutige Medizinsoziologie besteht aus zwei Bereichen: der<br />

„Soziologie in der Medizin“, <strong>die</strong> <strong>die</strong> durch gesellschaftliche Einflüsse bedingte<br />

Entstehung von Krankheit <strong>und</strong> ihren weiteren Verlauf erforscht (Stichwort:<br />

Krankheitsursachenforschung) <strong>und</strong> der „Soziologie der Medizin“, <strong>die</strong> gesellschaftliche<br />

Einflüsse auf <strong>die</strong> Strukturen <strong>und</strong> Funktionen <strong>des</strong> medizinischen<br />

Versorgungssystems analysiert (Siegrist, 2005, S. 15). Als Forschungsschwerpunkte<br />

in der Medizinsoziologie gelten <strong>die</strong> soziale Ungleichheit, <strong>die</strong> Krankenrolle<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Versorgungsforschung (Berth, Balck & Brähler, 2008, S. 457 f.) In<br />

Bezug auf <strong>die</strong> gegenwärtig geführten Diskurse <strong>und</strong> laufenden Forschungen zur<br />

30


sozialen Ungleichheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit konnte eine deutliche Korrelation zwi-<br />

schen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht <strong>und</strong> der Mortalitäts- <strong>und</strong><br />

Morbiditätsrate festgestellt werden, wobei <strong>die</strong> Schichtzugehörigkeit anhand<br />

sozialer Merkmale (Herkunft, Bildung, Beruf, Einkommen, Geschlecht) definiert<br />

wurde <strong>und</strong> in unterschiedlichen Lebensstilen resultiert. Seit geraumer Zeit<br />

beschäftigen sich Forscher <strong>und</strong> Forschungsgruppen mit den gesellschaftlich<br />

<strong>und</strong> politisch hochrelevanten <strong>und</strong> brisanten Ursachen von Versorgungsungleichheiten<br />

<strong>und</strong> von Ungleichheiten in Bezug auf ges<strong>und</strong>heitliche Lebenschancen<br />

<strong>und</strong> Zugang zu medizinischen Versorgungseinrichtungen (Bauer & Büscher,<br />

2008; Bauer, Bittlingmayer & Richter, 2008; Richter & Hurrelmann, 2009;<br />

Siegrist & Marmot, 2008). Es sind Fragen wie <strong>die</strong> folgenden, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Forscher<br />

beschäftigen: Wo <strong>und</strong> wann beginnen <strong>die</strong>se Disparitäten, bereits beim Zugang<br />

zur Versorgung oder erst bei der Diagnose oder etwa beim Ansetzen der Therapie?<br />

Inwiefern fördert <strong>die</strong> verstärkte Ausrichtung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

<strong>und</strong> ihrer Institution an marktwirtschaftlichen Paradigmen <strong>und</strong> Gesetzen bzw.<br />

der Vorrang <strong>des</strong> Wirtschaftlichkeitsgebots vor dem Versorgungsgebot beim<br />

Erbringen von Versorgungsleistungen seitens der Ärzteschaft <strong>und</strong> Pflege zu<br />

Ressourcenungleichheiten <strong>und</strong> schliesslich zu sozialen Ungleichheiten? Auf<br />

einzelne in <strong>die</strong>sem Abschnitt erwähnten Thematiken, <strong>die</strong> eine enge Korrelation<br />

mit den eigenen Forschungsfragen aufweisen, wird im Laufe <strong>die</strong>ses Kapitels<br />

ausführlicher eingegangen, in den folgenden Abschnitten werden zentrale<br />

Rahmenbedingungen <strong>und</strong> aktuelle Diskurse innerhalb <strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

erläutert.<br />

2.1.2 Aktuelle Diskurse zur Ges<strong>und</strong>heitsökonomie<br />

Die Schweizer Ges<strong>und</strong>heitsökonomen vertreten eine relativ klare Linie im<br />

Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen, wobei ein steter Diskussionsfokus auf den Ges<strong>und</strong>heitskosten,<br />

ihrem Anstieg <strong>und</strong> ihren Senkungsmassnahmen liegt, was zu<br />

äusserst pessimistischen Zukunftsszenarien führt. Bezogen auf das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

als Ganzes werden folgende Herausforderungen angeführt: technologische<br />

<strong>und</strong> medizinische Innovationen, soziodemographischer Wandel (Alter,<br />

Bildung, Sozialstruktur etc.), Zunahme <strong>des</strong> internationalen Wettbewerbs <strong>und</strong><br />

steigende Ges<strong>und</strong>heitskosten (Breyer, Zweifel & Kifmann, 2005, 507 ff.), <strong>und</strong><br />

folgende Kritiken am System werden laut: überfordernde Komplexität der<br />

Strukturen <strong>und</strong> Organisationsformen, Akteure mit widersprüchlichen Rechten<br />

<strong>und</strong> Pflichten, unklare Kompetenzverteilungen <strong>und</strong> durch Lobbying-Gruppen<br />

31


infiltrierte Politik. Bezogen auf <strong>die</strong> Beziehung Gesellschaft <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

werden nachstehende Faktoren genannt: anspruchsvollere, teils informierte<br />

(vorranging durchs Internet) Patienten, gleichzeitig eine hohe Informationsasymmetrie<br />

zwischen Patienten <strong>und</strong> Fachkräften, zunehmende Komplexität <strong>des</strong><br />

menschlichen Lebens, Alterung der Gesellschaft, raschere Inanspruchnahme<br />

von Ges<strong>und</strong>heits<strong>die</strong>nstleistungen, umfassen<strong>des</strong> Versicherungsobligatorium<br />

(umfangreicher Leistungskatalog), ansteigende Versicherungsprämien <strong>und</strong><br />

zunehmende Vermarktlichung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens.<br />

Kostenexplosion oder konstanter Kostenanstieg<br />

Das Ges<strong>und</strong>heitswesen gehört seit je zu einem der bedeutendsten Wirtschaftsfaktoren,<br />

wobei <strong>die</strong> Kosten <strong>und</strong> <strong>die</strong> anscheinend stetig zunehmende Verteuerung<br />

<strong>die</strong>ses Systems immer öfter zu politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Debatten<br />

führen. Wie aus der Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung am 19. Mai 2010<br />

(Neue Zürcher Zeitung [NZZ], 2010) entnommen werden konnte, rechnet <strong>die</strong><br />

Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) mit Ges<strong>und</strong>heitsausgaben<br />

von 63,3 Milliarden Franken im Jahr 2010 <strong>und</strong> 65.6 Milliarden Franken im Jahr<br />

2011, was einer deutlichen Korrektur nach oben der im Herbst 2009 veröffentlichten<br />

Zahlen entspricht.<br />

Lässt man <strong>die</strong> Nachrichtenschlagzeilen der Jahre 2009 <strong>und</strong> 2010, <strong>die</strong> im Zusammenhang<br />

mit dem Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen publiziert wurden, weiter<br />

Revue passieren, dann scheinen <strong>die</strong> Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkte aller Diskussionen<br />

<strong>die</strong> drohende Kostenexplosion <strong>und</strong> <strong>die</strong> zu definierenden Kostenminimierungsmassnahmen<br />

zu sein. Die Steuerung der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung ist eng<br />

an <strong>die</strong> Finanzierungszuständigkeit, <strong>die</strong> auf verschiedene Akteursgruppen aufgeteilt<br />

ist, gekoppelt (Sager, Rüefli & Wälti, 2010, S. 17). Die ambulante11 Versorgung<br />

wird mehrheitlich durch <strong>die</strong> OKP (obligatorische Krankenpflegeversicherung)<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> privaten Haushalte getragen, hingegen wird <strong>die</strong> stationäre 12<br />

11 Gemäss der FMH <strong>und</strong> dem BFS gehören zum ambulanten Sektor: „Konsultations- <strong>und</strong> Behandlungstätigkeiten von<br />

Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzten in Einzel- oder Gruppenpraxen. Die Patienten werden in der Regel ambulant oder im Haus <strong>des</strong><br />

Patienten behandelt (Hausbesuche). Inbegriffen sind auch Konsultationstätigkeiten von Privatärzten in Krankenhäusern<br />

sowie Tätigkeiten in Kliniken, <strong>die</strong> Unternehmen, Schulen, Altersheimen, Gewerkschaften <strong>und</strong> Wohltätigkeitsvereinen<br />

angeschlossen sind.» Z.B. Ärzte in einer Praxis.“ (Verbindung der Schweizer Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzte [FMH], 2011, S.<br />

403)<br />

12 Gemäss der FMH <strong>und</strong> dem BFS zählen zum stationären Sektor: „Ärztliche Behandlungen, Diagnosen, Pflege, chirurgische<br />

Eingriffe, Analysen, Notfall<strong>die</strong>nst sowie Tätigkeit in der Aus-, Weiter- <strong>und</strong> Fortbildung usw. in Krankenhäusern.<br />

Zum stationären Sektor gehören auch Wohnheime mit einer sozialen Betreuung r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Uhr von Kindern, Betag-<br />

32


Versorgung in etwa zu gleichen Teilen von der OKP <strong>und</strong> den privaten Haushal-<br />

ten, aber noch zusätzlich (im Gegensatz zum ambulanten Bereich) zu ca. 25%<br />

von den Kantonen <strong>und</strong> Gemeinden finanziert.<br />

Die Kosten <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens lassen sich nach den erbrachten Leistun-<br />

gen 13 oder nach dem Verursacherprinzip, den Leistungserbringern 14 , betrach-<br />

ten. Die Finanzierung basiert auf den Finanzierungsanteilen der sogenannten<br />

Direktzahlenden 15 . Betrachtet man <strong>die</strong> Ausgaben aus Sicht der Kostenträger, so<br />

wird ersichtlich dargestellt, dass der wichtigste Direktfinanzierer <strong>die</strong> obligatori-<br />

sche Krankenversicherung (OKP) im Jahre 2008 35.2% der gesamten Kosten <strong>des</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitswesens trug. Die privaten Haushalte übernahmen 30.5% Kosten,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Kostenbeteiligungen im Rahmen der OKP <strong>und</strong> der privaten Zusatzver-<br />

sicherungen sowie <strong>die</strong> Out-of-pocket-Zahlungen enthielten. Für Güter <strong>und</strong><br />

Dienstleistungen <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens kommen <strong>die</strong> privaten Haushalte mit<br />

der Übernahme der Franchise <strong>und</strong> <strong>des</strong> Selbstbehalts sowie dem Bezahlen ihrer<br />

Versicherungsprämien für <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Zusatzversicherung (bzw. Sozial-<br />

<strong>und</strong> Privatversicherung) direkt für <strong>die</strong> Kosten auf. Lediglich 18.3% der Ausga-<br />

ben werden vom Staat getragen (B<strong>und</strong>: 0.3%, Kantone: 15.6% <strong>und</strong> Gemeinden:<br />

2.4%). Als weitere Direktzahler übernahmen <strong>die</strong> Privatversicherungen 9.0%<br />

(Zusatzversicherungen), <strong>die</strong> übrigen Sozialversicherungen neben der OKP 6.1%<br />

(Unfall-, Invaliden- <strong>und</strong> Militärversicherung) <strong>und</strong> weitere private Finanzierun-<br />

gen 1.0% der totalen Ges<strong>und</strong>heitskosten (B<strong>und</strong>esamt für Statistik [BFS],<br />

2010b). 16 Zusammenfassend ausgedrückt tragen <strong>die</strong> privaten Haushalte ca. zwei<br />

Drittel <strong>und</strong> der Staat ca. ein Viertel der Ges<strong>und</strong>heitsausgaben. Dieses Verhältnis<br />

ist seit 1995 konstant geblieben.<br />

Betrachtet man <strong>die</strong> Kosten <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens seitens der Leistungserbrin-<br />

ger, so wird ersichtlich, dass 2008 <strong>die</strong> Krankenhäuser 17 mit 35.4% <strong>und</strong> <strong>die</strong> sozi-<br />

ten <strong>und</strong> Personengruppen, <strong>die</strong> auf fremde Hilfe angewiesen sind.» (FMH, 2011, S. 403)<br />

13 Stationäre Behandlungen, ambulante Behandlungen, Verkauf Ges<strong>und</strong>heitsgüter, Verwaltung, Prävention <strong>und</strong> andere<br />

Leistungen.<br />

14 Krankenhäuser <strong>und</strong> sozialmedizinische Institutionen, ambulante Dienstleister <strong>und</strong> Detailhandel, Staat <strong>und</strong> Versiche-<br />

rer sowie Organisationen ohne Erwerbscharakter.<br />

15 Sozialversicherung, private Haushalte, Staat, Privatversicherungen <strong>und</strong> andere private Finanzierung.<br />

16 Zahlenmässig sprechen wir in Millionen Franken von 24‘099.8 (Sozialversicherungen), von 17‘826.7 (private Haushalte),<br />

von 24‘099.8 (Staat) <strong>und</strong> von 5‘247.4 (Privatversicherungen). Die totalen Ges<strong>und</strong>heitskosten für das Jahr 2008<br />

betrugen in Millionen Franken 58‘453.4.<br />

17 Zu den Krankenhäusern gehören <strong>die</strong> allgemeinen Krankenhäuser, <strong>die</strong> psychiatrischen Kliniken, <strong>die</strong> Rehabilitations-<br />

kliniken <strong>und</strong> andere Spezialkliniken.<br />

33


almedizinischen Institutionen 18 mit 17.1% über <strong>die</strong> Hälfte der Kosten für Dienst-<br />

leistungen <strong>und</strong> Güter <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens verursacht haben. Auf <strong>die</strong> ambu-<br />

lanten Versorger entfallen 30.9% der Kosten, wobei <strong>die</strong> ambulant tätigen Ärzte<br />

mit 17.7% der totalen Ges<strong>und</strong>heitsausgaben den bedeutendsten Anteil der<br />

Kosten in <strong>die</strong>sem Bereich verursacht haben. Der Detailhandel löste 8.9%, der<br />

Staat 2.3% <strong>und</strong> <strong>die</strong> Versicherer 4.4% der Kosten aus (BFS, 2010d). Aus Sicht der<br />

Leistungen <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens entfallen auf <strong>die</strong> Verwaltungskosten <strong>und</strong><br />

Ausgaben für Prävention <strong>und</strong> Unfallverhütung der Versicherer (5.0%) <strong>und</strong> <strong>des</strong><br />

Staates (2.5%) ein beachtlicher Anteil von 7.5% (BFS, 2010c).<br />

Die jährliche prozentuale Kostenzunahme bewegt sich zwischen 2.0% <strong>und</strong> 6.4%<br />

(1996–2008), wobei der Anstieg der Kosten von 2007 auf 2008 5.9% betrug. Wir<br />

sprechen, bezogen auf <strong>die</strong> totalen Kosten <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens seit 1995 bis<br />

2008, von einer Zunahme von ca. 38%.<br />

Als Kostenverursacher werden sehr oft <strong>die</strong> Krankenhäuser an den Pranger<br />

gestellt, deren Ausgaben anscheinend jährlich steigen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s scheinbar un-<br />

proportional zum Kostenanstieg der anderen Leistungserbringer. Dies ent-<br />

spricht jedoch nicht der Realität. Die durchschnittliche Kostenzunahme von<br />

1996 bis 2008 betrug bei den Gesamtkosten 3.6%, <strong>die</strong>s entspricht in etwa der<br />

jährlichen prozentualen Veränderung der Krankenhäuser (3.6%). Die sozialme-<br />

dizinischen Institutionen liegen mit einem Anteil von 4.2% über <strong>und</strong> <strong>die</strong> ambu-<br />

lanten Versorger mit 3.4% knapp unter der prozentualen Veränderung der<br />

Krankenhäuser. Auch <strong>die</strong> Kostenallokation <strong>und</strong> folglich <strong>die</strong> Aufteilung der<br />

Gesamtkosen nach Leistungserbringern ist über <strong>die</strong> letzten zehn Jahre unver-<br />

ändert geblieben. Die Krankenhäuser mit einem Anteil von durchschnittlich<br />

35.2% <strong>und</strong> <strong>die</strong> ambulanten Versorger mit 31.0% machen im Schnitt 66.2% der<br />

Gesamtkosten aus.<br />

Ein Anstieg der Ges<strong>und</strong>heitskosten verursacht auch immer ein Anstieg der<br />

Versicherungsprämien (OKP), weshalb ein Kostenanstieg für jeden Bürger<br />

spürbare Konsequenzen nach sich zieht. Die Nettobeiträge der Versicherten 19<br />

betrugen 9.568 (in Millionen Franken) im Jahre 1996, <strong>die</strong>se Beiträge erhöhten<br />

sich bis 2008 auf 20.064, was einem Anstieg von 52.3% entspricht. Auch <strong>die</strong><br />

18 inkl. Pflegeheime mit 12.9% <strong>und</strong> Institution für Behinderte <strong>und</strong> andere Institutionen 4.1%.<br />

19 Nettobeiträge: Prämien abzüglich Prämienverbilligungen, was der Nettobelastung der Haushalte entspricht.<br />

34


Beiträge der öffentlichen Hand 20 haben sich dementsprechend entwickelt (1996–<br />

2008 Zunahme von 52.65%).<br />

Das Ges<strong>und</strong>heitssystem darf nicht als geschlossenes Feld gesehen werden, da<br />

politische Entscheide, Regeln, Verordnungen <strong>und</strong> Gesetze sowie strukturelle<br />

Begebenheiten sich auch auf den internationalen Kontext auswirken, was im<br />

Sinne der Vergleichbarkeit zu Angleichungen zwischen den globalen Systemen<br />

führt. Dies hat zur Folge, dass im Laufe <strong>die</strong>ses Kapitels das Schweizer Ges<strong>und</strong>-<br />

heitswesen im internationalen Kontext betrachtet wird <strong>und</strong> aus globaler Sicht<br />

folgende Herausforderungen zu erwarten oder bereits im Gange sind: Integra-<br />

tion der Versicherungsmärkte, Migration von Beschäftigten <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

(v.a. in der EU <strong>und</strong> in der CH in Bezug auf <strong>die</strong> Personenfreizügigkeit),<br />

internationale Direktinvestitionen in Krankenhäuser (Effektivitäts- <strong>und</strong> Investitionsvorteile<br />

durch Setzen internationaler Standards <strong>und</strong> Senkung der Transaktionskosten<br />

innerhalb eines internationalen Multikonzerns [Stichwort: private<br />

Spitalgruppen]) (Breyer, Zweifel & Kifmann, 2005, 540 ff.). Die Einführung der<br />

DRG (Diagnosis Related Groups <strong>und</strong> im Deutschen unter diagnosebezogene<br />

Fallgruppen bekannt) in der Schweiz trägt zur Angleichung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitssystems<br />

an ihr Nachbarland Deutschland bei, wo seit zehn Jahren mit den diagnosebezogenen<br />

Fallgruppen im Rahmen eines prospektiven Vergütungssystems<br />

gearbeitet wird.<br />

Das Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen im internationalen Vergleich<br />

Das Ges<strong>und</strong>heitswesen der Eidgenossenschaft nimmt international gesehen im<br />

Hinblick auf das Recht auf Ges<strong>und</strong>heit, auf ein teils vernetztes, aber auch kantonal<br />

reguliertes Spitalnetz, auf Lebensqualität <strong>und</strong> Lebenserwartung sowie auf<br />

ges<strong>und</strong>heitsfördernde <strong>und</strong> -vorsorgende Massnahmen eine Vorreiterposition<br />

ein. Dem Recht auf Ges<strong>und</strong>heit wird unter anderem mit den Sozialversicherungen<br />

<strong>und</strong> der darin enthaltenen obligatorischen Krankenpflegeversicherung<br />

nachgekommen. Die OECD, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

<strong>und</strong> Entwicklung, veröffentlicht seit über vierzig Jahren Stu<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Berichte<br />

über <strong>die</strong> Kosten <strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens. In ihrem Bericht zur sozialen<br />

Sicherheit <strong>des</strong> Jahres 2006 stellte sie für das Jahr 2003 zum einen den pro-<br />

20 Ab 1996 v.a. <strong>die</strong> Prämienverbilligungen an Versicherte.<br />

35


zentualen Anteil der Ges<strong>und</strong>heitsausgaben am BIP <strong>und</strong> zum anderen <strong>die</strong> Ge-<br />

s<strong>und</strong>heitsausgaben pro Einwohner dar. Die Ergebnisse der erstgenannten Stu-<br />

<strong>die</strong> bilden einen aussagekräftigen Indikator zur langfristigen Messung <strong>und</strong><br />

Beobachtung der wirtschaftlichen Ressourcen, <strong>die</strong> ein Land für sein Ges<strong>und</strong>-<br />

heitssystem aufwendet. Die Resultate der zweiten Untersuchung sollen Auf-<br />

schluss über <strong>die</strong> Kaufkraft der Konsumenten für <strong>die</strong> Güter <strong>und</strong> Dienstleistun-<br />

gen <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens geben. Die Vereinigten Staaten belegen bei beiden<br />

Untersuchungen den ersten Platz <strong>und</strong> werden im Rahmen der ersten Untersu-<br />

chung von der Schweiz, Deutschland, Island, Norwegen <strong>und</strong> Frankreich ver-<br />

folgt. Bei der zweiten Untersuchung findet man <strong>die</strong>se sechs Länder auch wieder<br />

unter den ersten sieben Plätzen, jedoch nicht in derselben Reihenfolge. Die<br />

quantitativen Zahlen geben einen Richtwert an, wobei gewisse Verzerrungen<br />

vorhanden sind. Abschliessend kann jedoch angemerkt werden, dass <strong>die</strong> Streu-<br />

ung zwischen den Ländern bei den Pro-Kopf-Ausgaben wesentlich bedeuten-<br />

der ausfällt, als <strong>die</strong>s beim Anteil der Ges<strong>und</strong>heitsausgaben am BIP der Fall ist,<br />

der ein geeigneterer, dem Wirtschaftswachstum zugr<strong>und</strong>e liegender Indikator<br />

darstellt. Eine von der OECD als Phänomen bezeichnete Schlussfolgerung lau-<br />

tet folgendermassen: „Die Ges<strong>und</strong>heitsausgaben nehmen mit steigendem Le-<br />

bensstandard zu. Zwischen materiellem Wohlstand <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsausgaben<br />

– wie auch den Ausgaben für Bildung <strong>und</strong> Mobilität – besteht eine Wechselbe-<br />

ziehung: Bei weitgehender Befriedigung der anderen Gr<strong>und</strong>bedürfnisse wird<br />

der Ges<strong>und</strong>heit ein umso grösserer Stellenwert beigemessen.“ (Rossel, 2006, S.<br />

50)<br />

Tabelle 1 stellt den Mittelwert der prozentualen Zunahme der Ges<strong>und</strong>heitsaus-<br />

gaben im Vergleich zur Zunahme <strong>des</strong> Bruttoinlandprodukts der Jahre 1980 bis<br />

2003 dar. Die Abbildung verdeutlicht den in der Schweiz herrschenden, we-<br />

sentlich stärkeren Anstieg der Ges<strong>und</strong>heitsausgaben im Vergleich zum Anstieg<br />

<strong>des</strong> Bruttoinlandsprodukts, weshalb der Ruf nach wirtschaftlichen Anpassun-<br />

gen <strong>und</strong> Reformen lauter denn je erklingt. Der Autor <strong>des</strong> OECD Artikels Ray-<br />

mond Rossel merkt aber dazu treffend an: „Schliesslich sind im Ges<strong>und</strong>heits-<br />

wesen <strong>die</strong> menschlichen Werte ausschlaggebend: Entscheide werden sich in<br />

<strong>die</strong>sem Bereich nie auf eine technokratische Interpretation einiger statistischer<br />

Indikatoren reduzieren lassen.“ (Rossel, 2006, S. 53).<br />

36


Tabelle 1: Jährliche Zunahme <strong>des</strong> Bruttoinlandprodukts <strong>und</strong> der Ges<strong>und</strong>heitsausgaben im Mittel der<br />

Jahre 1980 bis 2003<br />

(Rossel, 2006, S. 52)<br />

Ein weiterer wichtiger Indikator <strong>des</strong> internationalen Vergleichs stellt der Anteil<br />

der Ges<strong>und</strong>heitsausgaben am Bruttoinlandprodukt ab 1998 bis 2007 dar, der bei<br />

allen Ländern seit 1998 relativ konstant geblieben ist. Vergleicht man <strong>die</strong> heuti-<br />

gen Zahlen mit den Daten aus dem Jahre 1970, so ist ein deutlicher Anstieg der<br />

Anteile zu verzeichnen. In der Schweiz lag <strong>die</strong>ser Anteil damals bei 5.4% <strong>und</strong><br />

folglich auf demselben Niveau wie derjenige von Frankreich, der von Deutsch-<br />

land lag bei 6.0% <strong>und</strong> jener der USA bei 7.1% (OECD, 2010). Die USA führt<br />

auch heute noch <strong>die</strong> Spitze <strong>des</strong> Anteils der Ges<strong>und</strong>heitskosten am BIP an, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s mit stattlichen 16.0% im Jahre 2007. Die Schweiz befand sich im Ranking<br />

immer auf den Rängen zwei bis vier, auf welchen abwechslungsweise auch<br />

Deutschland oder Frankreich zu finden waren. Vermutet wird, dass der Anteil<br />

der Ges<strong>und</strong>heitskosten am BIP im Jahre 2010 auf 11.5% <strong>und</strong> im Jahre 2011 auf<br />

11.6% ansteigen wird, was von der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF)<br />

prognostiziert wurde. Die KOF musste weiter das Wachstum der gesamten<br />

Ges<strong>und</strong>heitskosten für das Jahr 2010 <strong>und</strong> 2011 von prognostizierten 2.4% bzw.<br />

2.5% auf jeweils 3.7% erhöhen, was gemäss dem Institutsleiter Jan-Egbert Sturm<br />

mit einem stärkeren Anstieg der Gehälter <strong>und</strong> einem höheren Wachstum der<br />

Bevölkerung zusammenhänge (NZZ, 19. Mai 2010).<br />

Im internationalen Vergleich geniesst das Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen noch<br />

immer den Ruf eines fortschrittlichen <strong>und</strong> qualitativ hochstehenden Ges<strong>und</strong>-<br />

heitswesens, was nebst den strukturellen, finanziellen <strong>und</strong> politischen Bedin-<br />

gungen vor allem hoch qualifizierten <strong>und</strong> kompetenten Fachkräften, Ärzte-<br />

schaft <strong>und</strong> Pflege, zu verdanken ist. Die Institution <strong>des</strong> öffentlichen Kranken-<br />

37


hauses kommt aber aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> zunehmenden Kostendrucks immer stärker<br />

unter Beschuss, was zu einer Regulierung der öffentlichen Versorgungsinstitu-<br />

tionen durch staatliche Rationalisierungsmassnahmen führt <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />

mit der Zunahme privater Versorgungsinstitutionen zusammenhängt.<br />

Weitere zentrale Herausforderungen, <strong>die</strong> sich durch <strong>die</strong> anvisierten Rationali-<br />

sierungsmassnahmen <strong>und</strong> -instrumente verstärken werden, stellen <strong>die</strong> zuneh-<br />

menden sozialen Ungleichheiten dar, <strong>die</strong> sich in Form einer Zwei- bzw. Drei-<br />

Klassen-Medizin manifestieren, das wirtschaftsliberale Gedankengut <strong>und</strong> eine<br />

damit einhergehende Orientierung an zweckrationalen Paradigmen. Demzu-<br />

folge weg vom Solidaritäts- hin zum Selbstverantwortungsprinzip, weg von der<br />

Idee der Sozialstaatlichkeit <strong>und</strong> der sozialstaatlichen Versorgung hin zu einem<br />

an den Kriterien Wirtschaftlichkeit, Eigenverantwortlichkeit, Nutzen- versus<br />

Bedarfsprinzip <strong>und</strong> einem an der Umkehr der Mittel-Zweck-Beziehung sich<br />

orientierenden Ges<strong>und</strong>heitssystems (Braun, Buhr, Klinke, Müller & Rolf, 2010;<br />

Schmidt, 2008; Dahme, Kühnlein, Wohlfahrt, 2005). In Bezug auf <strong>die</strong> Makroebene<br />

findet man einen Wohlfahrtstaat, der eine Laudatio auf den Megatrend<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> hält, der den öffentlichen Institutionen <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes<br />

privatwirtschaftliche Modelle, Strategien <strong>und</strong> Prozesse auferlegen will <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> darin vertretenen Akteure einer Managerialisierung unterziehen will. Auf<br />

der Mesoebene kann <strong>die</strong>s zum langsamen, aber steten Abbau regionaler <strong>und</strong><br />

demzufolge öffentlicher Krankenhäuser <strong>und</strong> dem Aufbau privater Krankenhausgruppen<br />

führen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s zum Zwecke der Kostenreduktion durch Wettbewerbsdruck<br />

(Stichwort: selektiver Zugang zu Versorgungsinstitutionen), was<br />

zu einer steten Durchdringung der Krankenhauslandschaft <strong>und</strong> ihres Innenlebens<br />

(Mikroebene) durch <strong>Ökonomisierung</strong>sstrategien führt <strong>und</strong> ihren Output<br />

anhand wirtschaftlicher Kennzahlen misst. Was in Bezug auf <strong>die</strong> Mikroebene<br />

zu moralischen Dissonanzen führt, da dem berufsethischen Selbstverständnis<br />

der Ärzteschaft, welches sich in seiner reinsten Form an ethischen <strong>und</strong> moralischen<br />

Handlungsnormen orientiert, eine Durchdringung ökonomisch induzierter<br />

Handlungsmaximen wie Wirtschaftlichkeit, Zweckmässigkeit <strong>und</strong> medizinischer<br />

Notwendigkeit widerfuhr.<br />

Im nächsten Kapitel wird <strong>die</strong> Feldtheorie Bour<strong>die</strong>us <strong>und</strong> ihre Implikationen auf<br />

<strong>die</strong> drei Ebenen – Makro, Meso <strong>und</strong> Mikro – von zentraler Bedeutung sein. Das<br />

Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens konstituiert sich, vereinfacht ausgedrückt, folgen-<br />

38


dermassen: Die Patienten, <strong>die</strong> zugleich auch <strong>die</strong> Versicherten sind, erhalten von<br />

den Leistungserbringern, dazu gehören <strong>die</strong> Ärzteschaft <strong>und</strong> Pflege, eine Leistung<br />

in Form von medizinischem Fachwissen wie Behandlungen, Untersuchungen,<br />

Gespräche <strong>und</strong> Medikamente, <strong>die</strong> wiederrum durch <strong>die</strong> Krankenversicherungen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Patienten abgegolten werden. Die Krankenversicherungen<br />

ihrerseits erhalten für das Begleichen der Arztrechnungen Prämien von den<br />

Patienten. Dass dem Feld eigene Spielregeln <strong>und</strong> „Illusio“ <strong>und</strong> „Einsätze“ zugr<strong>und</strong>e<br />

liegt, <strong>die</strong> den Akteuren unterschiedliche Positionen einräumen, <strong>die</strong><br />

wiederum durch ihren Habitus <strong>und</strong> ihre Kapitalstruktur definiert werden, zeigt<br />

das nächste Kapitel.<br />

2.2 Die Feldtheorie Bour<strong>die</strong>us – Implikation der Makroebene<br />

Das folgende Kapitel wagt sich an <strong>die</strong> Feldtheorie Bour<strong>die</strong>us heran, wodurch<br />

ein Verständnis für das Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens, als wesentlicher Bestandteil<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Dienstes, <strong>und</strong> für einen neuen Feldeffekt, den Eintritt<br />

marktwirtschaftlich ausgerichteter Privatkrankenhäuser, aus soziologischer<br />

Perspektive erreicht werden soll. Felder sind keine Konstanten <strong>und</strong> stellen<br />

keine transhistorischen Universalien dar, sie konstituieren sich historisch aus<br />

Errungenschaften, <strong>die</strong> durch gesellschaftliche bzw. soziale Akteure hervorgebracht<br />

<strong>und</strong> durchgesetzt wurden. Die nachfolgenden Ausführungen zur Feldtheorie<br />

Bour<strong>die</strong>us <strong>und</strong> der Herstellung öffentlicher Güter werden sich an das<br />

Manuskript „Im Dienste öffentlicher Güter: eine feldtheoretische Annäherung.“<br />

von Franz Schultheis (2012) anlehnen. Ein Ensemble an Praktiken <strong>und</strong> Einsätzen,<br />

denen bislang keine Sonderstellung zukam, soll eine eben solche im Laufe<br />

eines Differenzierungsprozesses zugestanden werden. Dieser Prozess wird<br />

durch gesellschaftliche Akteure, <strong>die</strong> für eine Autonomie <strong>die</strong>ser Werte kämpfen,<br />

initiiert (Schultheis, 2012, S. 4). Das Ges<strong>und</strong>heitswesen stellt ein Feld dar, das<br />

einer eigenen Logik gehorcht <strong>und</strong> eigene Regeln aufstellt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> darin vertretenen<br />

Akteure kennen, anerkennen <strong>und</strong> mehrheitlich auch befolgen. Die Definition<br />

eines Fel<strong>des</strong> bedingt, dass der Wissenschaftler sich <strong>die</strong> Frage nach den<br />

Grenzen <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> <strong>und</strong> nach den Beziehungen der unterschiedlichen angrenzenden<br />

bzw. im Zusammenhang stehenden Feldern stellen muss. Es existieren<br />

formale Merkmale, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Felder teilen <strong>und</strong> akzeptieren, wie beispielsweise <strong>die</strong><br />

Tatsache, dass alle Felder Kraft- <strong>und</strong> Machtfelder darstellen <strong>und</strong> dass in jedem<br />

Feld der Pol <strong>des</strong> Herrschers <strong>und</strong> der Pol <strong>des</strong> Beherrschten existiert (Jurt, 2008, S.<br />

39


93). Es handelt sich folglich um einen konstruktivistischen Feldbegriff, den<br />

Bour<strong>die</strong>u folgendermassen definiert: „Mit dem Wort ,Konstruktivisumus‘ ist<br />

gemeint, dass es eine soziale Genese gibt einerseits der Wahrnehmungs-, Denk-<br />

<strong>und</strong> Handlungsschemata, <strong>die</strong> für das konstitutiv sind, was ich Habitus nenne,<br />

andererseits der sozialen Strukturen <strong>und</strong> da nicht zuletzt jener Phänomene, <strong>die</strong><br />

ich als Felder <strong>und</strong> als Gruppen bezeichne, insbesondere <strong>die</strong> herkömmlicherweise<br />

so genannten sozialen Klassen.“ (Bour<strong>die</strong>u, 1987/1992a, S. 135) Die Feldtheorie<br />

Bour<strong>die</strong>us erfreut sich auch in der einschlägigen Literatur, <strong>die</strong> zur Aufarbeitung<br />

<strong>des</strong> Forschungsgegenstan<strong>des</strong> <strong>die</strong>ser Arbeit <strong>die</strong>nte, grosser Beliebtheit<br />

<strong>und</strong> offenbarte unterschiedliche Differenzierungen <strong>des</strong> Feldbegriffs. Dementsprechend<br />

war von Sub- oder Unterfeldern <strong>die</strong> Rede, was im Bereich <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

beispielsweise zur Aufschlüsselung der Medizin in Unterfelder<br />

wie <strong>die</strong> kurative, präventive oder rehabilitative Medizin oder <strong>die</strong> stationäre,<br />

ambulante oder häusliche Krankenpflege geführt hat (Schroeter, 2008, zit. in<br />

Bauer & Büscher, 2008, S. 52). Von der Verwendung der Begriffe Sub- bzw.<br />

Unterfeld wird abgesehen. Im Feld Ges<strong>und</strong>heitswesen sind Institutionen vertreten,<br />

in welchen medizinisches Wissen von Experten <strong>und</strong> Fachpersonal angewendet<br />

wird. Im Ges<strong>und</strong>heitswesen kommt dem Staat ein garantiertes Quasi-<br />

Monopol zu. Es ist von einem Quasi-Monopol <strong>die</strong> Rede, da historisch bedingt<br />

<strong>und</strong> vor der Säkularisierung <strong>die</strong> Kirche eine Monopolstellung im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

einnahm (Schultheis, 2012). 21 Heutzutage wird <strong>die</strong> Legitimation der<br />

Tätigkeit der Akteure einerseits durch den Staat im Zusammenhang mit der<br />

Prüfung <strong>des</strong> ärztlichen Staatsexamens <strong>und</strong> der in der medizinischen Wissenschaft<br />

vertretenen Fachausweise erteilt. Der Akt der Weihe, der in der vorliegenden<br />

Arbeit als Prozess erachtet wird, wird unter Kapitel 5.1 beschrieben. Als<br />

eine der zentralen Weiheinstitutionen kann das Universitätsspital betrachtet<br />

werden <strong>und</strong> der Chefarzt, der durch <strong>die</strong> Ernennung <strong>und</strong> oftmalig auch Abwer-<br />

21 Anhand statistischer Daten aus dem Krankenhaussektor Deutschlands lässt sich erkennen, dass der kirchlichen oder<br />

karitativen Gemeinschaft (freigemeinnützige Organisationen) auch heute noch eine wichtige Bedeutung im Zusammenhang<br />

mit dem Gemeinwohl zukommt. Im Jahre 2010 waren von den insgesamt 2‘064 Kliniken in Deutschland<br />

30.5% in der Hand öffentlicher Träger, 36.6% in der Hand freigemeinnütziger Träger <strong>und</strong> 32.9% unter der Führung<br />

privater Unternehmen (Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V., 2010). In der Schweiz liessen sich über das B<strong>und</strong>esamt<br />

für Statistik keine solchen Daten eruieren. Der rechtlich-wirtschaftliche Status eines Krankenhauses kennt drei b<strong>und</strong>esweite<br />

Bezeichnungen: öffentlich, subventioniert <strong>und</strong> privat bzw. öffentlich, öffentlich subventioniert <strong>und</strong> privat (BFS,<br />

2008/2009, S. 11). Die Zuordnung der Institutionen hinsichtlich ihres rechtlich-wirtschaftlichen Status erfolgt anhand der<br />

Prüfung zweier Kriterien: Betriebsbeitrags- oder Investitionsbeitragsgarantie <strong>und</strong> Defizitgarantie. Die Institutionen<br />

werden als „öffentlich“ erachtet, wenn sie eine öffentlich-rechtliche Institution sind <strong>und</strong> als „privat“, wenn sie eine<br />

privatrechtliche Institution sind <strong>und</strong> keine der Garantien beanspruchen. Erhält eine privatrechtliche Institution eine<br />

Betriebsbeitrags- oder eine Investitionsbeitragsgarantie oder/<strong>und</strong> eine Defizitgarantie seitens der öffentlichen Hand, so<br />

wird sie als „öffentlich subventionierte“ Institution erachtet (BFS, 2010e).<br />

40


ung seines Nachfolgers, <strong>die</strong> Weihe gewissermassen vollendet, kann in Annä-<br />

herung an das religiöse Feld von Bour<strong>die</strong>u als „Priester“ erachtet werden<br />

(Bour<strong>die</strong>u, 2000). Der Staat stellt als Garant <strong>die</strong> Verankerung der Medizin im<br />

universitären Bereich <strong>und</strong> der Werthaltigkeit <strong>und</strong> internationalen Validität der<br />

erworbenen Titel sicher <strong>und</strong> hat <strong>die</strong> Oberaufsicht über das Studium, das Wei-<br />

terbildungsangebot <strong>und</strong> <strong>die</strong> Erteilung bzw. Entwendung fachärztlicher Aus-<br />

weise. Andererseits prüft der Stand der Ärzteschaft ihre Mitglieder <strong>und</strong> Nach-<br />

kommen, was einerseits dadurch geschieht, dass er sich aktiv an der Aus- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung der angehenden <strong>und</strong> jungen Ärzte beteiligt <strong>und</strong> andererseits<br />

auch eine bewusste Förderung von zukünftigen Experten vornimmt, wozu<br />

auch <strong>die</strong> Initiierung von Auslandsaufenthalten oder <strong>die</strong> strategisch beste Plat-<br />

zierung in öffentlichen Kantons- bzw. Universitätsspitälern gehört. Die Siche-<br />

rung der Ausbildung <strong>und</strong> Ernennung der nächsten Generation durch <strong>die</strong> ge-<br />

genwärtigen fachlichen Experten stellt ein weiterer Legitimationsprozess der<br />

Ärzteschaft <strong>und</strong> insbesondere ihrer Tätigkeit dar.<br />

Die soziogenetische <strong>und</strong> historisch gewachsene Ausdifferenzierung eines ge-<br />

sellschaftlichen Fel<strong>des</strong> geht einher mit der Bildung eines feldspezifischen Habi-<br />

tus. Betrachtet man also das öffentliche Gut Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> den Ges<strong>und</strong>-<br />

heitssektor als Teilbereich <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes, bedingt <strong>die</strong>s auch <strong>die</strong> re-<br />

konstruktive Nachvollziehbarkeit der Psychogenese eines bestimmten Typus<br />

von Akteur <strong>und</strong> seines Habitus. Ohne <strong>die</strong>se feldspezifischen <strong>und</strong> inkorporier-<br />

ten ethischen, moralischen <strong>und</strong> verhaltensmässigen Dispositionen, <strong>die</strong> den<br />

Habitus konstituieren, wäre das Funktionieren eines Fel<strong>des</strong> wie das <strong>des</strong> öffent-<br />

lichen Dienstes <strong>und</strong> seiner Institutionen, wie beispielsweise das Krankenhaus,<br />

gar nicht möglich (Schultheis, 2012, S. 7). Die Entstehung der Idee eines öffentli-<br />

chen Gutes wie das der Ges<strong>und</strong>heit wäre ohne ein Feld, in welchem das Han-<br />

deln im Interesse der Öffentlichkeit, im Dienste der Allgemeinheit <strong>und</strong> für das<br />

Gemeinwohl der Öffentlichkeit anerkannt, wertgeschätzt, gefördert, gefordert<br />

<strong>und</strong> belohnt wird, <strong>und</strong>enkbar. Öffentliche Güter <strong>und</strong> ihre Produktion durch<br />

soziale Akteure bedingen <strong>die</strong> Verneinung <strong>und</strong> Tabuisierung <strong>des</strong> ökonomischen<br />

Charakters <strong>des</strong> produzierten Gutes <strong>und</strong> der Produktion an sich, womit eine<br />

kollektive Heuchelei institutionalisiert <strong>und</strong> beispielsweise in öffentlichen Kran-<br />

kenhäusern bislang aufrechterhalten wurde. Die Produktion, Aufrechterhal-<br />

tung <strong>und</strong> Wiederherstellung <strong>des</strong> Gutes <strong>und</strong> der Einsatz, den soziale Akteure für<br />

das öffentliche Interesse leisten, verursachen jedoch hohe monetäre Kosten,<br />

41


woraus sich eine nicht zu verleugnende Doppelstrukturiertheit ergibt. Diese<br />

Verkennung der ökonomischen Dimension <strong>des</strong> öffentlichen Gutes geht mit<br />

einer ähnlichen Verkennung seitens ihrer Akteure einher. Durch <strong>die</strong> Produktion<br />

eines öffentlichen Gutes, das dem Gemeinwohl <strong>und</strong> einem universellen öffentlichen<br />

Interesse <strong>die</strong>nlich ist, wird ihnen <strong>die</strong> Legitimierung ihres Handelns zugesprochen,<br />

das als rein, nicht marktwirtschaftlich induzierten Regeln gehorchend<br />

<strong>und</strong> fern der Vulgarität <strong>des</strong> steten Strebens nach ökonomischem Kapital<br />

empf<strong>und</strong>en wird (Schultheis, 2012, S. 7). Durch <strong>die</strong> Legitimierung <strong>des</strong> Handelns<br />

<strong>des</strong> sozialen Akteurs <strong>und</strong> der Verkennung der Doppelstrukturiertheit seiner<br />

Tätigkeit kommt ihm ein symbolisches Kapital in Form der Ehre, der Anerkennung<br />

<strong>und</strong> eines ausseralltäglichen Status zu, das sich deutlich von der Wirkkraft<br />

<strong>und</strong> der hohen zugeschriebenen Bedeutsamkeit <strong>des</strong> ökonomischen Kapitals<br />

in marktwirtschaftlich orientierten Bereichen unterscheidet. Die Bedeutsamkeit<br />

<strong>des</strong> symbolischen Kapitals der Ehre hatte Bour<strong>die</strong>u während seiner<br />

Zeit in Algerien erkannt. Weber spricht in <strong>die</strong>sem Zusammenhang auch vom<br />

„Amtscharisma“, dazu mehr unter Kapitel 5.<br />

Ein Feld bedingt einen Einsatz seitens seiner Akteure, eines Glaubens, dass<br />

<strong>die</strong>ser auch lohnenswert ist <strong>und</strong> eines Habitus, also Wahrnehmungs-, Denk<strong>und</strong><br />

Handlungsschemata, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Einsätze <strong>und</strong> Regeln <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> kennen <strong>und</strong><br />

anerkennen, wodurch ein heimliches Einverständnis unter den beteiligten Akteuren<br />

konstituiert wird (Bour<strong>die</strong>u, 1980/1993, S. 107 f). Der von den Agierenden<br />

im Felde geteilte Glauben an den Einsatz nennt Bour<strong>die</strong>u „Illusio“. Je<strong>des</strong> Feld<br />

hat seine eigenen Einsätze <strong>und</strong> demzufolge auch seine eigene „Illusio“, <strong>die</strong> von<br />

Aussenstehenden teils nicht erkannt, oft nicht verstanden <strong>und</strong> demzufolge<br />

nicht akzeptiert <strong>und</strong> als illusorisch bezeichnet werden (Bour<strong>die</strong>u, 1994, S. 152<br />

zit. in Rehbein, 2006, S. 106). Die „Illusio“ im Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens besteht<br />

aus der Überzeugung der sozialen Sinnhaftigkeit der Praxis bzw. <strong>des</strong><br />

humanistischen Berufsethos <strong>des</strong> Arztes, nämlich dem Menschen Gutes tun zu<br />

wollen, <strong>und</strong> getreu <strong>die</strong>ser „Illusio“ ist <strong>die</strong> angehende als auch bereits etablierte<br />

Ärzteschaft bereit, Einsätze für das Feld zu erbringen. Als Einsatz in der Institution<br />

Krankenhaus können beispielsweise <strong>die</strong> Überst<strong>und</strong>en gelten, <strong>die</strong> Assistenzärzte<br />

während ihrer Ausbildung im Spital tätigen, oder <strong>die</strong> Notarzt<strong>die</strong>nste<br />

mit ihren langen Nächten <strong>und</strong> Wochenendeinsätzen, <strong>die</strong> in der Schweiz für alle<br />

Ärzte eine Pflicht darstellen. Die Interviews haben gezeigt, dass gerade <strong>die</strong><br />

unregelmässigen Arbeitszeiten in einer grossen Belastung für <strong>die</strong> Familien<br />

42


esultieren, weshalb man <strong>die</strong>se Komponente sehr wohl als Einsatz betrachten<br />

darf. Zum gegenwärtigen Umgang der jungen Ärzte mit ihrer Freizeit <strong>und</strong><br />

ihrem Privatleben nahm Prof. Dr. Petra S., Chefärztin einer Spezialität der Inne-<br />

ren Medizin eines Kantonsspitals, folgendermassen Stellung: „Der Anspruch<br />

aber ist einfach anders, sie wollen daneben noch etwas leben,<br />

möchten Freizeit haben, möchten Familie haben. Parallel<br />

kommt, so denke ich, der Anspruch <strong>des</strong> Partners oder der<br />

Partnerin, das ist auch anders. (…) Das habe ich auch mit<br />

meinen Kollegen <strong>des</strong> Kaders, <strong>die</strong> hier am Spital arbeiten,<br />

<strong>die</strong> teilweise seitens der Familie unter einem unheimlichen<br />

Druck stehen. Der Wertewandel. (…) Also meine Männer müssen<br />

dann auch nach Hause gehen, um auf <strong>die</strong> Kinder aufzupassen,<br />

<strong>und</strong> wenn eine Frau gebärt, dann hat er Vaterschaftsurlaub,<br />

<strong>und</strong> wenn das Kind krank ist, dann muss der Vater mal zu<br />

Hause bleiben. Das bemerkt man schon anhand der Planung der<br />

Diensteinsätze. Wir haben gerade ein Paar, <strong>die</strong> Kinder gekriegt<br />

haben, oder <strong>die</strong> Frau wird wieder berufstätig <strong>und</strong><br />

sagt, wir machen ein Agreement. Dann heisst es, <strong>die</strong> Frau<br />

arbeitet dann <strong>und</strong> dann, <strong>und</strong> der Mann arbeitet auch, ergo,<br />

wenn <strong>die</strong> Frau arbeitet, dann muss gewährleistet sein, dass<br />

der Mann Haushalt- <strong>und</strong> Kinderpflichten wahrnimmt. Deshalb<br />

glaube ich, dass es einen Wertewandel bezüglich, ich mag<br />

das Wort nicht so, Selbstverwirklichung der jungen Ärzte,<br />

<strong>die</strong> sich nicht nur auf den Beruf ausrichten sondern denen<br />

auch Freizeit, Hobby, Sport, Kultur <strong>und</strong> neben dran <strong>die</strong> Ansprüche<br />

der Umgebung eine Rolle spielen, gegeben hat. Dies<br />

führt zu anderen Arbeitszeiten oder zumin<strong>des</strong>t zum Wunsch<br />

danach.“ In Bezug auf <strong>die</strong> Abwanderung aus öffentlichen Spitälern hin zu<br />

privaten müssen <strong>die</strong> abwandernden Ärzte an <strong>die</strong> „Illusio“, <strong>die</strong> in der Institution<br />

<strong>des</strong> Privatspitals herrscht <strong>und</strong> nicht von der eigentlichen „Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong><br />

abweichen sollte, an <strong>die</strong> darin waltenden Regeln (Unternehmertum, Managerialisierung,<br />

Wirtschaftlichkeit, Selektion etc.) <strong>und</strong> an ihren Einsatz glauben (wenig<br />

bis kein Teaching, engeres Patientenspektrum, geringere Anzahl medizinisch<br />

interessanter Fälle etc.). Innerhalb eines Fel<strong>des</strong> sind soziale Strukturen<br />

gegeben, in denen <strong>die</strong> Akteure <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> unterschiedliche soziale Positionen<br />

einnehmen, <strong>die</strong> ihnen unter anderem aufgr<strong>und</strong> der Akkumulation <strong>und</strong> der<br />

Struktur ihres kulturellen, ökonomischen, sozialen <strong>und</strong> damit einhergehenden<br />

symbolischen Kapitals, ihres Habitus <strong>und</strong> ihren Dispositionen zukommen.<br />

Diese Verbindung zwischen Position <strong>und</strong> Habitus definiert Bour<strong>die</strong>u folgen-<br />

43


dermassen: „Die Vorstellungen der Akteure variieren also je nach ihrer Position<br />

(<strong>und</strong> damit verknüpften Interessen) <strong>und</strong> ihrem Habitus, verstanden als System<br />

von Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Urteilsschemata, als kognitive <strong>und</strong> evaluative Struk-<br />

turen, <strong>die</strong> sie vermittelt über <strong>die</strong> dauerhafte Erfahrung einer Position in der<br />

sozialen Welt erwerben. Der Habitus ist gleichzeitig ein System von Schemata<br />

der Produktion von Praktiken <strong>und</strong> ein System von Schemata der Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> Bewertung der Praktiken. Und beide Male kommt in seinen Operationen<br />

<strong>die</strong> soziale Position zum Ausdruck, in denen er sich entwickelt hat. Folglich<br />

produziert der Habitus Praktiken <strong>und</strong> Vorstellungen, <strong>die</strong> klassifiziert werden<br />

können, <strong>die</strong> objektiv differenziert sind; als solche sind sie jedoch unmittelbar<br />

nur für Akteure wahrnehmbar, <strong>die</strong> den Kode besitzen, <strong>die</strong> zum Verständnis<br />

ihres sozialen Sinns notwendigen Klassifikationsschemata.“ (Bour<strong>die</strong>u,<br />

1987/1992a, S. 144) Die soziale Welt im Sinne von Bour<strong>die</strong>u konstituiert sich in<br />

einer objektiv <strong>und</strong> einer subjektiv strukturierten Welt, <strong>die</strong> er anhand folgender<br />

Worte definiert: „Mit anderen Worten: vermittels der Verteilung der Eigenschaften<br />

präsentiert sich <strong>die</strong> soziale Welt objektiv als ein symbolisches System,<br />

das nach der Logik der Differenz, <strong>des</strong> differenziellen Abstands organisiert ist.<br />

Tendenziell funktioniert der soziale Raum wie ein symbolischer Raum, wie ein<br />

Raum von Lebensstilen <strong>und</strong> durch unterschiedliche Lebensstile gekennzeichneten<br />

Statusgruppen. Die Wahrnehmung der sozialen Welt ist somit Produkt<br />

einer doppelten Strukturierung: Von objektiver Seite aus ist sie sozial strukturiert,<br />

weil <strong>die</strong> den Akteuren zugewiesenen Eigenschaften sich in Kombinationen<br />

darbieten, <strong>die</strong> ungleiche Wahrscheinlichkeiten aufweisen: (…), so werden<br />

Personen, <strong>die</strong> über eine verfeinerte Sprachbeherrschung verfügen, mit grosser<br />

Wahrscheinlichkeit in einem Museum gesehen als Personen ohne eine derartige<br />

Sprachbeherrschung. Von subjektiver Seite ist sie strukturiert, weil <strong>die</strong> Wahrnehmungs-<br />

<strong>und</strong> Urteilsschemata, zumal <strong>die</strong> in der Sprache liegenden, den Zustand<br />

der symbolischen Machtbeziehungen zum Ausdruck bringen (…). Zusammen<br />

produzieren <strong>die</strong>se beiden Mechanismen eine gemeinsame Welt, eine<br />

Welt <strong>des</strong> Gemeinsinns, eine gemeinsame Alltags-Welt oder zumin<strong>des</strong>t doch<br />

einen Minimalkonsens über <strong>die</strong> soziale Welt.“ (Bour<strong>die</strong>u, 1987/1992a, S. 146 f.)<br />

Dank <strong>des</strong> Habitus, der Dispositionen <strong>und</strong> <strong>des</strong> Geschmacks, <strong>die</strong> zwischen den<br />

Positionen <strong>und</strong> den Praktiken in Form offensichtlicher Präferenzen im sozialen<br />

Raum herrschen <strong>und</strong> auch kennzeichnend für <strong>die</strong> im sozialen Raum eingenommene<br />

Positionen sind, wird einem Chaos innerhalb <strong>die</strong>ses Raumes entgegengewirkt.<br />

Dies erklärt auch, weshalb <strong>die</strong> Kaderärzte, <strong>die</strong> zu einer Zeit ausge-<br />

44


ildet wurden, als <strong>die</strong> chefarztorientierte Führung als legitime Führungsstruk-<br />

tur galt, wo der Chefarzt durch seine Fachkompetenz, seinen Erfahrungsreich-<br />

tum <strong>und</strong> seinen Einsatz in Form der stetigen Erreichbarkeit, dank welchen<br />

<strong>die</strong>ser auch <strong>die</strong> Kaderfunktion erreichte, <strong>die</strong> Position <strong>des</strong> Machtinhabers ein-<br />

nahm <strong>und</strong> als <strong>die</strong> entscheidungsbevollmächtigte Autorität galt, offensichtlich<br />

Mühe mit der gegenwärtigen <strong>und</strong> künftigen Besetzung der Spitalspitzen mit<br />

Ökonomen haben. Die Strukturiertheit ihres sozialen Raums wird durch den<br />

Eintritt <strong>des</strong> Akteurs homo oeconomicus, der nicht <strong>die</strong>selben Denk-, Handlungs<strong>und</strong><br />

Wahrnehmungsschemata inkorporiert hat, einer Transformation unterzogen<br />

<strong>und</strong> einem neuen <strong>und</strong> damit unbekannten Feldeffekt ausgesetzt, wodurch<br />

der soziale Akteur <strong>die</strong> „Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> in grosser Gefahr sieht. Sie fühlen<br />

sich durch <strong>die</strong> langsame Demontage ihres Berufsstan<strong>des</strong> durch Outsider, <strong>die</strong><br />

mit ins Feld geführten neuen Modellen <strong>und</strong> Regeln aus der Wirtschaft <strong>die</strong> soziale<br />

Struktur der Institution Krankenhaus einer Angleichung an privatwirtschaftlich<br />

geführte Unternehmen unterziehen wollen, in ihrer Position als Herrscher<br />

bedroht <strong>und</strong> fühlen sich zusehends als Beherrschte, deren ethisches Berufsverständnis<br />

untergraben wird. Durch das Setzen neuer Ansprüche an ihre<br />

Leistungen wie Wirtschaftlichkeit, Zweckmässigkeit <strong>und</strong> Wirksamkeit fühlen<br />

sie sich ihres berufsständischen Ethos beraubt. Die Transformation <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong><br />

wurde aber nicht ausschliesslich durch den Eintritt von Outsidern <strong>und</strong> neuen<br />

Marktakteuren, in Form von Privatkliniken, bedingt, sondern gleichzeitig auch<br />

durch <strong>die</strong> abgewanderten Ärzte, <strong>die</strong> Leaver, <strong>die</strong> durch ihren Weggang aus dem<br />

öffentlichen Krankenhauswesen den Eintritt marktwirtschaftlich orientierter<br />

Privatspitäler legitimiert haben, wodurch dem Schein <strong>des</strong> zweckfreien <strong>und</strong><br />

uneigennützigen Dienstes an der Öffentlichkeit <strong>und</strong> der Verneinung <strong>des</strong> Ökonomischen<br />

Abbruch getan wurde. Dieser Schein der Verkennung <strong>des</strong> Ökonomischen,<br />

eines Bestandteils der „Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>, war aber bis anhin für <strong>die</strong><br />

Aufrechterhaltung <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes <strong>und</strong> <strong>des</strong> öffentlichen Gutes konstituierend.<br />

Der Habitus <strong>des</strong> Arztes, der durch sein berufsständisches Charisma,<br />

den Glauben der Öffentlichkeit an sein reines <strong>und</strong> uneigennütziges Denken <strong>und</strong><br />

Handeln im Dienste <strong>des</strong> Gemeinwohls ein Ensemble an Denk-, Wahrnehmungs-<br />

<strong>und</strong> Handlungsschemata ausbildet, gerät dadurch massgeblich unter<br />

Druck. Alle <strong>die</strong>se letztgenannten Bedingungen konstituieren das Feld bzw.<br />

<strong>des</strong>sen Funktionsweise <strong>und</strong> sind zugleich Bestandteil <strong>und</strong> Produkt <strong>die</strong>ses Funktionierens<br />

(Bour<strong>die</strong>u, 1980/1993, S. 108). Mithilfe der Interviewzeugnisse, anhand<br />

<strong>des</strong> berufsethischen Verständnisses <strong>und</strong> der Verteilungsstruktur der Kapi-<br />

45


talien werden sich im Rahmen der Interviewauswertung <strong>die</strong> Differenzen zwi-<br />

schen dem Stayer, Leaver <strong>und</strong> Rückkehrer herausbilden, <strong>die</strong> bereits anhand der<br />

Porträts in Kapitel 4 ersichtlich sind.<br />

Das Feld ist demzufolge einem steten Kräftemessen ausgesetzt, wobei demjeni-<br />

gen, der zu den Herrschenden gehört <strong>und</strong> der über Macht verfügt, <strong>die</strong> ihm<br />

aufgr<strong>und</strong> seines Habitus <strong>und</strong> folglich auch seines ökonomischen, kulturellen<br />

<strong>und</strong> sozialen Kapitals22 zugesprochen wird, eine stärkere <strong>und</strong> bedeutendere<br />

Position im Feld zukommt als demjenigen, der über weniger Kapital verfügt. Es<br />

sind <strong>die</strong> Herrschenden, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Legitimität innerhalb <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> festlegen. Diese<br />

kann jedoch jederzeit infrage gestellt werden, ohne dass das Feld an sich infrage<br />

gestellt wird (Jurt, 2008, S. 92). Der Kapitalbegriff kann als Verbindung <strong>des</strong><br />

Feld- <strong>und</strong> Habitusbegriffs verstanden werden (Rehbein, 2006, S. 111) <strong>und</strong><br />

nimmt bezüglich der Position <strong>des</strong> Akteurs im globalen sozialen Raum dahingehend<br />

eine wichtige Stellung ein, dass ihm einerseits durch den Besitz an Kapital<br />

in seinen verschiedenen Varianten <strong>und</strong> andererseits entsprechend dem relativen<br />

Gewicht jeder Kapitalart, bezogen auf das Gesamtvolumen <strong>des</strong> Kapitals,<br />

also folglich bezogen auf <strong>die</strong> Struktur <strong>des</strong> Kapitals, eine andere Position im<br />

sozialen Raum zukommt (Bour<strong>die</strong>u, 1987/1992a, S. 140). Die Fachbücher zeigen<br />

eine gewisse Uneinigkeit hinsichtlich der Anzahl der Kapitalformen nach<br />

Bour<strong>die</strong>u, gewisse sprechen von drei <strong>und</strong> andere wiederum von vier Formen.<br />

Bour<strong>die</strong>u verdeutlicht aber in seinem Werk „Rede <strong>und</strong> Antwort“, dass das<br />

symbolische Kapital, welches in Verbindung mit dem ökonomischen Kapital<br />

22 Das kulturelle Kapital existiert in drei unterschiedlichen Formen: verinnerlichter, inkorporierter Zustand (<strong>die</strong>ser steht<br />

für dauerhafte Dispositionen <strong>des</strong> Organismus, <strong>die</strong> einen befähigen, den objektivierten Zustand zu verstehen), objektivierter<br />

Zustand (Bücher, Bilder, Instrumente) <strong>und</strong> schliesslich der institutionalisierte Zustand (Objektivation). Beachtet<br />

werden muss, dass unter Kultur Bildung verstanden wird, <strong>die</strong> zu einem inkorporierten, also festen Bestandteil <strong>des</strong><br />

Kultur- bzw. Bildungsträgers wurde, Habitus, <strong>und</strong> folglich nicht kurzfristig übertragbar ist. Die Nutzung bzw. Ausbeutung<br />

von kulturellem Kapital erweist sich für <strong>die</strong> Besitzer von ökonomischem <strong>und</strong> sozialem Kapital als besonders<br />

schwierig, wenn nicht gar unmöglich, da je<strong>des</strong> kulturelle Kapital aufgr<strong>und</strong> der Entstehung seiner Aneignung eine<br />

andere Prägung erfährt (Bour<strong>die</strong>u, 1992/2005b, S. 53 f.).<br />

Beim ökonomischen Kapital handelt es sich um eine Währungsform, mit welcher <strong>die</strong> anderen Kapitalarten erworben<br />

werden können, wobei eine Transformationsarbeit notwendig ist, damit <strong>die</strong> „erkaufte“ Macht Wirkung erhält. Es<br />

existieren aber auch Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen, <strong>die</strong> ohne Verzögerung <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>äre Kosten durch ökonomisches<br />

Kapital erkauft werden können. Aus der ersten Definition geht infolge<strong>des</strong>sen <strong>die</strong> Annahme hervor, dass allen anderen<br />

Kapitalarten das ökonomische Kapital zugr<strong>und</strong>e liegt, wobei aber in der transformierten Form niemals <strong>die</strong> Schlussfolgerung<br />

auf das zugr<strong>und</strong>e gelegte Kapital, nämlich das ökonomische, zustande kommt, was <strong>die</strong> Wirkung <strong>die</strong>ser Form<br />

bestimmt (Bour<strong>die</strong>u, 1992/2005b, S. 70 f.).<br />

Das soziale Kapital stellt <strong>die</strong> Gesamtheit der aktuellen <strong>und</strong> inskünftig potenziellen Ressourcen in der Form eines überdauernden<br />

Netzes an mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen, gegenseitigen Kennens oder Anerkennens<br />

dar. Es sind demzufolge Ressourcen, <strong>die</strong> auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Der Umfang an Sozialkapital<br />

eines Akteurs bemisst sich einerseits an der Grösse <strong>und</strong> Ausdehnung seines Beziehungsnetzes <strong>und</strong> andererseits an der<br />

Kapitalakkumulation der Besitzträger <strong>die</strong>ses Kapitals aus dem Beziehungsnetz (Bour<strong>die</strong>u, 1992/2005b, S. 63 f.).<br />

46


für <strong>die</strong>se Arbeit von besonderer Relevanz ist, dasjenige Kapital darstellt, in<br />

welches sich <strong>die</strong> anderen Kapitalien umwandeln, wenn sie als legitim erkannt<br />

<strong>und</strong> anerkannt werden (Bour<strong>die</strong>u, 1987/1992a, S. 140). In Bezug auf das Feld <strong>des</strong><br />

öffentlichen Dienstes spielt das symbolische Kapital, das den darin tätigen<br />

sozialen Akteuren zugestanden wird, eine herausragende Rolle <strong>und</strong> muss im<br />

engen Zusammenhang mit dem nicht messbaren symbolischen Wert <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Gutes betrachtet werden, der für <strong>die</strong> Konstitution <strong>und</strong> <strong>die</strong> Aufrechterhaltung<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Dienstes von hochrelevanter Bedeutung ist. All <strong>die</strong>s geht<br />

einher mit der Verleugnung <strong>des</strong> materiellen Bestandteils <strong>des</strong> öffentlichen Gutes<br />

(Dualstruktur). Der Glaube an den symbolischen Wert <strong>des</strong> Gutes impliziert <strong>die</strong><br />

Wahrung <strong>des</strong> Glaubens an einen uneigennützigen <strong>und</strong> reinen Ethos der sozialen<br />

Akteure. „Reduziert man explizit oder implizit den geleisteten Dienst einer<br />

Krankenpflegerin, eines Seelsorgers, eines Sozialarbeiters oder Polizisten auf<br />

<strong>die</strong> Kategorie ,entlohnter Job‘, ohne <strong>die</strong> über <strong>die</strong>se ,säkulare‘ Dimension <strong>des</strong><br />

Tatbestands hinaus gehende besondere Qualität <strong>des</strong> Geleisteten zu würdigen<br />

bzw. sogar als vorrangig zu werten, so verstößt man gegen <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>legende<br />

gesellschaftliche Regel <strong>des</strong> kollektiven Wahrens <strong>des</strong> Scheins reiner Zweckfreiheit<br />

im Dienste universeller Werte.“ (Schultheis, 2012, S. 8)<br />

Durch <strong>die</strong> Privatisierungswellen im Ges<strong>und</strong>heitswesen, also dem Eintritt neuer<br />

Akteure bzw. Institutionen, <strong>und</strong> der damit einhergehenden verstärkten Orientierung<br />

an privatwirtschaftlichen Gesetzen, Modellen <strong>und</strong> Kennzahlen geht<br />

eine K<strong>und</strong>enselektion einher <strong>und</strong> <strong>die</strong> Offenlegung der Dualstruktur. Der Arztberuf,<br />

ein prestigeträchtiger <strong>und</strong> ein an Treu <strong>und</strong> Glauben orientierter Beruf<br />

(Stichwort: Arzt-Patienten-Beziehung), war ein bis anhin an symbolischen Kapitalien<br />

reicher Berufsstand. Durch <strong>die</strong> Erweiterung <strong>des</strong> Möglichkeitsrahmens<br />

<strong>und</strong> der Alternative einer Tätigkeit in einem privatwirtschaftlich geführten<br />

Krankenhaus widerfährt dem öffentlichen Dienst ein tiefer Einschnitt (dazu<br />

mehr unter Kapitel 5).<br />

Zusammenfassend darf von einer engen Verflechtung <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> mit dem Habitus<br />

<strong>und</strong> den Kapitalien gesprochen werden. Die Feldstruktur offenbart <strong>die</strong><br />

Machtverhältnisse <strong>und</strong> <strong>die</strong> darin vertretenen Kapitalien, wobei letzteres (Akkumulation,<br />

Struktur etc.) dazu <strong>die</strong>nt, ersteres zwischen den Akteuren <strong>und</strong><br />

Institutionen zu definieren. Dazu Folgen<strong>des</strong>: „Um das Feld zu konstituieren,<br />

muss man <strong>die</strong> Formen <strong>des</strong> spezifischen Kapitals bestimmen, <strong>die</strong> in ihm wirk-<br />

47


sam sind, <strong>und</strong> um <strong>die</strong>se Formen <strong>des</strong> spezifischen Kapitals zu konstruieren,<br />

muss man <strong>die</strong> spezifische Logik <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> kennen.“ (Bour<strong>die</strong>u & Wacquant,<br />

1992/2006, S. 139) Die Beziehung zwischen Habitus <strong>und</strong> Feld erklärt Bour<strong>die</strong>u<br />

folgendermassen: „Die Beziehung zwischen Habitus <strong>und</strong> Feld ist eine Beziehung<br />

der Bedingtheit: Das Feld strukturiert den Habitus, der das Produkt der<br />

Verinnerlichung, der Inkorporation der immanenten Notwendigkeit <strong>die</strong>ses<br />

Fel<strong>des</strong> ist.“ (Bour<strong>die</strong>u & Wacquant, 1992/2006, S. 102, zit. in Jurt, 2008, S. 101) In<br />

Bezug auf den ärztlichen Habitus haben <strong>die</strong> Interviewaussagen gezeigt, dass<br />

der Lockruf <strong>des</strong> ökonomischen Kapitals seitens <strong>des</strong> Privatspitals, dem einige<br />

Ärzte gefolgt sind, indem sie abgewandert sind, bei ihren Kollegen <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Spitalwesens Unverständnis <strong>und</strong> Missbilligung hervorrief. Wohingegen<br />

<strong>die</strong> abgewanderten Kollegen in <strong>die</strong>sem Lockruf vordergründig nichts Verwerfliches<br />

sehen <strong>und</strong> weitere Kollegen zur Abwanderung bewegen, damit auch<br />

<strong>die</strong>se wieder zur Legitimierung <strong>des</strong> Privatspitals <strong>und</strong> der darin herrschenden<br />

verstärkten Orientierung am ökonomischen Kapital beitragen, den Einsatz <strong>des</strong><br />

Weggangs leisten <strong>und</strong> dadurch <strong>die</strong> „Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> an Glaubwürdigkeit<br />

verliert. Für <strong>die</strong> eigene Legitimierung <strong>des</strong> Abwanderungsentscheids <strong>und</strong> folglich<br />

auch für das Erbringen <strong>des</strong> Einsatzes benötigen <strong>die</strong> bereits abgewanderten<br />

Ärzte Kollegen, <strong>die</strong> denselben Einsatz leisten <strong>und</strong> <strong>die</strong>sem Glauben schenken.<br />

Die stete <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>, in welchem ein Handeln fern utilitaristischer<br />

<strong>und</strong> eigennütziger Ansprüche im öffentlichen Interesse durch <strong>die</strong> Anerkennung<br />

<strong>und</strong> Belohnung <strong>die</strong>ses Handelns <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verneinung der ökonomischen<br />

Dimension ermöglicht <strong>und</strong> zur Verankerung der Idee <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Gutes beigetragen hat, läutet einen Paradigmenwechsel ein, der den berufsständigen<br />

Ethos <strong>des</strong> Arztes demontiert <strong>und</strong> <strong>die</strong> nackte Wahrheit, Ethik versus<br />

Kommerz, ans Tageslicht treten lässt.<br />

Folgende Stellungnahme von Bour<strong>die</strong>u in Bezug auf den Strukturalismus steht<br />

kennzeichnend für das Phänomen der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Einfluss auf das berufsethische Verständnis der Ärzte: „Mit dem<br />

Wort ,Strukturalismus‘ oder ,strukturalistisch‘ will ich sagen, dass es in der<br />

sozialen Welt selbst – <strong>und</strong> nicht bloss in den symbolischen Systemen, Sprache,<br />

Mythos usw. – objektive Strukturen gibt, <strong>die</strong> vom Bewusstsein <strong>und</strong> Willen der<br />

Handelnden unabhängig <strong>und</strong> in der Lage sind, deren Praktiken oder Vorstellungen<br />

zu leiten <strong>und</strong> zu begrenzen.“ (Bour<strong>die</strong>u, 1987/1992a, S. 135) In den folgenden<br />

drei Unterkapiteln werden <strong>die</strong> konstitutiven Pfeiler <strong>des</strong> Schweizer<br />

48


Ges<strong>und</strong>heitswesens erläutert, <strong>die</strong>se sollen zum strukturellen Verständnis <strong>des</strong><br />

Systems beitragen.<br />

2.2.1 Die konstitutiven Pfeiler <strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

2.2.1.1 Der Föderalismus<br />

Das Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen ist in der staatlichen Struktur der Schweiz<br />

stark verankert <strong>und</strong> bedarf aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> föderalistischen Aufbaus einer klaren<br />

Kompetenzverteilung zwischen B<strong>und</strong>, Kantonen <strong>und</strong> Gemeinden. Diese Verteilung<br />

hat zum einen mit dem Föderalismus <strong>und</strong> zum anderen mit der direkten<br />

Demokratie zu tun <strong>und</strong> führt dazu, dass in all jenen Gebieten, in welchen der<br />

B<strong>und</strong> keine Kompetenz hat, <strong>die</strong> Kantone <strong>die</strong> Regelungsbefugnis besitzen. Sowohl<br />

der Föderalismus als auch <strong>die</strong> direkte Demokratie gehören zu den tragenden<br />

Säulen <strong>des</strong> schweizerischen B<strong>und</strong>esstaates (B<strong>und</strong>esamt für Justiz [BJ], 2010)<br />

<strong>und</strong> der schweizerischen Verfassungsordnung. Der Föderalismus stellt eine<br />

spezielle Form der staatlichen Dezentralisierung dar, <strong>die</strong> ein bürgernahes Handeln<br />

zum Ziel hat <strong>und</strong> auf einer gemeinschaftlichen Vorstellung von der direkten<br />

Demokratie <strong>und</strong> dem Gr<strong>und</strong>satz der Subsidiarität aufbaut. Das Prinzip,<br />

welches sich dahinter verbirgt, räumt den kleineren Einheiten eine hohe Autonomie<br />

ein <strong>und</strong> basiert auf dezentralisierten Entscheidungsebenen bei Gemeinden<br />

<strong>und</strong> Kantonen, sodass dem B<strong>und</strong> nur eine subsidiäre Rolle zukommt<br />

(Achtermann & Berset, 2006, S. 30). Die heutige Definition von Föderalismus<br />

lautet folgendermassen: „Das neue Verständnis geht davon aus, dass <strong>die</strong> demokratischen<br />

Gr<strong>und</strong>sätze <strong>des</strong> Staates gewährleistet sind, legt <strong>die</strong> Machtteilung<br />

zwischen den staatlichen Stellen fest <strong>und</strong> schützt <strong>die</strong> Minderheiten, indem es<br />

ihnen <strong>die</strong> grösstmögliche territoriale Unabhängigkeit einräumt.“ (Vatter, 1999,<br />

zit. in Achtermann & Berset, 2006, S. 30) Der schweizerische Föderalismus wird<br />

gegenwärtig mit folgenden Herausforderungen konfrontiert: dem neuen Finanzausgleich,<br />

der europäischen Integration <strong>und</strong> den wachsenden Städten <strong>und</strong><br />

Agglomerationen (Achtermann & Berset, 2006, S. 30). Die Definition verdeutlicht<br />

<strong>die</strong> seit Langem bedeutende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen<br />

B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Kantonen. Gleichzeitig legen beide Instanzen einen immer grösseren<br />

Wert auf eine enge Zusammenarbeit. Die Prinzipien der Partizipation <strong>und</strong> der<br />

Zusammenarbeit werden im Föderalismus, der in der Revision der B<strong>und</strong>esverfassung<br />

vom 18. April 1999, SR 101, in Art. 5a BV verankert ist, stark gefördert.<br />

Die hohe Fragmentierung <strong>und</strong> Verflechtung der politischen, strukturellen <strong>und</strong><br />

49


echtlichen Gr<strong>und</strong>lagen sowie <strong>die</strong> Vielfältigkeit der Akteure <strong>und</strong> Prozesse ma-<br />

chen eine zentrale Steuerung nahezu unmöglich <strong>und</strong> führen zu hochkomplexen<br />

Konstellationen (Achtermann & Berset, 2006, S. 19).<br />

In Art. 41 BV Abs. 2 wird der föderalistische Gedanke in Bezug auf <strong>die</strong> Sozial-<br />

ziele nochmals deutlich erwähnt:<br />

„B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Kantone setzen sich dafür ein, dass jede Person gegen <strong>die</strong> wirt-<br />

schaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit,<br />

Mutterschaft, Verwaisung <strong>und</strong> Verwitwung gesichert ist.“<br />

Dem B<strong>und</strong> <strong>und</strong> den Kantonen kommen verfassungsmässige Zuständigkeiten<br />

zu, <strong>die</strong> für <strong>die</strong>se Arbeit relevantesten werden in der Folge kurz vorgestellt. In<br />

Bezug auf das Ges<strong>und</strong>heitswesen kommen dem B<strong>und</strong> folgende Kompetenzen<br />

<strong>und</strong> Aufgaben zu (Liste nicht abschliessend): Sozialversicherungen, Überwachung<br />

der Heilmittel <strong>und</strong> Medizinprodukte, Impfstoffe <strong>und</strong> Seren, Fortpflanzungsmedizin<br />

<strong>und</strong> Gentechnologie, Transplantation von Organen, Geweben<br />

<strong>und</strong> Zellen, Patientenrechte, Forschungsförderung, Tierschutz, Umweltschutz,<br />

Konsumentenschutz, Wettbewerbspolitik, Internationales (WHO, OECD,<br />

UNO).<br />

In Bezug auf <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit im Besonderen kommen ihm folgende Kompetenzen<br />

zu:<br />

Schutz der Ges<strong>und</strong>heit, Prävention Prävention <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />

• Lebensmittel<br />

• Gebrauchsgegenstände<br />

• Betäubungsmittel, Organismen,<br />

Chemikalien, Giftstoffe u.a.<br />

• Bekämpfung übertragbarer,<br />

stark verbreiteter oder bösartiger<br />

Krankheiten (Aids, SARS u.a.)<br />

• Strahlenschutz<br />

• Forschung am Menschen<br />

50<br />

• Suchtbekämpfung<br />

• Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit; Gender<br />

Health; Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Umwelt,<br />

psychische Ges<strong>und</strong>heit<br />

• Aufsicht über <strong>die</strong> Stiftung „Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />

Schweiz“ (gemeinsam<br />

mit Kantonen <strong>und</strong> Krankenversichern)<br />

Bildung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsberufe<br />

Tabelle 2: Kompetenzen <strong>und</strong> Aufgaben <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es<br />

(Auswahl aus Achtermann & Berset, 2006, S. 34–35)<br />

• Regelung der Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

aller nicht universitären Ges<strong>und</strong>heitsberufe<br />

• Organisation der Prüfungen in den<br />

universitären Medizinalfächern<br />

(Humanmedizin, Zahnmedizin,<br />

Veterinärmedizin, Pharmazie);<br />

Diplomanerkennung; Bearbeitung<br />

von Rekursen<br />

• Anerkennung von Diplomen<br />

nichtuniversitärer Ges<strong>und</strong>heitsberufe<br />

• Träger der Eidgenössischen<br />

Technischen Hochschulen (u.a.<br />

Pharmaziestudium)<br />

Die Kantone haben den Auftrag, <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitsversorgung innerhalb ihrer


Kantonsgrenzen zu gewährleisten, weshalb ihnen <strong>die</strong> Aufgaben der Umsetzung<br />

<strong>des</strong> B<strong>und</strong>esrechts, der Aufsicht über Berufszulassung <strong>und</strong> -bildung, Ges<strong>und</strong>-<br />

heitspolizei <strong>und</strong> Spitäler (u.a. auch psychiatrische Kliniken), der Umsetzung<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsschutzes (B<strong>und</strong>esrecht), der Präventionen <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heits-<br />

förderung <strong>und</strong> der Genehmigung von Verträgen <strong>und</strong> Tarifen (inkl. Erlass von<br />

Tarifen bei vertragslosem Zustand) zukommen (Liste nicht abschliessend)<br />

(Achtermann & Berset, 2006 ,S. 34-35).<br />

Zu den zentralen Kompetenzen der Kantone gehören folgende Tätigkeitsfelder:<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung Finanzierung Bildung<br />

• Sicherstellungsauftrag<br />

• Kantonale Krankenhäuser <strong>und</strong><br />

Pflegeheime<br />

• Spitex<br />

• Sozialpsychiatrische Dienste<br />

• Schulärtzlicher Dienst<br />

• Notfall-, Rettungs-, Katastrophen-<br />

<strong>und</strong> Transport<strong>die</strong>nste<br />

• Koordinierter Sanitäts<strong>die</strong>nst in<br />

Zusammenarbeit mit B<strong>und</strong>,<br />

Gemeinen <strong>und</strong> privaten Organisationen<br />

• Finanzierung <strong>und</strong> Subventionierung<br />

verschiedener Einrichtungen im Sektor<br />

Ges<strong>und</strong>heit (z. B. kantonale Spitäler)<br />

• Verbilligung der Krankenkassenbeiträge<br />

für wirtschaftlich schwächere Versicherte<br />

• Sozialhilfe<br />

Tabelle 3: Kompetenzen <strong>und</strong> Aufgaben der Kantone<br />

(Auswahl aus Achtermann & Berset, 2006, S. 34–35)<br />

• Kantone als Träger der Berufsschulen,<br />

höheren Fachschulen, Fachhochschulen<br />

<strong>und</strong> Universitäten (Stu<strong>die</strong>ngänge<br />

im Ges<strong>und</strong>heitsbereich)<br />

• Umsetzung von B<strong>und</strong>esbestimmungen<br />

betreffend <strong>die</strong> universitären <strong>und</strong><br />

nicht-universitären Ges<strong>und</strong>heitsberufe<br />

Die kursiv gekennzeichneten Aufgaben werden im Laufe der Arbeit einer ausführlicheren<br />

Prüfung unterzogen, weil <strong>die</strong> hohe Kompetenz der Kantone bei<br />

der Spitalplanung, der Vergabe von Leistungsaufträgen, der Führung von Spitälern<br />

<strong>und</strong> der Festsetzung der Tarife, falls sich <strong>die</strong> Spitäler <strong>und</strong> <strong>die</strong> Versicherer<br />

nicht einigen können, deutlich erkennbar ist (Santésuisse, 2008, S. 1).<br />

2.2.1.2 Das Sozialversicherungssystem<br />

Ein bedeutender Bestandteil <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens stellt das Sozialversicherungssystem<br />

dar, welches in der B<strong>und</strong>esverfassung der Schweizer Eidgenossenschaft<br />

von 1999 in den Artikeln 111 (Alters-, Hinterlassenen- <strong>und</strong> Invalidenvorsorge),<br />

112 (u.a. Ergänzungsleistungen), 113 (Berufliche Vorsorge), 114 (Arbeitslosenversicherung),<br />

116 (Familienzulagen <strong>und</strong> Mutterschaftsversicherung)<br />

<strong>und</strong> 117 (Kranken- <strong>und</strong> Unfallversicherung) verankert ist. 23 Die Sozialversiche-<br />

23 Zum Schweizer Sozialversicherungssystem gehören folgende Versicherungen: <strong>die</strong> Alters- <strong>und</strong> Hinterlassenenversicherung<br />

(AHV), <strong>die</strong> Invalidenversicherung (IV), <strong>die</strong> Ergänzungsleistungen (EL), <strong>die</strong> Erwerbsersatzordnung (EO, worin<br />

seit 2005 auch <strong>die</strong> Mutterschaftsversicherung enthalten ist), <strong>die</strong> Berufliche Vorsorge (BV), <strong>die</strong> Unfallversicherung (UV),<br />

51


ungen der Schweiz haben zum Ziel, den in einem Arbeitsverhältnis stehenden<br />

Bürger gegen Krankheit, Unfall <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit zu versichern, wobei<br />

Krankheit <strong>und</strong> Unfall über das Pensionsalter hinweg abgesichert wird. Bei den<br />

Selbstständigerwerbenden entspricht der Schutz nicht demselben Umfang, wie<br />

<strong>die</strong>s in einem Anstellungsverhältnis der Fall ist.<br />

Die Vorsorge in der Schweiz geschieht nach dem Dreisäulen-Prinzip <strong>und</strong> sichert<br />

dank der ersten Säule <strong>die</strong> Existenz (staatliche Vorsorge), dank der zweiten<br />

Säule (berufliche Vorsorge) <strong>die</strong> bislang gewohnte Lebenshaltung <strong>und</strong> dank der<br />

dritten Säule (persönliche Vorsorge) <strong>die</strong> zusätzlichen Bedürfnisse. Das Dreisäulen-Prinzip<br />

ist in Art. 111 Abs. 1 BV geregelt <strong>und</strong> lautet folgendermassen:<br />

Der B<strong>und</strong> trifft Massnahmen für eine ausreichende Alters-, Hinterlassenen- <strong>und</strong><br />

Invalidenvorsorge. Diese beruht auf drei Säulen, nämlich der eidgenössischen<br />

Alters-, Hinterlassenen- <strong>und</strong> Invalidenversicherung, der beruflichen Vorsorge<br />

<strong>und</strong> der Selbstvorsorge.<br />

Die erste Säule ist für alle obligatorisch (in der Schweiz wohnhaften, in der<br />

Schweiz erwerbstätigen oder im Dienste der Eidgenossenschaft im Ausland<br />

tätigen Schweizerbürger), folglich sowohl für <strong>die</strong> Erwerbstätigen <strong>und</strong> Selbstständigerwerbenden<br />

als auch für <strong>die</strong> Nichterwerbstätigen (BSV, 2009), <strong>und</strong><br />

enthält <strong>die</strong> AHV, IV, EL <strong>und</strong> EO. Die Beiträge, <strong>die</strong> insgesamt 12,1% <strong>des</strong> Gehaltes<br />

ausmachen, werden zur Hälfte durch <strong>die</strong> Arbeitgeber <strong>und</strong> zur Hälfte durch<br />

<strong>die</strong> Arbeitnehmer einbezahlt. Auch wenn <strong>die</strong> Krankenversicherung offiziell<br />

nicht als expliziter Bestandteil der ersten Säule betrachtet wird, darf man sie, da<br />

auch sie ein Obligatorium für <strong>die</strong> Schweizer Bevölkerung darstellt <strong>und</strong> zur<br />

Existenzsicherung beiträgt, als Bestandteil der ersten Säule sehen.<br />

Die zweite Säule ist für <strong>die</strong> Arbeitnehmerinnen <strong>und</strong> Arbeitnehmer obligatorisch,<br />

wird in Art. 113 BV geregelt <strong>und</strong> soll gemeinsam mit der Alters-, Hinterlassenen-<br />

<strong>und</strong> Invalidenversicherung dafür sorgen, dass <strong>die</strong> bisherige Lebenshaltung<br />

im Rentenalter fortgesetzt werden kann. Die berufliche Vorsorge wird<br />

im B<strong>und</strong>esgesetz über <strong>die</strong> Alters-, Hinterlassenen- <strong>und</strong> Invalidenvorsorge<br />

(BVG) geregelt, <strong>die</strong> auch unter dem Begriff Pensionskasse bekannt ist, dem<br />

<strong>die</strong> Krankenversicherung (KV), <strong>die</strong> Militärversicherung (MV), <strong>die</strong> Arbeitslosenversicherung (ALV) <strong>und</strong> <strong>die</strong> Familienzulagen<br />

(BSV, BAG & SECO, 2010, S. 4ff.).<br />

52


B<strong>und</strong>esgesetz über <strong>die</strong> Unfallversicherung (UVG) <strong>und</strong> <strong>die</strong> überobligatorische<br />

Vorsorge, <strong>die</strong> denjenigen Anteil <strong>des</strong> Einkommens versichert, der das BVG übersteigt<br />

(Deckung bis CHF 75‘960 gemäss Art. 8 Abs. 1 BVG). Die berufliche Vorsorge<br />

(obligatorisch) wird durch <strong>die</strong> im Register für <strong>die</strong> berufliche Vorsorge<br />

eingetragenen Vorsorgeeinrichtungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Form einer Stiftung, einer Genossenschaft<br />

oder einer Einrichtung <strong>des</strong> öffentlichen Rechts haben, durchgeführt<br />

(Eidgenössischen Departement <strong>des</strong> Inneren [EDI], 2007, S. 9).<br />

Die dritte Säule existiert auf freiwilliger Basis, wobei teilweise steuerliche Vorteile<br />

im Gegensatz zum gewöhnlichen Sparen als Anreiz genutzt werden. Welcher<br />

Anspruch wann, weshalb <strong>und</strong> in welchem Umfang geltend gemacht werden<br />

kann <strong>und</strong> welche Einschränkungen bzw. Rechte <strong>und</strong> Pflichten für den<br />

Bürger bestehen, sind Fragen, <strong>die</strong> im Rahmen der folgenden Arbeit nicht näher<br />

erläutert werden. Im Rahmen <strong>des</strong> Schweizer Sozialversicherungssystems ist das<br />

Krankenversicherungsgesetz (KVG) vom 18. März 1994, SR 832.10, welches am<br />

1. Januar 1996 eingeführt wurde, von Bedeutung <strong>und</strong> wird im folgenden Kapitel<br />

präziser erörtert.<br />

2.2.1.3 Das Krankenversicherungsgesetz<br />

Dem Krankenversicherungsgesetz wird ein eigener Abschnitt gewidmet, da<br />

dem Krankenversicherungssystem, das der finanziellen Absicherung <strong>des</strong> einzelnen<br />

Bürgers im Krankheitsfalle <strong>die</strong>nt, <strong>und</strong> den Versicherern, <strong>die</strong> mit den<br />

einbezahlten Prämien der Versicherten als Kostenträger agieren, eminent wichtige<br />

Rollen zukommen. Die Oberaufsicht über <strong>die</strong> soziale Krankenversicherung,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) sowie <strong>die</strong> freiwillige<br />

Taggeldversicherung beinhaltet, gehört zu den Aufgaben <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es (BAG,<br />

2010a, S. 2f.) gemäss Artikel 117 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 der B<strong>und</strong>esverfassung (BV, SR<br />

101):<br />

Der B<strong>und</strong> erlässt Vorschriften über <strong>die</strong> Kranken- <strong>und</strong> <strong>die</strong> Unfallversicherung.<br />

Er kann <strong>die</strong> Kranken- <strong>und</strong> <strong>die</strong> Unfallversicherung allgemein oder für einzelne<br />

Bevölkerungsgruppen obligatorisch erklären.<br />

Das KVG regelt folglich <strong>die</strong> soziale Krankenversicherung. Gr<strong>und</strong>sätzlich setzt<br />

Art. 3 Abs. 1 KVG fest, dass jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz verpflichtet<br />

ist, sich innert drei Monaten nach der Wohnsitznahme für Krankenpflege zu<br />

53


versichern oder nach der Geburt in der Schweiz von ihrem gesetzlichen Vertre-<br />

ter beziehungsweise ihrer gesetzlichen Vertreterin versichern zu lassen (Richli,<br />

2009, S. 10). Seit das B<strong>und</strong>esgesetz über <strong>die</strong> Krankenversicherung in Kraft ist,<br />

besteht für <strong>die</strong> gesamte Schweizer Wohnbevölkerung eine Pflicht zum Ab-<br />

schluss einer Krankenversicherung. Als Rechtfertigung <strong>die</strong>ses Obligatoriums<br />

wurde <strong>die</strong> Gefahr genannt, dass Individuen bei Inanspruchnahme einer grösse-<br />

ren medizinischen Leistung oder einer andauernden Beeinträchtigung der Ge-<br />

s<strong>und</strong>heit zum Sozialfall werden <strong>und</strong> folglich auf andere staatliche Unterstüt-<br />

zung angewiesen sind. Ein eminent wichtiger Gedanke, der hinter <strong>die</strong>ser Pflicht<br />

steckt, ist der staatlich garantierte Zugang je<strong>des</strong> Bürgers zu einer medizinischen<br />

Versorgung, egal, welchem Ges<strong>und</strong>heitszustand er unterliegt <strong>und</strong> welcher<br />

Einkommensklasse er angehört. Gleichzeitig sollte ein solches Gesetz dem<br />

„Trittbrettfahrertum“ sowie der adversen Selektion entgegenwirken (Becker,<br />

2006, S. 10).<br />

Krankenkassen existieren bereits seit zwei Jahrh<strong>und</strong>erten, weshalb eine gesetzliche<br />

Gr<strong>und</strong>lage unabdingbar war <strong>und</strong> im Jahre 1914 zum ersten B<strong>und</strong>esgesetz<br />

über <strong>die</strong> Kranken- <strong>und</strong> Unfallversicherung (KUVG) führte, das aber noch keine<br />

allgemeine Versicherungspflicht vorsah. Die massiven Kostenentwicklungen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> zunehmende Entsolidarisierung haben in den Achtzigerjahren zu Revisionsversuchen<br />

geführt. Zahlreiche Entwürfe wurden verworfen, da <strong>die</strong> teils<br />

kontroversen Ansprüche der Akteursgruppen, wie beispielsweise <strong>die</strong> Einführung<br />

eines neuen Finanzierungssystems oder einer Einheitskasse für alle, nicht<br />

miteinander vereinbar waren. Das Volk stimmte am 4. Dezember 1994 im Rahmen<br />

einer Referendumsverabschiedung einer Totalrevision <strong>des</strong> Krankenversicherungsgesetzes<br />

(KVG) zu. Das heute gültige Krankenversicherungsgesetz trat<br />

1996 in Kraft <strong>und</strong> hat <strong>die</strong> Versicherungslandschaft dahingehend verändert, dass<br />

nebst den Krankenkassen auch private Versicherungsgesellschaften <strong>die</strong> mittlerweile<br />

obligatorische Versicherung (OKP) anbieten dürfen (Frei, 2007 zit. in<br />

Koch & Oggier, 2007, S. 139).<br />

Das KVG wurde mittlerweile einer ersten Teilrevision unterzogen, <strong>die</strong> am 1.<br />

Januar 2001 in Kraft trat. Eine zweite Teilrevision, <strong>die</strong> auf eine Optimierung <strong>des</strong><br />

Systems abzielte, scheiterte am 1. Dezember 2003 am Votum <strong>des</strong> Nationalrates.<br />

Aus <strong>die</strong>sem Scheitern schloss der B<strong>und</strong>esrat <strong>die</strong> Konklusion, dass <strong>die</strong> Reformschritte<br />

nicht in einer Gesamtvorlage vorgenommen werden können, sondern<br />

auf zwei Gesetzgebungspakete verteilt werden, <strong>die</strong> voneinander unabhängige<br />

54


Botschaften enthalten (BAG, 2010a, S. 3). Die Kostenproblematik im Spitalsektor<br />

sowie <strong>die</strong> Finanzierungsgr<strong>und</strong>sätze spielen auch im Rahmen <strong>die</strong>ser Gesetzge-<br />

bungspakete eine bedeutende Rolle. Im Bereich der Spitalfinanzierung wurden<br />

Änderungen <strong>des</strong> KVG vom 8. März 1994 vorgenommen, wobei ein besonderes<br />

Augenmerk auf eine leistungsbezogene Finanzierung, eine integrale Planung<br />

im Spitalbereich mit Zuweisung von Leistungsaufträgen durch <strong>die</strong> Kantone, <strong>die</strong><br />

Gleichbehandlung der öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spitäler sowie eine Neurege-<br />

lung der dualen Finanzierung gelegt wurde (BAG, 2010a, S. 4). Auf den An-<br />

spruch der Gleichbehandlung wird im Zusammenhang mit den Erläuterungen<br />

zur neuen Spitalfinanzierung erneut eingegangen. Diese neuen Regelungen im<br />

Bereich <strong>des</strong> Risikoausgleichs, <strong>die</strong> am 21. Dezember 2007 verabschiedet wurden<br />

<strong>und</strong> am 1. Januar 2012 in Kraft treten, gehen einher mit der Einführung der<br />

stark diskutierten <strong>und</strong> unumstrittenen DRG.<br />

Als Fazit der folgenden Unterkapitel <strong>die</strong>nt folgen<strong>des</strong> Zitat, das aus einer Veröffentlichung<br />

<strong>des</strong> BAG zur nationalen Ges<strong>und</strong>heitspolitik der Schweiz stammt<br />

<strong>und</strong> demzufolge auch dem Empfinden gewisser Politiker entspricht: „Wie bereits<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert dreht sich <strong>die</strong> politische Diskussion im Wesentlichen<br />

um <strong>die</strong> kurative Medizin <strong>und</strong> um den Schutz vor Ges<strong>und</strong>heitsrisiken im traditionellen<br />

Verständnis. Berücksichtigt man allerdings <strong>die</strong> im B<strong>und</strong>esparlament<br />

behandelten Fragen oder <strong>die</strong> Stellungnahme der wichtigsten Akteure <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitssystems,<br />

so stellt man fest, dass Fragen <strong>des</strong> Public Health an Bedeutung<br />

verloren haben im Vergleich zu den Problemen <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsmanagements,<br />

zur Finanzierung der medizinischen Versorgung <strong>und</strong> Pflege <strong>und</strong> zur<br />

Reglementierung neuer Technologien.“ (Achtermann & Berset, 2006, S. 29). Es<br />

scheint, dass sich gewisse Akteure im Klaren darüber sind, dass Kostenreduktion,<br />

neue Finanzierungs- <strong>und</strong> Managementmodelle nicht in erster Linie zum<br />

Abbau sozialer Ungleichheiten, zur Förderung von Chancengleichheit <strong>und</strong> zum<br />

Aufbau eines qualitativ hochstehenden Ges<strong>und</strong>heitswesens beitragen, wobei<br />

<strong>die</strong>s genau <strong>die</strong>jenigen Faktoren darstellen, <strong>die</strong> es im Rahmen ges<strong>und</strong>heitspolitischer<br />

Entscheide zu beachten gäbe <strong>und</strong> zu den inskünftig grossen Herausforderungen<br />

für <strong>die</strong> staatlichen Machtinhaber zählen werden.<br />

Im Laufe der Recherche zu <strong>die</strong>sem Kapitel wurde rasch ersichtlich, dass <strong>die</strong><br />

hohen Finanzausgaben <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitssektors Anlass für eine breite Debatte<br />

geben, weshalb ein Fokus der beiden folgenden Abschnitte auf den scheinbar<br />

55


explo<strong>die</strong>renden Kosten <strong>und</strong> dem stetigen Anstieg der Prämien liegen wird <strong>und</strong><br />

ein weiterer auf der von Ges<strong>und</strong>heitsökonomen gerne propagierten Nutzenma-<br />

ximierung, <strong>des</strong>sen begriffliche Verwendung im Zusammenhang mit der verstärkten<br />

Anpassung <strong>des</strong> medizinischen an den ökonomischen Jargon auch im<br />

Rahmen <strong>des</strong> Kapitels Lebenswelten anhand eines Interviews ausführlicher<br />

erläutert wird.<br />

Die Krankenkassen als Kostenträger<br />

Das BAG (2010b) definiert den Begriff „Krankenkassen“ folgendermassen:<br />

„Versicherer, <strong>die</strong> <strong>die</strong> obligatorische Krankenpflegeversicherung (Gr<strong>und</strong>versicherung)<br />

durchführen. Die Krankenkassen sind nicht gewinnorientiert <strong>und</strong><br />

müssen vom Eidgenössischen Departement <strong>des</strong> Innern (EDI) anerkannt sein. Es<br />

steht ihnen frei, neben der Gr<strong>und</strong>versicherung auch Zusatzversicherungen<br />

anzubieten.“<br />

Betrachtet man den Gesamtmarkt <strong>des</strong> Krankenversicherungsgeschäfts, so setzt<br />

sich <strong>die</strong>ser aus folgenden Pfeilern zusammen (BAG, 2009, S. 48):<br />

− <strong>die</strong> in der Schweiz seit 1996 obligatorische Krankenpflegeversicherung, <strong>die</strong> von<br />

den BAG-anerkannten Versicherern angeboten wird,<br />

− <strong>die</strong> von den BAG-anerkannten Versicherern angebotenen Zusatzversicherungen<br />

(seit 1996 gemäss dem Versicherungsvertragsgesetz VVG),<br />

− <strong>die</strong> von den Privatversicherern gemäss VVG angebotenen Zusatzversicherungen.<br />

Krankenkassen können als Vereine, Stiftungen, Genossenschaften oder Aktiengesellschaften<br />

organisiert sein <strong>und</strong> sind prinzipiell finanziell autonom. Die<br />

Anzahl der Krankenversicherer hat sich von 815 im Jahre 1970 auf 87 im Jahre<br />

2010 verringert (BAG, 2010d). Diese Konzentrationswelle hat zum einen zu<br />

einer massiven Verringerung der Anzahl der Krankenversicherer geführt <strong>und</strong><br />

trug zum anderen dazu bei, dass heute <strong>die</strong> Mehrheit der Bevölkerung (im Jahre<br />

2005 waren es ca. 80%) bei einem der zehn grössten Krankenversicherer bzw.<br />

Krankenversicherungsgruppen versichert ist (Frei, 2006, S. 3). Die Prämien der<br />

Versicherten finanzieren <strong>die</strong> Schweizerische Krankenversicherung, anders als<br />

in Deutschland beispielsweise, wo Arbeitgeber- <strong>und</strong> Arbeitnehmerbeteiligungen<br />

an den Krankenversicherungsbeiträgen existieren (Rosenbrock & Gerlinger,<br />

2009, S. 298).<br />

Wie bereits erläutert, erlangte am 1. Januar 2001 <strong>die</strong> erste Teilrevision <strong>des</strong> KVG<br />

56


ihre Gültigkeit, <strong>die</strong>ser sollte eine zweite Teilrevision folgen, <strong>die</strong> jedoch am 1.<br />

Dezember 2003 am Nein <strong>des</strong> Nationalrates scheiterte. Der B<strong>und</strong>esrat entschied<br />

von einer umfassenden Revision abzusehen. Seither wurden kleinere Gesetzes-<br />

revisionen vorgenommen, neue Verordnungen traten in Kraft <strong>und</strong> alte wurden<br />

revi<strong>die</strong>rt (Widmer, 2008, S. 176f). Zu den bedeutendsten Veränderungen gehö-<br />

ren unter anderem <strong>die</strong> am 1. Januar 2004 erfolgte Einführung <strong>des</strong> neuen Arztta-<br />

rifs TARMED (Tarif der ambulanten ärztlichen Leistungen in der Schweiz) <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> seit dem 1. Januar 2009 geltende Neuregelung der Spitalfinanzierung im<br />

KVG. Einzelne Bestimmungen innerhalb der neuen Spitalfinanzierung wie <strong>die</strong><br />

leistungsbezogenen Pauschalen <strong>und</strong> <strong>die</strong> neuen Finanzierungsanteile der Kanto-<br />

ne werden erst am 1. Januar 2012 eingeführt (Santésuisse, 2008, S. 1). Inskünftig<br />

werden also <strong>die</strong> Spitäler nicht mehr <strong>die</strong> Verweildauer im Spital in Rechnung<br />

stellen, sondern eine fixe Fallpauschale pro Diagnose erhalten, was einer Ver-<br />

änderung der Tagespauschale zur leistungsbezogenen Fallpauschale bzw. von<br />

der Objektfinanzierung zur leistungsorientierten Subjektfinanzierung ent-<br />

spricht. Die neue Spitalfinanzierung verlangt von den Kantonen eine Spitalpla-<br />

nung nach den Kriterien Qualität, Wirtschaftlichkeit <strong>und</strong> Transparenz. Im Vor-<br />

dergr<strong>und</strong> stehen <strong>die</strong> Referenzwerte Qualität <strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit, <strong>die</strong> mithilfe<br />

der geforderten Transparenz gemessen <strong>und</strong> verglichen werden sollen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

mit dem Ziel, ein Benchmarking zu erreichen, welches zur Vergleichbarkeit der<br />

Spitäler beitragen soll. Auf <strong>die</strong> DRG <strong>und</strong> <strong>die</strong> empirischen Erkenntnisse ihrer<br />

Implementierung in Deutschland wird im Kapitel 2.4.3 eingegangen.<br />

Die OKP – obligatorische Krankenpflegeversicherung<br />

Das KVG regelt in Art. 11, wer <strong>die</strong> obligatorische Krankenpflegeversicherung<br />

(OKP) betreiben darf. Zum einen sind es 1) <strong>die</strong> bewilligten Krankenkassen (Art. 11<br />

Bst. a KVG) <strong>und</strong> zum anderen 2) <strong>die</strong> bewilligten, dem Versicherungsaufsichtsgesetz<br />

(VAG) unterstehenden privaten Versicherungsunternehmen (Art. 11 Bst. b KVG)<br />

(Richli, 2009, S. 10). Die Gr<strong>und</strong>versicherung bzw. <strong>die</strong> obligatorische Krankenpflegeversicherung<br />

nach KVG ist obligatorisch <strong>und</strong> muss folglich durch jeden<br />

in der Schweiz wohnhaften Bürger abgeschlossen werden, wobei ihm gemäss<br />

Art. 4 Abs. 1 KVG <strong>die</strong> freie Wahl <strong>des</strong> Versicherers zukommt. Der Versicherungsanbieter<br />

muss <strong>die</strong> obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) jedem<br />

Bürger ungeachtet seines Alters, Ges<strong>und</strong>heitszustan<strong>des</strong> oder Geschlechts anbieten<br />

<strong>und</strong> ist gemäss Art. 4 Abs. 2 KVG zur Aufnahme von Versicherungspflich-<br />

57


tigen in ihrem örtlichen Tätigkeitsbereich verpflichtet (Richli, 2009, S. 10). Die<br />

OKP gewährleistet gemäss dem BAG eine hochstehende <strong>und</strong> umfassende<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung <strong>und</strong> soll für jedermann einen identischen Leistungsumfang<br />

bieten. Der einheitliche Leistungskatalog der obligatorischen Krankenpflegeversicherung<br />

(der „Gr<strong>und</strong>versicherung“) gilt für alle Versicherten <strong>und</strong> ist in<br />

den Artikeln 24 bis 40 KVG geregelt (Kocher & Oggier, 2010, S. 178). Die Definitionshoheit<br />

über den Leistungskatalog kommt dem B<strong>und</strong> zu, dadurch regelt er<br />

den Umfang <strong>des</strong> Angebotes an Ges<strong>und</strong>heits<strong>die</strong>nstleistungen <strong>und</strong> durch das<br />

Obligatorium <strong>die</strong> Inanspruchnahme. Eine der bedeutendsten Veränderungen<br />

der letzten Jahre war <strong>die</strong> Entfernung der beliebten Komplementärmedizin<br />

(2005) aus dem Katalog, <strong>die</strong>se Elimination wurde durch <strong>die</strong> im Jahre 2009 stattgef<strong>und</strong>ene<br />

Abstimmung „Ja zur Komplementärmedizin“ 24 <strong>und</strong> den resultierenden<br />

67% Ja-Stimmen gewissermassen rückgängig gemacht. Die Leistungen<br />

der OKP müssen dem WZW-Prinzip (Art. 32 KVG) gerecht werden <strong>und</strong> folglich<br />

den Kriterien der Wirksamkeit gehorchen, eine nach wissenschaftlichen Methoden<br />

nachgewiesene allgemeine Wirkung erzielen, der Zweckmässigkeit<br />

<strong>die</strong>nen, eine angestrebte Wirkung hervorrufen, <strong>und</strong> der Wirtschaftlichkeit <strong>und</strong><br />

demzufolge eines angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnis gerecht werden.<br />

Die Zusatzversicherungen<br />

Nebst der OKP ist es dem Bürger freigestellt, eine oder mehrere Zusatzversicherungen<br />

abzuschliessen. Die Zusatzversicherungen unterstehen dem Versicherungsvertragsgesetz<br />

VVG, das zum Privatrecht gehört, wohingegen <strong>die</strong><br />

obligatorische Krankenpflegeversicherung <strong>und</strong> <strong>die</strong> freiwillige Taggeldversicherung<br />

nach den Regeln <strong>des</strong> Krankenversicherungsgesetzes KVG zur Anwendung<br />

kommen. Die Anzahl <strong>und</strong> <strong>die</strong> Art der Leistungen, <strong>die</strong> in unterschiedliche<br />

Zusatzversicherungen integriert sind, divergieren von Versicherer zu Versicherer.<br />

Zudem haben <strong>die</strong> Kostenträger <strong>die</strong> Möglichkeit, <strong>die</strong> Prämien den Risikogruppen<br />

entsprechend anzupassen oder <strong>die</strong> Aufnahme in eine der Zusatzversicherungen<br />

zu verweigern. Die Zusatzversicherungen beinhalten ambulante<br />

<strong>und</strong> stationäre Komponenten, <strong>die</strong> in einzelne Module aufgeteilt sind. Zu den<br />

ambulanten Zusatzversicherungen gehören beispielsweise <strong>die</strong> Deckung kom-<br />

24 Nach der Abstimmung „Ja zur Komplementärmedizin“ <strong>und</strong> ihrer Annahme folgte <strong>die</strong> Verankerung der Komplementärmedizin<br />

in der B<strong>und</strong>esverfassung.<br />

58


plementärmedizinischer Behandlungen, <strong>die</strong> Psychotherapie, <strong>die</strong> Ferien- <strong>und</strong><br />

Reiseversicherung <strong>und</strong> <strong>die</strong> Zahnpflegeversicherung. Bei den Zusatzversiche-<br />

rungen im stationären Bereich wird zwischen allgemeiner, halbprivater <strong>und</strong><br />

privater Deckung unterschieden. Die OKP deckt bei einem Spitalaufenthalt<br />

lediglich das gesetzliche Minimum, also <strong>die</strong> Kosten der allgemeinen Abteilung<br />

in einem auf der Spitalliste <strong>des</strong> Wohnkantons aufgeführten Spital. Eine Behandlung<br />

in einem Spital ausserhalb <strong>des</strong> eigenen Wohnkantons ist nur dann möglich,<br />

wenn eine Intervention vorgenommen werden muss, also im Falle eines<br />

Notfalles oder bei Inanspruchnahme einer Spezialleistung, <strong>und</strong> wenn das entsprechende<br />

Spital auf einer der beiden kantonalen Spitallisten aufgeführt ist.<br />

Andernfalls muss <strong>die</strong> Übernahme der anfallenden Kosten bei der Gr<strong>und</strong>versicherung<br />

nachgefragt werden (BAG, 2010b, S. 7). Die stationären Zusatzversicherungen<br />

regeln <strong>die</strong> freie Spitalwahl, <strong>die</strong> freie Arztwahl (nur für halb- <strong>und</strong><br />

privatversicherte Patienten) <strong>und</strong> <strong>die</strong> Qualität <strong>des</strong> Komforts im Spital (Halbprivat-<br />

oder Privatabteilung bzw. Mehrbett-, Zweibett- oder Einzelzimmer). Den<br />

zusätzlichen ambulanten Behandlungsmethoden wird im Vergleich zu den<br />

Spitalzusatzversicherungen ein geringeres Prämienvolumen zuteil (Frei, 2007<br />

zit. in Kocher & Oggier, 2007, S. 141). Die bereits thematisierte etappenweise<br />

Einführung der neuen Spitalfinanzierung wird in Bezug auf <strong>die</strong> Spitallisten <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> freie Spitalwahl zu f<strong>und</strong>amentalen Veränderungen führen. Die Gr<strong>und</strong>versicherten<br />

werden inskünftig in der ganzen Schweiz unter den kantonalen Listenspitälern<br />

frei wählen dürfen. 25 Wobei beachtet werden muss, dass nicht je<strong>des</strong><br />

Spital auf der Spitalliste alle Leistungsbereiche anbietet.<br />

Der Einfluss der Privatversicher bei den Zusatzversicherungen ist in den letzten<br />

zehn Jahren (1998−2008) überproportional angestiegen. Hingegen bieten immer<br />

weniger KVG-Versicherer Zusatzversicherungen an, <strong>die</strong>s kann mit der Verlagerung<br />

<strong>des</strong> Zusatzversicherungsgeschäfts der KVG-Versicherer zu den Privatversicherern<br />

zusammenhängen oder mit der geringeren Nachfrage nach Zusatzversicherungen,<br />

<strong>die</strong> mit dem breiten Leistungsangebot der Gr<strong>und</strong>versicherung<br />

zusammenhängt. Die Zahlen von 1998−2008 lassen auf <strong>die</strong> zweite Möglichkeit<br />

schliessen, da <strong>die</strong> Leistungen seitens der OKP um nahezu 100% angestiegen<br />

25 Die Kosten einer ausserkantonalen Spitalbehandlung werden von der Versicherung <strong>und</strong> dem Wohnkanton jedoch<br />

nicht beliebig übernommen, sondern orientieren sich am Tarif <strong>des</strong> Wohnkantons. Wird <strong>die</strong>ser Tarif überschritten, so<br />

wird entweder der Patient oder <strong>die</strong> Zusatzversicherung <strong>die</strong> Differenz zwischen dem Tarif <strong>des</strong> Wohnkantons <strong>und</strong> den<br />

effektiven Kosten der ausserkantonalen Spitalbehandlung decken müssen.<br />

59


sind.<br />

Die Prämien bei der Gr<strong>und</strong>versicherung entsprechen einer risikounabhängigen<br />

Einheitsprämie, das bedeutet, dass jeder Bürger, egal welchen Alters, Geschlechts<br />

oder Ges<strong>und</strong>heitszustan<strong>des</strong>, in einer Versicherung (Pflicht für <strong>die</strong><br />

Krankenkassen) seines Wohnkantons aufgenommen werden muss <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Prämie unabhängig von seiner ges<strong>und</strong>heitlichen Vorgeschichte für jeden gleich<br />

ist. Die Prämie kann aber von Versicherer zu Versicherer, von Kanton zu Kanton<br />

<strong>und</strong> von Land zu Land variieren (BAG, 2010b, S. 13). Bezüglich der Einheitsprämie,<br />

<strong>die</strong> auch Kopfprämie genannt wird, können preisliche Unterschiede<br />

existieren, <strong>die</strong> auf den Wettbewerb, der unter den Versicherungen eines<br />

Kantons herrscht, zurückzuführen ist (Becker, 2006, S. 10). In der Gr<strong>und</strong>versicherung<br />

enthalten sind alle gesetzlich vorgeschriebenen <strong>und</strong> gesamtschweizerisch<br />

festgelegten Leistungen, was zu einem einheitlichen Leistungskatalog <strong>und</strong><br />

folglich zu einem vergleichbaren Angebot unter den Krankenversicherungsanbietern<br />

führt. Variierende Prämien bei vergleichbarem obligatorischen Angebot<br />

führen zu Konkurrenz (u.a. auch bezüglich der Serviceleistungen, das als Differenzierungspotenzial<br />

gesehen werden kann) unter den Anbietern <strong>und</strong> zu Kostendruck.<br />

Beachtet werden muss, dass Behandlungsmethoden, <strong>die</strong> fraglicher<br />

Natur sind, nach den Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit <strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit<br />

(WZW) geprüft werden. Das Verhältnis zwischen Kosten <strong>und</strong> Nutzen,<br />

aber auch <strong>die</strong> Wirksamkeit, <strong>die</strong> „nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen“<br />

(Art. 32 Abs. 1 KVG) werden muss, unterliegen der Prüfung (BAG, 2010b,<br />

S. 7).<br />

Die Prämien der Zusatzversicherung werden hingegen nach Risikogruppen<br />

festgelegt, wobei <strong>die</strong> Versicherer das Recht haben, Vorbehalte hinsichtlich einer<br />

zusatzversicherungswilligen Person anzubringen oder <strong>die</strong>se sogar ganz ausschliessen<br />

darf, folglich <strong>des</strong>sen Wunsch nach einer Zusatzversicherung vollständig<br />

ausschlagen kann.<br />

2.3 Transformationsprozesse − Meso- <strong>und</strong> Mikroebene<br />

Die voranschreitenden Transformationsprozesse im öffentlichen Dienst <strong>und</strong><br />

dem Ges<strong>und</strong>heitswesen (Makroebene) im Besonderen wirken sich nicht lediglich<br />

auf <strong>die</strong> Rahmenbedingungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> in <strong>die</strong>sen Systemen vertretenen <strong>und</strong><br />

60


das System konstituierende Institutionen (Mesoebene), sondern auch auf <strong>die</strong><br />

darin vertretenen Akteure (Mikroebene), ihren Berufsalltag <strong>und</strong> ihr berufsethi-<br />

sches Verständnis aus (siehe Abbildung 1).<br />

Die Kompetenzverteilung auf B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong> Kantonsebene, <strong>die</strong> Kostenstruktur,<br />

<strong>die</strong> neue Spitalfinanzierung, <strong>die</strong> Tarifverträge zwischen Leistungserbringern<br />

<strong>und</strong> Versicherungen sowie das Krankenversicherungsgesetz stellen nur einige<br />

der Parameter dar, <strong>die</strong> <strong>die</strong> juristischen Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Regeln in<br />

Form von Gesetzen, Verordnungen <strong>und</strong> Verträgen festlegen. Die stationäre<br />

Versorgung, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> allgemeinen Krankenhäuser, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Zentrums- <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>versorgung garantieren, <strong>und</strong> durch <strong>die</strong> Spezialkliniken26 gewährleistet<br />

wird, stellt das soziale Feld dar, in welchem sich <strong>die</strong> befragten Ärzte bewegen<br />

<strong>und</strong> in welchem Regeln <strong>und</strong> Normen gelten, denen sie sich als Akteure <strong>des</strong><br />

Fel<strong>des</strong> teilweise nur schwer widersetzen können, gleichzeitig setzen auch sie<br />

gewisse Spielregeln fest, da ihnen im Rahmen <strong>des</strong> sozialen Fel<strong>des</strong> <strong>des</strong> Krankenhauses<br />

eine Machtposition zukommt, <strong>die</strong> von aussen betrachtet aber nicht unmittelbar<br />

sichtbar wird (Bour<strong>die</strong>u, 1992/2006, S. 104).<br />

Aktuelle Themen im Rahmen der ambulanten Ges<strong>und</strong>heitsversorgung, wie <strong>die</strong><br />

Hausarztpolitik, das Management der Schnittstellen zwischen den Leistungserbringern<br />

(bspw. Spitalärzte <strong>und</strong> Hausärzte), <strong>die</strong> optimale Tarifgestaltung in<br />

Bezug auf das TARMED (Tarif der ambulanten ärztlichen Leistungen in der<br />

Schweiz) oder <strong>die</strong> spitalinternen Notfallzentren, an welchen zusehends Hausärzte<br />

ihren Notfall<strong>die</strong>nst leisten, werden in der folgenden Arbeit nicht behandelt.<br />

Wobei beachtet werden muss, dass sich verändernde Rahmenbedingungen<br />

im ambulanten Bereich auch Implikationen <strong>und</strong> Auswirkungen auf den stationären<br />

Bereich <strong>und</strong> <strong>die</strong> darin geltenden Prozesse <strong>und</strong> Regeln zur Folge haben,<br />

bedenke man beispielsweise <strong>die</strong> Verlegung der notärztlichen Präsenzzeiten aus<br />

den Praxen in <strong>die</strong> Krankenhäuser.<br />

26 Inklusive Rehabilitationskliniken, psychische Kliniken <strong>und</strong> andere Spezialkliniken.<br />

61


Ebene Dimension Ausprägung<br />

Makroebene Rahmenbedingungen Ges<strong>und</strong>heitssystem, Finanzierungsmechanismen, Qualifika-<br />

62<br />

tionsanforderungen, Zulassungsbedingungen, Recht <strong>und</strong><br />

Pflichten etc.<br />

Mesoebene Versorgungsstruktur Marktstruktur <strong>und</strong> Versorgungsniveau: Anzahl, Träger-<br />

Mikroebene Leistungserbringung<br />

Behandlungsaktivitäten<br />

schaft, geographische <strong>und</strong> fachliche Verteilung der Leis-<br />

tungserbringer, Leistungskapazität, Versorgungsqualität<br />

Interne Strukturen <strong>und</strong> Prozesse, Hierarchie, Unternehmens-<br />

strategie, Verhalten der Leistungserbringer (Pflege, Ärzte,<br />

Ökonomen)<br />

Abbildung 1: Ebenen der Versorgungssteuerung<br />

(Sager, Rüefli & Wälti, 2010, S. 26 <strong>und</strong> eigene Beiträge)<br />

Einer der wichtigsten Gr<strong>und</strong>steine <strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens ist das<br />

Sozialversicherungssystem (Kapitel 2.2.1), das der sozialen Sicherung <strong>die</strong>nt <strong>und</strong><br />

über gesetzliche Pflichtversicherungen finanziert wird. Die Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />

wird als eine der wichtigsten Aufgaben <strong>des</strong> Staates gesehen, stellt einen<br />

bedeutenden Bestandteil der Wirtschaft dar <strong>und</strong> befindet sich aufgr<strong>und</strong> der<br />

zahlreichen Akteure innerhalb <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens − von denen einige ein<br />

eher ökonomisches als ein gemeinnütziges Interesse für das System hegen,<br />

wohingegen andere sich der Herausforderung der Neudefinition ihres beruflichen<br />

Ethos ausgesetzt sehen − in einem stetigen Regulierungszwang. Die öffentlichen<br />

<strong>und</strong> privaten Spitäler mit ihrer Verschiedenheit <strong>und</strong> Gleichförmigkeit,<br />

<strong>die</strong> zu den wichtigsten Institutionen <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens zählen <strong>und</strong><br />

zu einem grossen Teil <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitsversorgung der Bevölkerung gewährleisten,<br />

stellen zwei Gegenpole dar, <strong>die</strong> gewissermassen als Institutionen <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Dienstes, den Dienst <strong>und</strong> <strong>die</strong> Spitäler gegenseitig legitimieren. Fraglich<br />

ist, ob Privatspitäler als Institutionen <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes erachtet<br />

werden dürfen, da sie dem Dienst am Gemeinwohl der gesamten Bevölkerung<br />

nicht nachkommen. Zu den bedeutendsten Akteuren innerhalb <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

<strong>und</strong> der Spitallandschaft zählt nebst der Pflege <strong>die</strong> Ärzteschaft.<br />

Beide Berufsgattungen befinden sich seit der voranschreitenden <strong>Ökonomisierung</strong>swelle<br />

in einem unverkennbaren Transformationsprozess, in welchem es<br />

nicht nur darum geht, sich den neuen Prozessen <strong>und</strong> Anforderungen innerhalb<br />

der Versorgungspraxis, <strong>die</strong> eine Vermarktlichung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens herbeiführen<br />

soll, anzupassen, sondern in erster Linie um eine gr<strong>und</strong>legende Neudefinition<br />

ihres bisherigen Berufsverständnisses. Die 50-St<strong>und</strong>en-Woche für


Assistenzärzte, <strong>die</strong> sich stetig verändernden Regulierungen (Gesetze, Verord-<br />

nungen, Revisionen, Entwürfe), <strong>die</strong> überwiegend auf Anträgen eines staatlichen<br />

Organs (B<strong>und</strong>, Kanton oder Gemeinde) oder der Versicherungsunternehmen<br />

basieren, <strong>die</strong> spitalinternen <strong>und</strong> spitalexternen Umstrukturierungsmassnahmen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> an <strong>die</strong> Ärzte gerichtete <strong>und</strong> immer offensichtlichere erlangende Forderung<br />

nach der Handlungsausrichtung am Wirtschaftlichkeitsgebot, was in einer<br />

massgeblichen Schwächung <strong>des</strong> Versorgungsgebots resultiert. Vorstellbar ist im<br />

Rahmen der marktwirtschaftlichen Rationalisierung eine Angleichung <strong>des</strong><br />

berufsethischen Selbstverständnisses an <strong>die</strong> Kriterien Wirtschaftlichkeit,<br />

Zweckmässigkeit <strong>und</strong> Wirksamkeit. 27 Die Kurzdarstellung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong> Krankenhaussektors im Besonderen sollen helfen, <strong>die</strong> im Feld<br />

geltenden Spielregeln zu erkennen, wobei ein besonderes Augenmerk auf den<br />

Habitus <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> <strong>die</strong> Faktoren gelegt wird, <strong>die</strong> zur langsamen, aber persistenten<br />

Transformation <strong>des</strong>selbigen beitragen. Als Bezugsrahmen können <strong>die</strong><br />

drei Ebenen – Makro, Meso <strong>und</strong> Mikro – <strong>die</strong>nen. Das Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

als Makroebene <strong>und</strong> als ein wesentlicher Bestandteil <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Dienstes blickt auf eine lange Tradition bzw. Geschichte zurück. In der Fachliteratur<br />

lassen sich unterschiedliche Unterteilungen <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens finden,<br />

so beispielsweise auch folgende: gesellschaftliche Ebene, medizinische<br />

Ebene <strong>und</strong> ökonomische Ebene. Auf der gesellschaftlichen Ebene steht der<br />

Anspruch auf <strong>und</strong> der Zugang zu Leistungen im Mittelpunkt, <strong>die</strong> darin wünschenswerten<br />

Prinzipien sind das Solidarprinzip <strong>und</strong> das Bedarfsprinzip. Auf<br />

der medizinischen Ebene steht <strong>die</strong> Qualität der Leistungen im Vordergr<strong>und</strong>, wo<br />

den darin vertretenen Akteuren das Versorgungsgebot zukommt <strong>und</strong> das Sachleistungsprinzip<br />

greift. Auf der ökonomischen Ebene steht <strong>die</strong> Wirtschaftlichkeit<br />

der Leistungen im Vordergr<strong>und</strong>, <strong>und</strong> <strong>die</strong> darin vertretenen Prinzipien<br />

lauten folgendermassen: Wirtschaftlichkeitsgebot, Selbstverwaltungsprinzip,<br />

Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung, Prinzip der gegliederten Krankenversicherung<br />

<strong>und</strong> das Versicherungsprinzip (Braun, Buhr, Klinke, Müller &<br />

Rolf, 2010, S. 61). Die Befolgung <strong>des</strong> Wirtschaftlichkeitsgebots, das inskünftig<br />

zusehends den beruflichen Alltag <strong>und</strong> das berufliche Selbstverständnis <strong>des</strong><br />

27 In der Schweiz haben <strong>die</strong> WZW-Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit <strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit auch in der Öffentlichkeit<br />

an Relevanz gewonnen. Anhand <strong>die</strong>ser Kriterien werden <strong>die</strong> Leistungen gemessen, für <strong>die</strong> einen Antrag auf<br />

Aufnahme in den Leistungskatalog der obligatorischen Krankenversicherung (OKP) gestellt wird. Beispielsweise<br />

wurden <strong>die</strong> WZW-Kriterien angewendet im Rahmen <strong>des</strong> Antrags zur Aufnahme komplementärmedizinischer Methoden<br />

in <strong>die</strong> OKP <strong>und</strong> demzufolge in den Leistungskatalog <strong>und</strong> <strong>die</strong> Leistungspflicht seitens der OKP.<br />

63


medizinischen Fachpersonals <strong>und</strong> der Pflege treffen wird, wird im Rahmen der<br />

folgenden Arbeit <strong>und</strong> insbesondere der Interviewauswertung verstärkt thema-<br />

tisiert. Die Schweizer Ges<strong>und</strong>heitspolitik fühlte sich immer zweier bedeutender<br />

Ziele verpflichtet: (1) dem Ges<strong>und</strong>heitsschutz <strong>und</strong> (2) der Gewährleistung <strong>des</strong><br />

Zugangs zu medizinischer Pflege <strong>und</strong> Qualitätssicherung (Achtermann & Ber-<br />

set, 2006, S. 20). Inwiefern <strong>die</strong>sen Zielen im Rahmen der voranschreitenden<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> nachgekommen werden soll, ist eine Frage, <strong>die</strong> sich im Rah-<br />

men der folgenden Arbeit nicht abschliessend beantworten lässt. Inwiefern sich<br />

<strong>die</strong> Position <strong>des</strong> Arztes im Feld verändert bzw. den ökonomisierten Strukturen<br />

angepasst hat <strong>und</strong> inwiefern sich <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong> das Wirtschaftlich-<br />

keitsgebot auf das berufsethische Verständnis <strong>des</strong> Arztes auswirken, sind Fra-<br />

gen, denen anhand der Interviewauswertung Klarheit verschafft werden soll.<br />

Damit einher geht eine langsame, aber stete Privatisierung von Versorgungsin-<br />

stitutionen. Demzufolge ist auch <strong>die</strong> Frage nach den Auswirkungen der starken<br />

Präsenz von Privatspitälern auf das Krankenhauswesen, vor allem aber auf das<br />

„Innenleben“ <strong>des</strong> Krankenhauses <strong>und</strong> dabei im Besonderen auf den Habitus<br />

<strong>des</strong> Arztes, der dem öffentlichen Spital loyal gegenüber bleibt, <strong>und</strong> auf den<br />

Habitus <strong>des</strong> abgewandertes Arztes, von zentraler Bedeutung. Im nächsten Kapitel<br />

wird <strong>die</strong> Struktur der Mesoebene, der historische Wachstum, der darin<br />

stattgef<strong>und</strong>en hat, <strong>und</strong> das Verhältnis zwischen öffentlichen <strong>und</strong> privaten<br />

Krankenhäusern ausführlicher thematisiert.<br />

2.3.1 Mesoebene − öffentliche <strong>und</strong> private Krankenhäuser<br />

2.3.1.1 Der Krankenhaussektor<br />

Eingangs wird der Blick auf <strong>die</strong> Geschichte der Schweizer Spitäler geworfen,<br />

<strong>und</strong> es werden anschliessend statistische Daten <strong>und</strong> Erläuterung zum heutigen<br />

Krankenhaussektor begutachtet, wobei eine prominente Privatspitalgruppe der<br />

Schweiz präziser betrachtet wird. Die mittelalterlichen Hospize, <strong>die</strong> erstmals im<br />

9. Jahrh<strong>und</strong>ert auftraten <strong>und</strong> zwischen dem 12. <strong>und</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>ert an Popularität<br />

gewannen, stellen <strong>die</strong> Vorreiter der heutigen Spitäler dar. Von einem reellen<br />

Vergleich kann aber nicht <strong>die</strong> Rede sein, da <strong>die</strong> Hospize sich den unzähligen<br />

Menschen, <strong>die</strong> im gänzlichen Elend lebten, verpflichtet fühlten, was zur Folge<br />

hatte, dass <strong>die</strong> begüterten Bürger von einem Aufenthalt in einem Hospiz vollständig<br />

absahen. Die damaligen Hospize wurden mehrheitlich durch einen<br />

religiösen Orden geführt, was sich aber im Laufe <strong>des</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>erts mit der<br />

64


Unterstellung der Hospize unter <strong>die</strong> Stadtverwaltung massgeblich änderte.<br />

Dieser Führungswechsel bewirkte, dass <strong>die</strong> Institutionen dank ihrer beträchtli-<br />

chen Einnahmen aus der Landwirtschaft <strong>und</strong> ihrem Gr<strong>und</strong>besitz beachtlich an<br />

wirtschaftlicher Macht gewannen (Achtermann & Berset, 2006, S. 20f.). Im Laufe<br />

<strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts fand eine regelrechte Gründungswelle von Spitälern statt.<br />

Diese Spitäler waren zum Teil stark von den Kantonen abhängig, andere wiederrum<br />

bevorzugten einen Zusammenschluss mit privaten Partnern, um nicht<br />

staatlichen Interventionen ausgesetzt zu sein. Diese Welle stand in engem Zusammenhang<br />

mit dem Wandel, dem <strong>die</strong> Gesellschaft unterlag, <strong>und</strong> den damit<br />

zusammenhängenden Veränderungen, wie <strong>die</strong> Entstehung <strong>des</strong> modernen demokratischen<br />

Staates, <strong>die</strong> Industrialisierung, <strong>die</strong> Anerkennung <strong>und</strong> Respektierung<br />

von Freiheiten <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>rechten <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schaffung <strong>des</strong> Sozialstaates<br />

(Achtermann & Berset, 2006, S. 21f.). In derselben Zeit nahm auch <strong>die</strong> Technologisierung<br />

der Medizin ihren Anfang. Die Spitalentwicklung, <strong>die</strong> auf kantonaler<br />

Ebene stattfand, rief nach einer Ges<strong>und</strong>heitsschutzpolitik, <strong>die</strong> auf B<strong>und</strong>esebene<br />

zu erfolgen hatte. Diesem Ruf wurde nachgekommen, was zur Folge<br />

hatte, dass <strong>die</strong> Errichtung der Ges<strong>und</strong>heitsschutzpolitik mit der 1848 stattfindenden<br />

Gründung <strong>des</strong> B<strong>und</strong>esstaates einherging. Die zahlreichen Epidemien<br />

wie Typhus <strong>und</strong> andere übertragbare Krankheiten gehörten damals zu den<br />

grössten ges<strong>und</strong>heitlichen Beeinträchtigungen, weshalb deren Bekämpfung<br />

eine der ersten bedeutenden Aufgaben <strong>des</strong> 1893 gegründeten Eidgenössischen<br />

Ges<strong>und</strong>heitsamtes darstellte, das als das heutige B<strong>und</strong>esamt für Ges<strong>und</strong>heit<br />

(BAG) bekannt ist. Der Person <strong>des</strong> Arztes widmete sich der Staat unter anderem<br />

mit dem B<strong>und</strong>esgesetz bezüglich der Freizügigkeit <strong>des</strong> Medizinalpersonals in<br />

der Schweizerischen Eidgenossenschaft, das 1877 in Kraft trat <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ausbildung<br />

regelte bzw. <strong>die</strong> Ärzte, Apotheker <strong>und</strong> Tierärzte zur Ausübung ihrer<br />

beruflichen Tätigkeit ermächtigte. Nebst <strong>die</strong>sem Gesetz fand auch das B<strong>und</strong>esgesetz<br />

vom 13. Juni 1911 über <strong>die</strong> Krankenversicherung, das den Zugang eines<br />

grossen Teils der Bevölkerung (aber noch nicht der ganzen) zu medizinischer<br />

Pflege regelte, Einzug in <strong>die</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitspolitik (Achtermann &<br />

Berset, 2006, S. 22f.). Die Technologisierung <strong>und</strong> Modernisierung der Medizin,<br />

<strong>die</strong> gesetzliche Verankerung der Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es, der Kantone,<br />

der Gemeinden <strong>und</strong> der sich darin befindenden Akteure, <strong>die</strong> massgeblich Einfluss<br />

auf <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitspolitik nehmen, sowie <strong>die</strong> zunehmende Säkularisierung<br />

<strong>des</strong> Pflegepersonals schritten in den folgenden Jahrzehnten stetig voran.<br />

All <strong>die</strong>s führte dazu, dass <strong>die</strong> Finanzierung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens schon Ende<br />

65


<strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts stark thematisiert wurde, was sich in den folgenden Jahr-<br />

zehnten bzw. im nächsten Jahrh<strong>und</strong>ert weiter verstärkt hat. Vor allem zu Beginn<br />

<strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts fand ein enormer Aufschwung der grossen Universitäts-<br />

<strong>und</strong> Kantonsspitäler statt, <strong>die</strong> zu hochspezialisierten medizinischen Zentren<br />

wurden, was unter anderem zu hohen finanziellen Ausgaben <strong>und</strong> folglich<br />

zu einer Zunahme der kantonalen Interventionen führte, wodurch der karitative<br />

Charakter der Spitäler immer mehr verloren ging (Achtermann & Berset,<br />

2006, S. 22). Nebst <strong>die</strong>sen Entwicklungen ten<strong>die</strong>rte der Ges<strong>und</strong>heitsbegriff, der<br />

fortwährend an <strong>die</strong> gesellschaftlichen Bedingungen angepasst wurde, immer<br />

stärker in Richtung Prävention, <strong>die</strong> vor allem in der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts thematisiert wurde. Der Prävention konnte aber nicht <strong>die</strong> nötige<br />

Aufmerksamkeit geschenkt werden, da <strong>die</strong> stark diskutierte Kostenexplosion<br />

sowie der sich immer rascher ausdehnende Pflegesektor wesentlich mehr im<br />

Zentrum der Debatten um das schweizerische Ges<strong>und</strong>heitssystem standen. Die<br />

Modernisierung der Spitäler, <strong>die</strong> vor allem seit 1980 stetig zunimmt, hat nicht<br />

nur zur Folge, dass eine beträchtliche Anzahl an hochqualifizierten Fachkräften<br />

ausgebildet <strong>und</strong> <strong>die</strong> neuesten Technologien angewendet werden, sondern dass<br />

<strong>die</strong> Spitäler von der Struktur, Strategie <strong>und</strong> Organisation her immer stärker<br />

einem Unternehmen der Privatwirtschaft ähneln. Der angesprochene Wandel,<br />

<strong>die</strong> Finanzierungskosten, <strong>die</strong> Technologisierung wie auch <strong>die</strong> Mengenausweitung<br />

stellen <strong>die</strong> Hauptthemen dar, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Schweiz in den letzten zwanzig Jahren<br />

beschäftigt hat <strong>und</strong> vermutlich noch <strong>die</strong> nächsten fünfzig beschäftigen wird.<br />

Die angesprochene Mengenausweitung, <strong>die</strong> sich in einer übermässigen Anzahl<br />

von Behandlungspraktiken <strong>und</strong> Operationen bemerkbar macht, wird unter<br />

anderem durch das Einholen von Zweit- oder Drittmeinungen der Patienten<br />

verschuldet, aber auch durch das heutige <strong>und</strong> vermutlich auch künftige Finanzierungssystem,<br />

das von Institutionen <strong>und</strong> teilweise auch einzelner Akteure der<br />

Ärzteschaft zu deren Gunsten ausgenutzt wird.<br />

Wird im Rahmen der Krankenhausstatistiken von Krankenhäusern gesprochen,<br />

so ist eine Präzisierung von Nöten. Neben der Unterscheidung zwischen Spitälern<br />

<strong>und</strong> sozialmedizinischen Institutionen existiert eine zweite Unterteilung,<br />

<strong>die</strong>jenige in <strong>die</strong> Kategorie der Krankenhäuser für <strong>die</strong> allgemeine Pflege (Zentrums-<br />

<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung) <strong>und</strong> <strong>die</strong>jenige in <strong>die</strong> Kategorie der Spezialkliniken<br />

(psychiatrische Kliniken, Rehabilitationskliniken <strong>und</strong> andere Spezialkliniken).<br />

Auf <strong>die</strong> sozialmedizinischen Institutionen, <strong>die</strong> Altersheime, Pflegeheime,<br />

66


Institutionen für Behinderte, Suchtkranke <strong>und</strong> psychosoziale Fälle beinhalten,<br />

wird hier nicht weiter eingegangen, da für den Vergleich öffentliches Krankenhaus<br />

versus Privatklinik vor allem <strong>die</strong> zweitgenannte Unterscheidung von<br />

Bedeutung ist.<br />

Krankenhäuser für allgemeine Pflege<br />

2008 2005 2001<br />

Allgemeine Krankenhäuser<br />

Zentrumsversorgung 29 28 26<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung 100 124 152<br />

Total KH allg. Pflege 129 152 178<br />

Spezialkliniken<br />

Psychiatrische Kliniken 60 64 60<br />

Rehabilitationskliniken 53 46 46<br />

Andere Kliniken 76 75 82<br />

Total Spezialkliniken 189 185 188<br />

Gesamttotal 318 337 366<br />

Tabelle 4: Anzahl Krankenhäuser für allgemeine Pflege <strong>und</strong> Spezialkliniken 2001/2005/2008<br />

(BFS, 2001/2005/2008, Krankenhausstatistik)<br />

Die Krankenhäuser der Gr<strong>und</strong>versorgung scheinen an Bedeutung verloren zu<br />

haben, innerhalb von sieben Jahren (2001−2008) ist ein Rückgang von 34.2% zu<br />

verzeichnen, wohingegen <strong>die</strong> Anzahl der Zentrumsversorger konstant geblieben<br />

ist. Die Krankenhäuser für <strong>die</strong> allgemeine Pflege mussten einen Rückgang<br />

von 27.5% verzeichnen, während <strong>die</strong> Anzahl der Spezialkliniken nahezu konstant<br />

geblieben ist.<br />

Vor allem <strong>die</strong> öffentlichen <strong>und</strong> öffentlich subventionierten Spitäler mussten<br />

Einbussen verzeichnen, was Tabelle 5 zeigt. Die Krankenhäuser im privaten<br />

Besitz haben einen äusserst geringen Rückgang von 2.2% zu verzeichnen, wohingegen<br />

<strong>die</strong> Krankenhäuser <strong>des</strong> öffentlichen Sektors innerhalb von nur vier<br />

Jahren (2004−2008) einen Rückgang von 11.3% zu verzeichnen haben. Vor allem<br />

<strong>die</strong> Krankenhäuser der Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Zentrumsversorgung haben an Anteil verloren<br />

(18.4%), wobei <strong>die</strong>s nicht nur ausschliesslich mit der Schliessung, sondern<br />

auch mit der Zusammenlegung gewisser Spitäler zusammenhängt.<br />

67


68<br />

Tabelle 5: Krankenhäuser nach rechts-wirtschaftlichem Status<br />

(öffentliche <strong>und</strong> öffentlich subventionierte, private Krankenhäuser)<br />

(BFS, 2004 & 2008, Krankenhausstatistik)<br />

In Tabelle 6 folgt ein Querschnitt durch <strong>die</strong> Statistik <strong>des</strong> Krankenhauspersonals,<br />

<strong>die</strong> ergibt, dass ca. 37% der Vollzeitäquivalente auf den Bereich der Pflege ent-<br />

fallen, ca. 15% auf <strong>die</strong> Ärzte <strong>und</strong> andere Akademiker, 23% auf das Personal<br />

anderer medizinischer Fachbereich <strong>und</strong> 25% auf <strong>die</strong> Ökonomie, das Transportwesen<br />

<strong>und</strong> den Haus<strong>die</strong>nst, das Verwaltungspersonal sowie <strong>die</strong> technischen<br />

Betriebe (Kocher & Oggier, 2010, S. 383). Vergleicht man <strong>die</strong> Zahlen von 2008<br />

mit denjenigen von 2004, so ist ein deutlicher Anstieg der Ärzte <strong>und</strong> anderen<br />

Akademiker <strong>und</strong> <strong>des</strong> Verwaltungspersonals zu verzeichnen. Insgesamt ist <strong>die</strong><br />

Anzahl der Beschäftigten <strong>des</strong> Krankenhausektors um 7.8% innerhalb von 4<br />

Jahren angestiegen, betrachtet man nur <strong>die</strong> beiden obgenannten Bereiche, so ist<br />

ein Anstieg von 19.1% bei den Ärzten <strong>und</strong> Akademikern <strong>und</strong> von 16.7% beim<br />

Verwaltungspersonal zu verzeichnen.<br />

Ärzte <strong>und</strong> andere Akademiker<br />

Pflegepersonal im<br />

Pflegebereich<br />

Personal anderer medizinischer<br />

Fachbereiche<br />

Verwaltungspersonal<br />

Ökonomie, Transport-<br />

<strong>und</strong> Haus<strong>die</strong>nstpersonal<br />

Personal technische Betriebe<br />

Andere<br />

Beschäftigte insgesamt<br />

Allgemeine<br />

Krankenhäuser<br />

(2008)<br />

Spitäler für<br />

allg. Pflege<br />

Spezialkliniken<br />

(2008)<br />

Spezialkliniken<br />

Total Allgemeine<br />

Krankenhäuser<br />

(2004)<br />

Total Krankenhäuser<br />

Spitäler für<br />

allg. Pflege<br />

Spezialkliniken<br />

2008 2004<br />

Total Krankenhäuser<br />

15 067 4 956 20 023 (14.9%) 13 076 3 738 16 814 (13.6%)<br />

35 152 14 017 49 169 (36.6%) 33 306 12 901 46 207 (37.4%)<br />

25 064 6 160 31 224 (23.4%) 23 538 5 283 28 821 (23.4%)<br />

8 247 3 011 11 258 (8.4%) 7 158 2 487 9 645 (7.8%)<br />

12 360 5 589 18 949 (14.1%) 12 166 5 365 17 531 (14.3%)<br />

2 313 982 3 295 (2.5%) 2 774 976 3 750 (3.0%)<br />

77 30 107 (0.1%) 301 313 614 (0.5%)<br />

98 280 34 745 133 025 92 319 31 063 123 382<br />

Tabelle 6: Anzahl Beschäftigte im Vollzeitäquivalent 2004 & 2008<br />

(BFS, 2004 & 2008, Krankenhausstatistik)<br />

Spezialkliniken<br />

(2004)<br />

Private 36 93 129 39 93 132<br />

Öffentliche <strong>und</strong> öffentlich<br />

subventionierte<br />

93 96 189 119 94 213<br />

Total 129 189 318 158 187 345<br />

Total


Fast <strong>die</strong> Hälfte der Stellen (49.5%) befinden sich in der Zentrumsversorgung,<br />

gefolgt von der Anzahl Beschäftigten im Bereich der Gr<strong>und</strong>versorgung (24.4%),<br />

der psychiatrischen Kliniken (11.8%), der anderen Spezialkliniken (8.9%) <strong>und</strong><br />

der Rehabilitationskliniken (5.4%). Die Zunahme an Verwaltungspersonal ohne<br />

medizinische Fachausbildung kann als ein Indiz der fortschreitenden <strong>Ökonomisierung</strong><br />

gesehen werden, was seitens der Ärzteschaft auf geringes Verständnis<br />

stösst. Zur zunehmenden Anzahl an Ökonomen in der Geschäftsleitungsebene<br />

der Spitäler vertritt Joachim A., Chefarzt einer Spezialität der Inneren Medizin<br />

eines Kantonsspitals, folgende Meinung: „Früher war ein Spital sehr<br />

stark von Ärzten geleitet, daneben gab es einen Verwaltungsdirektor,<br />

so hiess er früher, der geschaut hat, dass<br />

<strong>die</strong> Rechnungsseite stimmt. Das Ganze war folglich nicht<br />

aufgebläht. Heute ist <strong>die</strong>s ein zunehmend wirtschaftlich<br />

gesteuerter Betrieb mit einem CEO, der von der Medizin<br />

nichts verstehen muss, sondern ein rein wirtschaftlich orientierter<br />

Mensch sein muss. Zusätzlich gibt es jegliche,<br />

komplizierte Verrechnungen <strong>und</strong> dafür existieren dann Controller,<br />

<strong>die</strong> auch immer zahlreicher werden. Diese Stellen<br />

sind keine wertschöpfenden Stellen. Dann macht man zusätzlich<br />

viele interne Verrechnungen, <strong>die</strong> sehr kompliziert sind<br />

<strong>und</strong> welche, wenn sie mal ausgereift sind, eine gewisse<br />

Klarheit erbringen könnten. Ich bin seit fünfzehn Jahren<br />

hier, seit ich hier bin, versucht man <strong>die</strong>s mit dem Controlling<br />

irgendwie zu erfassen. Ich habe nicht das Gefühl, dass<br />

<strong>die</strong>s einigermassen befriedigend gelingt.“<br />

Der Krankenhaussektor kann zahlreichen weiteren Vergleichen ausgesetzt<br />

werden. Nebst den Beschäftigtenzahlen, der Trägerschaft <strong>und</strong> dem Spezialisierungsgrad<br />

spielt der Vergleich nach Kanton, Bettenzahlen, Betriebs- <strong>und</strong> Pflegetagen<br />

oder Hospitalisierungsrate eine weitere bedeutende Rolle. Ein Vergleich<br />

der Betriebs- <strong>und</strong> Pflegetage ist vor allem hinsichtlich der bevorstehenden<br />

DRG-Einführung von Relevanz. Die Fallpauschalen werden <strong>die</strong> Einführung<br />

einer pro Fall festgelegten Aufenthaltsdauer herbeiführen. Ein weiterer interessanter<br />

Indikator vor allem in Bezug auf den Vergleich der öffentlichen <strong>und</strong><br />

privaten Spitäler stellt der Case-Mix28-Index (CMI) dar. Anhand <strong>die</strong>ses Indexes<br />

kann der Schweregrad, der in einem Spital behandelten Patientinnen <strong>und</strong> Pati-<br />

28 Case-Mix steht für den Querschnitt der Patientenfälle in einem Spital (Malk, Kampmann & Indra, 2006, S. 18).<br />

69


enten (<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>ene Behandlungsaufwand) gemessen werden.<br />

Dazu werden zuerst <strong>die</strong> Behandlungsfälle mit klinisch ähnlichen oder gleichen<br />

Krankheitsbildern in verschiedene Patientengruppen eingeteilt (sogenannte<br />

DRG oder APDRG), wobei jeder DRG-Fallgruppe ein Kostengewicht zugeordnet<br />

wird. „Dieses setzt <strong>die</strong> durchschnittlichen Hospitalisierungskosten einer<br />

spezifischen DRG-Fallgruppe ins Verhältnis zu den durchschnittlichen Hospitalisierungskosten<br />

aller Behandlungsfälle der Schweiz, <strong>die</strong> einer Fallgruppe zugeordnet<br />

werden können. Der CMI brutto eines Spitals wird berechnet, indem<br />

<strong>die</strong> Kostengewichte aller Behandlungsfälle <strong>des</strong> Spitals summiert <strong>und</strong> dann<br />

durch <strong>die</strong> Anzahl der behandelten Fälle geteilt werden. Anhand der Kostengewichte<br />

<strong>und</strong> der Anzahl Fälle pro DRG kann somit der durchschnittliche Schweregrad<br />

bzw. der zu erwartende Kostenaufwand der in einem Spital behandelten<br />

Personen ermittelt werden.“ (BFS, 2011)<br />

70<br />

Krankenhaustyp CMI<br />

Anzahl Fälle<br />

Universitätsspitäler 1.163 184'527<br />

Zentrumsversorgung 0.901 427'531<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung, Niveau 3 0.826 181'662<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung, Niveau 4 0.777 215'741<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung, Niveau 5 0.728 67'327<br />

Spezialkliniken Chirurgie 0.839 48'371<br />

Spezialkliniken Gynäkologie, Neantologie 0.549 5'908<br />

Spezialkliniken Pädiatrie 0.849 16'989<br />

Tabelle 7: Case-Mix-Index brutto nach Krankenhaustyp 2008<br />

(BFS, 2011)<br />

Anhand <strong>die</strong>ser Tabelle wird ersichtlich, dass der CMI brutto der Universitätsspitäler<br />

<strong>und</strong> der Zentrumsversorger, bei<strong>des</strong> Spitäler, <strong>die</strong> zu den allgemeinen<br />

Krankenhäusern gezählt werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> im Vergleich zu den Spezialkliniken<br />

mehrheitlich zur Trägerschaft der öffentlichen bzw. öffentlich subventionierten<br />

Krankenhäusern zählen (siehe auch Tabelle 5), weitaus bedeutender ausfällt als<br />

derjenige der Spezialkliniken, wo sich der Anteil der Trägerschaft der Spezialkliniken<br />

paritätisch zwischen öffentlich <strong>und</strong> öffentlich subventionierten <strong>und</strong><br />

privaten Kliniken aufteilt. Die befragten Kaderärzte öffentlicher Spitäler haben<br />

ihren partiellen Missmut gegenüber Kollegen der Privatkliniken selten offen<br />

geäussert, wobei sich manche darüber einig waren, dass Privatkliniken ihr<br />

Angebot überwiegend nach den „planbaren“ Medizinbereichen ausrichten. Die


Bewältigung <strong>des</strong> „Unplanbaren“ schlägt sich oft in hohen Kosten nieder, was<br />

mit der Häufigkeit <strong>des</strong> Auftretens von Komplikationen <strong>und</strong> der schweren Beur-<br />

teilung <strong>des</strong> Genesungsprozesses zusammenhängt. Dieser Satz, der in den Au-<br />

gen der Privatspitalärzte als Provokation aufgefasst werden könnte, kann unter<br />

anderem sowohl anhand <strong>des</strong> Case-Mix-Index als auch anhand der von den<br />

Privatspitälern angebotenen Fachgebieten untermauert werden (siehe Kapitel<br />

2.3.2).<br />

Die <strong>Ökonomisierung</strong> einer Institution, <strong>die</strong> seit ihrer Historie <strong>und</strong> ihrer Tradition<br />

von je her eine dem öffentlichen Dienst <strong>die</strong>nende Institution darstellte, der sich<br />

auch <strong>die</strong> darin vertretenen Akteure, verpflichtet fühlten, wird weitegehende<br />

Implikationen auf <strong>die</strong> darin tätigen Akteure aber auch auf <strong>die</strong> Gesellschaft als<br />

Gesamtheit haben. Das öffentliche Krankenhaus verstand sich nicht als Dienstleistungs-<br />

oder Produktionsunternehmen <strong>und</strong> wurde in der Öffentlichkeit auch<br />

nicht als solches wahrgenommen, wodurch es sich gerade von ihrer Konkurrenz<br />

abhob. Die Verstaatlichung gewisser Spitäler aus weltanschaulichen oder<br />

konfessionellen Gründen ging nicht mit dem Zweck der Gewinnerzielung einher<br />

(Manzeschke, 2011, S. 274), was sich heute massgeblich geändert hat <strong>und</strong><br />

sich in Privatisierungen <strong>und</strong> Umstrukturierungen niederschlägt. Bedingt <strong>die</strong><br />

Trägerschaft, mit Investoren, <strong>die</strong> Renditen oder Aktionären, <strong>die</strong> Dividenden<br />

erwarten, eine ressourceneffiziente <strong>und</strong> gewinnmaximierende Unternehmensführung,<br />

so schlägt sich <strong>die</strong>s in der Monetarisierung der darin getätigten Arbeiten<br />

(Gespräche, Behandlungen, Therapien, Pflege) nieder <strong>und</strong> führt so zu ihrer<br />

Profanisierung, was sich wiederrum in der Wahrnehmung der getätigten Leistungen<br />

<strong>und</strong> ihrer Leistungserbringer niederschlägt. Kühn (2008, S. 312) spricht<br />

in <strong>die</strong>sem Zusammenhang auch „von einer Verbetrieblichung der medizinischen<br />

<strong>und</strong> pflegerischen Arbeit“. Ben-David (1991, zit. in Maurer, 2008, S. 385)<br />

beschreibt, wie Ressourcenabhängigkeiten von der Wirtschaft <strong>und</strong> wirtschaftsbezogene<br />

Programmelemente am Ende auch den binären Code (Ethos) eines<br />

Teilsystems erfassen <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen Ethos der Akteure schliesslich infizieren. Diese<br />

Verbetriebswirtschaftlichung haben auch Voss <strong>und</strong> Pongratz (1998, zit. in Maurer,<br />

2008, S. 385) exemplarisch beschrieben: „Sie ordnen dann den je teilsystemischen<br />

Code dem wirtschaftlichen Code unter, was sich in der Biographie teilsystemischer<br />

Leistungsrollenträger auch darin niederschlägt, dass z.B. Künstler<br />

oder Krankenhausärzte zu ,Arbeitskraftunternehmern‘ werden.“ Schimank <strong>und</strong><br />

Volkmann (2008, zit. in Maurer, 2008, S. 385 f.) haben in Annäherung an Bour-<br />

71


<strong>die</strong>us Theorien „fünf Grade der <strong>Ökonomisierung</strong>“ definiert, <strong>die</strong> es sich insbe-<br />

sondere in Bezug auf <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> staatlicher Institutionen <strong>und</strong> ihrer<br />

Akteure lohnt zu verdeutlichen, wobei <strong>die</strong> Stufen entlang eines Pols voran-<br />

schreiten – vom autonomen zum weltlichen Pol (pers. Anmerkung: vom selbst-<br />

bestimmten zum fremdbestimmten). Auf der ersten Stufe sind Verlustminimie-<br />

rung <strong>und</strong> Gewinnmaximierung kein Bestandteil der teilsystemischen Pro-<br />

grammstrukturen. Demzufolge ist das Geld ganz einfach vorhanden bzw. wird<br />

aufgetrieben, wenn es sich um eine Tätigkeit im Namen der Medizin handelt.<br />

Auf der zweiten Stufe steht eine sehr milde Form der <strong>Ökonomisierung</strong> – <strong>die</strong><br />

Akteure bzw. Handelnden werden zur Verlustminimierung angehalten. Stehen<br />

zwei Therapien bzw. Behandlungen zur Auswahl <strong>und</strong> ist eine günstiger als <strong>die</strong><br />

andere, so soll erstere gewählt werden. Auf der dritten Stufe wird Kostenbewusstsein<br />

zur Muss-Erwartung, was in ethisch-moralischen Dissonanzen resultiert,<br />

teilweise wider dem eigenen berufsethischen Selbstverständnis vorgenommen<br />

wird <strong>und</strong> sich beispielsweise in einer Nichttherapierung aus Kostengründen<br />

niederschlägt. Auf der Stufe vier kommt zur Verlustminimierung bzw.<br />

-vermeidung <strong>die</strong> Gewinnerzielung hinzu, <strong>die</strong> zur zweiten Handlungsmaxime<br />

wird <strong>und</strong> in den beruflichen Ethos integriert wird. Die Prämisse, <strong>die</strong> der fünften<br />

Stufe zugr<strong>und</strong>e liegt, ist <strong>die</strong> der bedingungslosen Gewinnerzielung. Die <strong>Ökonomisierung</strong><br />

wurde zur „feindlichen Übernahme“, <strong>die</strong> feldspezifische Logik<br />

wird dem ökonomischen Handlungskalkül untergeordnet, <strong>und</strong> der weltliche<br />

Pol wird zum korrupten Pol. Wendet man <strong>die</strong>se fünf Grade <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihnen zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden Logiken auf das Ges<strong>und</strong>heitswesen an, so ist das Ergebnis<br />

eine Mittel-Zweck-Umkehrung, <strong>die</strong> darin resultiert, dass <strong>die</strong> Versorgung <strong>des</strong><br />

Kranken das Mittel zum Zweck der Gewinnerzielung wird: „Geld wäre nicht<br />

mehr Mittel zum Zweck der Versorgung von Kranken, (…).“ (Kühn & Simon,<br />

2001, S. 4) Anhand <strong>des</strong> Modells von Schimank <strong>und</strong> Volkmann wird ersichtlich,<br />

dass <strong>Ökonomisierung</strong> ein schleichender Prozess darstellt, der nicht zwangsläufig<br />

zu Autonomieverlust der Teilsysteme führt <strong>und</strong> der Unterordnung der darin<br />

herrschenden Handlungslogiken unter ökonomische Logiken bedingt (Slotala,<br />

2011, S. 73). „<strong>Ökonomisierung</strong> meint nicht ,Wirtschaftlichkeit‘, sondern <strong>die</strong><br />

Tendenz zur Überformung der Dienstleistungsorientierung durch ökonomische<br />

Kalküle <strong>und</strong> Ziele, vermittelt über tatsächliche oder vermeintlich wirtschaftliche<br />

Zwänge.“ (Kühn & Simon, 2001, S. 4), <strong>die</strong>ses Zitat ging einher mit der verstärkten<br />

Orientierung an den Fallpauschalen Ende der Neunzigerjahre bzw.<br />

Anfang 2000. Die Herausforderungen an das Ges<strong>und</strong>heitswesen, <strong>die</strong> bereits<br />

72


Eingangs zum Kapitel 2 thematisiert wurden, schlagen sich im heutigen Kran-<br />

kenhausmanagement nieder. Management der Planungs-, Organisations- <strong>und</strong><br />

Kontrollmechanismen, klinisches <strong>und</strong> betriebswirtschaftliches Qualitätsma-<br />

nagement, Zertifizierungen aller Art, interdisziplinäre Arbeitsweisen <strong>und</strong> Ko-<br />

operationen <strong>und</strong> nicht zuletzt Rationalisierungsmassnahmen haben zum Um-<br />

denken im Innenleben <strong>des</strong> Krankenhauses geführt, <strong>die</strong> in Umstrukturierungen<br />

<strong>und</strong> Deregulierungen resultierten. Nebst dem medizinischen <strong>und</strong> medizintechnischen<br />

Fortschritt galt es auch, <strong>die</strong> allgemeine Technik der Datenverarbeitung<br />

<strong>und</strong> Datensicherheit weiterzuentwickeln, <strong>die</strong> Grösse der Spitäler, <strong>die</strong> neuen<br />

Anforderungen der jungen Ärzte an ihre Work-Life-Balance, <strong>die</strong> zunehmende<br />

Feminisierung <strong>des</strong> Arztberufs <strong>und</strong> <strong>die</strong> Professionalisierung der Pflege verursachten<br />

eine Intensivierung der Arbeit, <strong>und</strong> der Bedarf nach einer zunehmenden<br />

Arbeitsteilung wurde offenk<strong>und</strong>ig, <strong>und</strong> last but not least fand eine Angleichung<br />

<strong>des</strong> Krankenhausstandards an <strong>die</strong> allgemeinen Lebensstandards (Stichwort:<br />

Hotellerie) statt (Habersam, 2009, S. 192). Die Interviews haben sowohl<br />

<strong>die</strong> genannten Herausforderungen verdeutlicht als auch Kritik an den gängigen<br />

angewandten Managementmodellen in öffentlichen Krankenhäusern verlauten<br />

lassen, was eng damit zusammenhing, dass <strong>die</strong> Ärzte ihre medizinische Fachkompetenz<br />

durch neu auferlegte Strategiesitzungen, Richtlinien <strong>und</strong> Finanzierungsmodellen,<br />

<strong>die</strong> einen hohen zeitlichen Aufwand verursachen, einer stetigen<br />

Bedrohung ausgesetzt sahen <strong>und</strong> sich <strong>des</strong>halb eine Rückbesinnung auf <strong>die</strong> alten<br />

Zeiten <strong>und</strong> eine Sicherung ihrer hierarchischen Positionen wünschten. Auf <strong>die</strong><br />

Veränderungsprozesse innerhalb <strong>des</strong> Krankenhausmanagements wird im<br />

Rahmen der Interviewauswertungen nochmals ausführlicher eingegangen.<br />

Anhand der drei Tabellen in Appendix B werden nummerisch <strong>die</strong> Abwanderungszahlen<br />

der drei Kantonsspitäler verdeutlicht, <strong>die</strong> an der Stu<strong>die</strong> teilgenommen<br />

<strong>und</strong> wo auch <strong>die</strong> Experteninterviews stattgef<strong>und</strong>en haben. Anhand<br />

der Aussagen der befragten Kaderärzte <strong>die</strong>ser drei Kantonsspitäler konnten<br />

Vermutungen hinsichtlich der Faktoren zwischen 2000–2008 <strong>und</strong> in einem der<br />

drei Kantonsspitäler insbesondere zwischen 2005–2006, <strong>die</strong> zu einer verstärkten<br />

Abwanderungswelle beitrugen, angestellt werden. Spitalinterne Umstrukturierungen,<br />

<strong>die</strong> nicht in Kündigungen von Kaderärzten resultierten, aber zu Unzufriedenheit,<br />

Unverständnis <strong>und</strong> Frustration seitens betroffener Kaderärzte führten,<br />

könnten ein exemplarischer Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> Abwanderungen zwischen 2005<br />

<strong>und</strong> 2006 darstellen. Die Umstrukturierungen gingen oft mit Transformations-<br />

73


entwicklungen innerhalb <strong>des</strong> Krankenhausmanagements einher, <strong>die</strong> vielerorts<br />

zum Ersatz der Chefarzt-Struktur oder der Dreibein-Struktur durch eine CEO-<br />

Struktur zur Folge hatten <strong>und</strong> weitere Prozess- <strong>und</strong> Strategieerneuerungen mit<br />

sich brachten, was teilweise zur Einschränkung der Entscheidungsfreiheit der<br />

Kaderärzte führte. Gleichzeitig fanden Persönlichkeitswechsel innerhalb der<br />

Führungsspitzen statt, <strong>die</strong> in einer Neubesetzung der Spitalleitung durch Öko-<br />

nomen resultierten, <strong>die</strong> Ohnmachtsgefühle bei den Kaderärzten hervorriefen.<br />

Parallel zu <strong>die</strong>sen Entwicklungen erfolgten strukturelle Veränderungen inner-<br />

halb <strong>des</strong> Schweizer Krankenhaussektors, so beispielsweise <strong>die</strong> Übernahme<br />

einer der grössten Schweizer Privatklinikgruppen, Hirslanden, durch eine in-<br />

ternational tätige Klinikgruppe aus Südafrika <strong>und</strong> <strong>die</strong> Übernahme von vier teils<br />

öffentlichen Spitälern durch <strong>die</strong> Hirslanden zwischen 2002 <strong>und</strong> 2005. Die Ex-<br />

pansion der Klinikgruppe <strong>und</strong> ihre verstärkte regionale Annäherung an öffent-<br />

liche <strong>und</strong> öffentlich subventionierte Spitäler hat zur Herabsetzung der Hemm-<br />

schwelle, <strong>die</strong> <strong>die</strong> ersten Abwanderer aus öffentlichen Krankenhäusern zu<br />

überwinden hatten, beigetragen. Diese Hemmschwelle war vor allem bei den<br />

Erstabgewanderten hoch, da sie sich einerseits noch keine grossen Vorstellun-<br />

gen davon machen konnten, was sie in der neuen Institution erwarten wird,<br />

<strong>und</strong> sie andererseits <strong>die</strong> Reaktionen seitens ihrer Kollegen aus den öffentlichen<br />

Spitälern nicht abschätzen konnten. Die Lockrufe der Kollegen aus den privaten<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> voranschreitende <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Krankenhaus-<br />

managements der öffentlichen Krankenhäuser haben eine Herabsetzung <strong>die</strong>ser<br />

Schwelle herbeigeführt, wobei weitere Faktoren im Rahmen der Interviewaus-<br />

wertungen zum Vorschein kamen, <strong>die</strong> zum Austritt bewegt haben.<br />

2.3.1.2 Das Privatspital<br />

Im Rahmen der folgenden Stu<strong>die</strong> beschränkte man sich auf <strong>die</strong> Hirslanden<br />

Gruppe als eine der führenden <strong>und</strong> grössten Privatklinikgruppen in der<br />

Schweiz. 29 Es geht aber nicht darum, <strong>die</strong> Privatklinik Hirslanden an den Pranger<br />

zu stellen, vielmehr sollen <strong>die</strong> Unterschiede zwischen dem Privatspital <strong>und</strong><br />

dem öffentlichen Spital anhand eines Vergleichs ersichtlich werden. Einsicht in<br />

Zahlen zu Ab- bzw. Zuwanderungen von Ärzten innerhalb der letzten zehn<br />

Jahre (1998–2008, derselbe Zeitraum wie derjenige, der bei den öffentlichen<br />

29 Die Beschränkung auf <strong>die</strong> Privatklinigruppe Hirslanden impliziert jedoch nicht, dass <strong>die</strong> in Privatspitälern geführten<br />

Interviews ausschliesslich mit Ärzten, <strong>die</strong> in einer Klinik der Hirslandengruppe tätig sind, stammen.<br />

74


Spitälern angewendet wurde, siehe Appendix B), zu Ausbildungsplätzen oder<br />

zu Gehaltsstrukturen wurde nicht gewährt. Als Erklärung liess <strong>die</strong> Gruppe<br />

verlauten, dass <strong>die</strong> fehlenden Daten auf <strong>die</strong> Selbstständigkeit der Belegärzte,<br />

ihrer Tätigkeit in unterschiedlichen Privatspitälern <strong>und</strong> <strong>die</strong> Bindung <strong>des</strong> Aus-<br />

bildungsplatzes an den ausbildenden Arzt zurückzuführen seien. Gemäss dem<br />

Wortlaut ihrer E-Mail-Antwort, existieren aufgr<strong>und</strong> der Selbstständigkeit der<br />

Belegärzte keine Daten zu deren Gehältern. Als Entstehungsjahr der Privatkli-<br />

nikgruppe Hirslanden gilt 1990. In <strong>die</strong>sem Jahr übernahm <strong>die</strong> Klinik Hirslan-<br />

den in Zürich (<strong>die</strong> bereits seit 1932 existiert <strong>und</strong> 1944 durch <strong>die</strong> Schweizerische<br />

Bankgesellschaft SBG/UBS 30 übernommen wurde) <strong>die</strong> im Besitze der AMI-<br />

Gruppe (American Medical International) stehenden Kliniken: Klinik Im<br />

Schachen in Aarau, Beau-Site in Bern, Cecil in Lausanne <strong>und</strong> Im Park in Zürich.<br />

2002 veräusserte <strong>die</strong> UBS als Mehrheitsaktionär <strong>des</strong> Unternehmens <strong>die</strong> Gruppe<br />

an <strong>die</strong> englische Investorengruppe BC Partners F<strong>und</strong>s. 2007 folgte dann der<br />

nächste Schritt, <strong>die</strong> Übernahme der Privatklinikgruppe Hirslanden, <strong>die</strong> zu <strong>die</strong>-<br />

sem Datum acht weitere Kliniken, also insgesamt 13 Privatkliniken, umfasste,<br />

durch <strong>die</strong> international tätige südafrikanische Spitalgruppe Mediclinic Interna-<br />

tional Limited. Gemäss Hirslanden ist <strong>die</strong> Privatspitalgruppe Hirslanden, <strong>die</strong><br />

Kliniken zwischen dem Bodensee <strong>und</strong> dem Genfersee besitzt <strong>und</strong> dadurch<br />

flächendeckend tätig ist, heute nicht aus dem Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

wegzudenken. 2010 folgte schliesslich <strong>die</strong> bis anhin letzte zu verzeichnende<br />

Übernahme der Klinik Stephanshorn in der Ostschweiz, eine vormals durch <strong>die</strong><br />

Menzinger Schwester gegründete Privatklinik. 31 Infolge<strong>des</strong>sen umfasst der<br />

Konzern Hirslanden heute 14 Schweizer Privatklinken in 10 Kantonen <strong>und</strong><br />

zählt 1‘520 Belegärzte <strong>und</strong> angestellte Ärzte <strong>und</strong> 5‘654 Mitarbeiter aus 81 Ländern.<br />

Gemäss einem Pressecommuniqué versteht sich <strong>die</strong> Hirslanden als Systemanbieter<br />

mit interdisziplinären medizinischen Kompetenzzentren <strong>und</strong> spezialisierten<br />

Instituten im Markt, <strong>die</strong> zu optimalen <strong>und</strong> individuellen Behandlungen<br />

beitragen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Betreuung hochkomplexer Fälle zulassen (Hirslanden,<br />

2011a). Die Jahresberichte der Hirslanden überzeugen nicht durch ihren<br />

hohen Informationsgehalt, der teilweise knapp gehalten ist. Ganz den gängigen<br />

30 Auf der Homepage der Hirslanden wird im Jahre 1944 von einer Übernahme durch <strong>die</strong> UBS gesprochen. Die damalige<br />

UBS bzw. SBG entspricht jedoch nicht der heutigen UBS AG, <strong>die</strong> 1998 durch <strong>die</strong> Fusion der SBG/UBS mit dem<br />

Schweizerischen Bankverein (SBV) gegründet wurde.<br />

31 1975 Gründung der Klinik Stephanshorn AG durch Zusammenschluss zweier Privatkliniken Blumenau <strong>und</strong> Notkerianum,<br />

wobei letztere 1924 durch Menzinger Schwestern gegründet wurde (Hirslanden, 2011b).<br />

75


Marketingstrategien entsprechend werden <strong>die</strong> Berichte mit Bildern versehen,<br />

<strong>die</strong> den Betrachter <strong>die</strong> Tatsache, dass es sich bei der Präsentation um ein Kran-<br />

kenhaus handelt, vergessen lassen. Die jährlich publizierten Qualitätsberichte<br />

(Hirslanden, 2011c) lassen hingegen einen wesentlich breiteren Einblick in <strong>die</strong><br />

Spitalstrukturen zu <strong>und</strong> sind demzufolge auch bedeutend informativer. Die<br />

Kommunikation von Finanzzahlen findet spärlich statt, weshalb ein Rückgriff<br />

auf <strong>die</strong> Geschäftsberichte der Eigentümerin Mediclinic vonnöten ist. Der Quali-<br />

tätsbericht gibt Aufschluss über den Patientenmix (privat-, halbprivat-, allge-<br />

meinversichert bzw. gr<strong>und</strong>versichert) pro Klinik, wobei bei der Betrachtung der<br />

Durchschnitte <strong>die</strong>ser Daten beachtet werden muss, dass in gewissen Kliniken<br />

eine egalitäre Aufteilung zwischen den drei Versicherungstypen vorzufinden<br />

ist, wohingegen in anderen Kliniken wie beispielweise der Hirslanden Klinik<br />

(2.6% im 2010/2011) oder der Klinik im Park (7.4% im 2010/2011) eine sehr ge-<br />

ringe Anzahl an Gr<strong>und</strong>versicherten behandelt wird. Dies hängt vermutlich<br />

nicht zuletzt damit zusammen, dass gewisse Spitäler einen Leistungsauftrag für<br />

einen Spezial- bzw. Fachbereich seitens der Kantone erhalten <strong>und</strong> dadurch auch<br />

in den Genuss staatlicher Subventionen kommen. Ab 2012 wird der Frage,<br />

weshalb Privatspitäler nicht verstärkt gr<strong>und</strong>versicherte Patienten behandeln,<br />

nicht mehr mit dem Argument begegnet werden können, dass sie keine staatli-<br />

chen bzw. kantonalen Subventionen (ohne Leistungsauftrag) für <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>ver-<br />

sicherten erhalten, da ab <strong>die</strong>sem Zeitpunkt all jenen Spitälern, <strong>die</strong> als Listenspi-<br />

tal auf <strong>die</strong> Spitalliste gelangen, auch staatliche Subventionen zukommen wer-<br />

den, was aber ausführlicher unter Kapitel 2.4.3 behandelt wird.<br />

Anhand der folgenden zwei Tabellen wird exemplarisch ersichtlich, in welcher<br />

Reihenfolge das Priorisieren der Patienten an Privatspitälern vorgenommen<br />

wird <strong>und</strong> wer in welcher Form in den Genuss ärztlicher <strong>und</strong> medizinischer<br />

Fachkompetenz <strong>und</strong> pflegerischer Leistung kommt. Die Leistungen könnten<br />

durch sogenannte Zusatzleistungen, <strong>die</strong> unter dem Begriff „Hotelleistungen“<br />

summiert werden, ergänzt werden. Die folgenden Tabellen wurden aus einer<br />

Broschüre der Hirslanden Bern (darin sind <strong>die</strong> Klinik Beau-Site, Klinik Per-<br />

manence <strong>und</strong> das Salem-Spital enthalten), <strong>die</strong> öffentlich ausgelegt wird, ent-<br />

nommen. Der Broschüre liegt das Moto „Unsere Leistungen sind transparent“<br />

zugr<strong>und</strong>e. In der Klinik Permanence war 2010/2011 ein Patientenmix von 6.6%<br />

Privatversicherte, 16.9% Halbprivatversicherte <strong>und</strong> 76.5% Allgemeinversicherte<br />

gegeben, der prozentuale Anteil an Gr<strong>und</strong>versicherten ist in <strong>die</strong>ser Klinik, über<br />

76


<strong>die</strong> gesamte Gruppe hinweg betrachtet, am grössten (Hirslanden, 2011c). Inte-<br />

ressant ist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang <strong>die</strong> Tatsache, dass auf der am 01.01.2005<br />

in Kraft getretenen Spitalliste <strong>des</strong> Kantons Bern alle drei Spitäler unter der<br />

Rubrik „Institutionen ohne Beiträge der öffentlichen Hand“ erscheinen. Das<br />

Label „Hirslanden Privé“ steht für alle jene Patienten, <strong>die</strong> eine Privatversicherung<br />

abgeschlossen haben <strong>und</strong> sich so <strong>die</strong> Freiheit der freien Arzt- <strong>und</strong> Spitalwahl<br />

zugesichert haben.<br />

Leistungen Hirslanden Privé Halbprivat Allgemein<br />

Primärer Zugang zu Belegarzt/Facharzt FMH<br />

(keine Wartezeiten)<br />

Zuweisung in <strong>die</strong> Klinik mit planbaren Eingriffen<br />

bzw. planbarer Behandlung<br />

Ja Ja Nein<br />

1. Priorität 2. Priorität 3. Priorität<br />

Stationärer Eintritt nach Notfall-Abklärung Ja Ja Bei freien<br />

Kapazitäten<br />

Reihenfolge im Operationsprogramm bei Wahleingriff<br />

Permanente Betreuung durch gewählten Facharzt<br />

<strong>und</strong> Wahl <strong>des</strong> mitbetreuenden Arztes (z.B.<br />

Internet, Anästhesist)<br />

1. Priorität 2. Priorität 3. Priorität<br />

Ja Ja Nein<br />

Tabelle 8: Medizinische <strong>und</strong> ärztliche Leistung an der Hirslanden Bern<br />

für Privat-, Halbprivat- <strong>und</strong> Allgemeinversicherte<br />

(Auszug aus Broschüre „Unsere Leistungen sind transparent“, Hirslanden, 2010/2011)<br />

Leistungen Hirslanden Privé Halbprivat Allgemein<br />

Ausführung von Pflegeleistungen durch: Diplomierte<br />

Fachpersonen<br />

Nach Möglichkeit eine kontinuierliche<br />

Betreuung durch <strong>die</strong> gleiche Fachperson<br />

Diplomierte<br />

Fachpersonen<br />

Ja Ja Nein<br />

Sozialberatung Ja Ja Nein<br />

Regelmässiger Kontakt zur Abteilungsleitung<br />

Ja Ja Nein<br />

Tabelle 9: Pflege Leistungen an der Hirslanden Bern<br />

für Privat-, Halbprivat- <strong>und</strong> Allgemeinversicherte<br />

(Auszug aus Broschüre „Unsere Leistungen sind transparent“, Hirslanden, 2010/2011)<br />

Bei Bedarf<br />

dipl.<br />

Fachpersonen<br />

Die Organisation Privatkliniken Schweiz hat 2004 in einem Communiqué zur<br />

Stu<strong>die</strong> über <strong>die</strong> Rolle <strong>und</strong> Bedeutung der Schweizer Privatspitäler <strong>die</strong> vermeintliche<br />

Diskriminierung der Privatkliniken angeprangert <strong>und</strong> kam zum Schluss,<br />

77


dass Privatkliniken den Wettbewerb im Ges<strong>und</strong>heitswesen positiv beleben,<br />

hinsichtlich Leistungsqualität <strong>und</strong> Prozesseffizienz als Benchmark für <strong>die</strong> öf-<br />

fentlichen Spitäler <strong>die</strong>nen <strong>und</strong> auch im Kostenvergleich meist besser als <strong>die</strong><br />

privaten Kliniken abschneiden würden. Sie kamen zum Schluss, dass sie jede<br />

Lösung im Bereich der Spitalfinanzierung entschieden ablehnen würden, falls<br />

<strong>die</strong>s eine Ausweitung der umfassenden Planungskompetenz der Kantone auf<br />

<strong>die</strong> privaten Leistungserbringer zur Folge hätte. Als Argument <strong>die</strong>nte <strong>die</strong> Annahme,<br />

dass <strong>die</strong> Kantone <strong>die</strong> privaten Kliniken von den Spitallisten streichen<br />

könnten. Sieben Jahre später <strong>und</strong> nach dem Startschuss für <strong>die</strong> Implementierung<br />

<strong>und</strong> Umsetzung der DRG in der Schweizer Spitallandschaft ist <strong>die</strong> Hirslanden<br />

froh über den Kantonsentscheid bezüglich der Aufnahme der Hirslanden<br />

Klinik Zürich auf <strong>die</strong> neue Spitalliste. Hinsichtlich der Nichtaufnahme der<br />

Klinik Im Park, <strong>die</strong> auch der Privatklinikgruppe angehört <strong>und</strong> auch in Zürich<br />

ansässig ist, aus Gründen mangelnder Wirtschaftlichkeit will <strong>die</strong> Hirslanden<br />

Rekurs einlegen. Der CEO der Hirslanden, Olé Wiesinger, bezeichnet den<br />

Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> Nichtaufnahme in <strong>die</strong> neue Spitalliste als rufschädigend (Schuler,<br />

2011). Hinter dem grossen Interesse, auf <strong>die</strong> Spitalliste zu gelangen, stecke gemäss<br />

dem Tages-Anzeiger nicht lediglich der Wunsch allgemeinversicherte<br />

Patienten zu behandeln (vor allem bei hochkomplizierten Behandlungen im<br />

Bereich der Spitzenmedizin sind hohe Fallzahlen von grosser Wichtigkeit),<br />

sondern sich durch staatliche Subventionen bzw. Beiträge langsam aus der<br />

Schuldenfalle <strong>und</strong> dem damit einhergehenden hohen Fremdkapitalanteil zu<br />

befreien. Neben den beträchtlichen Schulden, <strong>die</strong> auf der Hirslanden Gruppe<br />

lasten, <strong>und</strong> den im Vergleich zu den öffentlichen Spitälern höheren Kosten für<br />

gleiche Behandlungen, was gemäss der Geschäftsleitung der Privatklinikgruppe<br />

nicht der Wahrheit entspricht, da ihre Privatkliniken schlanker organisiert<br />

seien (<strong>die</strong>s obwohl in einem veröffentlichten Bericht der Zürcher Regierung<br />

deutlich höhere durchschnittliche Fallkosten von der Klinik Hirslanden im<br />

Gegensatz zu denjenigen öffentlicher Spitäler bezifferten wurden (Anderegg,<br />

2011)), befanden sich <strong>die</strong> Hirslanden <strong>und</strong> alle anderen Privatkliniken, <strong>die</strong> es<br />

schweizweit auf <strong>die</strong> neuen Spitallisten geschafft haben, auch bezüglich eines<br />

weiteren brisanten Themas unter Beschuss. Die SP <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gewerkschaft<br />

VPOD wollen mit einem Referendum erreichen, dass das neue Zürcher Spitalgesetz,<br />

das 2012 vor das Volk kommt, durch einen Passus ergänzt wird, wonach<br />

Spitäler einen Teil den durch Zusatzversicherte erzielten Gewinn abliefern<br />

müssen (Flütsch, 2011). Gleichzeitig soll erreicht werden, dass durch <strong>die</strong> neuen<br />

78


staatlichen Einnahmen für Allgemein- <strong>und</strong> Zusatzversicherte (OKP-<br />

Leistungen), in <strong>des</strong>sen Genuss nun auch <strong>die</strong> Hirslanden Klinik kommt (Voraus-<br />

setzung: Platz auf der neuen Spitalliste), <strong>die</strong> Prämien der Zusatzversicherungen<br />

gesenkt werden. Dies stellt jedoch ein Vorhaben dar, das sich durch <strong>die</strong> Träg-<br />

heit <strong>des</strong> Systems, wenn überhaupt, nur begrenzt umsetzen lässt (Flütsch, 2011).<br />

Auf <strong>die</strong> Frage, weshalb Schweizer Privatkliniken nicht auch verstärkt Gr<strong>und</strong>-<br />

versicherte behandeln würden, antwortet eine grosse Mehrheit der Privatklini-<br />

ken mit dem Argument der fehlenden kantonalen Subventionen. Mit dem neu-<br />

en Finanzierungsmodell DRG, dem neuen Spitalgesetz <strong>und</strong> den damit einher-<br />

gehenden neuen kantonalen Spitallisten hofften <strong>die</strong> Politiker <strong>und</strong> weitere Ak-<br />

teure <strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens ein Zeichen gegen <strong>die</strong>ses Argument<br />

setzen zu können. Dies scheint bislang noch nicht geglückt. Veränderungen bei<br />

der Ausrichtung der Versorgungsstruktur resultieren auch immer in Implikationen<br />

für <strong>die</strong> darin tätigen Akteure.<br />

Das nächste Unterkapitel wird sich mit dem Innenleben <strong>des</strong> Krankenhauses<br />

<strong>und</strong> dabei insbesondere mit der Ärzteschaft befassen. Die Veränderungen in<br />

Bezug auf das Verhältnis von Versorgungs- zu Wirtschaftlichkeitsgebot <strong>und</strong><br />

dabei insbesondere <strong>die</strong> berufsethisch anspruchsvolle Aufgabe <strong>des</strong> Abwägens<br />

zwischen betriebswirtschaftlicher <strong>und</strong> medizinischer Handlungslogik stehen im<br />

Zentrum <strong>des</strong> Unterkapitels, wobei auch <strong>die</strong>ses Kapitel mit Daten zu strukturellen<br />

Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Gegebenheiten wie dem Verhältnis zwischen<br />

Mann <strong>und</strong> Frau bei Stu<strong>die</strong>nabgängern angereichert wird.<br />

2.3.2 Mikroebene − <strong>die</strong> Ärzteschaft<br />

Rationalisierungsmassnahmen, neue Finanzierungsmodelle, Veränderungen<br />

der Spitalstrukturen <strong>und</strong> der darin herrschenden Prozesse, <strong>die</strong> von einem Angleichen<br />

<strong>des</strong> Spitalsektors an privatwirtschaftlich organisierte Konzerne zeugen,<br />

eine verstärkte Auferlegung von Selbstverantwortungsmassnahmen seitens<br />

der Patienten <strong>und</strong> <strong>die</strong> anhaltende Erwartung an <strong>die</strong> Pflegekräfte <strong>und</strong> Ärzteschaft,<br />

ihr berufsethisches Selbstverständnis durch <strong>die</strong> Maxime betriebswirtschaftliches<br />

Handlungskalkül zu ergänzen, sowie <strong>die</strong> verstärkte Implementierung<br />

von Managertätigkeiten in den Berufsalltag <strong>des</strong> Arztes haben zu einem<br />

gr<strong>und</strong>legenden Umdenken innerhalb <strong>des</strong> Innenlebens der Krankenhausstruktur<br />

geführt <strong>und</strong> sind Zeugen einer voranschreitenden <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitswesens. Die Interviews haben gezeigt, dass <strong>die</strong> verstärkte Speziali-<br />

79


sierung (Professionalisierung <strong>und</strong>/oder Deprofessionalisierung) der Ärzte-<br />

schaft, <strong>die</strong> seit dem 1. Januar 2005 eingeführte 50-St<strong>und</strong>en-Woche für Assis-<br />

tenzärzte, <strong>die</strong> von Spital zu Spital variierenden Anstellungsbedingungen (Belegarztsystem,<br />

Kaderarztverträge) <strong>und</strong> Lohnmodelle sowie <strong>die</strong> verstärkte Orientierung<br />

der Krankenhausführung an Managementstrategien <strong>und</strong> -strukturen<br />

erst einige wenige der Faktoren darstellen, <strong>die</strong> einen Wandel <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Berufsethos induziert haben.<br />

Hinsichtlich <strong>des</strong> höheren Spezialisierungsgra<strong>des</strong> <strong>des</strong> Arztes, der einerseits zu<br />

einer höheren Professionalisierung im Sinne einer auf <strong>die</strong> Spezialität fokussierte<br />

höhere Fachkompetenz <strong>und</strong> anderseits zu einer Deprofessionalisierung im<br />

Sinne <strong>des</strong> Abbaus von Allgemeinmedizinern beiträgt, nimmt Andreas L., Chefarzt<br />

der Chirurgie eines Kantonsspitals, eine skeptische Position ein, was <strong>die</strong><br />

folgende Aussage verdeutlicht: „Wir haben ein hohes Niveau in der<br />

Feuerwehr, jeder meint aber, dass wir nur den Umweltgiftspezialisten,<br />

den Bombenentschärfer, usw. in der Feuerwehr<br />

benötigen. Diese braucht es auch, aber es braucht in<br />

erster Linie mal <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> ein Feuer löschen können,<br />

wovon es <strong>die</strong> Mehrheit braucht. Von den anderen aber,<br />

braucht es nur ganz wenige. Wir sind auf dem Weg dazu, alles<br />

nur auf das Elektive, auf das Geschäft, das planbar<br />

ist, auszurichten. In einem öffentlichen Spital sind aber<br />

60%, sogar 80% ungeplant. Die Ressourcen, <strong>die</strong> Leute, sollte<br />

man auf das Ungeplante ausbilden. Aus der Breite kann man<br />

sich immer in einen selektiven Prozess hinein bewegen. Das<br />

ist das, was ich als Dinosaurier versuche zu bekämpfen. Die<br />

Leute zu überzeugen, dass es <strong>die</strong>jenigen braucht, <strong>die</strong> für<br />

das Ungeplante viel wissen <strong>und</strong> viel können. Diejenigen, <strong>die</strong><br />

spezialisiert sind, können ins Geplante <strong>und</strong> in eine Privatklinik<br />

gehen, wo nicht mehr das Ungeplante eine solch grosse<br />

Rolle spielt.“ Andreas L. äussert sich zu seiner Tätigkeit als Chirurg<br />

im öffentlichen Spital folgendermassen, wobei <strong>die</strong> Wichtigkeit, <strong>die</strong> er dem öffentlichen<br />

Krankenhaus in Bezug auf <strong>die</strong> Versorgung der Bevölkerung aller<br />

sozialen Schichten beimisst, deutlich wird: „Ich bin sowieso im eher<br />

ungeplanten Bereich tätig. Wenn du nur im geplanten Bereich<br />

tätig bist, dann ist <strong>die</strong>s ein anderes Thema. Viele Sachen,<br />

<strong>die</strong> ich hier mache, gibt es dort gar nicht. Grossbrände<br />

habe ich nur, wenn ich in der Feuerwehr bin. Bombenentschärfen<br />

macht mir keinen Spass. Diejenigen zwei Bomben,<br />

80


<strong>die</strong> es zu entschärfen gibt, sollen sie machen.“ Mit „sie“<br />

spricht er seine Kollegen in den Privatspitälern an, <strong>die</strong> es vorziehen im planbaren<br />

Bereich tätig zu sein, um so eine Sicherheit hinsichtlich der Kostenallokation<br />

<strong>und</strong> der Abschätzung <strong>des</strong> Kostenumfangs zu generieren.<br />

Zahlreiche Kosteneinsparungsmassnahmen haben Ökonomen <strong>und</strong> Politiker in<br />

den letzten Jahren propagiert, <strong>die</strong> DRG sollen nun aktiv zur Vergleichbarkeit<br />

der Schweizer Spitäler, zu einem verstärkten Wettbewerb <strong>und</strong> zu Kostensenkungen<br />

beitragen. Leistungseinschränkungen im Ges<strong>und</strong>heitswesen stellen<br />

eine <strong>die</strong>ser Rationierungsmassnahmen zum Zweck der Ges<strong>und</strong>heitskostensenkung<br />

dar, <strong>die</strong> sich längerfristig auch auf <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung auswirken<br />

werden, wobei sie dem beruflichen Selbstverständnis der Ärzteschaft gegenüber<br />

gegenläufig sind. Wie lässt sich also zweckrationales Handeln in der<br />

Medizin auf eine ethisch vertretbare Art <strong>und</strong> Weise herbeiführen? Marckmann<br />

<strong>und</strong> in der Schmitten (2011, S. 308) schlagen hierfür ein vierstufiges Modell vor,<br />

das ein ethisches Kostenbewusstsein erwirken soll: 1. Unterlassung ineffektiver<br />

Massnahmen im Sinne einer evidenzbasierten Medizin, 2. konsequente Berücksichtigung<br />

individueller Patientenpräferenzen, 3. Minimierung <strong>des</strong> diagnostischen<br />

<strong>und</strong> therapeutischen Aufwands für <strong>die</strong> Erreichung eines bestimmten<br />

Therapieziels <strong>und</strong> 4. Verzicht auf teure Massnahmen mit einem geringen<br />

/fraglichen Nutzengewinn für den Patienten. Die unter 1-3 vorgeschlagenen<br />

Strategien sollen den Prinzipien: Wohltun/Nutzen, Respekt der Autonomie <strong>und</strong><br />

Nichtschaden gerecht werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> 4. Stufe dem Prinzip der Gerechtigkeit<br />

(Marckmann & Schmitten, 2011, S. 308). Welche Gefahren eine nutzenorientierte<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung <strong>und</strong> evidenzbasierte Medizin mit sich bringt, wird<br />

anhand eines Praxisbeispiels im Rahmen <strong>die</strong>ses Unterkapitels erläutert. Dieses<br />

einleuchtende Modell bedingt den steten Austausch zwischen Ethikern, Medizinern<br />

<strong>und</strong> der Verwaltungsebene, teilweise aber auch mit weiteren Akteuren<br />

wie der Pflegefachkräfte, <strong>die</strong>s unter anderem aufgr<strong>und</strong> der fehlenden bzw.<br />

mangelnden Vergleichbarkeit der medizinischen Fälle, <strong>die</strong> abnimmt, je komplizierter,<br />

schwieriger <strong>und</strong> heikler ein Eingriff ist. Gleichzeitig stossen Massnahmen<br />

wie solche innerhalb der Ärzteschaft auf wenig Verständnis, da sie einerseits<br />

<strong>die</strong> Verantwortung für <strong>die</strong> Verteilung knapper Ges<strong>und</strong>heitsressourcen<br />

nicht übernehmen wollen <strong>und</strong> andererseits <strong>die</strong> Entscheidungsfreiheit bewahren<br />

möchten, <strong>die</strong> sie aber aufgr<strong>und</strong> der verstärkten Vormachtstellung der Ökonomen<br />

im Krankenhauswesen zusehends in Gefahr sehen, was <strong>die</strong> Interviewaus-<br />

81


sagen verdeutlicht haben.<br />

Im gegenwärtigen Diskurs r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Rolle <strong>und</strong> Funktion <strong>des</strong> Arztes lässt<br />

sich erkennen, dass ihm zusehends unterschiedliche Rollen zugesprochen werden,<br />

wodurch Abstand von der dem Arzt bis anhin zugesprochenen „totalen<br />

sozialen Rolle“ genommen wird. Goffmann verdeutlicht exemplarisch anhand<br />

<strong>des</strong> Vergleichs einer Theateraufführung mit der Realität, wobei er deutlich<br />

zwischen der Aufführung <strong>und</strong> der Praxis unterscheidet, inwiefern dem Individuum<br />

in der Realität Rollen zugeschrieben werden (Arzt, Vater, Fre<strong>und</strong>, Kollege)<br />

bzw. inwiefern das Individuum <strong>die</strong>se selber bewusst verkörpert <strong>und</strong> einfordert.<br />

Zur sozialen Rolle äussert er sich folgendermassen: „Doch in vielen<br />

Fällen handelt der Mensch im wirklichen Leben mit Bezug auf kulturelle Normen,<br />

<strong>die</strong> für seine Handlung <strong>und</strong> <strong>die</strong> aus solchen Handlungen bestehende<br />

soziale Rolle gelten. Einige <strong>die</strong>ser Normen beziehen sich auf das Vorbildliche,<br />

andere auf das Verwerfliche. Die entsprechende Vorstellung selbst lebt aus den<br />

moralischen Traditionen der Gemeinschaft ...“ (Goffmann, 1974/1980, S. 604).<br />

Der junge Arzt beispielsweise ist bemüht sich von <strong>die</strong>ser „totalen sozialen Rolle“<br />

zu distanzieren <strong>und</strong> zu lösen. Er verdeutlicht durch eine klar definierte<br />

Work-Life-Balance <strong>die</strong> Trennung zwischen seiner Rolle als Arzt, Ehemann,<br />

Vater, Fre<strong>und</strong>, Musikant, Sportler etc. <strong>und</strong> erfährt Widerstand seitens seiner<br />

Vorgesetzten, den Kaderärzten, <strong>die</strong> sich seit Beginn ihrer ärztlichen Laufbahn<br />

der „totalen sozialen Rolle“ verpflichtet fühlen, einen Einsatz <strong>und</strong> Preis dafür<br />

bezahlt haben <strong>und</strong> den selbigen vom Nachwuchs nun auch einfordern. Nebst<br />

der jungen Arztgeneration fordern auch zusehends Kaderärzte <strong>die</strong>se Aufspaltung<br />

der „totalen sozialen Rolle“ <strong>und</strong> orientieren sich an alternativen beruflichen<br />

Laufbahnen in privaten Versorgungseinrichtungen, wodurch sie teilweise<br />

ihr ökonomisches Interesse offenbaren, das sich hinter ihrem uneigennützigen<br />

Handeln verbirgt <strong>und</strong> ursprünglich kollektiv verkannt wurde. Manzeschke <strong>und</strong><br />

Nagel (2006) beispielsweise unterscheiden zwischen der Professionsrolle <strong>und</strong><br />

der Organisations- <strong>und</strong> Privatrolle, <strong>die</strong> den Ärzten zugesprochen werden. Die<br />

erstgenannte Rolle wird von Manzeschke <strong>und</strong> Nagel als ärztliches Ethos beschrieben<br />

<strong>und</strong> war bis anhin unabhängig von der Organisationsrolle, <strong>die</strong> dem<br />

Arzt aufgr<strong>und</strong> seiner weiteren Tätigkeiten (klinischer Direktor, ehrenamtliche<br />

Tätigkeit in einer Fachgesellschaft etc.) innerhalb <strong>des</strong> Krankenhauses zukommt.<br />

Die aktuell geforderte Ausweitung der ethischen <strong>und</strong> moralischen Handlungsprämisse<br />

<strong>des</strong> Arztes auf das Wirtschaftlichkeitsgebot erfordert eine verstärkte<br />

82


Annäherung der Professions- <strong>und</strong> Organisationsrolle, was in Privatspitälern<br />

bereits verstärkt umgesetzt wurde, wo der Arzt zum medizinischen Enterpre-<br />

neur wird, der befähigt ist zur Umsetzung seiner medizinischen <strong>und</strong> unter-<br />

nehmerischen Fähigkeiten. Diese Tendenz zeichnet sich auch in öffentlichen<br />

Spitälern ab, wo bereits im Rahmen <strong>des</strong> Einstellungsprozedere <strong>die</strong> Curriculum<br />

Vitae der Bewerber auf Kaderarztposten auf akademische Grade wie MBA<br />

geprüft werden, <strong>die</strong> davon zeugen, dass der betreffende Arzt sowohl medizinische<br />

Fachkenntnisse als auch betriebs- <strong>und</strong>/oder volkswirtschaftliche Gr<strong>und</strong>kenntnisse<br />

mitbringt. Gleichzeitig zeugt <strong>die</strong> Struktur <strong>des</strong> Innenlebens eines<br />

Spitals von einer zunehmenden Verwaltungsherrschaft, <strong>die</strong> massgeblich den<br />

Tätigkeitsbereich <strong>des</strong> Arztes hinsichtlich der finanziellen, technischen <strong>und</strong><br />

personellen Ressourcen eines Spitalbereichs beeinflusst <strong>und</strong> steuert. Die Managerialisierung<br />

führt einerseits dazu, dass der Arzt sich betriebswirtschaftliches<br />

Wissen anzueignen hat, welches heutzutage als bedeuten<strong>des</strong> Anstellungskriterium<br />

gilt. Andererseits findet auf der Stufe der Spitaldirektion eine Dequalifizierung<br />

der traditionellen Führungsspitzen statt (Schultheis, Vogel & Gemperle,<br />

2010, S. 667). Ökonomen übernehmen zusehends <strong>die</strong> Funktion der Spitalleitung,<br />

was zu einer geringeren Bedeutung <strong>des</strong> medizinischen Fachwissens auf<br />

der obersten Hierarchiestufe führt. Gleichzeitig ist eine Erosion <strong>des</strong> Hippokratischen<br />

Ei<strong>des</strong> zu verzeichnen, der als Kernstück <strong>des</strong> ärztlichen Selbstverständnisses<br />

<strong>und</strong> der medizinischen Ethik betrachtet wurde (Manzeschke & Nagel, 2006,<br />

S. 168).<br />

Kühn (2004, S. 25 f.) nimmt auf <strong>die</strong> Erosion <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich dahinter verbergenden<br />

institutionellen Mechanismen folgendermassen Stellung: „Geld war in der<br />

modernen Medizin niemals unbedeutend. Aber über einen langen Zeitraum<br />

hinweg nach dem Zweiten Weltkrieg scheint ein Konsens in der Gesellschaft<br />

dahingehend bestanden zu haben, dass ärztliches Urteilen <strong>und</strong> Handeln nicht<br />

mit Geldfragen belastet sein sollte. Das Verhältnis zum Geld blieb damit eher<br />

implizit. Das war besonders im Krankenhaus der Fall. Seit den 1980er-Jahren<br />

jedoch rücken das Geld <strong>und</strong> der Geldgewinn mehr <strong>und</strong> mehr ins Zentrum.<br />

Deutlichstes Zeichen sind <strong>die</strong> ausgedehnten Versuche, das Arztverhalten monetär<br />

zu steuern. Die vom Staat sanktionierten <strong>und</strong> von den Verbänden im deutschen<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen vertraglich vereinbarten finanziellen Steuerungsinstrumente<br />

bauen implizit darauf, dass <strong>die</strong> Ärzte sich bei ihren Entscheidungen,<br />

Empfehlungen, Verschreibungen, Über- <strong>und</strong> Einweisungen primär von den<br />

83


damit verb<strong>und</strong>enen Gewinnchancen <strong>und</strong> -risiken leiten lassen. (…) Bei allen<br />

Anreizstrukturen würde nur <strong>die</strong> aus der Sicht <strong>des</strong> jeweiligen Arztes für <strong>die</strong><br />

jeweils individuellen Patienten beste Option gewählt. Unterstellten sie das<br />

nicht, dann wären alle Bemühungen um den Steuerungsaspekt der Krankenhausfinanzierung<br />

<strong>und</strong> Arzthonorierung effektlose Glasperlenspiele.“<br />

Die Ärzte-Zahl, <strong>die</strong> Feminisierung <strong>und</strong> der Zulassungsstopp der Hausärzte<br />

Gemäss der Mitgliederstatistik der Verbindung der Schweizer Ärztinnen <strong>und</strong><br />

Ärzte (FMH) arbeiten im Jahre 2011 30‘849 Ärzte (mit <strong>und</strong> ohne Praxistätigkeit)<br />

in der Schweiz, <strong>die</strong>s sind 50% mehr als 1990, also vor gut zwanzig Jahren, als<br />

20‘030 Ärzte gemeldet wurden. Im Vergleich zu 2010 stieg das Total der berufstätigen<br />

Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzte in der Schweiz um 1.9% an. Die Ärztestatistik<br />

verdeutlicht, dass <strong>die</strong> Zunahme bei den Ärztinnen 4.3% <strong>und</strong> bei den Ärzten<br />

lediglich 0.6% beträgt <strong>und</strong> fügt <strong>die</strong> Schlussfolgerung hinzu, dass <strong>die</strong> bei den<br />

Frauen vergleichsweise höhere Zunahme mit dem quantitativen Anstieg der<br />

weiblichen Studentinnen im Studium der Humanmedizin <strong>und</strong> den damit einhergehenden<br />

Abschlüssen korreliert (Verbindung der Schweizer Ärztinnen <strong>und</strong><br />

Ärzte [FMH], 2012, S. 399). Die Aufteilung32 (2011) gestaltet sich folgendermassen:<br />

im ambulanten Sektor sind insgesamt 16‘232 Ärzte (52.6%) tätig, davon<br />

sind 5‘338 Frauen (32.9%) <strong>und</strong> 10‘894 Männer (67.1%). Im stationären Sektor<br />

sind 14‘095 Ärzte (45.7 %) tätig, darin sind 5‘835 Frauen (41.4%) <strong>und</strong> 8‘260<br />

Männer (58.6%) vertretenen, hinzukommen 522 weitere Ärzte33 (1.7%), <strong>die</strong> in<br />

anderen Sektoren tätig sind (FMH, 2010a & 2011). 36.7% aller Ärzte sind demzufolge<br />

Frauen, <strong>die</strong> 11‘309 Stellen besetzen <strong>und</strong> im Vergleich zu den beiden<br />

Vorjahren <strong>und</strong> der Männerquote einen stetigen Anstieg erfahren haben. 34 Die<br />

grösste Frauenquote kommt dem stationären Bereich zu, der im Vergleich zum<br />

ambulanten Sektor etwas stärker zugenommen hat. Betrachtet man <strong>die</strong> Anzahl<br />

der Universitätsabschlüsse im Hinblick auf <strong>die</strong> Geschlechteraufteilung, so wird<br />

<strong>die</strong> Tendenz der Feminisierung, <strong>die</strong> innerhalb der Medizinalberufe stattfindet,<br />

nochmals verdeutlicht. Die Zahlen zeigen eindeutig auf, dass vor einem Viertel-<br />

32 10.5% der Ärzteschaft ist in mehr als einem Sektor tätig (bspw. Belegärzte), wobei von <strong>die</strong>sen 3‘178 Ärzten 89% ihre<br />

Hauptberufstätigkeit im ambulanten Sektor haben (ebd.).<br />

33 In anderen Sektoren, wie Versicherungen oder Verbänden, arbeiteten 136 Frauen (26.1%) <strong>und</strong> 386 Männer (73.9%)<br />

(ebd.).<br />

34 2009 waren 10‘673 Frauen (35.4%) <strong>und</strong> 19‘493 Männer (64.6%) als Ärzte gemeldet. 2010 waren 10‘843 Frauen (35.8%)<br />

<strong>und</strong> 19‘430 Männer (64.2%) gemeldet (ebd.).<br />

84


jahrh<strong>und</strong>ert im Vergleich zu heute mehr als doppelt so viele Männer, aber nur<br />

halb so viele Frauen einen Abschluss in Medizin erlangt haben (BFS, 2005a).<br />

Anhand einer Alterspyramide wird ersichtlich, dass der Frauenanteil in der<br />

Altersgruppe der 25 bis 29-Jährigen <strong>und</strong> der 30 bis 34-Jährigen grösser als jener<br />

der Männer ist, wohingegen ab dem 35. Lebensjahr mehr männliche als weibli-<br />

che Ärzte zu verzeichnen sind. Dieses Bild wird sich in den nächsten Jahren<br />

weiter verstärken, was bereits heute anhand der Stu<strong>die</strong>nabschlüsse ersichtlich<br />

ist. Gleichzeitig lassen <strong>die</strong> folgenden Zahlen auch <strong>die</strong> Vermutung laut werden,<br />

dass im oberen Kader der Ärzteschaft (stationäre Versorgung) sich <strong>die</strong>selbe<br />

Problematik wie auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen abzeichnet, nämlich<br />

eine noch immer vorherrschende Besetzung der Kaderposten durch männliche<br />

Akteure. In den nächsten beiden Abschnitten <strong>und</strong> im Rahmen der Intervie-<br />

wauswertung wird auf <strong>die</strong> Vermutung ausführlicher Stellung genommen.<br />

Im Jahre 1980 liessen sich 593 Männer <strong>und</strong> 213 Frauen zu Ärzten diplomieren<br />

(Total: 808), während es im Jahre 2005 nur noch 283 Männer, dafür aber 340<br />

Frauen waren (Total: 623) (BFS, 2005a). Zur Frage, ob sich <strong>die</strong>se neue Ge-<br />

schlechteraufteilung auf <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen wie Teilzeitarbeit, Mutter-<br />

schaftsurlaub oder Jobsharing auswirken wird, nahmen einige Ärzte in den<br />

Interviews Stellung. Xavier R., Arzt an einem Privatspital <strong>und</strong> ehemaliger Chef-<br />

arzt eines Kantonsspitals, erklärt, weshalb Frauen noch heute eine geringe<br />

Chance auf <strong>die</strong> Wahl in eine Kaderpostionen haben: „Das hat sicher mit<br />

der Bewertung von bestimmten Teilen der Berufstätigkeit zu<br />

tun, der Gewichtung <strong>und</strong> dem Kriterienkatalog, der zum Entscheid,<br />

wer gefördert, wer ausgesucht <strong>und</strong> wer in <strong>die</strong>se<br />

Stelle hinein lanciert wird, führt. Ich denke da unter anderem<br />

auch an ein kleines, marginales aber symptomatisches<br />

Problem, das ja dasjenige der Frauen ist, wo man hard facts<br />

sagen kann: ,Gut, es hat also sehr wenig Frauen in <strong>die</strong>sen<br />

Positionen, immer noch.‘ Das hat nicht nur, aber schon gravierend,<br />

mit der Doppelrolle Familie <strong>und</strong> so weiter zu tun,<br />

aber nicht nur, überhaupt nicht nur, sondern, es hat eben<br />

auch damit zu tun, dass Frauen weniger in <strong>die</strong>sem Kriterienkatalog<br />

vorne rangieren, dass sie weniger <strong>die</strong>se Kompetition<br />

im Publizieren haben, sich weniger um <strong>die</strong> Patienten kümmern,<br />

da sie im Zweifelsfall <strong>die</strong> eigene Karriere, <strong>die</strong> eigene<br />

Positionsbehauptung <strong>und</strong> so weiter in den Vordergr<strong>und</strong><br />

stellen, dass sie weniger <strong>die</strong>ses Networking, das ich vorhin<br />

angesprochen habe, haben <strong>und</strong>, dass sie weniger das Renommee<br />

85


<strong>und</strong> so weiter in den Vordergr<strong>und</strong> stellen.“<br />

Dem stationären Sektor kommt bei der Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung der Assistenz-<br />

ärzte eine hohe Bedeutung zu, was anhand zweier Faktoren – Durchschnittsal-<br />

ter <strong>und</strong> Funktion pro Sektor – ersichtlich ist. Das Durchschnittsalter ist im stati-<br />

onären Bereich 35 (2009: 42.2 Jahre) tiefer als im ambulanten Bereich (2009: 52.6<br />

Jahre), was sich unter anderem auf <strong>die</strong> hohe Anzahl an Assistenzärzten im<br />

stationären Bereich zurückführen lässt. Über <strong>die</strong> Hälfte der 2011 im stationären<br />

Bereich tätigen Ärzte sind Assistenzärzte, <strong>die</strong> einen Frauenanteil von 54.5%<br />

(2009: 52.7%) <strong>und</strong> einen Männeranteil von 45.5% (2009: 47.3%) verzeichnen<br />

können. Die Anzahl verringert sich mit zunehmender Hierarchiestufe, <strong>die</strong>s<br />

führt dazu, dass auf Stufe Chefarzt 11.5% der im stationären Bereich tätigen<br />

Ärzte praktizieren. Von Bedeutung ist auch der Frauenanteil, der auf Stufe<br />

Oberarzt bei 39.6%, auf Stufe Leitender Arzt bei 21.7% <strong>und</strong> auf Stufe Chefarzt<br />

bei nur noch 9.6% liegt (FMH, 2010a & 2012). Je höher <strong>die</strong> Hierarchiestufe, um-<br />

so geringer der Frauenanteil.<br />

Nebst der Feminisierung stellte der Zulassungsstopp jener Ärzte, <strong>die</strong> eine Pra-<br />

xistätigkeit anvisierten, einen weiteren Wandel innerhalb <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswe-<br />

sens dar, der geteilte Meinungen hervorruft. Dieser Zulassungsstopp, der zu<br />

einer Ärzteknappheit seitens der Gr<strong>und</strong>versorger führte, wurde Mitte 2002<br />

durch den B<strong>und</strong>esrat <strong>und</strong> das Parlament eingeführt <strong>und</strong> stand in engem Zu-<br />

sammenhang mit dem am 1. Juni 2002 in Kraft getretenen Personenfreizügig-<br />

keitsabkommen. 36 Der befürchtete, übermässige Zulauf von ausländischen<br />

Ärzten, <strong>die</strong> ihre Leistungen durch <strong>die</strong> obligatorische Krankenpflegeversiche-<br />

rung abrechnen <strong>und</strong> demzufolge zur Verteuerung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

beitragen könnten, hat zu grosser Verunsicherung seitens der Politiker <strong>und</strong> der<br />

Öffentlichkeit <strong>und</strong> folglich zum Zulassungsstopp geführt. Der Stopp, der ur-<br />

35 Durchschnittsalter im stationären Bereich: Frauen 39.0 Jahre <strong>und</strong> Männer 44.3 Jahre. Durchschnittsalter im ambulanten<br />

Bereich: Frauen 49.7 Jahre <strong>und</strong> Männer 54.0 Jahre. Auf <strong>die</strong> Gesamtheit der Ärzte hin betrachtet, liegt das Durchschnittsalter<br />

der Frauen bei 44.1 Jahren <strong>und</strong> dasjenige der Männer bei 49.9 Jahren (Gesamtdurchschnitt aller Sektoren<br />

<strong>und</strong> beider Geschlechter: 47.8 Jahre) (FMH, 2010a).<br />

36 Dieses Abkommen, das zwischen der Schweiz <strong>und</strong> der EU geschlossen wurde, regelt <strong>die</strong> Personenfreizügigkeit<br />

gemäss den in der EU angewendeten Richtlinien. Die Staatsangehörigen der Schweiz <strong>und</strong> der EU-Staaten erlangen<br />

dadurch das Recht, den Arbeitsplatz bzw. den Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu<br />

wählen. Wer in den Genuss <strong>die</strong>ses Rechts kommen möchte, muss folgende Bedingungen erfüllen: umfassende Krankenversicherung<br />

aufweisen, im Besitz eines gültigen Arbeitsvertrages oder selbstständig erwerbend sein oder bei<br />

Nichterwerbstätigkeit Nachweis über ausreichend finanzielle Mittel erbringen (EDA, 2009, S. 1). Einschränkungen <strong>und</strong><br />

Klauseln existieren auch bei <strong>die</strong>sem Abkommen.<br />

86


sprünglich als Übergangslösung gedacht war, gilt seit 2002, wurde mehrmals<br />

verlängert <strong>und</strong> wäre bis Ende 2009 befristet gewesen. Da Ende 2008 keine An-<br />

schlusslösung vorhanden war, erarbeitete <strong>die</strong> Kommission für soziale Sicher-<br />

heit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>des</strong> Nationalrats (SGK-N) eine Vorlage, <strong>die</strong> zu einer weite-<br />

ren Verlängerung bis Ende 2011 führte, jedoch zwei relevante Anpassungen<br />

beinhaltete. Diese wurden aufgr<strong>und</strong> der Entwicklungen im ambulanten Sektor,<br />

<strong>die</strong> teilweise zur Kostensteigerung im Ges<strong>und</strong>heitswesen beitrugen, ausgear-<br />

beitet. Die erste Anpassung führte dazu, dass ab 1. Januar 2010 <strong>die</strong> ärztlichen<br />

Gr<strong>und</strong>versorger, namentlich Allgemeinmediziner, praktischer Arzt oder prakti-<br />

sche Ärztin (als einziger Weiterbildungstitel), Innere Medizin (als einziger Wei-<br />

terbildungstitel) sowie Kinder- <strong>und</strong> Jugendmedizin vom Stopp ausgenommen<br />

wurden. Die zweite beinhaltete <strong>die</strong> Ausweitung <strong>des</strong> Zulassungsstopps für Ärz-<br />

te in Spitalambulatorien, <strong>die</strong> vom Stopp bislang nicht erfasst wurden (Sager,<br />

Rüefli & Wälti, 2010, S. 38). Die zweite Anpassung basierte auf der Vermutung<br />

von Parlamentariern, dass gewisse Ärzte den Zulassungsstopp mithilfe von<br />

Spitalambulatorien umgehen <strong>und</strong> dadurch zu einer Kostensteigerung beitragen<br />

würden. Da der B<strong>und</strong> den Kantonen im Februar 2009 <strong>die</strong> Befugnis erteilte, bei<br />

entsprechendem Bedürfnis neue Leistungserbringer zuzulassen, kam <strong>die</strong> obge-<br />

nannte Vorlage kantonal unterschiedlich <strong>und</strong> nicht gleichzeitig zur Umsetzung.<br />

In den ländlichen Regionen <strong>des</strong> Kantons Zürich beispielsweise wurden bereits<br />

Mitte 2009 ärztliche Gr<strong>und</strong>versorger vom Zulassungsstopp befreit (NZZ, 2009).<br />

Diese Ausklammerung sollte den Engpässen entgegenwirken, <strong>die</strong> speziell im<br />

Bereich der Hausärzte zu einer medizinischen Unterversorgung in ländlichen<br />

Gebieten geführt haben. Gleichzeitig sollte <strong>die</strong> Attraktivität <strong>des</strong> Berufsstan<strong>des</strong><br />

der Hausärzte <strong>und</strong> Hausärztinnen für <strong>die</strong> junge <strong>und</strong> heranwachsende Genera-<br />

tion von Ärzten wieder gesteigert werden. Kritiker <strong>des</strong> Ärztestopps <strong>und</strong> der<br />

Lockerungsmassnahmen verlangen aber eine Änderung der Rahmenbedingun-<br />

gen, um <strong>die</strong>se Attraktivität, der <strong>die</strong> sinkenden Labortarife oder <strong>die</strong> jüngst ange-<br />

kündigte Abschaffung der Besuchspauschale für Hausärzte geschadet haben,<br />

wieder zu erhöhen (EGK, 2010, S. 2). Der Ärztestopp hatte nicht nur zu Engpäs-<br />

sen bei den Hausärzten geführt; gemäss Thomas Heiniger, dem Direktionsvor-<br />

steher der Ges<strong>und</strong>heitsdirektion <strong>des</strong> Kantons Zürich, kam es zu einem regen<br />

Handel mit Zulassungen <strong>und</strong> zu Ablösesummen in sechsstelliger Höhe für<br />

attraktive Praxen (Anderegg, 2009, S. 1).<br />

Nebst zahlreichen präventiven Massnahmen <strong>und</strong> Präventionsprojekten, der<br />

87


effektiven Wirksamkeit <strong>und</strong> Zweckmässigkeit einer Behandlung bzw. Leistung<br />

<strong>und</strong> der Qualität der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung spielt seit geraumer Zeit auch <strong>die</strong><br />

Wirtschaftlichkeit einer Therapie in Bezug auf <strong>die</strong> entstehenden Kosten sowie<br />

<strong>die</strong> Forderung nach einer gerechten Verteilung <strong>und</strong> Allokation der Ges<strong>und</strong>heitsgüter<br />

eine eminent wichtige Rolle. Die Ges<strong>und</strong>heitsökonomie versucht in<br />

Bezug auf <strong>die</strong> drei letztgenannten Forderungen Erklärungen <strong>und</strong> Lösungen zu<br />

bieten. Kennzeichnend für <strong>die</strong> Methoden der Ges<strong>und</strong>heitsökonomie stehen das<br />

Abwägen der Nutzen <strong>und</strong> Kosten von Aktivitäten – das Nutzen-Kosten-Kalkül<br />

– <strong>und</strong> das Denken in Alternativen – das Opportunitätskostenprinzip (Hajen,<br />

Peatow & Schumacher, 2010, S. 17). Dass vor allem das erstgenannte Prinzip<br />

mit der ärztlichen Ethik kolli<strong>die</strong>rt, erklärt sich durch das normative Gehalt, das<br />

dem Kalkül zugr<strong>und</strong>e liegt, wonach <strong>die</strong> von den Ärzten induzierten Eingriffe<br />

<strong>und</strong> Behandlungen so zu erfolgen haben, dass der daraus generierte Nutzen<br />

grösser als <strong>die</strong> Kosten sind. Die ärztliche Ethik aber verbietet es, <strong>die</strong> Durchführung<br />

einer Behandlung von <strong>des</strong>sen Kosten abhängig zu machen, es sei denn,<br />

zwei Behandlungen erzielen dasselbe Ergebnis, verursachen aber unterschiedliche<br />

Kosten. Der Verteilerschlüssel, gemäss welchem <strong>die</strong> Güter einer Gesellschaft<br />

an <strong>die</strong>jenigen zu vergeben sind, <strong>die</strong> den grössten Nutzen daraus ziehen,<br />

führt nicht zu einer gerechten Allokation der Güter, da der Nutzen nicht interpersonell<br />

vergleichbar ist (Hajen, Peatow & Schumacher, 2010, S. 18). Hierzu ein<br />

Beispiel einer solchen Diskussion, <strong>die</strong> deutlich aufzeigt, wie kontrovers <strong>die</strong><br />

Ausrichtung einer Behandlung oder einer Organzuweisung nach dem Nutzen-<br />

Prinzip erörtert wird <strong>und</strong> zu welchen Folgen <strong>die</strong> Anwendung eines solchen<br />

Prinzips für <strong>die</strong> Betroffenen führen kann.<br />

Die Falle der Nutzenmaximierung<br />

Von Nutzenmaximierung ist beispielsweise auch bei der Organspende <strong>die</strong><br />

Rede, wie <strong>die</strong>s im Artikel „Organspenden für junge Patienten statt für Schwerkranke“,<br />

der am 25. September 2010 im Tages-Anzeiger erschien, erwähnt wurde.<br />

Der Artikel greift <strong>die</strong> Diskussion auf, <strong>die</strong> von Franz Immer, Direktor der<br />

Swisstransplant, initiiert wurde <strong>und</strong> das System der Organzuteilung, <strong>die</strong> gemäss<br />

Immer in der Schweiz suboptimal geregelt ist, zum Inhalt hat. Ausgangspunkt<br />

der von Immer angeführten Diskussion stellt der Mangel an Organspendern<br />

in der Schweiz dar. Die Zuteilung der Organe sollte seiner Ansicht nach<br />

stärker nach dem Nutzen ausgerichtet sein, wobei als Kriterium <strong>die</strong> Anzahl der<br />

88


möglichen geretteten Lebensjahre gelten sollen. Heute geschieht <strong>die</strong> Organzu-<br />

teilung nach der medizinischen Dringlichkeit <strong>und</strong> basiert folglich auf medizini-<br />

schen Kriterien, inskünftig soll sie nach dem für <strong>die</strong> Gesellschaft grösstmögli-<br />

chen Nutzen erfolgen. Zahlreiche weitere <strong>und</strong> kontrovers diskutierte Beispiele<br />

könnten an <strong>die</strong>ser Stelle erwähnt <strong>und</strong> erörtert werden, für all <strong>die</strong>se soll <strong>die</strong><br />

Thematik der Organspende <strong>und</strong> der „gerechten“ Verteilung <strong>die</strong>ser Organe, <strong>die</strong><br />

eine aktuelle Debatte unter anderem im Zusammenhang mit der Frage „Inwie-<br />

fern der Wert eines Menschen bemessen werden kann, soll oder darf?“ darstel-<br />

len <strong>und</strong> <strong>die</strong> sozial höchstbedenklichen Entwicklungsströme innerhalb <strong>des</strong> Ge-<br />

s<strong>und</strong>heitswesens verdeutlichen, stellvertretend stehen.<br />

Politiker sind sich darüber einig, dass ein Vorgehen nach dem simplen Prinzip<br />

der Nutzenmaximierung ethische Gr<strong>und</strong>sätze missachtet <strong>und</strong> zahlreiche Dis-<br />

kussionen nach sich ziehen wird, da der zukünftige Entscheid auf dem Wert,<br />

welchen man einem Leben noch zuschreibt, basieren wird. Die Wissenschaftler<br />

dagegen sind sich uneinig. Alfredo Bondolfi, Genfer Ethikprofessor, spricht sich<br />

für einen Einbezug der Kriterien „Alter eines Patienten“ <strong>und</strong> „familiärer Status“<br />

aus, dagegen öffnet sich für Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin <strong>des</strong> Zürcher Insti-<br />

tuts für Ethik im Ges<strong>und</strong>heitswesen, durch ein solches Vorgehen, das zu einer<br />

Wertung <strong>des</strong> Lebens führt, ein höchstproblematisches Feld, das zu neuen Fra-<br />

gen, aber nicht zu neuen Antworten führt.<br />

Heute stellt der Wert eines Individuums eine unantastbare Tatsache dar, der<br />

<strong>die</strong> Vorstellung zugr<strong>und</strong>e liegt, dass dem Individuum, ungeachtet demographi-<br />

scher oder anderer Faktoren, eine absolute Gleichbehandlung zukommt. Der<br />

Mensch wird also nach medizinischen Kriterien eingestuft <strong>und</strong> auch dement-<br />

sprechend behandelt, weshalb auch <strong>die</strong> medizinisch dringlichen Fälle Vorrang<br />

haben. Als Gegenargument zu den medizinischen Kriterien verwendet Franz<br />

Immer den Fall, dass ein Patient heute oft erst berücksichtigt wird, wenn sein<br />

Ges<strong>und</strong>heitszustand ein reell lebensbedrohliches Stadium erreicht hat <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>ses späte Eingreifen <strong>die</strong> Chancen einer erfolgreichen Transplantation verrin-<br />

gert. Dieses Vorgehen führt zu höheren Kosten, da <strong>die</strong> Regenerationsphase<br />

länger anhält <strong>und</strong> bei älteren Menschen einen erhöhten Pflegebedarf mit sich<br />

bringt. Die bereits vor der Transplantation existierende massive, ges<strong>und</strong>heitli-<br />

che Beeinträchtigung <strong>und</strong> Schwächung führen in häufigen Fällen nicht zur<br />

Genesung, sondern zum Tode. Immer spricht sich deutlich für <strong>die</strong> Zuteilung<br />

89


der Organe nach dem medizinischen Nutzen aus, da er der Meinung ist, dass<br />

<strong>die</strong>se Art der Zuteilung zu einer sinnvolleren Verteilung der Organe durch <strong>die</strong><br />

Ärzte führt, was wiederum eine Zunahme der Spenderzahl zur Folge hat. Swis-<br />

stransplant wirft folglich <strong>die</strong> Frage auf, ob es sich <strong>die</strong> Gesellschaft beim herr-<br />

schenden Organmangel überhaupt leisten kann, nicht aus jeder Spende den<br />

maximalen Nutzen herauszuholen. Überspitzt ausgedrückt bedeutet <strong>die</strong>s, dass<br />

inskünftig <strong>die</strong> Zahl der möglichen verbleibenden Lebensjahre <strong>und</strong> der daraus<br />

resultierende Nutzen, der jeder einzelne Mensch der Bevölkerung als Arbeits-<br />

kraft, Steuerzahler <strong>und</strong> höchstwahrscheinlich auch als potenzieller Erzieher<br />

bringt, über <strong>die</strong> Zuteilung eines neuen Herzens oder einer neuen Niere ent-<br />

scheiden soll. Was zur Folge hätte, dass <strong>die</strong> Argumentation dahingehend wei-<br />

tergeführt werden könnte, dass eine Bemessung anhand der Kapitalienstruktur<br />

vorgenommen wird. Dementsprechend könnte demjenigen, der ein hohes öko-<br />

nomisches Kapital bis zum Zeitpunkt seiner Erkrankung erzielt hat <strong>und</strong> ins-<br />

künftig möglicherweise weiterhin zum finanziellen Wohlergehen seiner Familie<br />

oder seines Unternehmens beitragen kann, einen grösseren Nutzen für <strong>die</strong><br />

Gesellschaft generieren als jemand mit geringem ökonomischem Kapital. Be-<br />

ginnt man eine Diskussion über <strong>die</strong> ethischen bzw. unethischen Aspekte <strong>die</strong>ses<br />

Vorschlages, so sollte nicht nur den von Immer vorgebrachten Fall Beachtung<br />

geschenkt werden: „Wieso kann man nicht einer jungen Mutter von drei Kin-<br />

dern den Vorrang geben vor einem alleinstehenden, aber schwerer erkrankten<br />

Senior?“ Die Beantwortung <strong>die</strong>ser Frage ginge mit einer Gegenfrage einher, wie<br />

beispielsweise, weshalb dem Mann <strong>und</strong> seinem Nutzen, den er für <strong>die</strong> Gesell-<br />

schaft in Form von geleisteter Arbeit während vierzig bis fünfzig Jahren er-<br />

bracht hat, keinen Wert mehr zugeschrieben wird. Dass der soeben beschriebe-<br />

ne Fall Pro- <strong>und</strong> Contra-Stimmen hervorruft, ist verständlich, da es sich um<br />

einen äusserst komplexen <strong>und</strong> heiklen Sachverhalt handelt, der tiefe Emotionen<br />

hervorruft. Diese Emotionen sind umso intensiver, je direkter betroffen man<br />

selber ist. So ist es schwierig, Verständnis dafür aufzubringen, dass beispiels-<br />

weise <strong>die</strong> eigene Mutter ein Organ nicht erhält, weil ein junger Autofahrer, der<br />

einen selbstverschuldeten Autounfall verursacht hat, prioritär behandelt wird,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s aufgr<strong>und</strong> der höheren Anzahl an möglichen Lebensjahren <strong>und</strong> dem<br />

daraus folgenden höheren Nutzen für <strong>die</strong> Gesellschaft. Der Nutzen eines Le-<br />

bens für <strong>die</strong> Gesellschaft kann nicht lediglich anhand der verbleibenden Le-<br />

bensjahre gemessen werden, da daraus gefolgert wird, dass der Wert eines<br />

Menschen zunimmt, je jünger <strong>und</strong> je grösser <strong>die</strong> Anzahl an verbleibenden Le-<br />

90


ensjahre ist. Dies führt zu einer Wertung <strong>des</strong> Lebens <strong>und</strong> entspricht einer<br />

klaren Diskriminierung der älteren Menschen. Zieht man zur Argumentation<br />

<strong>die</strong> Verfassungstexte <strong>des</strong> Art. 8 Abs. 2 <strong>und</strong> <strong>des</strong> Art. 10 Abs. 1 der Schweizer<br />

B<strong>und</strong>esverfassung hinzu, so widerspricht eine Organzuteilung nach dem Nut-<br />

zenprinzip eindeutig dem Wortlaut <strong>des</strong> Verfassungstextes.<br />

Art. 8 Abs. 2 - Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der<br />

Herkunft, der Rasse, <strong>des</strong> Geschlechts, <strong>des</strong> Alters, der Sprache, der sozialen<br />

Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen<br />

Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Be-<br />

hinderung.<br />

Art. 10 Abs. 1 - Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Die To<strong>des</strong>strafe ist ver-<br />

boten.<br />

Die Frage nach dem Nutzen einer Behandlung wirft eine weitere auf, nämlich<br />

<strong>die</strong> nach der Notwendigkeit derselben, <strong>die</strong> innerhalb der Diskurse r<strong>und</strong> um<br />

Kostenanstieg, umfassender Leistungskatalog <strong>und</strong> DRG (Stichwort: Mengen-<br />

ausweitung) an zunehmender Relevanz gewonnen hat. Dr. Simon Hölzer, Ge-<br />

schäftsführer der SwissDRG AG, äusserte sich zu den befürchteten Leistungsra-<br />

tionierungen unter dem neuen Fallpauschalenmodell <strong>und</strong> im Rahmen der In-<br />

formationsveranstaltung Swiss DRG 2012, <strong>die</strong> vom bekannten Facharzt für<br />

Kardiologie Prof. Dr. Bertel, der nach über zwanzigjähriger Tätigkeit im öffent-<br />

lichen Spital ins Privatspital abwanderte, initiiert <strong>und</strong> organisiert wurde, fol-<br />

gendermassen: „Was medizinisch notwendig ist, muss gemacht werden.“ Wie<br />

wird nun aber <strong>die</strong> Notwendigkeit einer Leistung gemessen, <strong>und</strong> welche Para-<br />

meter werden dabei in Betracht gezogen?<br />

Die sogenannte „EbM, Evidenzbasierte Medizin“ (im Englischen unter „Evi-<br />

dence-based Medicine“ bekannt) wird im Deutschen aufgr<strong>und</strong> von sprachli-<br />

chen Missverständnissen nachweisgestützte Medizin genannt (Bilger, St., 2004,<br />

S. 74 zit. in Wikipedia unter Evidenzbasierte Medizin). Die sprachlichen Miss-<br />

verständnisse bestehen aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Terms „Evidenz“, der ins Deutsche über-<br />

setzt „Offensichtlichkeit“ bedeutet, wobei <strong>die</strong> Beweispflicht bei <strong>die</strong>sem Termi-<br />

nus nicht inklu<strong>die</strong>rt ist. EbM wird als wissenschaftlicher Nachweis der Wirk-<br />

samkeit ärztlicher Handlungen (Diagnose, Behandlung, Beobachtung oder<br />

Prävention einer Krankheit) <strong>und</strong> somit als „auf Beweisen beruhende Medizin“<br />

91


verstanden (Bailly, A., Bernhardt, Gabella, 2008, S. 139). Die EbM stellt im Be-<br />

reich der Medizin einen der jüngsten Versuche dar, Mediziner dahingehend zu<br />

schulen, ihre Entscheidungen, <strong>die</strong> teilweise auf Patientenpräferenzen beruhen,<br />

hinsichtlich möglicher medizinischer Behandlungsmethoden auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit, also wissenschaftlicher Evidenz<br />

<strong>und</strong> nicht lediglich basierend auf ihrem Fachwissen, zu fällen. Der Internist <strong>und</strong><br />

Nephrologe David Sackett (Sackett, Rosenberg, Gray, Haynes & Richardson,<br />

1996, zit. in Kunz, R. et al., 2007, S. 15) definiert EbM folgendermassen: „... the<br />

conscientious, explicit, and judicious use of current best evidence in making<br />

decisions about the care of individual patients. The practice of evidence-based<br />

medicine means integrating individual clinical expertise with the best available<br />

external evidence from systematic research.” Die evidenzbasierte Medizin stellt<br />

eine mögliche Methode der Messung der Notwendigkeit einer Therapie bzw.<br />

ärztlichen Intervention dar <strong>und</strong> könnte im Rahmen der DRG, <strong>die</strong> zwar zur<br />

Kostenkontrolle <strong>und</strong> Kostenreduktion führen sollen, gleichzeitig aber <strong>die</strong> Ge-<br />

fahr der Mengenausweitung in sich bergen, zur Anwendung kommen. Die<br />

EbM, <strong>die</strong> als Möglichkeit gesehen wird, der Mengenausweitung entgegenzu-<br />

wirken, setzt beim Entscheidungsfindungsprozess der zu wählenden Behand-<br />

lungsmethode an. Vorstellbar wäre auch ein Ansetzen bei anderen propagierten<br />

Ursachen der Kostensteigerung, wie der freien Arzt- <strong>und</strong> Spitalwahl, dem un-<br />

eingeschränkten Zugang zu neuen Medikamenten oder dem umfangreichen<br />

Leistungskatalog. Die jährlich stattfindende Umfrage „Ges<strong>und</strong>heitsmonitor“ 37<br />

konnte aufzeigen, dass während <strong>des</strong> Zeitraums von 2002 bis 2011 <strong>die</strong> Therapie-<br />

freiheit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Wahlfreiheit hinsichtlich Arzt <strong>und</strong> Spital an Bedeutung verlo-<br />

ren haben, wohingegen der uneingeschränkte Zugang zu neuen Medikamenten<br />

oder Behandlungsformen sowie der Umfang <strong>des</strong> Leistungskatalogs nicht als<br />

mögliche Formen der Kostenreduktion betrachtet werden (Interpharma, 2011,<br />

S. 15).<br />

Dieser Exkurs in eine der aktuellen Diskussionen innerhalb der Schweizer Ge-<br />

s<strong>und</strong>heitspolitik steht beispielhaft für <strong>die</strong> ethisch-moralischen Fragestellungen,<br />

<strong>die</strong> es mit der voranschreitenden <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens zu<br />

klären gilt. Sowohl anhand <strong>die</strong>ses Diskurses, der nicht nur Ökonomen oder<br />

37 Im Auftrag der Interpharma, dem Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz, durchgeführt<br />

durch GfS, der Schweizer Gesellschaft für praktische Sozialforschung, mit einem Sampling von 1200 Stimmberechtigten<br />

in allen Sprachregionen <strong>und</strong> der Methodik <strong>des</strong> Face-to-Face-Interviews.<br />

92


Politiker, sondern eben auch Mediziner <strong>und</strong> Ethiker beschäftigt, als auch an-<br />

hand der Interviews kam deutlich zum Ausdruck, dass ein merkliches Indiz für<br />

<strong>die</strong> voranschreitende <strong>Ökonomisierung</strong>, <strong>die</strong> eine Inkorporation im Sprachge-<br />

brauch bereits offenbart, <strong>die</strong> Jargonangleichung, -vermischung <strong>und</strong> -übernahme<br />

von ökonomischen Begrifflichkeiten seitens der Ärzteschaft darstellt. Dass <strong>die</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsökonomen von Nutzen-Kosten-Kalkül <strong>und</strong> Opportunitätskosten<br />

sprechen, ist nicht weiter verw<strong>und</strong>erlich, da beide Prinzipien dem ökonomi-<br />

schen Jargon entstammen <strong>und</strong> gerne auch durch Nutzenmaximierung oder<br />

Preis-Leistungskalkül ergänzt werden, jedoch haben bereits eine Vielzahl <strong>die</strong>ser<br />

Begrifflichkeiten aus dem Wirtschaftsalltag Einzug in das Vokabular medizini-<br />

scher Fachkräfte gef<strong>und</strong>en, was exemplarisch anhand der Rahmung <strong>des</strong> Inter-<br />

views mit Louis B. (Stichwort: Newspeak) veranschaulicht wird.<br />

Gehaltsstrukturen <strong>und</strong> ihre Implikationen für ärztliches Handeln<br />

Die Interviews haben verdeutlicht, dass Preis-Leistungskalküle, Controlling-<br />

Gespräche <strong>und</strong> Projekt- oder Strategiesitzungen bei den Ärzten an der Tages-<br />

ordnung sind <strong>und</strong> dass ihr Handeln einer zunehmenden Kostenkontrolle unter-<br />

liegt. Inwiefern das Handeln nach dem Preis-Leistungs- bzw. Nutzenmaximie-<br />

rungsprinzip, also einem nach ökonomischen Kennzahlen induziertem Han-<br />

deln, Einzug in den ärztlichen Habitus gef<strong>und</strong>en hat, wird sich im Rahmen<br />

<strong>die</strong>ser Arbeit nicht abschliessend klären lassen. Die Interviews werden aber<br />

einen Eindruck darüber vermitteln, inwiefern <strong>die</strong> befragten Kaderärzte ver-<br />

stärkt dazu angehalten werden, sich <strong>die</strong>se Prinzipien zu eigen zu machen <strong>und</strong><br />

ob <strong>die</strong> Inklusion <strong>die</strong>ses Prinzips in das berufsethische Verständnis eines Arztes<br />

in einer kontinuierlichen Erosion seines Berufsethos resultiert. Die empirischen<br />

Erkenntnisse aus den Interviews haben gezeigt, dass es gegenwärtig Versuche<br />

seitens der Ärzteschaft gibt, sich den an sie gerichteten Vorschriften so gut es<br />

geht zu entziehen, andere wiederum zeigen Verständnis für <strong>die</strong> Rationie-<br />

rungsmassnahmen im Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> befolgen <strong>die</strong> ihnen vorgeschrie-<br />

benen oder teilweise auch selbstdefinierten Budgetzahlen, was sowohl ein Zei-<br />

chen von Resignation <strong>und</strong> Desillusionierung darstellen kann, als auch gleichzei-<br />

tig von einer Inkorporation <strong>des</strong> homo oeconomicus <strong>und</strong> einer damit einherge-<br />

henden Vermischung mit dem berufsethischen Selbstverständnis <strong>des</strong> Arztes<br />

zeugen kann. Joachim A., Chefarzt einer Spezialität der Inneren Medizin an<br />

einem Kantonsspital, äussert seine Bedenken hinsichtlich <strong>des</strong> Preis-<br />

93


Leistungskalküles folgendermassen: „Aber wenn man dann Eingriffe<br />

machen muss oder nicht macht, so etwas käme für mich überhaupt<br />

nicht in Frage. Jetzt können wir noch rein ethisch<br />

handeln, <strong>und</strong> finanziell stimmt es trotzdem. Wenn <strong>die</strong>s aber<br />

nicht mehr stimmt, dann ist es gar nicht mehr gut, <strong>und</strong> dann<br />

muss man, wann immer man kann, gehen.“ Ob <strong>die</strong> Prinzipien befolgt<br />

werden oder nicht, hängt sehr stark damit zusammen, ob <strong>die</strong> Lohnstrukturen<br />

<strong>des</strong> Spitals direkt an das Erreichen oder Nichterreichen der Zahlen gekoppelt<br />

(Stichwort: leistungsabhängige Gehaltsvariabel) ist. Das Gehalt eines Kaderarz-<br />

tes wird massgeblich durch <strong>die</strong> ihm zufliessenden Honorare der halbprivat-<br />

<strong>und</strong> privatversicherten Patienten <strong>und</strong> der Tarifstrukturen, <strong>die</strong> zwischen statio-<br />

nären <strong>und</strong> ambulanten Behandlungen variieren, beeinflusst. Andreas L., Chef-<br />

arzt der Chirurgie eines Kantonsspitals, beschreibt ein privates Erlebnis, das<br />

seiner Frau bei einer ambulanten Behandlung widerfahren ist: „Meine Frau<br />

hatte mal einen Gynäkologen <strong>und</strong> als alle Kinder auf der<br />

Welt waren, hat er ihr vorgeschlagen eine Hysterektomie zu<br />

machen. Dies bedeutet, dass man <strong>die</strong> Gebärmutter herausnimmt.<br />

Er hat <strong>die</strong>s mit der Erklärung begründet, dass man ja<br />

<strong>die</strong>se nicht mehr benötigt. Ich habe sie dann gefragt, ob er<br />

Winterpneus benötigt. Danach ging sie nie mehr zu ihm.<br />

Vielleicht war mein Spruch etwas böse. Sie aber hat <strong>die</strong><br />

Gebärmutter noch immer <strong>und</strong> <strong>die</strong>se stört sie auch heute noch<br />

nicht. (…) Man hat doch gesehen, dass <strong>die</strong> Rate der Gebärmutterentfernungen<br />

vom Versichertenstatus abhängig ist. Auf<br />

jeden Fall war <strong>die</strong>s vor Jahren so, wie es heute ist, weiss<br />

ich nicht so genau. Wenn man <strong>die</strong> Wahl hat, man kann, muss<br />

aber nicht, dann wird der, der unmittelbar Geld daran ver<strong>die</strong>nt,<br />

es auch tun. Dies wird er für sich auch begründen.<br />

Es gibt viele Operationen, <strong>die</strong> man machen kann, man muss<br />

sie aber nicht machen. Man findet immer Gründe, <strong>die</strong> dafür<br />

oder dagegen sprechen. Das ist wie ein Fondsberater, auch<br />

er empfiehlt <strong>die</strong>jenigen, aus denen er am meisten Provision<br />

erhält.“ Die Interviewauswertungen verdeutlichen <strong>die</strong> unterschiedlichen<br />

Lohnstrukturen, <strong>die</strong> in privaten <strong>und</strong> öffentlichen Spitälern, aber auch in den<br />

zahlreichen öffentlichen Spitäler existieren. Hans S., Chefarzt einer Spezialität<br />

der Inneren Medizin am Kantonsspital, verdeutlicht <strong>die</strong> Unterschiede innerhalb<br />

der Lohnstruktur folgendermassen: „Hierzu muss man sagen, dass ein<br />

guter Oberarzt bei uns, der einfach in der Kadersituation<br />

bei uns als Oberarzt arbeitet, der aber eine Arbeit macht,<br />

<strong>die</strong> in keinster Weise der Tätigkeit eines Chefarztes oder<br />

94


Leitenden Arztes nachsteht, dass <strong>die</strong>ser nicht schlechter<br />

aber einfach ein wenig jünger <strong>und</strong> unerfahrener ist <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

gesamte Karriereleiter noch nicht erklommen hat. Aber er<br />

ist ein ausgewiesener Fachmann <strong>und</strong> hat bis heute eine jahrelange<br />

Erfahrung im öffentlichen Spital, dazu muss man<br />

eben schon sagen, dass der Ver<strong>die</strong>nst <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ver<strong>die</strong>nstmöglichkeiten<br />

bescheiden ausfallen, verglichen mit dem, was<br />

man in einer Privatklinik ver<strong>die</strong>nen kann. (…) Er ver<strong>die</strong>nt<br />

dort ein Vielfaches mehr, er ver<strong>die</strong>nt nicht nur ein paar<br />

Prozent mehr, sondern ein Vielfaches <strong>des</strong>sen, was man hier<br />

ver<strong>die</strong>nt. Nicht das Doppelte, sondern ein Vielfaches, drei-<br />

, vier-, fünfmal so viel wie das, was man hier als Oberarzt<br />

ver<strong>die</strong>nt. Es ist einfach so. Ich glaube, dass in <strong>die</strong>sem<br />

Fall entweder ein grosses Mass an Naivität oder irgendwelche<br />

anderen schwerwiegenden Gründe oder Überzeugungen bestehen<br />

müssen, damit man sich entscheidet, <strong>die</strong>sen Schritt<br />

nicht zu machen.“ Und weiter meint Hans S.: „Es gibt ganz viele<br />

hochmotivierte, jüngere Mediziner, <strong>die</strong> mit Handkuss so etwas<br />

annehmen würden <strong>und</strong> schweren Herzens irgendwo anders<br />

hingehen, da sie sich sagen: Ich wäre ein Idiot, wenn ich<br />

es nicht machen würde. Ich unterstütze meine Leute dabei,<br />

dass sie gehen. Ich kann niemandem sagen: Arbeite hier für<br />

zweih<strong>und</strong>erttausend Franken oder h<strong>und</strong>ertfünfzig, wenn du<br />

dort das Dreifache ver<strong>die</strong>nen kannst. Du hast kleine Kinder,<br />

hast eine Familie, du musst auch zu dir schauen. Hinsichtlich<br />

<strong>des</strong>sen sind wir einfach nicht konkurrenzfähig. Es ist<br />

völlig falsch, wenn man sagt, das verstehe ich nicht <strong>und</strong><br />

das ist schäbig. Es ist schäbig, dass wir hier so schäbige<br />

Gehälter bezahlen, das ist schäbig <strong>und</strong> nicht, dass <strong>die</strong> Leute<br />

gehen. Ein Referenzlohn von h<strong>und</strong>ertfünfzigtausend Franken<br />

gemäss Tarmed ist schäbig (lacht). Wie gesagt, ich<br />

möchte mich nicht mit solch hochqualifizierten Leuten wie<br />

Wirtschaftsführern <strong>und</strong> Bankfachleuten vergleichen, <strong>die</strong> unsere<br />

Finanzwirtschaft in <strong>die</strong> Krise geritten haben, das will<br />

ich gar nicht. Es scheint einfach selbstverständlich zu<br />

sein, dass man uns übers Ohr haut <strong>und</strong> einfach absahnt. Wenn<br />

es dort um zweih<strong>und</strong>erttausend Franken weniger Gehalt geht,<br />

gibt es ein Geschrei. Das ist ,grusig‘.“ Die Gespräche verdeut-<br />

lichten <strong>die</strong> Variantenvielfalt der Lohn- <strong>und</strong> Anstellungsstrukturen, wobei <strong>die</strong><br />

Belegarztstrukturen vornehmlich in Privatspitälern vorzufinden sind. Seit ge-<br />

raumer Zeit ist von der Implementierung von Kaderarztverträgen <strong>die</strong> Rede. Die<br />

95


Idee, <strong>die</strong> sich hinter <strong>die</strong>sen neuen Verträgen verbirgt, ist <strong>die</strong> Erhöhung der fixen<br />

Besoldung auf 50% <strong>des</strong> Ziellohnes, der Bildung von Honorarpools 38 mit einer<br />

Ausschüttung eines Pool-Anteils von 34% <strong>des</strong> Ziellohnes sowie <strong>die</strong> Einführung<br />

einer leistungsabhängigen Komponente, <strong>die</strong> 16% <strong>des</strong> Ziellohnes betragen soll.<br />

Das Ziel besteht in der Sicherstellung einer höheren fixen Besoldung <strong>und</strong> der<br />

Vermeidung von grossen Unterschieden zwischen den Fachbereichen (Malk,<br />

Kampmann & Indra, 2006, S. 111). Bislang gab es eine geringere fixe Besoldung,<br />

wohingegen <strong>die</strong> Honorare aus privatärztlicher Tätigkeit einen bedeutenderen<br />

Anteil der Gesamtbesoldung ausmachten, wobei <strong>die</strong> Anteile an den Honoraren<br />

je nach Arzt sehr unterschiedlich waren. Diese neuen Kaderarztverträge wur-<br />

den aber bislang noch nicht in allen Spitälern umgesetzt. Am Kantonsspital, an<br />

welchem Joachim A. praktizierender Chefarzt einer Spezialität der Inneren<br />

Medizin ist, wurde <strong>die</strong>se neue Poollösung noch nicht implementiert, was an-<br />

hand folgender Aussage ersichtlich ist: „Nein, das haben wir noch<br />

nicht. Falls <strong>die</strong>s so wäre, so würde ich mir überlegen, in<br />

<strong>die</strong> Praxis zu gehen. Bei allem Idealismus <strong>und</strong> so, aber es<br />

wäre doch gelogen, wenn man sagen würde: Ja, <strong>die</strong>s ist nun<br />

auch gut, es ist ja schön, wenn man bereits um fünf Uhr<br />

nach Hause gehen kann <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen ... Man muss doch den<br />

unmittelbaren Anreiz <strong>und</strong> Erfolg der Arbeit sehen. Dies ist<br />

menschlich. (…) Man kennt ja <strong>die</strong> reinen Staatsbetriebe.<br />

Damals, sowohl hier als auch an verschiedenen anderen Orten,<br />

war es doch so, dass an jedem einzelnen Patienten, an<br />

dem man persönlich <strong>und</strong> selber als Kaderarzt seine Arbeit<br />

verrichtet hat, man auch ver<strong>die</strong>nt hat. Man konnte wohl über<br />

den Prozentsatz diskutieren, aber es floss nicht irgendwo<br />

hin <strong>und</strong> man muss dann auch nicht mit demjenigen teilen,<br />

welcher ein fauler Sack ist <strong>und</strong> um fünf Uhr nach Hause<br />

geht. Verstehen Sie? Also das dünkt mir schon sehr wich-<br />

tig.“ Zu den Lohnstrukturen an Privatspitälern lässt sich wenig bis keine<br />

Information finden. Durch <strong>die</strong> Interviews wurde aber ersichtlich, dass immer<br />

mehr Privatspitäler eine fixe Anstellung der Ärzte bevorzugen, wodurch das<br />

Modell der Belegärzte 39 an Popularität eingebüsst hat. Klaus K., Leitender Arzt<br />

am Kantonsspital, bestätigt <strong>die</strong>se Entwicklung: „Im Unterschied zur Pri-<br />

38 Der Honorarpool besteht aus Honoraren der ambulanten Patienten <strong>und</strong> der Praxiserträge sowie aus Pauschalen für<br />

HP-/P-Patienten (Malk, Kampmann & Indra, 2006, S.111).<br />

39 30% aller Belegärzte arbeiten in Akutspitälern der mittleren Kategorie (125 bis 249 Betten), 25% in grösseren Akutspitälern<br />

(250 bis 499 Betten), 15% in kleineren Akutspitälern (unter 125 Betten), 9% in Zentrumsspitälern (500 <strong>und</strong> mehr<br />

Betten, ohne Universitätsspitäler) <strong>und</strong> 5% in Spezialkliniken (Kocher & Oggier, 2010, S. 383).<br />

96


vatklinik, wo ein Belegarztsystem herrscht ... beim Belegarztsystem<br />

spielt der Umsatz eine Rolle. Dort geht nur ein<br />

Teil ... Die nahegelegene Privatklinik hat gesagt, du musst<br />

etwas abliefern für deinen Patienten. Du erhältst alles,<br />

aber du musst etwas abliefern dafür, dass er hier liegen<br />

darf. Die Rechnung hat der Arzt gestellt <strong>und</strong> etwas davon an<br />

das Spital abgegeben. Das Interessante ist nun aber, dass<br />

an <strong>die</strong>sem Privatspital nun dasselbe passiert. Sie stellen<br />

nun immer mehr Ärzte an <strong>und</strong> bezahlen danach den Arzt. Folg-<br />

lich bezahlt nicht mehr der Arzt das Spital.“<br />

Die in Abbildung 2 genannten Fachgebiete <strong>und</strong> <strong>die</strong> dazugehörigen Gehälter<br />

stellen <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage für den Vergleich der an privaten Spitälern angebotenen<br />

Fachgebiete im Gegensatz zu den an öffentlichen Spitälern angebotenen Spezia-<br />

litäten dar. Dieser Vergleich entstammt aus dem Vorwurf der öffentlichen Insti-<br />

tutionen gegenüber den privaten Spitäler, dass Privatkliniken sich vorzugswei-<br />

se oder teils lediglich auf lukrative Fachbereiche konzentrieren. Beachtet wer-<br />

den muss, dass <strong>die</strong> Innere Medizin unterschiedlichste Bereiche beinhaltet, was<br />

nach oben bzw. nach unten zu variierenden Gehaltsstrukturen führt. Vergleicht<br />

man <strong>die</strong> Fachgebiete in Abbildung 2 mit den Fachgebieten, <strong>die</strong> mehrheitlich an<br />

Hirslanden Kliniken angeboten werden, dann kommt eine gewisse Kongruenz<br />

zum Vorschein. Das stärkste Fachgebiet ist <strong>die</strong> Orthopä<strong>die</strong>, anschliessend wer-<br />

den <strong>die</strong> Ränge zwei bis sieben durch <strong>die</strong> Gynäkologie, <strong>die</strong> Chirurgie/ Viszeral-<br />

chirurgie, <strong>die</strong> Kardiologie, <strong>die</strong> Innere Medizin, <strong>die</strong> Urologie <strong>und</strong> Neurochirur-<br />

gie besetzt (Hirslanden, 2010/2011, S. 5). Vergleicht man <strong>die</strong>se Aufzählung mit<br />

der Abbildung, so verfestigt sich <strong>die</strong> Annahme, dass mehrheitlich lukrative<br />

Fachgebiete angeboten werden.<br />

97


98<br />

Abbildung 2: AHV-pflichtiges Einkommen aller in freier Praxis tätigen Ärzte 2006 40<br />

(FMH, 2010b, S. 484)<br />

Der Public-Health-Ansatz appelliert an <strong>die</strong> Erweiterung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbe-<br />

griffs um weitere Ges<strong>und</strong>heitsdeterminanten wie <strong>die</strong> Lebensumstände <strong>und</strong><br />

hebt damit hervor, dass „ges<strong>und</strong> sein“ nicht lediglich das Freisein von Krank-<br />

heit bedeutet, worauf im nächsten Kapitel näher eingegangen wird.<br />

2.4 Eine theoriegeleitete Annäherung an <strong>die</strong> Transformationsprozesse<br />

2.4.1 Ges<strong>und</strong>heit − vermarktbar, handelbar, käuflich<br />

„Was ist Ges<strong>und</strong>heit?“ Entspricht Ges<strong>und</strong>heit einem Zustand, einer Vorausset-<br />

zung oder eher einer Bedingung, <strong>die</strong> dem täglichen Überleben <strong>die</strong>nen soll? Die<br />

unzähligen Antworten der Weltbevölkerung auf <strong>die</strong>se Frage würden bestimmt<br />

historische, regionale, kulturelle, politische, soziale, ökonomische, aber auch<br />

körperliche <strong>und</strong> psychische Unterschiede ans Licht bringen <strong>und</strong> den Begriff<br />

Ges<strong>und</strong>heit mannigfaltig färben. Ges<strong>und</strong>heit ist kein Gut wie je<strong>des</strong> andere, es<br />

ist knapp, kann nicht beliebig hergestellt <strong>und</strong> dadurch nicht beliebig erworben<br />

werden, was auch <strong>die</strong> folgenden Parameter verdeutlichen: mangelhafter Zu-<br />

gang zu Qualitätsinformationen (Ergebnisqualität einer medizinischen Versor-<br />

gung ist für den Patienten aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Nichterkennens einer medizinischen<br />

40 Mittel- <strong>und</strong> Zentralwerte nach Spezialitäten <strong>des</strong> Jahres 2006, weibliche <strong>und</strong> männliche Ärzte bis 65 Jahre.


Notwendigkeit <strong>und</strong> deren Qualität schwer einschätzbar), eine asymmetrische<br />

Informationsverteilung (zwischen Patient <strong>und</strong> Versicherung sowie zwischen<br />

Patient <strong>und</strong> Arzt), teils nicht messbare externe Effekte (negative Effekte in Form<br />

von Ansteckungen <strong>und</strong> positive in Form von Impfungen, <strong>die</strong> das Übertragen<br />

von Krankheitserregern teilweise verhindern) sowie das zeitliche Zusammen-<br />

fallen von Leistungserstellung <strong>und</strong> Leistungsempfang (Uno-actu-Prinzip)<br />

(Oberender, Schlüchtermann, Nagel & Volker, 2005, S. 11f). Joachim A., Chef-<br />

arzt am Kantonsspital, äussert sich zur Ges<strong>und</strong>heit folgendermassen: „Es ist<br />

ein grosser Irrglaube, dass man das Ges<strong>und</strong>heitswesen durch<br />

den Markt regulieren kann. Die Ges<strong>und</strong>heit ist keine Ware,<br />

<strong>die</strong> man produziert.“<br />

Als Erklärung von Ges<strong>und</strong>heit gilt <strong>die</strong> im Jahre 1946 beschlossene Definition<br />

der WHO, der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation, gemäss der Ges<strong>und</strong>heit ein Zustand<br />

völligen körperlichen, seelischen <strong>und</strong> sozialen Wohlbefindens darstellt<br />

<strong>und</strong> nicht nur das Freisein von Krankheit <strong>und</strong> Gebrechen bedeutet (Junker,<br />

2007, zit. in Oggier & Kocher, 2007, S. 59). Ges<strong>und</strong>heit stellt einen wesentlichen<br />

Bestandteil <strong>des</strong> Lebens dar <strong>und</strong> darf bzw. sollte kein Lebensziel, sondern eine<br />

Gr<strong>und</strong>lage sein, auf welcher jeder sein Leben aufbauen kann. Die Tatsache, dass<br />

der Zugang zu einer egalitären Ges<strong>und</strong>heitsversorgung nicht durch jeden Staat<br />

gewährleistet wird <strong>und</strong> extreme, auf <strong>die</strong> soziale Schicht bezogene Unterschiede<br />

existieren, ist omnipräsent. Der Ges<strong>und</strong>heitszustand eines Volkes lässt sich<br />

anhand unterschiedlichster Merkmale messen: anhand der Lebenserwartung,<br />

der Mortalitätsrate oder <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsverhaltens, wobei <strong>die</strong> Inanspruchnahme<br />

von Ges<strong>und</strong>heitsleistungen <strong>und</strong> der individuell wahrgenommene Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

je<strong>des</strong> Einzelnen weitere wichtige Indikatoren darstellen können.<br />

Eine globale Vergleichbarkeit <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitszustan<strong>des</strong> der Weltbevölkerung<br />

lässt sich aber nur dadurch erreichen, dass in jedem Land das oder <strong>die</strong>selben<br />

Merkmale zur Messung angewendet wird bzw. werden, <strong>und</strong> auch dann<br />

müssen statistische Daten mit Vorsicht genossen werden, was auch nachfolgen<strong>des</strong><br />

Beispiel zeigen wird.<br />

Betrachtet man <strong>die</strong> Bevölkerung der Schweiz, so weist <strong>die</strong>se 2008 mit 84.4 Jahren<br />

ab Geburt für <strong>die</strong> Frauen <strong>und</strong> 79.7 Jahren für <strong>die</strong> Männer eine der weltweit<br />

höchsten Lebenserwartungen auf (BFS, 2010a), wobei minimale kantonale Unterschiede<br />

existieren. Der gute Ges<strong>und</strong>heitszustand der Schweizer Bevölkerung<br />

lässt sich gemäss Ges<strong>und</strong>heitsökonomen zum einen auf den hohen Lebensstan-<br />

99


dard <strong>und</strong> zum anderen auf eine gute Lebensqualität zurückführen, gleichzeitig<br />

spielt aber auch der Zugang zu flächendeckend angebotenen <strong>und</strong> qualitativ<br />

hochwertigen Dienstleistungen <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitssystems eine bedeutende Rolle<br />

(Achtermann & Berset, 2006, S. 17). Dass aber das flächendeckende Angebot<br />

nicht von allen Gesellschaftsklassen gleichermassen in Anspruch genommen<br />

wird, zeigen <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong>n „Schweizerische Ges<strong>und</strong>heitsbefragung SGB“, <strong>die</strong><br />

bereits seit 1992 im Fünfjahres-Rhythmus durch das B<strong>und</strong>esamt für Statistik<br />

durchgeführt werden. Personen aus der Unterschicht mit mangelnder Schulbildung<br />

(oder nicht anerkannter Schulbildung – Stichwort: Zuwanderung), geringem<br />

Berufsstatus <strong>und</strong> geringem Haushaltseinkommen gehen eher zum Allgemeinarzt<br />

<strong>und</strong> in <strong>die</strong> Notfallaufnahme, wohingegen Personen aus höheren Sozialschichten<br />

tendenziell eher zu Spezialisten gehen. Diese Tendenz lässt sich<br />

sowohl in Westeuropa als auch in den USA erkennen, wobei „gate-keeping“-<br />

Systeme wie das Hausarztmodell oder <strong>die</strong> HMOs (Health Maintenance Organisations)<br />

keine grossen Unterschiede herbeiführen zu scheinen. Bei den Hausarztmodellen<br />

schliessen sich frei praktizierende Allgemeinpraktiker zu einem<br />

regionalen Hausarztnetzwerk zusammen, aus welchem der Versicherte seinen<br />

Hausarzt auswählen kann <strong>und</strong> dadurch das Recht auf freie Arztwahl verliert.<br />

Der Hausarzt entscheidet im Rahmen der Konsultationen (als Ausnahme gelten<br />

<strong>die</strong> Notfälle), ob er <strong>die</strong> Behandlung durchführen kann oder ob <strong>die</strong>se durch<br />

einen Spezialisten durchgeführt werden muss (Definition gemäss BAG).<br />

Zu den HMOs gehören zum einen Versicherungen, <strong>die</strong> nebst ihrer Versicherungstätigkeit<br />

auch medizinische Leistungen anbieten, oder solche, <strong>die</strong> für ihre<br />

Versicherten Leistungen bei bestimmten Anbietern, <strong>die</strong> sich zur Einhaltung<br />

bestimmter Behandlungsleitlinien verpflichten <strong>und</strong> als besonders günstig gelten,<br />

einkaufen (Rosenbrock & Gerlinger, 2009, S. 300). Der Schweiz kommt<br />

europaweit eine Pionierstellung bei der Entwicklung neuer Versorgungs- <strong>und</strong><br />

Versicherungsformen mit einer eingeschränkten Wahl der Leistungserbringer<br />

zu. Nebst dem hoch restriktiven Staff Model HMO existieren Group Practice<br />

HMOs, Arztnetze genannt IPAs Individual Practice Associations oder PPOs<br />

Preferred Provider Organisations. Beim erstgenannten HMO ist der Einfluss<br />

der Versicherer auf <strong>die</strong> Leistungserbringungen <strong>und</strong> folglich auf <strong>die</strong> Leistungsinanspruchnahme<br />

durch den Patienten am Grössten. Der Deal, den Patienten<br />

bei solchen Organisationformen eingehen, gewährt dem Versicherten eine Prämienreduktion<br />

von 10 bis 20 Prozent, im Gegenzug willigen <strong>die</strong> Versicherten in<br />

100


eine Einschränkung der Wahl ihres Leistungserbringers ein.<br />

Die „Schweizerische Ges<strong>und</strong>heitsbefragung SGB“ von 2007 kam zum Ergeb-<br />

niss, dass 87% der nahezu 20‘000 Befragten (ab dem 15. Lebensjahr) ihren Ge-<br />

s<strong>und</strong>heitszustand als „gut“ oder „sehr gut“ (BFS, 2007b, S. 4) empfanden. Eine<br />

seit dem Jahr 1986 regelmässig in der Schweiz durchgeführte Ges<strong>und</strong>heitsum-<br />

frage (heute Bestandteil <strong>des</strong> „Ges<strong>und</strong>heitsmonitors“), <strong>die</strong> den selbst wahrge-<br />

nommenen Ges<strong>und</strong>heitszustand von ca. 1000 Stimmberechtigten mit der Frage<br />

„Wie geht es Ihnen heute ges<strong>und</strong>heitlich?“ in Erfahrung bringen will, veröffent-<br />

lichte folgende Zahlen: 1996 fühlten sich 81% der Befragten „gut“ bis „sehr<br />

gut“, 2002 waren es 77% <strong>und</strong> 2008 waren es noch 62% (GfS Bern, 2008, S. 4).<br />

Zwischen den Jahren 2005 <strong>und</strong> 2008 konnte ein merklicher Tiefpunkt verzeich-<br />

net werden, wohingegen <strong>die</strong> Werte der Umfrage <strong>des</strong> Jahres 2011 wieder stei-<br />

gend sind. 71% der Befragten sagen, dass es ihnen „gut“ bis „sehr gut“ ginge,<br />

9%, dass es ihnen „schlecht“ ginge, <strong>und</strong> 2% verweigerten eine Antwort (Inter-<br />

pharma, 2011, S.12). Dass das persönliche Ges<strong>und</strong>heitsempfinden mit dem<br />

Alter aber auch aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Geschlechts variiert, zeigt <strong>die</strong> nächste Abbildung.<br />

Anhand einer Befragung, <strong>die</strong> zum Thema „Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsverhal-<br />

ten in der Schweiz 1992-2002“ durch das B<strong>und</strong>esamt für Statistik durchgeführt<br />

wurde, konnte festgestellt werden, dass der Anteil der Leute, <strong>die</strong> sich „gut“ bis<br />

„sehr gut“ fühlen, mit zunehmendem Alter abnimmt, wobei Frauen ihren ge-<br />

s<strong>und</strong>heitlichen Zustand prinzipiell als schlechter empfinden als Männer (BFS,<br />

2005b, S. 14).<br />

Abbildung 3: Anteile der Männer <strong>und</strong> Frauen mit guter bis sehr guter wahrgenommener Ges<strong>und</strong>heit<br />

bzw. mit einem lang andauernden Ges<strong>und</strong>heitsproblem (körperliche oder psychische Ursache; seit<br />

min<strong>des</strong>tens einem Jahr), nach Alter.<br />

(BFS, 2005b, S. 14)<br />

Anhand der Statistiken zum Ges<strong>und</strong>heitsempfinden wird ersichtlich, dass sta-<br />

101


tistische Erfassungen, <strong>die</strong> von unterschiedlichen Institutionen (privatwirtschaft-<br />

lich oder staatlich) initiiert werden <strong>und</strong> teilweise unterschiedliche Forschungs-<br />

interessen verfolgen, auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können.<br />

Die abweichenden Resultate hängen beispielsweise mit der Erhebungsmethode<br />

zusammen. So kann <strong>die</strong> Formulierung der Fragen, <strong>die</strong> Zusammensetzung <strong>des</strong><br />

Samples oder der Befragungszeitraum eine relevante Rolle spielen. Der subjek-<br />

tiv wahrgenommene Ges<strong>und</strong>heitszustand eines Menschen variiert, <strong>die</strong>s unter<br />

anderem aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> variierenden alltäglichen Wohlbefindens oder aber auch<br />

aufgr<strong>und</strong> sozialer Beziehungen, Arbeitsverhältnissen, finanziellen Möglichkei-<br />

ten, kulturellen oder religiösen Zugehörigkeiten. Parameter wie <strong>die</strong>se können<br />

im Rahmen von Statistiken wie obgenannte nur schwierig bis gar nicht abgebil-<br />

det werden. Auch der Ausbildungsgrad, der Berufsstand <strong>und</strong> <strong>die</strong> Einkom-<br />

mensklasse nehmen wesentlichen Einfluss auf das Ges<strong>und</strong>heitsverhalten <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsempfindens <strong>des</strong> Individuums.<br />

Zum Thema soziale Ungleichheiten <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit existieren heute zahlreiche<br />

Stu<strong>die</strong>n. Einen der wichtigsten Gr<strong>und</strong>steine legte in <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

der „Black Report“, der 1980 durch das Departement für Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> soziale<br />

Sicherheit Grossbritanniens (Departement for Health and Social Security)<br />

herausgegeben wurde (Bisig & Guzwiller, 2004, S. 55). Der Report zeigte zum<br />

einen auf, dass sich seit der Einführung <strong>des</strong> Wohlfahrtstaates (Welfare State) in<br />

Grossbritannien Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit zusammenhängende<br />

Gründung <strong>des</strong> NHS (National Health Service) im Jahre 1948 der Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

der Bevölkerung insgesamt verbessert hat. Dennoch konnte eine Zunahme<br />

der sozialen Unterschiede verzeichnet werden, <strong>die</strong> mehrheitlich auf<br />

monetäre Differenzen zurückzuführen waren <strong>und</strong> zu sozialen Ungleichheiten<br />

führten. Mit dem Black Report wollte man <strong>die</strong> Problematik der ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Ungleichheiten sowohl ins Bewusstsein der Bevölkerung als auch der<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Politik rufen, wobei das Ziel in der Schaffung eines Rahmenwerkes,<br />

das zur Diskussion <strong>die</strong>ser Ungleichheiten geschaffen wurde, bestand<br />

(Siegrist & Marmot, 2008, S. 19). In der Schweiz ist vor allem bei der<br />

Durchführung von Vorsorge-/Früherkennungsuntersuchungen (geringer), der<br />

Durchführung gewisser Operationen (geringere Anzahl an Mandeloperationen<br />

oder Knie- <strong>und</strong> Fussoperationen), der Inanspruchnahme von Komplementärmedizin<br />

(geringer) oder der Konsultation von Allgemein- bzw. Spezialärzten<br />

(geringe Anzahl an Spezialarztbesuchen, jedoch höhere Anzahl an Arztbesu-<br />

102


chen) ein deutlicher Unterschied zwischen der Unter-, Mittel- <strong>und</strong> Oberschicht<br />

zu verzeichnen. Die Aussagen innerhalb der Klammern beziehen sich auf <strong>die</strong><br />

Unterschicht <strong>und</strong> sollen in Relation zur Leistungsbeanspruchung der Oberschicht<br />

gesehen werden (Bisig & Gutzwiller, 2004, S. 55 ff.). Bezogen auf <strong>die</strong><br />

ärztliche Tätigkeit, ist ihr Einfluss auf das Verhalten der Patienten nicht zu<br />

unterschätzen. Gerade im Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten sind<br />

Fragen wie: Wurde <strong>die</strong> Kommunikation zwischen Arzt <strong>und</strong> Patient der Sprache<br />

<strong>des</strong> Patienten angepasst, werden fachlich gesehen alle Patienten unabhängig<br />

von ihrem sozialen Status oder Versichertenstatus gleich behandelt oder wird<br />

darauf geachtet, dass insbesondere Patienten aus tiefen Sozialschichten, <strong>die</strong> oft<br />

weniger Kenntnis von Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge haben, auf Informationsmaterial zu<br />

Vorsorgemassnahmen hingewiesen werden. Der Prämienanstieg, der Abschluss<br />

einer Zusatzversicherung oder der Entscheid für ein Managed-Care-Modell, <strong>die</strong><br />

stark mit den finanziellen Mitteln <strong>und</strong> folglich den ökonomischen Möglichkeiten<br />

der Patienten korrelieren, führen zu weiteren sozialen Unterschieden <strong>und</strong><br />

zu einer immer grösseren Diskrepanz zwischen den Unter- <strong>und</strong> Oberschichten.<br />

Die WHO plä<strong>die</strong>rt im Zusammenhang mit der Umsetzung der Entwicklungsziele<br />

bis 2015 dafür, dass Ges<strong>und</strong>heitspolitik nicht mehr isoliert betrachtet <strong>und</strong><br />

betrieben werden dürfe, sondern eine Vernetzung mit anderen Politikfeldern,<br />

wie beispielsweise der Fiskal- <strong>und</strong> Haushaltspolitik oder dem Bildungswesen,<br />

zu geschehen hat. Auf <strong>die</strong>se Schlussfolgerung kam <strong>die</strong> WHO, da sie deutlich<br />

<strong>die</strong> Meinung vertritt, dass nicht nur <strong>die</strong> Qualität von <strong>und</strong> der Zugang zu medizinischen<br />

Leistungen den Ges<strong>und</strong>heitszustand einer Bevölkerung beeinflussen,<br />

sondern <strong>die</strong> Lebensumstände <strong>des</strong> einzelnen Menschen (wie Wohn-, Arbeits<strong>und</strong><br />

Lebenssituation im Allgemeinen) zu 90% über sein Wohlbefinden bestimmen<br />

(Achtermann & Berset, 2006, S. 26).<br />

Die Frage, was ist Ges<strong>und</strong>heit, ist eine Frage, <strong>die</strong> einen inskünftig mehr denn je<br />

beschäftigen wird. Im Strome der Ökonomiserungswelle werden sowohl <strong>die</strong><br />

Befürworter eines nach marktwirtschaftlichen Regeln geführten Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

als auch <strong>die</strong> Leistungserbringer nicht um eine Neudefinition <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbegriffs<br />

umhinkommen. Nebst den Ökonomen werden inskünftig<br />

auch <strong>die</strong> Mediziner <strong>und</strong> Ethiker vermehrt Stellung zu Fragen nehmen müssen,<br />

inwiefern Ges<strong>und</strong>heit zum Produkt „Ökonomik der Ges<strong>und</strong>heit“ werden darf,<br />

auch wenn <strong>die</strong>ses bereits als ökonomisches Gut bezeichnet wird <strong>und</strong> welche<br />

103


Auswirkungen sich aus der Vermarktlichung von Ges<strong>und</strong>heit auf das Handeln<br />

der professionellen Akteure im Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Behandlung der<br />

Patienten ergeben. In der gängigen Fachliteratur zur Ges<strong>und</strong>heitsökonomie<br />

wird der Gutcharakter von Ges<strong>und</strong>heit bereits exemplarisch definiert: „Ge-<br />

s<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> sogar das Leben selbst (sind) keine über den ,profanen‘ wirt-<br />

schaftlichen Dingen stehende Kategorien (…), sondern dass beide als ökonomi-<br />

sche Güter aufgefasst werden können <strong>und</strong> somit einer Analyse mit dem In-<br />

strumentarium der Wirtschaftstheorie zugänglich sind. Das gilt zum einen für<br />

<strong>die</strong> positive Ökonomik, <strong>die</strong> erklärt, wie Ges<strong>und</strong>heit mithilfe von Inputs wie Zeit<br />

<strong>und</strong> medizinischen Leistungen produziert wird. Das gilt aber auch für <strong>die</strong> nor-<br />

mative Ökonomik, <strong>die</strong> Ansätze dafür liefert, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> sogar menschli-<br />

ches Leben selbst mit dem ökonomischsten aller Massstäbe, nämlich in Geld-<br />

einheiten zu bewerten.“ (Breyer, Zweifel & Kifmann, 2005, S. 549). Die Ver-<br />

marktlichung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens, „<strong>die</strong> Ökonomik <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswe-<br />

sens“, impliziert eine marktwirtschaftliche Rationalisierung, <strong>die</strong> das Ges<strong>und</strong>-<br />

heitswesen zum Markt werden lässt <strong>und</strong> im Aufeinandertreffen einer Ange-<br />

bots- <strong>und</strong> einer Nachfrageseite resultiert. Gemäss Mühlenkamp (2003, S. 70) ist<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> „nach dem hier vertretenen Verständnis zunächst gleichzu-<br />

setzen mit dem Bemühen, individuelles <strong>und</strong> kollektives Handeln stärker<br />

(zweck-)rational zu gestalten <strong>und</strong> am ökonomischen Prinzip respektive an<br />

Effizienzüberlegungen zu orientieren. Das ökonomische Prinzip fordert <strong>die</strong><br />

Vermeidung unnötigen Ressourceneinsatzes.“. Die Effizienz ärztlichen Handelns<br />

soll dementsprechend quantifiziert werden, um der permanent diskutierten<br />

Mittelknappheit zu entgegnen, was in einem Vorgehen resultiert, das <strong>die</strong><br />

strikte Leistungsrationierung zum Ziel hat (Kirch & Kliemt, 1997). Damit einher<br />

geht insbesondere in Deutschland <strong>die</strong> Distanzierung von einem staatlich <strong>und</strong><br />

folglich nicht kapital- <strong>und</strong> marktwirtschaftlich geführten Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong><br />

Krankenhauswesen <strong>und</strong> folglich <strong>die</strong> Privatisierung Spitäler öffentlicher Trägerschaften.<br />

Die Privatisierung öffentlicher Versorgungseinrichtungen findet in<br />

der Schweiz bislang in einem begrenzten Rahmen statt, wobei <strong>die</strong> regionale<br />

Annäherung privater Kliniken an öffentliche Spitaleinrichtungen <strong>und</strong> ihre langsame,<br />

aber stete Expansion zur Abwanderung von Ärzten <strong>und</strong> sogar gesamten<br />

Ärzteteams beiträgt. Die Privatisierungswelle <strong>und</strong> Entstaatlichung bewirkt viel<br />

Unmut, <strong>die</strong> dem Bedenken an nutzenmaximierendem <strong>und</strong> an ökonomischen<br />

Prinzipien ausgerichtetem Handeln der Ärzteschaft entstammen. Die Nutzen-<br />

Kosten-Abwägung beim Patienten wie beim Arzt, so <strong>die</strong> Vorwürfe zahlreicher<br />

104


Ges<strong>und</strong>heitsökonomen, würden darin resultieren, dass Patienten als Versicher-<br />

te sich nicht dazu verpflichtet fühlen, ges<strong>und</strong>heitsbewusst zu handeln <strong>und</strong><br />

dadurch das breite Leistungsangebot innerhalb der OKP übermässig beanspru-<br />

chen (Reiners, 2006; siehe Kasten). Damit einher geht <strong>die</strong> Kritik der Ökonomen<br />

am umfangreichen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, am<br />

umfassenden Versicherungsobligatorium <strong>und</strong> am Verfahren der Kostenver-<br />

rechnung der in Anspruch genommenen Leistungen. Durch <strong>die</strong> nicht 100%ige-<br />

Abweltzung der verursachten Kosten auf den Patienten <strong>und</strong> der geringfügigen<br />

Beteiligung an verursachten Kosten wird der Vorwurf laut, dass Patienten auf-<br />

gr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ses Verrechnungssystems zu Überkonsum ten<strong>die</strong>ren oder vielleicht<br />

sogar dazu animiert werden. Dieser Vorwurf an <strong>die</strong> Ärzteschaft würde von<br />

einer angebotsinduzierten Nachfrage (Reiners, 2006, S. 22) ausgehen, wonach<br />

der Arzt über <strong>die</strong> Nachfrage entscheidet bzw. <strong>die</strong>se ankurbelt, was vor allem<br />

mit der Informationsasymmetrie zwischen Arzt <strong>und</strong> Patient zusammenhängt.<br />

Im Ges<strong>und</strong>heitswesen führt <strong>die</strong>se Asymmetrie zu einer offensichtlichen Abhängigkeit<br />

<strong>des</strong> Laien vom Experten, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s insbesondere aufgr<strong>und</strong> der Tatsache,<br />

dass es sich beim Produkt eben nicht um ein Konsumgut, sondern um <strong>die</strong><br />

menschliche Existenz handelt (Reiners, 2006, S. 22). Dem Arzt wird einerseits<br />

unökonomisches Verhalten bei der Ressourcenallokation vorgeworfen <strong>und</strong><br />

mangelnde Motivation zum sparsamen Handeln im Dienste der Rationierung<br />

der Leistungsinanspruchnahme. Diese Form der Auslegung <strong>des</strong> Nutzen-<br />

Kostenkalküls wird als Resultat der mangelnden Regulierung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsmarktes<br />

anhand marktwirtschaftlicher Gesetze erachtet. Das Setzen ökonomischer<br />

Anreize zielt auf eine Rationierung der gesamten ärztlichen Leistungserbringung<br />

ab, demzufolge sowohl auf den personellen, materiellen als<br />

auch zeitlichen Aufwand, den eine Behandlung (seitens <strong>des</strong> Arztes oder der<br />

Pflege) zur Folge haben (Mühlenkamp, 2003). Die Verankerung <strong>des</strong> WZW-<br />

Prinzips in Artikel 32 <strong>des</strong> KVG induzierte bereits den Anfang einer Leistungsrationierung<br />

<strong>und</strong> zeugte von einer Infiltration eines marktwirtschaftlichen Gesetzes,<br />

nämlich der Wirtschaftlichkeit, ins Ges<strong>und</strong>heitswesen. Effizienz <strong>und</strong> Sparsamkeit<br />

im Rahmen der Ressourcenallokation <strong>und</strong> Leistungserbringung seitens<br />

der Ärzteschaft <strong>und</strong> Pflege, kostenbewusstes Verhalten seitens der Patienten<br />

<strong>und</strong> Prozessoptimierung sowie eine nach betriebswirtschaftlichen Gesetzen<br />

erfolgte Leitung <strong>des</strong> Spitals kann aus Sicht der Befürworter eines kapitalwirtschaftlich<br />

gesteuerten Ges<strong>und</strong>heitswesens nur mit einer verstärkten Privatisierung,<br />

Wettbewerbsorientierung, Rationalisierung <strong>und</strong> Deregulierung <strong>und</strong> dem-<br />

105


zufolge auch Vermarktlichung der Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> der Ausrichtung <strong>des</strong> Ge-<br />

s<strong>und</strong>heitswesens an Marktlogiken erwirkt werden.<br />

Der Patient <strong>und</strong> sein Recht als Prämienzahler<br />

Betrachtet man <strong>die</strong> Handlungsschemata der Patienten, so existiert ein Patien-<br />

ten- bzw. Versichertensegment, das sich gemäss Kritiker das Recht <strong>des</strong> An-<br />

spruchs auf jegliche Heilungspraktiken, <strong>die</strong> im Leistungskatalog der Versiche-<br />

rungen enthalten sind, herausnimmt. Diesen Anspruch legitimiert der Patient<br />

durch seine monatliche Prämienzahlung. Die Versicherungen versuchen an-<br />

hand unterschiedlicher Versicherungsmodelle, wie beispielsweise dem Haus-<br />

arzt-Modell, <strong>die</strong> übermässige Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen zu<br />

unterbinden. Der Begriff „ex-ante Moral Hazard“ steht für das Verhalten <strong>des</strong><br />

Patienten, der aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> umfassenden Versicherungsschutzes weniger An-<br />

reiz verspürt, Prävention <strong>und</strong> Vorsorge zu betreiben, um eine Krankheit abzu-<br />

wenden. Im Gegensatz dazu kann bei Versicherten aber auch der Zustand <strong>des</strong><br />

„ex-post Moral Hazard“ eintreffen, der im Falle einer Erkrankung zu einer<br />

erhöhten <strong>und</strong> teilweise übertriebenen Nachfrage an medizinischer Leistung<br />

führt (Breyer, Zweifel & Kifmann, 2005, zit. in Becker, 2006, S. 12). Dieses Ver-<br />

halten sei gemäss Becker (2006) auf den umfassenden Versicherungsschutz <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> damit zusammenhängenden Prämiensteigerung zurückzuführen, wobei der<br />

umfassende Versicherungsschutz einen klaren Ausgabenanstieg zur Folge hat.<br />

Im Kapitel 2.4.2 wird ein Ausschnitt aus den aktuellen Diskussionen r<strong>und</strong> um<br />

Public-Health <strong>und</strong> den ethischen Ansprüchen, denen sie gerecht werden muss,<br />

folgen. Dabei werden <strong>die</strong> Implikationen verdeutlicht, <strong>die</strong> ein an marktwirt-<br />

schaftlichen Gesetzen orientiertes Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich daraus erge-<br />

benden Auswirkungen auf <strong>die</strong> berufsethischen Handlungsmaximen der Ärzte-<br />

schaft für <strong>die</strong> Patienten, Kranken <strong>und</strong> Hilfsbedürften <strong>und</strong> eben nicht <strong>die</strong> Kun-<br />

den hat. Die Idee <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich dahinter verbergende Gefahr eines selbstverant-<br />

wortlichen Umgangs mit der eigenen Ges<strong>und</strong>heit, also der Erhöhung der indi-<br />

viduellen Selbstverantwortung, <strong>die</strong> im Kranken den „souveränen“ Patienten<br />

<strong>und</strong> K<strong>und</strong>en sieht, untergräbt seine im Falle eines Krankheitsfalls besondere<br />

physische, psychische <strong>und</strong> soziale missliche Lage. Von dem nachfrageinduzier-<br />

ten Angebot − der Patient entscheidet über das Angebot, <strong>des</strong>sen Inanspruch-<br />

nahme <strong>und</strong> Verzicht (Slotala, 2011; Rosenbrock, 2001; Braun, 2005) − muss Ab-<br />

stand genommen werden, da beispielsweise der Konsumverzicht seitens eines<br />

106


kranken <strong>und</strong> hilfsbedürftigen Patienten, der ein Indiz für eine nachfrageindu-<br />

zierte Marktsteuerung darstellt, nahezu unvorstellbar ist, was auch folgende<br />

Aussage <strong>des</strong> Leitenden Arztes Klaus K. eines Kantonsspitals zeigt: „Aber,<br />

<strong>und</strong> das geht mir auch so, wenn Sie eine Krankheit haben,<br />

dann sind Sie nicht mehr K<strong>und</strong>e, sondern Sie sind froh, wenn<br />

man Ihnen hilft. Wenn Sie in <strong>die</strong> Migros gehen um etwas einzukaufen,<br />

dann gehen Sie nicht dorthin, damit <strong>die</strong>se Ihnen<br />

helfen.“ Mit dem Selbstverantwortungspostulat geht <strong>die</strong> Gefahr einer weiteren<br />

Verstärkung der sozialen Ungleichheiten in Bezug auf den Zugang <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Nutzung von Versorgungsleistungen einher. Hinsichtlich <strong>des</strong> berufsethischen<br />

Selbstverständnisses der Pflegefachkräfte <strong>und</strong> der Ärzteschaft konnten bereits<br />

kognitive <strong>und</strong> moralische Dissonanzen zwischen den ethisch <strong>und</strong> moralischen<br />

Handlungsmaximen, denen sich der traditionelle ärztliche Berufsethos verpflichtet<br />

fühlt, <strong>und</strong> den an Wirtschaftlichkeitsgeboten <strong>und</strong> -gesetzen ausgerichteten<br />

Handlungsparadigmen festgestellt werden (Braun, Buhr, Klinke, Müller &<br />

Rolf, 2010; Klinke & Kühn, 2006). Es scheint, überspitzt ausgedrückt, dass <strong>die</strong><br />

<strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens mit einer „Vermarktlichung“ der<br />

Versorgungseinrichtungen einhergeht <strong>und</strong> dabei der Versuch der Transformation<br />

der Ges<strong>und</strong>heit zum ökonomischen Gut vorgenommen wird, was auf<br />

einen Interessenkonflikt seitens der Ärzteschaft abzielt <strong>und</strong> durch den institutionellen<br />

<strong>Ökonomisierung</strong>sdruck in einer Vorherrschaft <strong>des</strong> Wirtschaftlichkeitsgebots<br />

resultieren soll.<br />

Die Nachfrage steigt konstant, <strong>die</strong> Ökonomen <strong>und</strong> Politiker warnen vor der<br />

zunehmenden Verknappung monetärer Ressourcen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Pflegefachkräfte<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Ärzteschaft werden angehalten, ihr Handeln nach Kriterien der wirtschaftlichen<br />

Effizienz auszurichten, was mithilfe standardisierter Strukturen,<br />

von Prozessen <strong>und</strong> Abläufen erreicht werden soll. Dabei werden Vorwürfe an<br />

<strong>die</strong> öffentlichen Versorgungsinstitutionen laut wie: Unfähigkeit in der Umsetzung<br />

kapitalwirtschaftlicher Massnahmen, mangeln<strong>des</strong> Kostenbewusstsein<br />

seitens der Ärzteschaft <strong>und</strong> Pflege (Mengenausweitung, verschwenderischer<br />

Umgang mit knappen Mitteln etc.) <strong>und</strong> das rigide Festhalten an ineffizienten<br />

Unternehmensstrukturen. Eine Problemlösung wird in der Privatisierung öffentlicher<br />

Krankenhäuser <strong>und</strong> anderer Versorgungsinstitutionen gesehen. Mitarbeiter<br />

von Privatkliniken haben sich bereits als Berater öffentlicher Spitäler<br />

angeboten (Anderegg, 2011), um bei der Implementierung der in den Privatkliniken<br />

gelebten „schlanken Managementstrukturen“ behilflich zu sein. Diese<br />

107


<strong>und</strong> weitere <strong>Ökonomisierung</strong>smassnahmen haben zur Folge, dass <strong>die</strong> Ärzte-<br />

schaft sich zusehends einem Wertekonflikt zwischen ihrem berufsethischen<br />

<strong>und</strong> versorgungsethischen Verständnis <strong>und</strong> dem von ihnen geforderten res-<br />

sourcenoptimierenden <strong>und</strong> wirtschaftlich effizienten Handeln ausgesetzt sehen.<br />

Die geforderte Wirtschaftlichkeit ärztlichen Handelns <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit erhoffte<br />

Ressourcenverknappung sowie einhergehende Kostenminimierung führt zu<br />

einer Versorgungsungleichheit. Die unter dem Denkmantel der wirtschaftlichen<br />

Effizienz propagierten Massnahmen treffen in erster Linie <strong>die</strong> sozial schwäche-<br />

ren Bevölkerungsschichten, <strong>die</strong> vermehrt von Krankheiten betroffen sind <strong>und</strong><br />

demzufolge auf eine qualitativ hochstehende Ges<strong>und</strong>heitsversorgung angewiesen<br />

sind. Der Zugang wird aber aufgr<strong>und</strong> geringem ökonomischem <strong>und</strong> sozialem<br />

Kapital <strong>und</strong> fehlender Handlungskompetenz teils stark eingeschränkt, was<br />

einerseits dazu führt, dass <strong>die</strong> sozial schwächeren Mitbürger sich <strong>die</strong> notwendige<br />

Versorgung nicht leisten <strong>und</strong> der geforderten ges<strong>und</strong>heitlichen Eigenverantwortung<br />

nicht nachkommen können (Slotala, 2011, S. 64; Bauer, Rosenbrock<br />

& Schaeffer, 2005 zit. in Badura & Iseringhausen, 2005, S. 187). Die sozialen<br />

Ungleichheiten in der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung wurden bis anhin stark im angloamerikanischen<br />

Sprachraum thematisiert, was aber keineswegs ein ausschliessliches<br />

Phänomen <strong>die</strong>ses Raumes darstellt, sondern eine globale Problematik<br />

darstellt, <strong>die</strong> sowohl hochentwickelte als auch geringer entwickelte Ges<strong>und</strong>heitssysteme<br />

betrifft (Bauer & Büscher, 2008, zit. in Bauer & Büscher, 2008,<br />

S. 16), was im nächsten Kapitel zu Public Health <strong>und</strong> Health Inequalities zum<br />

Ausdruck kommt.<br />

2.4.2 Public Health, New Public Health <strong>und</strong> Public Health Ethik<br />

Im Glossar Ges<strong>und</strong>heitsförderung der WHO wird Public Health folgendermassen<br />

definiert: „Public Health (Öffentliche Ges<strong>und</strong>heit) ist ein soziales <strong>und</strong> politisches<br />

Konzept, das durch Ges<strong>und</strong>heitsförderung, Krankheitsprävention <strong>und</strong><br />

andere ges<strong>und</strong>heitsbezogene Interventionen auf Verbesserung von Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Lebensverlängerung <strong>und</strong> Erhöhung der Lebensqualität von ganzen Bevölkerungen<br />

abzielt. In der Ges<strong>und</strong>heitsförderungsliteratur ist zwischen Public<br />

Health <strong>und</strong> New Public Health unterschieden worden, um recht unterschiedliche<br />

Ansätze hinsichtlich Beschreibung <strong>und</strong> Analyse der Determinanten von<br />

Ges<strong>und</strong>heit sowie Methoden zur Lösung von Public Health Problemen hervor-<br />

108


zuheben. New Public Health Ansätze zeichneten ein umfassen<strong>des</strong> Verständnis<br />

der Art <strong>und</strong> Weise aus, wie Lebensstile <strong>und</strong> Lebensbedingungen den Ges<strong>und</strong>-<br />

heitsstatus bestimmen. Sie erkennen <strong>die</strong> Notwendigkeit an, Mittel freizusetzen<br />

<strong>und</strong> angemessen in <strong>die</strong> Politik, Programme <strong>und</strong> Dienstleistungen zu investie-<br />

ren, <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit durch Unterstützung ges<strong>und</strong>er Lebensstile <strong>und</strong> Schaffung<br />

ges<strong>und</strong>heitsfördernder Lebenswelten entwickeln, erhalten <strong>und</strong> schützen. Diese<br />

Unterscheidung zwischen ,alt‘ <strong>und</strong> ,neu‘ im Public Health Bereich wird zukünftig<br />

vielleicht nicht mehr erforderlich sein, da verbreitete Konzepte von Public<br />

Health (Öffentliche Ges<strong>und</strong>heit) weiterentwickelt <strong>und</strong> erweitert werden.“<br />

(WHO, 1998, S. 8). Diese Definition von Public Health der WHO knüpft an ihre<br />

Definition von Ges<strong>und</strong>heit <strong>des</strong> Jahres 1946 an. „Ein Zustand <strong>des</strong> umfassenden<br />

körperlichen, geistigen <strong>und</strong> sozialen Wohlbefindens <strong>und</strong> nicht nur das Fehlen<br />

von Krankheit oder Behinderung.” (WHO, 1998, S. 6) Diese wurde 1986 durch<br />

<strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitsförderung <strong>und</strong> den Ressourcen-Begriff erweitert (Stichwort:<br />

Ottawa-Charta, 1986) (Hajen, Peatow & Schumacher, 2010, S. 20). New Public<br />

Health hat den Ges<strong>und</strong>heitsbegriff dahingehend geprägt, dass auch der Lebensstil,<br />

<strong>die</strong> Lebensumstände <strong>und</strong> das Verhalten je<strong>des</strong> Einzelnen Einzug<br />

(Stichwort: Prävention <strong>und</strong> Selbstverantwortung) in <strong>die</strong> Definition gef<strong>und</strong>en<br />

haben. Betrachtet man <strong>die</strong> zu Beginn <strong>die</strong>ses Kapitels erläuterten Makro-, Meso<strong>und</strong><br />

Mikroebenen der Versorgungssteuerung im Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens,<br />

so lassen sich <strong>die</strong>se drei Ebenen auch auf <strong>die</strong> Gesamtpopulation erweitern, was<br />

folgendermassen ausschaut: Die Makroebene stünde für <strong>die</strong> Gesellschaft, <strong>die</strong><br />

Mesoebene für <strong>die</strong> Institutionen (Unternehmen, Krankenhäuser etc.) <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Mikroebene für das Individuum. Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit beschäftigen dementsprechend<br />

nicht nur das betroffene Individuum, sondern auch <strong>die</strong> Gesamtheit<br />

der Gesellschaft, <strong>die</strong> zur Übernahme von Verantwortung angehalten wird.<br />

Der Ges<strong>und</strong>heitszustand einer Personen- oder Bevölkerungsgruppe wirkt<br />

rückwirkend auf den einzelnen Bürger, der seinerseits zusehends zur Selbstverantwortung<br />

angehalten wird. Besonders auf <strong>die</strong> Prävention, <strong>die</strong> von B<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> Kantonen nicht mittels Gesetzen, sondern mittels konkreter Massnahmen<br />

geregelt werden soll, wird ein besonderes Augenmerk im Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

gesetzt. Der Ruf nach einer ganzheitlichen Betrachtung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitszustan<strong>des</strong><br />

<strong>des</strong> Menschen wird immer lauter, <strong>und</strong> folglich steht nicht<br />

mehr nur <strong>die</strong> Schmerzlinderung <strong>und</strong> Genesung, sondern auch <strong>die</strong> Wiederintegration<br />

<strong>des</strong> Patienten in <strong>des</strong>sen soziales Umfeld im Vordergr<strong>und</strong>. Nebst der<br />

Integration spielt auch <strong>die</strong> Vermittlung eines verantwortungsvollen Umgangs<br />

109


mit der eigenen Ges<strong>und</strong>heit eine bedeutende Rolle, weshalb sich der New-<br />

Public-Health-Ansatz bewusst auf <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitsdeterminanten ausrichtet,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>des</strong> Individuums massgeblich beeinflussen <strong>und</strong> sich folgen-<br />

dermassen zusammensetzen: individuelle Faktoren wie Alter <strong>und</strong> Geschlecht,<br />

Lebensumstände <strong>und</strong> Lebensweise, soziales Umfeld, Arbeits- <strong>und</strong> <strong>die</strong> Umwelt-<br />

bedingungen (physische, soziale, kulturelle, ökonomische). Es scheint, dass der<br />

Bedarf nach einem erweiterten Ges<strong>und</strong>heitsbegriff in den letzten zwanzig bis<br />

dreissig Jahren zugenommen hat, was sich in der stetigen Anpassung der Be-<br />

grifflichkeit niederschlägt <strong>und</strong> als ein Abbild <strong>des</strong> Gesellschaftswandels gesehen<br />

werden kann. Die Public Health Ethik setzt da an, wo <strong>die</strong> Interessen, <strong>die</strong> in den<br />

unterschiedlichen Arbeitsfeldern von Public Health vertreten sind, moralische<br />

Werte <strong>und</strong> richtiges Handeln im Sinne der Ethik untergraben oder missachten.<br />

Ärzte geraten immer öfter in berufsethische Konflikte wie beispielsweise folgenden:<br />

Betreiben sie Forschung im Auftrag eines privatwirtschaftlichen Konzerns,<br />

der <strong>die</strong>sem das Recht an den Forschungsergebnissen gewährt, so sehen<br />

sie sich einerseits einer vertraglichen Bindung ausgesetzt <strong>und</strong> andererseits<br />

ihrem medizinischen Ethos, der von ihnen ein moralisch <strong>und</strong> ethisch richtiges<br />

Handeln verlangt. Der Konflikt entsteht dann, wenn <strong>die</strong> Forschungsergebnisse<br />

negative Implikationen für <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit der Arbeitnehmer, der K<strong>und</strong>en oder<br />

weiterer Anspruchsgruppen ergeben, dem Arzt aber aufgr<strong>und</strong> seiner vertraglichen<br />

Bindung <strong>und</strong> der Rechtsabsprache mit dem Konzern seiner berufsethischen<br />

Handlungsmaxime nicht mehr gerecht werden kann. Die Wahl der moralisch<br />

besten Option entspricht aber nicht zwangsläufig einem aus ges<strong>und</strong>heitswissenschaftlicher<br />

Sicht zielführenden bzw. zwingenden Entscheid (Schröder-<br />

Bäck, 2011, zit. in Schott & Hornberg , 2011, S. 276). Im Zusammenhang mit<br />

Public Health Interventionen wurde <strong>die</strong> Wichtigkeit der Public Health Ethik<br />

erfasst, was auch damit zusammenhängt, dass erkannt wurde, dass <strong>die</strong> in den<br />

Bereichen der Epidemiologie, Public Health <strong>und</strong> evidenzbasierten Medizin oft<br />

Klassierungen vorgenommen werden, <strong>die</strong> ein medizinisch-wissenschaftlich<br />

korrektes Handeln darstellen <strong>und</strong> dennoch zu sozialen Ungerechtigkeiten in<br />

Bezug auf Versorgungszugang, -umfang <strong>und</strong> -qualität führen (Wild, 2011, S.<br />

334). Genau in solchen Zusammenhängen muss Public Health Ethik greifen.<br />

Psychische, soziale <strong>und</strong> physische Dimensionen haben Einzug in <strong>die</strong> angepassten<br />

Definitionen gehalten, wodurch <strong>die</strong> scheinbar anerkannte Wichtigkeit eines<br />

„ges<strong>und</strong>en“ Volkes seitens der staatlichen Instanzen zum Ausdruck kommt.<br />

110


Wie bereits angesprochen, versucht der Staat im Rahmen der Neudefinierung<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbegriffs auch immer stärker <strong>die</strong> Verantwortung für ein gesun-<br />

<strong>des</strong> Leben dem Individuum zu übertragen, wodurch er sich aber teilweise aus<br />

der Verantwortung der Sicherung ges<strong>und</strong>er Lebensumstände (der Sicherstel-<br />

lungauftrag der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung kommt in der Schweiz den Kantonen<br />

zu) zieht. Dies führt beispielsweise, bezogen auf den Krankenhaussektor, zu<br />

einer immer stärkeren Verlagerung bzw. Auslagerung medizinischer Vorabklä-<br />

rungen aus der Spitalinstitution hin zu den Hausärzten. Auch <strong>die</strong>ses Vorgehen<br />

entspricht exemplarisch einer Rationierungsmassnahme, <strong>die</strong> das Verlagern der<br />

Kosten vom stationären in den ambulanten Sektor zum Ziele hat, was nicht<br />

zuletzt mit den unterschiedlichen Finanzierungsmodellen in den beiden Sekto-<br />

ren zusammenhängt. Eine Vielzahl der politischen Bewegungen strebt in Rich-<br />

tung eines selbstverantwortlichen Umgangs <strong>des</strong> Individuums mit der eigenen<br />

Ges<strong>und</strong>heit. Eigenverantwortliches Handeln wird typischerweise durch das<br />

bewusste Abwägen zwischen verschiedenen Handlungsoptionen <strong>und</strong> <strong>die</strong> klare<br />

Absicht gesetzte Ziele auch zu erreichen gekennzeichnet. Demzufolge findet<br />

eine Konzentration auf das Wesentliche statt, wozu auch <strong>die</strong> Fähigkeit zur<br />

Ablenkungsvermeidung gehört (Schmidt, 2008, S. 150). Empirische Erkenntnisse<br />

haben gezeigt, dass mehr Selbstverantwortung nicht unweigerlich zur eigenen<br />

Ges<strong>und</strong>heitsförderung beiträgt, da <strong>die</strong> Ressourcen, <strong>die</strong> zum eigenverantwortlichen<br />

Handeln benötigt werden, entweder nicht oder nicht genügend<br />

vorhanden sind (Schmidt, 2008, S. 152), weshalb elementare F<strong>und</strong>amente der<br />

Eigenverantwortung fehlen: „Eigenverantwortung ist kein isoliertes Merkmal,<br />

sondern Bestandteil eines Netzwerks von Variablen, <strong>die</strong> ihr Bezugssystem darstellen.“<br />

(Bierhoff et al., 2005 zit. in Schmidt, 2008, S. 152). Wird <strong>die</strong> Versorgungsnutzung<br />

durch Ressourcenungleichheiten eingeschränkt oder wird <strong>die</strong>se<br />

gar verunmöglicht, so hat <strong>die</strong>s ges<strong>und</strong>heitliche <strong>und</strong> demzufolge auch soziale<br />

Ungleichheiten zur Folge, was anhand von Stu<strong>die</strong>n hinsichtlich der Bewältigung<br />

chronischer Krankheiten im Zusammenhang mit der pflegerischen Versorgung<br />

oder bezüglich älterer versus jüngerer Menschen gezeigt werden konnte<br />

(Bauer & Büscher, 2007, S. 305 ff.; Ewers & Schaeffer, 2005). Das individuelle<br />

Bewältigungshandeln, das für einen selbstverantwortlichen Umgang mit der<br />

eigenen Ges<strong>und</strong>heit massgeblich ist, kann jedoch durch unterschiedliche personale<br />

(Fähigkeiten, Kompetenzen, Selbstwirksamkeits- <strong>und</strong> Kontrollüberzeugungen<br />

etc.), soziale (Unterstützungsmöglichkeiten, Unterstützungsnetzwerke<br />

etc. ) <strong>und</strong> materielle Ressourcen (finanzielle Möglichkeiten einer zusätzlichen<br />

111


Hilfe etc.) erschwert werden, was zu ges<strong>und</strong>heitlichen Ungleichheiten v.a. der<br />

älteren Bevölkerungsschicht <strong>und</strong> der Unterschicht führt (Bauer & Büscher, 2008,<br />

zit. in Bauer & Büscher, 2008, S. 26). Die Debatten r<strong>und</strong> um Health Inequalities<br />

nahmen ihren Ursprung im angloamerikanischen Raum. Seit geraumer Zeit<br />

beschäftigen <strong>die</strong>se Debatten auch Deutschland <strong>und</strong> teilweise auch <strong>die</strong> Schweiz,<br />

wobei vor allem in Deutschland bedeutende Health-Inequalities-<br />

Forschungsprojekte getätigt werden, da erkannt wurde, dass ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Ungleichheit erstens verstärkt <strong>die</strong> Unterschicht im Gegensatz zur Oberschicht<br />

trifft <strong>und</strong> zweitens <strong>die</strong>se Art <strong>und</strong> Weise der sozial bedingten ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Ungleichheit eine sektorenübergreifende Problemorientierung im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

vonnöten macht, <strong>die</strong> demzufolge über eine sozialepidemiologische<br />

Perspektive hinausgeht (Bauer & Büscher, 2007, S. 305). Wobei beachtet werden<br />

muss, dass Ungleichheiten in Bezug auf den Erhalt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verteilung von<br />

Versorgungsleistungen einerseits durch ungleiches Nutzungshandeln der Akteure<br />

erfolgen kann <strong>und</strong> andererseits durch ungleiche Leistungsvergabe seitens<br />

der Ges<strong>und</strong>heitsinstitutionen (ambulante <strong>und</strong> stationäre Versorgung – Strukturebene).<br />

Die Nutzung <strong>und</strong> Inanspruchnahme von Ges<strong>und</strong>heitsleistungen<br />

variiert entsprechend dem den Akteuren zur Verfügung stehenden ökonomischem,<br />

kulturellem <strong>und</strong> sozialem Kapital (Heusinger & Klünder, 2005), wobei<br />

ersterer Kapitalsorte eine ausserordentliche Bedeutung zukommt. Auch auf der<br />

Strukturebene kann es zu ungleicher Leistungsvergabe kommen, <strong>die</strong> einerseits<br />

durch <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung beeinflusst wird <strong>und</strong> andererseits durch<br />

weitere Leistungserbringer im strukturellen Kontext <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong> Krankenhauswesens im Besonderen. Empirische Erkenntnisse haben<br />

gezeigt, dass einerseits das ökonomische Kapital auch in Bezug auf <strong>die</strong> Versorgungsstrukturen<br />

wieder zu ges<strong>und</strong>heitlicher Ungleichheit beiträgt, wobei<br />

gleichzeitig auch von einer sozial normierenden Praxis gesprochen werden<br />

kann, <strong>die</strong> zum potenziellen Ausschluss von Leistungen beiträgt (Bauer & Bittlingmayer,<br />

2007). Die institutionelle Selbstbeschreibung von Krankenhäusern<br />

geht von einer egalitären Praxis der Leistungsvergabe aus, wobei beispielsweise<br />

im Rahmen <strong>des</strong> Leistungsangebots privater Spitäler deutliche Unterschiede<br />

zwischen den Versicherten (privat, halbprivat <strong>und</strong> allgemein) ersichtlich sind,<br />

was anschaulich auch anhand <strong>des</strong> Werbematerials der Privatspitäler gezeigt<br />

werden kann. Diese Art der sozialen Selektion findet teilweise sichtbar <strong>und</strong><br />

explizit statt, teilweise aber auch verdeckt, also in Form impliziter Rationierung<br />

als soziale Homogamie, vereinfacht ausgedrückt: „Gleiches bevorzugt Glei-<br />

112


ches“. Bour<strong>die</strong>u hat <strong>die</strong>se Form der soziostrukturellen Bevorzugung exempla-<br />

risch erforscht <strong>und</strong> thematisiert (Bauer & Bittlingmayer, 2006).<br />

Die Ottawa-Charta der WHO (1986), <strong>die</strong> an der ersten internationalen Konfe-<br />

renz für Ges<strong>und</strong>heitsförderung verabschiedet wurde, appelliert an das Indivi-<br />

duum, <strong>die</strong> Gesellschaft als Ganzes <strong>und</strong> den Staat, indem sie das Zusammen-<br />

spiel <strong>die</strong>ser Parteien <strong>und</strong> <strong>die</strong> unter ihnen herrschende Unterstützung in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> rückt. Den ges<strong>und</strong>heitlichen Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft<br />

soll entgegengewirkt werden, indem Verantwortung sowohl für <strong>die</strong><br />

eigene Ges<strong>und</strong>heit als auch für <strong>die</strong>jenige <strong>des</strong> sozialen Umfel<strong>des</strong> sowie politisches<br />

Engagement <strong>und</strong> ökologisches Bewusstsein gefordert <strong>und</strong> gefördert wird<br />

(Radix, S. 3). Auch der Schweizer Staat kann <strong>die</strong> im Lande existierenden ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Ungleichheiten nicht leugnen <strong>und</strong> räumt <strong>die</strong>s in „Ges<strong>und</strong>heitspolitiken<br />

in der Schweiz“, das 2006 vom BAG herausgegeben wurde, anhand<br />

<strong>des</strong> folgenden Wortlautes ein: „Dies ist der Anfang einer Reihe von Reflexionen<br />

über <strong>die</strong> Bedeutung der Ges<strong>und</strong>heitsdeterminanten <strong>und</strong> der Tatsache der ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Ungleichheiten in der Bevölkerung der Schweiz.“ (Achtermann<br />

& Berset, 2006, S. 25) Hier muss aber angemerkt werden, dass im Zusammenhang<br />

mit <strong>die</strong>sem Wortlaut gleichzeitig <strong>die</strong> Forderung nach Prävention als auch<br />

<strong>die</strong>jenige nach einer erhofften effizienten <strong>und</strong> wirtschaftlichen Verwaltung der<br />

Spitäler durch <strong>die</strong> neue Spitalfinanzierung <strong>und</strong> dem darin geregelten Wechsel<br />

von Tages- zu Fallpauschalen gemäss den DRG laut wurde. Es bleibt nur zu<br />

hoffen, dass sowohl das Ziel eines egalitären Zugangs zu einem qualitativ<br />

hochwertigen Ges<strong>und</strong>heitssystem, das <strong>die</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Gleichstellung aller<br />

Bürger aller sozialen Schichten zum Ziel haben sollte, als auch dasjenige eines<br />

nach ökonomischen Kriterien geführten effizienten Spitalwesens vereinbar<br />

sind.<br />

2.4.3 DRG − <strong>die</strong> Einführung der neuen Spitalfinanzierung in der Schweiz<br />

Eine ges<strong>und</strong>heitspolitische Massnahme, <strong>die</strong> in erster Linie der Kostendämmung<br />

<strong>die</strong>nen soll, stellt <strong>die</strong> ab 01.01.2012 geltende neue Spitalfinanzierung im stationären<br />

Bereich dar. Bereits seit einigen Jahren beschäftigt <strong>die</strong>se neue Spitalfinanzierung<br />

nicht nur <strong>die</strong> Politiker <strong>und</strong> Ökonomen, sondern auch <strong>die</strong> Ärzte, <strong>die</strong><br />

grosse Befürchtungen hinsichtlich der neuen Finanzierungsform anbringen <strong>und</strong><br />

ihre ärztliche Tätigkeit in wesentlichen Bereichen fremdbestimmt sehen. Befürchtet<br />

wird, dass <strong>die</strong>ses für das Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen neue Finanzie-<br />

113


ungsmodell, das in den öffentlichen, öffentlich subventionierten <strong>und</strong> privaten<br />

Spitälern (Mesoebene) Anwendung findet <strong>und</strong> den beruflichen Alltag der Pfle-<br />

ge <strong>und</strong> Ärzteschaft (Mikroebene) beeinflussen wird, stark zur Transformation<br />

<strong>und</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> der Versorgungsstrukturen beitragen wird. Die Befürch-<br />

tungen, welche <strong>die</strong> Ärzte der Einführung <strong>und</strong> der vermuteten Auswirkung der<br />

DRG gegenüber hegen, wurden im Rahmen der Interviews deutlich erkennbar<br />

<strong>und</strong> bewusst geäussert. Hans S., Chefarzt einer Spezialität der Inneren Medizin<br />

eines Kantonsspitals, äussert sich zu den DRG folgendermassen: „Die einen<br />

haben grosse Befürchtungen, <strong>die</strong> andern haben grosses Vertrauen<br />

darin. Im Moment weiss niemand, was geschehen wird.<br />

Ich selber denke, dass es <strong>die</strong> Medizin eher schlechter als<br />

besser machen wird, <strong>und</strong> gleichzeitig wird man sich überall<br />

so arrangieren, dass man das Beste daraus macht. Das Beste<br />

wird aber nicht im Interesse <strong>des</strong> Patienten, sondern im Interesse<br />

der Ökonomie geschehen, <strong>die</strong>s spitalbezogen, abteilungsbezogen<br />

gesehen. Die Medizin wird wegen <strong>die</strong>ser Vergleichbarkeit<br />

mit Sicherheit nicht besser, <strong>des</strong>halb werden<br />

Spitäler nicht geschlossen, das Ganze benötigt eine politische<br />

Entscheidung. Alle Spitäler werden sich mehr oder weniger<br />

stark <strong>und</strong> mehr oder weniger schnell dafür einsetzen,<br />

dass sie aus <strong>die</strong>sen Tarifen oder aus <strong>die</strong>ser Finanzierungsordnung<br />

das Beste herausholen. (…) Auf Kosten unserer Ethik<br />

werden wir glauben, ökonomischere Medizin zu tätigen.“ Diese<br />

Ängste resultieren massgeblich aus den Erfahrungsberichten aus Deutschland,<br />

wo seit dem 01.01.2003 mit den DRG gearbeitet wird, <strong>und</strong> werden durch Mutmassungen,<br />

<strong>die</strong> vornehmlich aufgr<strong>und</strong> der schwachen Informationsversorgung<br />

seitens der SwissDRG erfolgten, verstärkt. Die neue Spitalfinanzierung läutet<br />

einen weiteren Transformationsprozess innerhalb <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Spitalwesens,<br />

aber auch im „Innenleben“ der Krankenhäuser ein bezogen auf <strong>die</strong><br />

ethischen Handlungsnormen der professionellen Fachkräfte in Richtung <strong>Ökonomisierung</strong><br />

<strong>und</strong> verstärkter Kostenkontrolle, was <strong>die</strong> Abwehrhaltung seitens<br />

der Ärzte erklärt. Die Vergleichbarkeit der medizinischen Leistungen, <strong>die</strong><br />

Gleichstellung der öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spitäler sowie <strong>die</strong> damit erhoffte<br />

Minimierung <strong>des</strong> administrativen Aufwan<strong>des</strong> stellen Argumente dar, <strong>die</strong> gerne<br />

von den Befürwortern <strong>die</strong>ses neuen Finanzierungsmodells angeführt werden.<br />

Zum heutigen Zeitpunkt findet <strong>die</strong> Finanzierung von ärztlichen Leistungen<br />

unterschiedlich statt <strong>und</strong> hängt von den Parametern Trägerschaft <strong>des</strong> Spitals<br />

(öffentlich oder privat), Versichertenstatus (allgemein, halbprivat oder privat)<br />

114


<strong>und</strong> Verweildauer im Spital (ambulant oder stationär) ab.<br />

Kurz als Erinnerung – im Rahmen der ambulanten Leistungen wird sowohl bei<br />

den öffentlichen als auch bei den privaten Spitälern <strong>die</strong> monistische Finanzie-<br />

rung, also <strong>die</strong>jenige aus einer Hand (Krankenversicherungen), angewendet.<br />

TARMED, der einen Einzelleistungstarif darstellt <strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage der<br />

GRAT 41 (Gesamtrevision Arzttarif) <strong>und</strong> der Infrastrukturabgeltung INFRA<br />

entstanden ist, hat zu einer Vereinheitlichung der Finanzierungsstruktur der<br />

ambulanten Patienten in Arztpraxen <strong>und</strong> Spitälern geführt. Die monistische<br />

Finanzierungsform gilt auch für <strong>die</strong> stationären Behandlungen in Privatspitä-<br />

lern, wohingegen bei öffentlichen <strong>und</strong> öffentlich subventionierten Spitälern <strong>die</strong><br />

duale Finanzierung, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> KVG-Leistungen anteilsmässig durch <strong>die</strong> Kran-<br />

kenversicherungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kantone gewährleistet wird, zur Anwendung<br />

kommt. Die öffentliche Hand übernimmt durch <strong>die</strong> kantonale OKP-Pauschale<br />

einen Teil der stationären Betriebskosten <strong>und</strong> kommt zusätzlich für <strong>die</strong> Investi-<br />

tionskosten auf (siehe Abbildung 4). In der Schweiz werden folglich min<strong>des</strong>tens<br />

55% der anrechenbaren Betriebskosten durch <strong>die</strong> öffentliche Hand <strong>und</strong> maxi-<br />

mal 45% durch <strong>die</strong> Krankenversicherungen übernommen (kantonal prozentua-<br />

le Unterschiede existieren). Ein EVG-Urteil hat ausserdem dazu geführt, dass<br />

Kantone auch stationäre KVG-Leistungen der privat- <strong>und</strong> halbprivatversicher-<br />

ten Patienten in öffentlichen <strong>und</strong> öffentlich-subventionierten Spitälern subven-<br />

tionieren. In Bezug auf <strong>die</strong> Tarifsysteme bzw. -strukturen besteht heute eine<br />

grosse Vielfalt an Finanzierungsformen (Tagespauschalen, Abteilungspauscha-<br />

len oder diagnosebezogene Abrechnungssysteme). Die Kostenbeteiligung der<br />

Patienten besteht aus einem festen Jahresbetrag (Franchise), einem sogenannten<br />

Selbstbehalt von 10% der <strong>die</strong> Franchise übersteigenden Kosten <strong>und</strong> einer<br />

Selbstbeteiligung bei Spitalaufenthalt von 10 Franken pro Tag bei allein stehen-<br />

den Personen (Kocher & Oggier, 2007, S. 163).<br />

Die neue Spitalfinanzierung erhofft sich unter dem Deckmantel „Transparenz“<br />

<strong>die</strong> propagierten Vorzüge der DRG schmackhaft zu machen. Joachim A., Chefarzt<br />

der Inneren Medizin eines Kantonsspitals, äussert sich zur Einführung der<br />

DRG folgendermassen: „Ich weiss nicht einmal, weshalb man <strong>die</strong>s<br />

macht. Das weiss ich eigentlich nicht <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb frage ich<br />

41 Die Gesamtrevision Arzttarif GRAT sollte den Spitalleistungskatalog SLK ersetzen.<br />

115


auch jeden: Weshalb macht man das? (…) Das gibt falsche<br />

Anreize, Verzerrungen <strong>des</strong> gesamten Systems <strong>und</strong> an einem Ort<br />

Mengenausweitungen, <strong>die</strong>s ist ein riesiges Fehlsystem, dünkt<br />

es mich. (…) Also für mich ist <strong>die</strong>s irgendein ,mafioses′<br />

Produkt der Wall Street, um es auf den Punkt zu bringen.<br />

(…) Es scheint aber irgendein Kunstprodukt zu sein, das<br />

irgendwoher kommt <strong>und</strong> sicherlich nicht <strong>die</strong> Absichten hat.<br />

Es ist wie eine Naturgewalt, <strong>und</strong> jeder hat das Gefühl, das<br />

muss nun so sein.“<br />

Die Einführung der stationären Fallpauschalen soll in einem gesamtschweizerisch<br />

einheitlichen Finanzierungssystem mittels diagnosebezogenen Pauschalen<br />

resultieren, gleichzeitig sollen eine Vereinheitlichung der Tarifsysteme, ein<br />

Preis-Leistungsvergleich unter den öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spitälern <strong>und</strong><br />

neue Finanzierungsanteile seitens der Kantone folgen. Die DRG-Pauschalen<br />

werden <strong>die</strong> Betriebs- <strong>und</strong> Investitionskosten, nicht aber <strong>die</strong> gemeinwirtschaftlichen<br />

Kosten wie Notfallaufnahme, Lehre <strong>und</strong> Forschung abgelten. Da stellt sich<br />

<strong>die</strong> Frage, wer im Falle einer Nichtzulassung eines öffentlichen Spitals als Listenspital<br />

<strong>und</strong> dem damit einhergehenden Wegfall kantonaler Subventionsbeiträge<br />

für <strong>die</strong> Kosten der Lehre <strong>und</strong> Forschung (bisherige Pflicht der öffentlichen<br />

Spitäler <strong>und</strong> von Privatspitälern in geringem Umfang gewährleistet) aufkommen<br />

wird. Feststeht, dass <strong>die</strong> Ausbildung nichtuniversitärer Berufe <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Gehälter für Assistenzärzte in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung<br />

(OKP) anrechenbar sind, wohingegen <strong>die</strong> Kosten für <strong>die</strong> universitäre Lehre <strong>und</strong><br />

Forschung sowie <strong>die</strong> Kosten der ärztlichen Weiterbildung gemeinwirtschaftliche<br />

Kosten gemäss KVG darstellen <strong>und</strong> auch weiterhin von den Kantonen getragen<br />

werden müssen (H+, 2011). In den folgenden Abschnitten wird das heutige<br />

Spitalfinanzierungsmodell vereinfacht dargestellt, <strong>und</strong> es werden <strong>die</strong> durch<br />

<strong>die</strong> neue Spitalfinanzierung verursachten Veränderungen erläutert.<br />

Die nächste Abbildung zeigt zum einen <strong>die</strong> heute gängige Aufteilung der Kosten<br />

bzw. <strong>die</strong> Finanzierung eines Patienten (allg., HP, P) auf der stationären<br />

Abteilung eines Spitals (öff., öff. subv., privat) <strong>und</strong> zum anderen <strong>die</strong> Quersubventionierung<br />

der OKP-Leistungen durch <strong>die</strong> Zusatzversicherungen. Alle Kostenposten,<br />

<strong>die</strong> inskünftig durch <strong>die</strong> DRG gedeckt werden, können anhand der<br />

Abbildung nicht abschliessend dargestellt werden, dennoch wird ansatzweise<br />

einer der Gründe ersichtlich, weshalb Privatspitäler, <strong>die</strong> nicht kantonal subventioniert<br />

werden, auf <strong>die</strong> Akquise zusatz- <strong>und</strong> nicht allgemeinversicherter Pati-<br />

116


enten erpicht sind. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang muss beachtet werden, dass <strong>die</strong><br />

Tarife der Zusatzversicherten zwischen den Versicherungen <strong>und</strong> den Leis-<br />

tungserbringern ausgehandelt werden <strong>und</strong> dadurch sowohl innerkantonal als<br />

auch ausserkantonal bedeutende Tarifunterschiede existieren. Die in der Abbil-<br />

dung ersichtliche Lücke, <strong>die</strong> den Privatspitälern aufgr<strong>und</strong> der fehlenden kanto-<br />

nalen Subventionen entsteht, wird durch <strong>die</strong> Einnahmen der Zusatzversiche-<br />

rungen aber allemal kompensiert.<br />

Finanzierung<br />

OKP-Leistungen<br />

Finanzierung<br />

OKP-Leistungen<br />

mit DRG<br />

(Fallpauschale)<br />

Zusätzliche Leistungen<br />

(Arzt, Hotellerie<br />

etc.)<br />

Investitionskosten<br />

KVG 10 % bis 15%<br />

Betriebskosten KVG<br />

mind. 55%<br />

max. 45%<br />

Kosten Finanzierung<br />

Klassische HP-/P-<br />

Zusatzversicherung<br />

Kanton<br />

Kanton:<br />

Analog OKP-<br />

Pauschalen<br />

Versicherungen:<br />

OKP-Pauschale<br />

Finanzierung OKP-<br />

Leistungen (Zusatzversicherte<br />

HP <strong>und</strong> P in<br />

öff./öff. subv. Spitälern)<br />

Finanzierung OKP-<br />

Leistungen (allgemein<br />

Versicherter in<br />

öff./öff. subv Spitälern)<br />

Finanzierung OKP-<br />

Leistungen (allgemein<br />

mit Zusatz, HP <strong>und</strong> P-<br />

Versicherte im<br />

Privatspital)<br />

mögliche Finanzierungslücke<br />

(private<br />

Spitäler)<br />

Abbildung 4: Kosten <strong>und</strong> Finanzierung von Versicherten (allg., HP, P) in öffentlichen, öffentlich<br />

subventionierten <strong>und</strong> privaten Spitälern<br />

(Malk, Kampmann & Indra, 2006, S. 188 <strong>und</strong> eigene Darstellung)<br />

In der Abbildung nicht enthalten sind <strong>die</strong> direkten Subventionierungen der<br />

Kantone an öffentliche <strong>und</strong> öffentlich subventionierte Spitäler in Form von<br />

Objektfinanzierung bzw. Defizitdeckung. Diese Nachtragskredite werden im<br />

Rahmen der neuen Spitalfinanzierung durch das Globalbudget, das anhand der<br />

kalkulierten <strong>und</strong> auf den Vor-Vorjahren budgetierten Kosten berechnet wird,<br />

ersetzt. Dies führt dazu, dass <strong>die</strong> Kantone ab 01.01.2012 <strong>die</strong> Defizite der öffentlichen<br />

<strong>und</strong> öffentlich subventionierten Spitäler nicht mehr decken werden<br />

(Malk, 2010, S. 37). Die prozentuale Aufteilung der Kostenbeteiligung zwischen<br />

Kantonen <strong>und</strong> Krankenversicherern wird vermutlich identisch bleiben <strong>und</strong> bei<br />

den Fallpauschalen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Betriebs- <strong>und</strong> Investitionskosten beinhalten, zur<br />

Anwendung kommen.<br />

117


Die A- <strong>und</strong> B-Listenspitäler 42 werden durch <strong>die</strong> Listenspitäler, <strong>die</strong> Vertragsspi-<br />

täler <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ausstandsspitäler ersetzt. In den Genuss der dualen Finanzierung<br />

werden ab dem 01.01.2012 nur <strong>die</strong> sogenannten Listenspitäler kommen, <strong>die</strong> von<br />

den Kantonen einen Leistungsauftrag erhalten, der eine qualitativ hochstehen-<br />

de Ges<strong>und</strong>heitsversorgung zu einem günstigen Tarif bedingt. Im Gegensatz zu<br />

<strong>die</strong>sen Spitälern werden zu den Vertragsspitälern <strong>die</strong>jenigen Spitäler gezählt,<br />

<strong>die</strong> nicht auf der kantonalen Spitalliste erscheinen (keinen Vergütungsanteil<br />

erhalten), <strong>die</strong> aber mit den Krankenversicherern Verträge abschliessen, um so<br />

KVG-Leistungen abgelten zu können. Diejenigen Spitäler, <strong>die</strong> keinen Auftrag<br />

<strong>und</strong> keinen Vertrag (weder von den Kantonen noch von den Krankenversiche-<br />

rern), folglich also keine Vergütung erhalten, gehören zu den Ausstandsspitä-<br />

lern (Santésuisse, 2008).<br />

Als Listenspitäler kommen sowohl öffentliche als auch private Spitäler in Frage,<br />

was gemäss dem BAG-Bericht (2010a) zu einer Gleichstellung der öffentlichen<br />

<strong>und</strong> privaten Spitäler führen soll, was sich bereits anhand der Anfang 2012<br />

veröffentlichten Spitallisten unterschiedlicher Kantone abgezeichnet hat. Den<br />

Platz <strong>des</strong> Listenspitals muss sich aber sowohl das öffentliche als auch das pri-<br />

vate Spital „erkämpfen“. Die vermuteten, matchentscheidenden Kriterien werden<br />

sein: Leistungsspektrum, Notfall<strong>die</strong>nst, Versorgungssicherheit, Preis, Qualität<br />

<strong>und</strong> Ausbildung der Ärzteschaft <strong>und</strong> Pflegekräfte. Die Folgen der neuen<br />

Spitalfinanzierung für <strong>die</strong> öffentlichen Spitäler, denen <strong>die</strong> Sicherstellung der<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung als Leistungsauftrag <strong>und</strong> dadurch ein fester Platz auf den<br />

Spitallisten zukommt, sind zum heutigen Zeitpunkt noch nicht absehbar. Inten<strong>die</strong>rt<br />

wird <strong>die</strong> deutliche Erhöhung <strong>des</strong> Wettbewerbs zwischen den öffentlichen<br />

<strong>und</strong> privaten Spitälern, aber auch <strong>die</strong> Verschärfung der Konkurrenzsituation<br />

unter den öffentlichen Spitälern eines Kantons, denen bis anhin eine relativ<br />

egalitäre Stellung zukam. Öffentliche <strong>und</strong> bis anhin kantonal subventionierte<br />

Spitäler werden hohe finanzielle Einbussen erleiden, falls sie nicht mehr auf der<br />

Spitalliste erscheinen. Dies kann zur Folge haben, dass gewisse Spitäler Konkurs<br />

anmelden oder privatisiert werden müssen, was in der Schweiz eine Tendenz<br />

darstellt <strong>und</strong> in Deutschland bereits Realität ist. Wird, wie vermutet, der<br />

42 A-Spitäler: Institutionen mit Zulassung zur Versorgung von Patientinnen <strong>und</strong> Patienten in der Allgemeinen Abteilung<br />

zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung.<br />

B-Spitäler: Institutionen mit Zulassung zur Versorgung von Patientinnen <strong>und</strong> Patienten in der Halbprivat- <strong>und</strong> Privatabteilung<br />

zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung.<br />

118


Platz auf der Spitalliste denjenigen zuteil, <strong>die</strong> den ob genannten Kriterien ent-<br />

sprechen, dann werden <strong>die</strong> kleineren Regionalspitäler nur schon aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

Grösse <strong>und</strong> folglich ihrer Min<strong>des</strong>tfallzahlen keine guten Karten haben. Die<br />

Leistungserbringer werden verpflichtet sein, <strong>die</strong> Daten, <strong>die</strong> der Überwachung<br />

der Wirtschaftlichkeit <strong>und</strong> der Qualität der Leistungen <strong>die</strong>nen, den Kantonen<br />

bekannt zu geben. In welcher Form der Datentransfer zu den Versicherungen<br />

stattfinden wird, wurde im Zusammenhang mit den DRG <strong>und</strong> ihrer Einführung<br />

2012 noch nicht abschliessend geklärt. Die Privatspitäler unterliegen nicht<br />

dem Leistungsauftrag, <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung sicherstellen zu müssen, <strong>und</strong> sind<br />

somit auch nicht verpflichtet, Patienten mit einem allgemeinversicherten Status<br />

zu behandeln. Dadurch können sie sich auf lukrative Bereiche konzentrieren<br />

(Stichwort: Rosinenpickerei) <strong>und</strong> müssen nicht <strong>die</strong> gesamte Palette an Behandlungen<br />

anbieten. In gewissen Kantonen wie beispielsweise auch dem Kanton<br />

Luzern kommt der Privatklinik St. Anna, <strong>die</strong> zur Hirslanden Gruppe gehört,<br />

ein Leistungsauftrag <strong>des</strong> Kantons im Bereich der Neurochirurgie zu, wodurch<br />

das Privatspital das Recht auf kantonale Subventionen erhält. Die angesprochene<br />

Patientenauswahl, <strong>die</strong> oft auch als Rosinenpickerei bezeichnet, von den<br />

Privatspitälern aber immer bestritten wird, geschieht dennoch. Privatspitäler<br />

rechtfertigen sich in <strong>die</strong>sem Zusammenhang mit den fehlenden kantonalen<br />

Subventionsbeiträgen. Durch <strong>die</strong> neue Spitalfinanzierung wird <strong>die</strong>ses Argument<br />

nicht mehr greifen, da sowohl öffentliche als auch private Spitäler, <strong>die</strong><br />

sich um einen Spitallistenplatz (Listenspital) bewerben <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen zugesprochen<br />

erhalten, neu in den Genuss einer kantonalen Subvention kommen werden.<br />

Die Frage, <strong>die</strong> sich in <strong>die</strong>sem Zusammenhang stellen wird, lautet: Wird ein<br />

Listenspital, welches bis anhin zu den öffentlichen, öffentlich subventionierten<br />

oder privaten Spitälern gezählt wurde, zur Gr<strong>und</strong>versorgung verpflichtet werden?<br />

Vermutlich schon, da das Listenspital <strong>die</strong>jenigen Leistungen sicherzustellen<br />

hat, <strong>die</strong> im Rahmen der stationären Versorgung der kantonalen Wohnbevölkerung<br />

erforderlich sind. Die im Versorgungsbericht aufgeführten 27 Leistungsbereiche,<br />

<strong>die</strong> in r<strong>und</strong> 80 Leistungsgruppen weiter unterteilt werden, stellen<br />

<strong>die</strong> Basis für <strong>die</strong> Leistungsaufträge <strong>und</strong> demzufolge auch für <strong>die</strong> Evaluation<br />

der Spitäler dar. 43 Für <strong>die</strong> zahlreichen Leistungsgruppen werden unterschiedliche<br />

Auflagen wie Min<strong>des</strong>tfallzahlen, Führung eines Notfalls oder Verknüpfung<br />

43 Die Bildung der Leistungsgruppen basiert auf einer medizinischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Beurteilung der einzelnen<br />

DRG.<br />

119


mit bestimmten anderen Leistungsgruppen definiert. Den Kantonen kommt <strong>die</strong><br />

Aufgabe der Evaluation <strong>und</strong> Auswahl der möglichen Listenspitäler zu, wobei<br />

im Sinne <strong>des</strong> Krankenversicherungsgesetzes nach den Kriterien Qualität <strong>und</strong><br />

Wirtschaftlichkeit geprüft wird, ob sich ein Spital für einen Leistungsauftrag<br />

eignet oder nicht. Sie gewährleisten dadurch den Zugang zur Gr<strong>und</strong>versorgung<br />

<strong>und</strong> können den Rosinenpickern, <strong>die</strong> lediglich <strong>die</strong> lukrativen <strong>und</strong> rentabel „abgebildeten“<br />

Fälle als Listenspital anbieten wollen, entgegenwirken. In Deutschland<br />

konnte <strong>die</strong> Rosinenpickerei nicht abschliessend nachgewiesen werden.<br />

Gemäss der Argumentation seitens der Ärzteschaft würden Engpässe bei den<br />

Bettenzahlen <strong>und</strong> beim Personal zu Abweisungen von Patienten führen, was<br />

jedoch nichts mit dem Versichertenstatus <strong>des</strong> Patienten zu tun habe.<br />

Welche Implikationen verbergen sich hinter den DRG <strong>und</strong> der gleichzeitigen<br />

Einführung der freien Spitalwahl für alle (allg., HP, P) Patienten? Heute werden<br />

Leistungen der OKP, <strong>die</strong> von allgemeinversicherten Patienten in öffentlichen<br />

<strong>und</strong> öffentlich subventionierten Spitälern <strong>des</strong> Wohnkantons in Anspruch genommen<br />

werden, durch <strong>die</strong> duale Finanzierung (wobei seitens der Patienten<br />

auch Franchise <strong>und</strong> Selbstbehalt zum Tragen kommen) abgegolten. Wird eine<br />

notwendige Behandlung in den obgenannten Institutionen <strong>des</strong> Wohnkantons<br />

nicht angeboten bzw. besteht eine Notwendigkeit aus medizinischen Gründen44<br />

, so kommt das duale System unter der Bedingung, dass <strong>die</strong> ausserkantonale<br />

Institution zu den öffentlichen oder öffentlich subventionierten Spitälern<br />

(A-Liste) gehört, dennoch zum Tragen. Art. 41 Abs. 3 KVG regelt <strong>die</strong>s folgendermassen:<br />

„... so übernimmt der Wohnkanton <strong>die</strong> Differenz zwischen den in<br />

Rechnung gestellten Kosten <strong>und</strong> den Tarifen <strong>des</strong> betreffenden Spitals für Einwohner<br />

<strong>und</strong> Einwohnerinnen <strong>des</strong> Kantons.“ Tritt keiner der beiden erläuterten<br />

Ausnahmen ein, so werden <strong>die</strong> Kosten einer ausserkantonalen Behandlung<br />

eines Allgemeinversicherten (Gr<strong>und</strong>versicherung) weder durch <strong>die</strong> Krankenkasse<br />

noch den Kanton übernommen. Hinsichtlich <strong>des</strong> stationären Aufenthalts<br />

in einer Privatklinik herrschen heute folgende Gr<strong>und</strong>sätze: Ein allgemeinversicherter<br />

Patient ohne Zusatzversicherung, der folglich „nur“ gr<strong>und</strong>versichert ist,<br />

44 Medizinische Gründe liegen vor, wenn 1. eine adäquate medizinische Behandlung im Kanton <strong>des</strong> zivilrechtlichen<br />

Wohnsitzes nicht verfügbar ist oder 2. bei einem Notfall. Ein Notfall liegt vor, wenn der Zustand der zu behandelnden<br />

Person es nicht erlaubt, <strong>die</strong>se in ein Spital <strong>des</strong> Kantons <strong>des</strong> zivilrechtlichen Wohnsitzes zu transportieren. Der Notfall<br />

dauert so lange an, bis eine Rückführung in den Kanton <strong>des</strong> zivilrechtlichen Wohnsitzes aus medizinischen Gründen<br />

möglich ist. (Kantonsarzt Luzern, 2010)<br />

120


kommt nicht in den Genuss eines stationären Aufenthalts in einem Privatspital,<br />

es sei denn, er entscheidet sich, <strong>die</strong> Kosten selber zu tragen, wodurch er den<br />

Status <strong>des</strong> „Selbstzahlers“ erhält. Existiert aber zwischen einem Privatspital <strong>und</strong><br />

dem Kanton eine Leistungsvereinbarung bezüglich einer spezifischen Leistung,<br />

so wird auch dem Allgemeinversicherten Einlass gewährt. Ist ein allgemeinver-<br />

sicherter Patient aber zusatzversichert, so kann er sich je nach seinen finanziel-<br />

len Möglichkeiten (Selbstbehalt) für <strong>die</strong> allgemeine, <strong>die</strong> halbprivate oder <strong>die</strong><br />

private Abteilung eines Privatspitals entscheiden. Der Selbstbehalt variiert in<br />

Abhängigkeit <strong>des</strong> Zusatzversicherungsmodells <strong>und</strong> der Versicherung. 45<br />

Für <strong>die</strong> freie Spitalwahl muss der Allgemeinversicherte heute eine Zusatzversi-<br />

cherung abschliessen. Dank der zukünftigen freien Spitalwahl werden <strong>die</strong> Be-<br />

handlungskosten (KVG-Leistungen) allgemeinversicherter Patienten, <strong>die</strong> sich<br />

freiwillig für ein ausserkantonales Spital (Listenspital) entscheiden <strong>und</strong> deren<br />

Behandlungen nicht der Kategorie „aus medizinischen Gründen“ angehören,<br />

nach Art. 41 Abs. 1bis KVG von der Versicherung <strong>und</strong> dem Kanton folgender-<br />

massen übernommen „... höchstens nach dem Tarif, der in einem Listenspital<br />

<strong>des</strong> Wohnkantons für <strong>die</strong> betreffende Behandlung gilt.“ Nach Rücksprache mit<br />

einem Arzt der Hirslanden Klinik St. Anna werden sowohl das Privatspital als<br />

auch das öffentliche Spital <strong>die</strong> Möglichkeit erhalten, mit einem beschränkten<br />

Behandlungsangebot am Ausschreibungsverfahren für eine Listenzugehörig-<br />

keit teilzunehmen. Vermutet wird, dass <strong>die</strong> Auswahl <strong>des</strong> Angebotes seitens der<br />

Spitäler nach den Kriterien Wirtschaftlichkeit, Fallzahlen <strong>und</strong> optimalste Abbil-<br />

dung im Rahmen der DRGs geschehen wird. Weiter war der befragte Arzt der<br />

Meinung, dass dem Zusatzversichertenstatus eine geringere Bedeutung zu-<br />

kommen wird als bisher, da alle Patienten sowohl <strong>die</strong> freie Spitalwahl genies-<br />

sen als auch im Privatspital (falls Listenspital) stationär behandelt werden kön-<br />

nen. Er fügte aber gleichzeitig hinzu, dass der Zusatzversichertenstatus im<br />

Hinblick auf <strong>die</strong> ärztlichen Honorare, <strong>die</strong> bei zusatzversicherten Patienten für<br />

den Arzt höher ausfallen als bei Allgemeinversicherten, dennoch keine unter-<br />

geordnete Rolle spielen wird. Demzufolge wird <strong>die</strong> Gleichbehandlung der<br />

Gr<strong>und</strong>versicherten <strong>und</strong> Zusatzversicherten auch im Rahmen der neuen Spital-<br />

finanzierung nicht gewährleistet sein.<br />

45 Bei der EGK-Ges<strong>und</strong>heitskasse beispielsweise muss ein Selbstbehalt von 25 % bis max. CHF 4000.– pro Jahr für <strong>die</strong><br />

halbprivate Abteilung <strong>und</strong> 35 % Selbstbehalt bis max. CHF 8000.– pro Jahr für <strong>die</strong> private Abteilung entrichtet werden.<br />

(EGK-Ges<strong>und</strong>heitskasse, 2010)<br />

121


Die zusatzversicherten Patienten sind den Privatspitälern heute deutlich lieber,<br />

<strong>die</strong>s aufgr<strong>und</strong> der mit den Versicherungen ausgehandelten Zusatzversicherungstarifen,<br />

<strong>die</strong> teilweise der Quersubventionierung der OKP-Taxen, aber<br />

auch der Erzielung zusätzlicher Einnahmen <strong>die</strong>nen. Die KVG-Leistungen, <strong>die</strong><br />

an öffentlichen <strong>und</strong> öffentlich subventionierten Spitälern durch allgemein-,<br />

halbprivat- <strong>und</strong> privatversicherte Patienten in Anspruch genommen <strong>und</strong> durch<br />

<strong>die</strong> OKP-Taxen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kantonsbeiträge finanziert werden, decken <strong>die</strong> Kosten<br />

nicht, weshalb auch hier <strong>die</strong> Quersubventionierung aus den Zusatzversichertenerträgen<br />

an der Tagesordnung ist. Wie bereits erläutert wurde, werden<br />

<strong>die</strong> Tarife der Zusatzversicherungen zwischen den Leistungserbringern <strong>und</strong><br />

den Versicherungen ausgehandelt, weshalb eine sehr grosse Bandbreite an<br />

Tarifen <strong>und</strong> Tarifstrukturen (Einzelleistungen, Pauschalen etc.) für <strong>die</strong>selbe<br />

Leistung anzutreffen ist.<br />

122<br />

Abbildung 5: Finanzierung der Leistungen öffentlicher Spitäler <strong>und</strong> privater Spitäler<br />

(Gyger, 2003, S. 29)<br />

Da <strong>die</strong> Privatspitäler heute nicht verpflichtet sind, <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung sicherzustellen<br />

(im Gegensatz zu öffentlichen <strong>und</strong> öffentlich subventionierten Spitälern),<br />

können sie sich auf <strong>die</strong> lukrativen Fachgebiete konzentrieren <strong>und</strong> müssen<br />

nicht jeden versicherten Patienten behandeln. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang erregt<br />

<strong>die</strong> Tatsache, dass eine bedeutende Zahl an Kaderärzten aus dem öffentlichen<br />

Spitalwesen abgewandert ist, <strong>die</strong> Gemüter der Kaderärzte <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Versorgungswesens. Die Abwanderung hat zur Folge, dass <strong>die</strong> professionellen<br />

Fachkräfte mit hoher Expertise, <strong>die</strong> in öffentlichen Spitälern ausgebildet wurden,<br />

ihrer Pflicht der Nachwuchsausbildung nicht nachkommen <strong>und</strong> ihre Fachkompetenz<br />

nicht der breiten Öffentlichkeit, <strong>die</strong> allgemeinversichert ist, zur<br />

Verfügung stellen (Stichwort: strategische Patientensegmentierung). Vor allem<br />

Letzteres birgt <strong>die</strong> Gefahr sozialer <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlicher Ungleichheiten, da<br />

insbesondere Patienten aus der Unterschicht sich eine Zusatzversicherung nicht


leisten können. Hinsichtlich der Ausbildungspflicht der Assistenzärzte oder<br />

Studenten ist in Privatkliniken im Gegensatz zu öffentlichen Spitälern ein ver-<br />

schwindend kleiner Anteil an Assistenzärzten tätig. Die Ges<strong>und</strong>heitsökonomen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Politiker, <strong>die</strong> sich für <strong>die</strong> Einführung der DRG ausgesprochen haben,<br />

sind der Meinung, dass sich <strong>die</strong>s ab 01.01.2012 ändern wird.<br />

Wettbewerb, Transparenz <strong>und</strong> Gleichberechtigung sollen erreicht werden, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s scheinen <strong>die</strong> Massnahmen zu sein: <strong>die</strong> freie Spitalwahl (Listenspitäler), <strong>die</strong><br />

bislang nur zusatzversicherten Patienten ermöglicht wurde, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geltung<br />

der neuen Finanzierungsregeln bzw. der leistungsbezogenen Fallpauschalen<br />

DRG für KVG-Leistungen auf allen Abteilungen (allgemein-, halbprivat- <strong>und</strong><br />

privatversicherte), <strong>die</strong> dazu führen sollen, dass <strong>die</strong> Zusatzversicherungen keine<br />

KVG-Leistungen mehr finanzieren bzw. quersubventionieren müssen. Eine<br />

solche Quersubventionierung sollte nach der Einführung der DRG nicht mehr<br />

vonnöten sein, da je<strong>des</strong> Listenspital in den Genuss von Fallpauschalen inkl.<br />

kantonalen Subventionen, dem Ertrag aus OKP-Taxen <strong>und</strong> Investitionskosten<br />

kommen wird, was als klare Ansage für <strong>die</strong> Gleichstellung der öffentlichen <strong>und</strong><br />

privaten Spitäler betrachtet wird. Die beiden Abbildungen zeigen <strong>die</strong> Finanzie-<br />

rung der Leistungen nach der Einführung der DRG auf, wobei beachtet werden<br />

muss, dass gemeinschaftliche Leistungen <strong>und</strong> Lehre <strong>und</strong> Forschung auch nach<br />

dem 01.01.2012 von den Kantonen bzw. der Trägerschaft <strong>des</strong> Spitals finanziert<br />

werden. Es scheint folglich, dass <strong>die</strong> gemeinwirtschaftlichen Leistungen auch<br />

weiterhin vom Kanton bzw. der Trägerschaft <strong>des</strong> Spitals übernommen werden<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Ausgaben für Lehre <strong>und</strong> Forschung zu Lasten <strong>des</strong> Kantons bzw. der<br />

Trägerschaft <strong>des</strong> Spitals gehen. Dies würde bedeuten, dass öffentliche <strong>und</strong><br />

öffentlich subventionierte Spitäler, <strong>die</strong> nicht als Listenspital gelistet werden, <strong>die</strong><br />

genannten Leistungen dennoch als Subventionen seitens der Kantone finanziert<br />

erhalten.<br />

123


Abbildung 6: Finanzierung der Leistungen öffentlicher Spitäler <strong>und</strong> privater Spitäler nach Einführung<br />

der DRG<br />

(Gyger, 2003, S. 29 & CSS Versicherung, 2010, S. 5)<br />

Inwiefern <strong>die</strong> Ernennung zum Listenspital mit dem Leistungsauftrag der Si-<br />

cherstellung der Gr<strong>und</strong>versorgung einhergeht, steht bislang noch nicht fest. Die<br />

heutige Meinung „allgemeinversichert ohne Zusatz = nicht lukrativ, da keine<br />

kantonalen Subventionen = keine Behandlung“ wird im Zuge der DRG-<br />

Einführung hoffentlich keine Berechtigung mehr haben. Dass <strong>die</strong>se Ansicht<br />

aber bis anhin der Realität entsprach, ist beispielsweise anhand der Zahlen <strong>des</strong><br />

Versicherungs-Mix der Privatklinik Pyramide am See ersichtlich: 52% privat,<br />

38% halbprivat, 9% allgemein (Klinik Pyramide am See, 2009). Man könnte<br />

glauben, dass ab 2012 Privatspitäler, <strong>die</strong> auf der Spitalliste aufgeführt sind,<br />

Sockelbeiträge der Kantone zu schätzen wissen. Dem ist aber nicht so, was<br />

anhand der folgenden Aussage, <strong>die</strong> auf der Homepage der Privatklinik Pyramide<br />

Schwerzenbach, Tochtergesellschaft der Privatklinik Pyramide am See in<br />

Zürich, ersichtlich wird: „Doch was zunächst wie <strong>die</strong> ersehnte Erleichterung für<br />

<strong>die</strong> stetig steigenden Ges<strong>und</strong>heitskosten aussieht, ist bei näherer Betrachtung<br />

gerade für Privatkliniken, <strong>die</strong> sich durch einen kompromisslosen Fokus auf<br />

Qualität <strong>und</strong> Effizienz im Markt etabliert haben, ein Trugschluss. Wer Sockelbeiträge<br />

beanspruchen will, muss für einen Listenplatz kandi<strong>die</strong>ren. Der Entscheid<br />

über <strong>die</strong> Aufnahme als Listenspital obliegt allerdings den kantonalen<br />

Ges<strong>und</strong>heitsdirektionen – den gleichen Instanzen also, welche selbst auch öffentliche<br />

Spitäler führen. Darüber hinaus sind <strong>die</strong> Aufnahmekriterien gerade<br />

für kleinere Kliniken wie <strong>die</strong> Klinik Pyramide mit grossen unternehmerischen<br />

Risiken verb<strong>und</strong>en. Und sie widersprechen der Philosophie der freien Medizin.<br />

Denn ein Privatspital, das einen Listenplatz erhält, behält zwar weiterhin seine<br />

private Trägerschaft. Doch der Kanton wird hier das Sagen haben – nicht wie<br />

bis anhin der Verwaltungsrat, nicht <strong>die</strong> Ärzte, nicht <strong>die</strong> Aktionäre. Für den<br />

Patienten ist <strong>die</strong>s gleichbedeutend mit dem Ende der freien, patientenorientier-<br />

124


ten Medizin. Am Ende entscheidet nicht mehr der Arzt zum Wohl <strong>des</strong> Patienten,<br />

sondern ein Spitalmanager im Sinne der klaren Vorgaben, <strong>die</strong> er zu erzielen<br />

hat. Der Verlierer ist der Patient. Private Medizin ist kein Massengeschäft. So<br />

wird sich <strong>die</strong> Klinik Pyramide auch künftig auf Ihre Rolle als Nischenanbieter<br />

konzentrieren: als Vertragsspital <strong>und</strong> in partnerschaftlicher Zusammenarbeit<br />

mit den Versicherern.“ (Klinik Pyramide Schwerzenbach, 2011). Betrachtet man<br />

<strong>die</strong> Zusammensetzungen der Geschäftsleitung <strong>und</strong> <strong>des</strong> Verwaltungsrats, so ist<br />

eine deutliche Dominanz seitens der Ökonomen <strong>und</strong> nicht der Ärzteschaft zu<br />

verzeichnen. Gleichzeitig kommt auf der Homepage <strong>die</strong> Jargonangleichung<br />

exemplarisch zum Ausdruck <strong>und</strong> erhebt <strong>die</strong> Abteilungen für Privatversicherte<br />

<strong>und</strong> Selbstzahler (ärztliche Versorgung ab 2012 ausschliesslich durch <strong>die</strong> Pyramide<br />

am See) zur „First Class“ <strong>und</strong> <strong>die</strong> Abteilung für Halbprivatversicherte (ab<br />

2012 ausschliesslich durch <strong>die</strong> Klinik Pyramide Schwerzenbach) zur „Business<br />

Class“, was <strong>die</strong> Schlussfolgerung zulässt, dass <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versicherten Platz in<br />

der „Economy Class“ nehmen dürfen, eine Klasse, <strong>die</strong> aber in den beiden Kliniken<br />

nicht vorzufinden ist, es sei denn, man erkauft sich einen Upgrade <strong>und</strong><br />

wird zum Selbstzahler. Der Direktor der Klinik ist Beat Huber, Dipl.<br />

EHL/Oec. 46 , der gleichzeitig <strong>die</strong> Funktion <strong>des</strong> Gründers <strong>und</strong> Präsidenten von<br />

The Swiss Leading Hospitals47 inne hat. Im Rahmen eines Interviews äussert er<br />

sich zur Frage, was ein Privatspital von einem öffentlichen Spital unterscheide,<br />

folgendermassen: „Die meisten Privatkliniken sind klein, übersichtlich <strong>und</strong><br />

ruhig. Es herrscht eine familiäre <strong>und</strong> persönliche Atmosphäre, <strong>die</strong> sich in keiner<br />

Art <strong>und</strong> Weise mit einem Grossspital vergleichen lässt, das von der Hektik der<br />

Notfallchirurgie, der grossen Bettenzahl <strong>und</strong> dem dauernden Personalwechsel<br />

geprägt ist. (…) Der Patient wählt einen Arzt mit langer Berufserfahrung, der<br />

nach hohen Akkreditierungsstandards an <strong>die</strong> Klinik geb<strong>und</strong>en ist, der ihn von<br />

der ersten präoperativen bis zur letzten postoperativen Konsultation persönlich<br />

betreut.“ (Schumacher, 2008, S. 10). Dass <strong>die</strong>se Ärzte alle in öffentlichen Spitälern<br />

ausgebildet wurden, dank dem breiten Patientengut an <strong>die</strong>sen Spitälern an<br />

Erfahrung gewonnen haben <strong>und</strong> der Personenwechsel unter anderem mit den<br />

Abwerbungen der Kaderärzte der öffentlichen Spitäler zusammenhängt, er-<br />

46 dipl. EHL: Abschluss der Hotelfachschule Lausanne<br />

47 Der 1999 gegründete Verband «Swiss Leading Hospitals» (SLH) umfasst 19 Privatspitäler. Die SLH definieren sich<br />

primär über ein anspruchsvolles Qualitätsmanagement-System, das regelmässig überprüft wird. Sie akkreditieren<br />

ausschliesslich Ärzte, <strong>die</strong> mehrere Jahre Oberarzt an einem Ausbildungsspital waren <strong>und</strong> min<strong>des</strong>tens zehn Jahre<br />

Erfahrung in der freien Praxis aufweisen. (Schumacher, 2008, S. 10)<br />

125


wähnt Herr Huber aber mit keinem Wort. Gemäss Beat Huber nehmen r<strong>und</strong><br />

75% der SLH-Mitglieder Allgemeinpatienten auf, wenn auch in sehr unterschiedlichen<br />

Anteilen, was beispielsweise im Qualitätsbericht 2011 der Hirslanden<br />

Privatklinikgruppe anschaulicher dargestellt wird.<br />

Die neue Spitalfinanzierung beschäftigt vor allem <strong>die</strong> Spitäler, Kantone <strong>und</strong><br />

Versicherungen bereits seit einigen Jahren <strong>und</strong> wird zu bedeutenden Veränderungen<br />

innerhalb <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens führen, weshalb das neue Finanzierungsmodell<br />

nach DRG <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit angestrebte Gleichstellung aller Schweizer<br />

Spitäler im Rahmen <strong>die</strong>ser Arbeit ausführlicher betrachtet werden muss.<br />

Obwohl das Gesetz gerade in Kraft getreten ist, herrscht dennoch grosse Unsicherheit<br />

<strong>und</strong> Unübersichtlichkeit hinsichtlich der Funktionsweisen <strong>und</strong> der<br />

reellen Auswirkungen der Fallpauschalen auf <strong>die</strong> Tätigkeitsbereiche der zahlreichen<br />

Akteure. Die Einführung der DRG wurde in der Schweiz am 01.01.2012<br />

realisiert, wobei einzelne Parameter noch nicht im vollen Umfang greifen. Erste<br />

Benchmark-Ergebnisse hinsichtlich Qualität <strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit der Spitäler<br />

werden erst nach 2012 vorliegen. Verzögerungen wie <strong>die</strong>se haben dazu geführt,<br />

dass das Parlament den Kantonen bewusst drei Jahre (01.01.2012−01.01.2015)<br />

für <strong>die</strong> Spitalplanung bzw. das Erstellen der Spitallisten eingeräumt hat. Hinsichtlich<br />

der Auswirkungen der DRGs auf <strong>die</strong> Versorgungsqualität <strong>und</strong> der<br />

Arbeitsbedingungen im Krankenhauswesen werden sich sowohl Ges<strong>und</strong>heitsökonomen<br />

als auch <strong>die</strong> Ärzteschaft gedulden müssen, was bereits anhand<br />

der empirischen Erkenntnisse aus Deutschland, <strong>die</strong> auf longitudinalen Stu<strong>die</strong>n<br />

beruhen, exemplarisch ersichtlich wurde.<br />

2.4.3.1 Auswirkungen der DRGs auf <strong>die</strong> Ärzteschaft − empirische Erkenntnisse<br />

Die bereits in Deutschland vor <strong>und</strong> während der DRG-Einführung geäusserten<br />

Befürchtungen bezüglich eines vom Gesetzgeber inten<strong>die</strong>rten Wettbewerbs<br />

zwischen den Krankenhäusern, der zum Ziel <strong>die</strong> Effizienzsteigerung von Krankenhäusern<br />

hat, der aber negative Effekte in Bezug auf <strong>die</strong> Verhaltensanreize<br />

der Ärzteschaft <strong>und</strong> Pflege zur Folge haben <strong>und</strong> sich so wiederrum auf <strong>die</strong><br />

Patientenversorgung auswirken könnte, gleichen sehr stark den gegenwärtig<br />

verlautbaren Ängsten innerhalb <strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens hinsichtlich<br />

der bevorstehenden DRG-Einführung im Januar 2012 (Lüngen & Lauterbach,<br />

2003, S. 42). Die in Deutschland geführten Diskussionen r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> DRG <strong>und</strong><br />

126


<strong>die</strong> befürchteten Folgen <strong>und</strong> Implikationen ihrer Einführung auf der Mikroebe-<br />

ne, also auf Ebene der Leistungserbringung im Krankenhaus <strong>und</strong> insbesondere<br />

auf <strong>die</strong> darin tätigen Akteure in Bezug auf ihre Handlungsmaxime, gelten als<br />

der Bezugspunkt für <strong>die</strong> im Rahmen <strong>des</strong> WAMP 48 -Projektes durchgeführten<br />

qualitativen <strong>und</strong> quantitativen Befragungen während den Jahren 2003 bis 2008<br />

(Braun et al., 2010, S. 42). Diese Stu<strong>die</strong> fokussiert auf <strong>die</strong> Auswirkung der DRG<br />

auf <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Versorgungsqualität, wobei im Rahmen<br />

der qualitativen Befragung, der Experteninterviews, weitergehende Implikationen<br />

in Erfahrung gebracht werden konnten, wie beispielsweise <strong>die</strong> Stärkung<br />

<strong>des</strong> Wirtschaftlichkeitsgebots zulasten <strong>des</strong> Bedarfsprinzips <strong>und</strong> Versorgungsgebots<br />

oder aber <strong>die</strong> konstante Abwägung zwischen betriebswirtschaftlicher<br />

<strong>und</strong> medizinischer demzufolge auch berufsethischer Handlungslogik, was vor<br />

allem für <strong>die</strong> hier vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung ist. Von der<br />

Theorie aus betrachtet stehen <strong>die</strong> Forschungsprämissen <strong>des</strong> WAMP-Projektes<br />

im engen Zusammenhang mit der getätigten Forschung im Bereich der <strong>Ökonomisierung</strong><br />

der Arbeit im Krankenhaus (Kühn, 2004; Simon, 2001). Die<br />

WAMP-Projektverantwortlichen kamen bezüglich der aus der Ökonomie <strong>und</strong><br />

der Politik getriebenen Einführung der DRG zum Schluss, dass <strong>die</strong> bis anhin<br />

veröffentlichten empirischen Erkenntnisse <strong>die</strong> befürchteten negativen Auswirkungen<br />

auf <strong>die</strong> Versorgungsstruktur <strong>und</strong> -leistungen im Krankenhaus, <strong>die</strong> seit<br />

der Einführung der DRG <strong>und</strong> seit „Scharfstellung“ der DRG im Jahre 2010<br />

(geplant war 2009, aufgr<strong>und</strong> einer Gesetzesänderung aber auf 2010 verschoben)<br />

erwartet werden, noch nicht ausreichend erforscht bzw. abgebildet wurden. Die<br />

aus dem WAMP-Projekt resultierenden Erkenntnisse sind vielfältig <strong>und</strong> für <strong>die</strong><br />

weitere Forschung von grossem Interesse. Auf ein dezi<strong>die</strong>rtes Forschungsergebnis,<br />

das im direkten Zusammenhang mit der Forschungsfrage <strong>die</strong>ser Dissertation<br />

steht, soll nachfolgend eingegangen werden. Hinsichtlich der Annahme,<br />

dass DRG bei Pflegefachkräften <strong>und</strong> Ärzten das traditionelle berufliche Selbstverständnis<br />

infrage stellt, kam das WAMP-Forschungsteam zu folgenden Resultaten:<br />

Fast 100% der Pflegefachkräfte wollen Patienten mitentscheiden lassen,<br />

in der Praxis ist <strong>die</strong>s nur bei 49% der Fall. 95% der Fachkräfte stimmen zu,<br />

48 WAMP steht für Wandel von Medizin <strong>und</strong> Pflege im DRG-System. Es handelt sich dabei um ein Kooperationsprojekt<br />

der Arbeitsgruppe Public Health <strong>des</strong> Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung <strong>und</strong> <strong>des</strong> Zentrums für Sozialpolitik<br />

der Universität Bremen. Das Resultat aus <strong>die</strong>ser Stu<strong>die</strong> ist eine sozialwissenschaftliche Längsschnittsanalyse der<br />

Auswirkungen <strong>des</strong> DRG-Systems auf den pflegerischen <strong>und</strong> medizinischen Dienstleistungsprozess <strong>und</strong> <strong>die</strong> Versorgungsqualität<br />

im Krankenhaus (siehe http://www.wamp-drg.de/).<br />

127


dass emotionale <strong>und</strong> soziale Zuwendung zur Behandlung gehören, wobei <strong>die</strong>se<br />

nur bei 53% „ausreichend“ stattfinden. Nur 16% der Ärzteschaft arbeiten in<br />

Kliniken, wo <strong>die</strong> Rationierung von Leistungen voll abgelehnt wird. 80-90%<br />

erachten <strong>die</strong> soziale <strong>und</strong> emotionale Zuwendung zu den Patienten als wichtig,<br />

<strong>die</strong> Praxis jedoch zeigt ein anderes Bild – „eher nicht“ oder „gar nicht“ sagten<br />

34% (2004), 39% (2005) <strong>und</strong> 36% (2007) (Braun et al., 2010, S. 17 f.). Anhand der<br />

quantitativen Datenerfassung konnte weiter gezeigt werden, dass 80% der<br />

Patienten, 78% der Ärzte <strong>und</strong> 87% der Pflegefachkräfte einer Nachrangigkeit<br />

wirtschaftlicher Erwägungen „tendenziell“ zustimmen, wohingegen lediglich<br />

31% der Ärzte, also ein Drittel, <strong>und</strong> 46% der Pflegekräfte, also <strong>die</strong> Hälfte, der<br />

Nachrangigkeit der Wirtschaftlichkeit „voll“ zustimmen, was von einer deutlichen<br />

Normverunsicherung einer grossen Mehrheit der Ärzteschaft <strong>und</strong> der<br />

Hälfte der Pflege zeugt. Die Interviews haben eine weitere Feinheit ans Licht<br />

gebracht, anhand welcher ersichtlich wurde, dass „eine zunehmende Integration<br />

gewinnwirtschaftlicher Erwägungen in das berufliche Selbstverständnis<br />

über alle Ebenen der ärztlichen <strong>und</strong> pflegerischen Hierarchie hinweg zu beobachten<br />

ist.“ (Braun et al., 2010, S. 18) In Bezug auf das berufsethische Verhalten<br />

auf der Mikroebene <strong>und</strong> der teils gegenläufigen Entwicklungen hinsichtlich<br />

der Optimierung der Versorgungspfade <strong>und</strong> der Strukturierung der Behandlungsabläufe,<br />

also in Bezug auf <strong>die</strong> persistente Durchdringung <strong>und</strong> <strong>Ökonomisierung</strong><br />

<strong>des</strong> Versorgungswesens mithilfe von Rationalisierungsmassnahmen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Prinzipien <strong>und</strong> Modellen, wird <strong>die</strong> Vermutung angestellt,<br />

dass es auch heute noch eine bedeutende Zahl an Ärzten <strong>und</strong> Pflegekräften<br />

gibt, <strong>die</strong> ihr Handeln nach einer bedarfsgerechten Versorgung <strong>und</strong> nicht nach<br />

dem Wirtschaftlichkeitsgebot ausrichten, da ihnen noch Freiräume gewährt<br />

werden. Gleichzeitig könnte es sein, dass <strong>die</strong> traditionellen <strong>und</strong> steilen Chefarzt-Hierarchien<br />

bislang dem <strong>Ökonomisierung</strong>sdruck standgehalten haben<br />

oder dass <strong>die</strong> kognitiven Dissonanzen von berufsethischen <strong>und</strong> professionellen<br />

Handlungsnormen <strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit sich noch nicht zugunsten letzterer<br />

entschieden haben (Braun et al., 2010, S. 15). Diese Arbeit soll mit einem qualitativen<br />

Forschungsansatz (Experteninterviews) anhand der Erkenntnisse aus den<br />

Interviews mit Kaderärzten öffentlicher <strong>und</strong> privater Spitäler einen wertvollen<br />

Beitrag zur Erkennung <strong>und</strong> zum Verständnis <strong>des</strong> Dilemmas der kognitiven<br />

Dissonanzen leisten, das sich Stayer, Rückkehrer <strong>und</strong> Leaver gleichermassen<br />

ausgesetzt sehen. Auch <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Anpassung an ökonomischen Paradigmen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Verankerung <strong>des</strong> Wirtschaftlichkeitsgebots in das berufsethische<br />

128


Selbstverständnis <strong>des</strong> Ärzteschaft, ganz dem neuen Geist <strong>des</strong> Kapitalismus<br />

entsprechend, induzierte Transformation ihrer ethischen, professionellen <strong>und</strong><br />

stan<strong>des</strong>mässigen Handlungsmaximen gehört zum Erkenntnisinteresse <strong>die</strong>ser<br />

Arbeit.<br />

Im Rahmen der Interviewauswertung war <strong>die</strong> bevorstehende Einführung der<br />

DRG in der Schweiz (2012) <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehenden Bedenken hinsicht-<br />

lich der bedarfsgerechten Versorgung <strong>und</strong> der Einhaltung ethischer <strong>und</strong> profes-<br />

sioneller Handlungsnormen im Laufe der Leistungserbringung von zentraler<br />

Bedeutung. Die befürchteten Schwierigkeiten in Bezug auf das berufsethische<br />

Verhalten der Leistungserbringer (Mikroebene) wurde nicht anhand einer<br />

Kombination qualitativer <strong>und</strong> quantitativer, sondern anhand der qualitativen<br />

Methodik der Experteninterviews erforscht. Der Umfang der DRG-Problematik<br />

konnte nicht im selben Masse abgebildet werden, wie <strong>die</strong>s bei der WAMP-<br />

Stu<strong>die</strong> der Fall war, da noch weitere Kategorien, <strong>die</strong> von einer Vermarktlichung<br />

der Versorgungsinstitutionen <strong>und</strong> einer <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> berufsethischen<br />

Verständnisses der Ärzteschaft <strong>und</strong> der Kaderärzte im Besonderen zeugen, im<br />

Rahmen der Interviewauswertungen zum Vorschein kamen <strong>und</strong> in Kapitel 5<br />

erläutert werden.<br />

Die Ausführungen zu den Rahmenbedingungen <strong>und</strong> strukturellen Transformationsprozessen<br />

innerhalb <strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> <strong>die</strong> Positionsdefinition<br />

der darin vertretenen Akteure sollen als gr<strong>und</strong>legen<strong>des</strong> Hintergr<strong>und</strong>wissen<br />

betrachtet werden, wobei <strong>die</strong> Interviewaussagen <strong>und</strong> ihre transversale<br />

Lektüre essentiell zum Verständnis <strong>des</strong> ethnographischen Fel<strong>des</strong> <strong>und</strong><br />

den darin stattfindenden Transformationsprozessen aus Sicht von Zeitzeugen<br />

<strong>und</strong> Direktbetroffenen beitragen werden, weshalb der Kernbereich <strong>die</strong>ser Arbeit<br />

<strong>die</strong> aus den Interviewauswertungen gewonnen Erkenntnisse darstellen.<br />

Im nächsten Kapitel werden das methodische Vorgehen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gro<strong>und</strong>ed<br />

Theory, <strong>die</strong> als methodischer Gr<strong>und</strong>baustein erachtet werden kann, sowie <strong>die</strong><br />

Besonderheiten einer Auftragsforschung <strong>und</strong> das Sampling für <strong>die</strong> Experteninterviews<br />

im Zentrum stehen.<br />

129


130


3 Forschungskonzept<br />

Als ich stu<strong>die</strong>rt habe, stand <strong>die</strong> Frage,<br />

wie viel ein Mensch kosten darf,<br />

gar nicht zur Diskussion.<br />

Daniel S., Chefarzt eines Schweizer Kantonsspitals<br />

Nachfolgend wird das methodische Vorgehen, das bei <strong>die</strong>ser Arbeit Anwendung<br />

fand, erläutert. Die Forschungsfragen r<strong>und</strong> um den Wandel <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Berufsethos <strong>und</strong> <strong>die</strong> zunehmende Abwanderung der Leitenden Ärzte <strong>und</strong><br />

<strong>Chefärzte</strong> aus den öffentlichen Spitalinstitutionen sollen mithilfe der qualitativen<br />

Sozialforschung <strong>und</strong> insbesondere anhand der Gro<strong>und</strong>ed Theory untersucht<br />

werden. Im Vorfeld der qualitativen Untersuchung wurden einfache<br />

quantitative Daten der drei Schweizer Kantonsspitäler <strong>und</strong> der privaten Kliniken<br />

herangezogen. Kapitels 3.1 Forschungsansatz betrachtet <strong>die</strong> qualitative<br />

Sozialforschung, <strong>die</strong> Unterschiede zu den quantitativen Methoden sowie <strong>die</strong><br />

Auftragsforschung. Die Dissertation stellt eine Auftragsforschung dar, bei welcher<br />

der Auftraggeber den Weg <strong>und</strong> den Zugang ins Feld ebnet, welches üblicherweise<br />

der Öffentlichkeit verschlossen bleibt. In Kapitel 3.2 wird ein kurzer<br />

Exkurs in den Symbolischen Interaktionismus vorgenommen <strong>und</strong> anschliessend<br />

folgt <strong>die</strong> Erläuterung der Gro<strong>und</strong>ed Theory, da <strong>die</strong> Paradigmen, <strong>die</strong> hinter<br />

<strong>die</strong>sem Ansatz stehen, <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage der methodischen Herangehensweise<br />

darstellen. Im Weiteren wird in Kapitel 3.2.2, welches den Prozess der Datenerhebung<br />

thematisiert, ein besonderes Augenmerk auf <strong>die</strong> Auswahl der Samples<br />

gelegt. Der rasche Zugang zu den interviewten Ärzten, welche massgeblich zur<br />

Datengenerierung beigetragen haben, ist ein Privileg, welches in erster Linie<br />

dank der Auftragsforschung <strong>und</strong> der Auftraggeberin möglich wurde. Die Datenauswertung<br />

folgt in Kapitel 3.2.3, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Erläuterungen zu den drei bedeutenden<br />

Ko<strong>die</strong>rungsphasen (offenes, axiales <strong>und</strong> selektives Ko<strong>die</strong>ren) nach<br />

Strauss <strong>und</strong> Corbin (1990, S. 61ff) werden im Anschluss an <strong>die</strong>ses Kapitel thematisiert.<br />

Diese Dissertation wird das in der Folge vorgestellte Forschungskonzept nicht<br />

eins zu eins anwenden. Ein zu enges methodisches Vorgehen birgt <strong>die</strong> Gefahr<br />

131


einer zu starken Abstraktion der Realität, welche in einem Konstrukt der empi-<br />

rischen Welt, in der sich der Leser nicht wiedererkennt, resultiert. Das vorge-<br />

stellte Konzept <strong>die</strong>nt als Orientierungsrahmen <strong>und</strong> soll der Gefahr <strong>des</strong> For-<br />

schens um <strong>des</strong> Forschens willen <strong>und</strong> der Versteifung auf theoretische Konstruk-<br />

te entgegenwirken. Wird das Konzept als Kompass genutzt, so kann sicherge-<br />

stellt werden, dass der Fokus der Datenanalyse <strong>und</strong> anschliessenden Auswer-<br />

tung auf den definierten Forschungsfragen liegt.<br />

3.1 Forschungsansatz<br />

Der Forschungsgegenstand wird anhand der qualitativen Methodik der<br />

Gro<strong>und</strong>ed Theory untersucht. Die qualitative <strong>und</strong> quantitative Sozialforschung<br />

existieren heute nebeneinander, <strong>die</strong>s war aber bis vor gut dreissig Jahren noch<br />

nicht der Fall. Die qualitative Forschung musste sich oft den Vorwurf gefallen<br />

lassen, nicht repräsentativ, folglich nicht generalisierbar <strong>und</strong> keine generell<br />

validen Ergebnisse präsentieren zu können. Diese Vorwürfe entstanden<br />

dadurch, dass beispielsweise <strong>die</strong> Stichprobengrösse bei den qualitativen Methoden<br />

oft viel kleiner ausfällt als <strong>die</strong>s bei der Anwendung von quantitativen<br />

Methoden der Fall ist <strong>und</strong> dementsprechend <strong>die</strong> Repräsentativität infrage gestellt<br />

wird.<br />

Wie bereits angesprochen, <strong>die</strong>nten <strong>die</strong> qualitative Sozialforschung <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Gro<strong>und</strong>ed Theory im Besonderen als Gr<strong>und</strong>lage der methodologischen Herangehensweise,<br />

<strong>und</strong> dennoch wurden gewisse nummerische Daten in den Anfängen<br />

der Explorationsphase generiert. Nach Strauss <strong>und</strong> Corbin (1990) steht dem<br />

Gebrauch qualitativer <strong>und</strong> quantitativer Methoden nichts im Wege, dennoch<br />

wird sich der Forscher schwergewichtig für eine der methodischen Herangehensweisen<br />

entscheiden müssen. Will man quantitative Ergebnisse anhand von<br />

qualitativen Daten untermauern, so ist <strong>die</strong>s klar möglich (S. 19). Im Vorfeld<br />

wurden <strong>die</strong> Abwanderungstendenzen auf Stufe Leitender Arzt <strong>und</strong> Chefarzt ab<br />

1998 bis 2008 quantifiziert. Der Versuch, das Profil eines sogenannten „Stayers“<br />

<strong>und</strong> eines „Leavers“ zu ermitteln, wurde unternommen. Zu den Stayern gehören<br />

all jene Ärzte, <strong>die</strong> hinsichtlich demographischer Daten <strong>und</strong> beruflicher<br />

Laufbahn <strong>die</strong>selben oder ähnliche Voraussetzungen besitzen wie <strong>die</strong>jenigen<br />

Ärzte, <strong>die</strong> zu den Leavern gehören, sich aber im Laufe ihrer Karriere entschieden,<br />

den Arbeitsplatz an einem öffentlichen Spital gegen einen im privaten<br />

132


Spitalumfeld einzutauschen. Im Zentrum stand <strong>die</strong> zu klärende Frage, weshalb<br />

Ärzte <strong>die</strong>sen Eintausch vornehmen, folglich abwandern <strong>und</strong> das öffentliche<br />

Spitalwesen verlassen. Anhand der quantitativen Daten wurde teilweise auch<br />

ersichtlich, weshalb der Leitende Arzt oder der Chefarzt das Spital verliessen.<br />

Alle <strong>die</strong>se Informationen wurden selbstverständlich in <strong>die</strong> Datenanalyse mit<br />

einbezogen. Teils standen Pensionierungen an, in anderen Fällen war aber deut-<br />

lich zu erkennen, dass der Weggang mit der Annahme einer neuen Herausfor-<br />

derung an einem privaten Spital zusammenhing. Die Schweizer Kaderärzte der<br />

öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spitäler sind sich nicht fremd, sie lernen sich auf<br />

Ärztekongressen kennen, haben zusammen stu<strong>die</strong>rt oder sich später im Laufe<br />

ihrer Assistenzarzt- <strong>und</strong> Oberarztjahre kennengelernt. Im Laufe der Interviews<br />

haben sich <strong>die</strong> Ärzte auch oft zu ihren Kollegen, <strong>die</strong> meistens bereits im Vorfeld<br />

oder kurz darauf interviewt wurden, geäussert, wobei erstere gerne Vermutungen<br />

zu den Abwanderungsgründen anstellten. Diese Informationen wurden<br />

teilweise <strong>und</strong> äusserst vorsichtig in <strong>die</strong> Interviewauswertung mit einbezogen.<br />

War der Gr<strong>und</strong> für den Weggang anhand der quantitativen Daten nicht ersichtlich,<br />

so wurde der Austausch mit den Personalleitern der jeweiligen Spitäler<br />

gesucht, <strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer langjährigen Erfahrung am Spital erklären konnten,<br />

wohin <strong>die</strong>se Ärzte gingen <strong>und</strong> weshalb sie <strong>die</strong>sen Schritt vornahmen. Dass<br />

<strong>die</strong>se Erklärungen eine subjektive Färbung annahmen, teilweise auch Spekulationen<br />

<strong>und</strong> Vermutungen darstellten, darf nicht ausser Acht gelassen werden.<br />

Viele <strong>die</strong>ser Informationen konnten im Vorfeld der Interviews nummerisch<br />

abgebildet werden. Das Ziel hinter <strong>die</strong>ser quantitativen Abbildung bestand in<br />

der Gewinnung eines ersten Eindruckes der Problematik der zunehmenden<br />

Abwanderung der Kaderärzte aus öffentlichen Spitälern. So sollte <strong>die</strong>ser erste<br />

Einblick Antworten auf <strong>die</strong> Fragen geben, wann <strong>die</strong> Abwanderung geschah<br />

(zeitlicher Faktor), auf welcher Funktionsstufe (hierarchischer Faktor) <strong>und</strong> vereinzelt<br />

auch, weshalb <strong>die</strong>ser Schritt getätigt wurde (intrinsische <strong>und</strong> extrinsische<br />

Gründe). Wie bereits erwähnt wurde, sollten <strong>die</strong> Ergebnisse aus der quantitativen<br />

Auswertung der Daten eine erste Erfassung <strong>des</strong> Typus eines Stayers<br />

(Arzt, der der öffentlichen Institution erhalten bleibt) <strong>und</strong> dasjenige eines<br />

Leavers (Arzt, der das öffentliche Spital verlässt) ermöglichen.<br />

Die Erfassung <strong>und</strong> Verdichtung der quantitativen Daten <strong>die</strong>nte als statistischer<br />

Beweis für <strong>die</strong> zunehmenden Abwanderungszahlen, <strong>die</strong>se Beweise <strong>die</strong>nen aber<br />

nicht der Überprüfung der Interviewaussagen, sondern wurden als Ergänzung<br />

133


ei der Interviewauswertung hinzugezogen. Die Gründe für eine Abwande-<br />

rung aus dem öffentlichen Spitalsektor, <strong>die</strong> immer prägnanter sichtbare Trans-<br />

formation, <strong>die</strong> nebst dem Ges<strong>und</strong>heitswesen auch andere Sektoren <strong>des</strong> öffentli-<br />

chen Dienstes trifft, <strong>und</strong> ihre wahrnehmbaren Auswirkungen auf den Habitus<br />

<strong>des</strong> Arztes, sein Charisma <strong>und</strong> sein berufliches Selbstverständnis lassen sich<br />

nicht anhand der Auswertung statischer Daten erkennen, weshalb das Kernstück<br />

<strong>die</strong>ser Arbeit <strong>die</strong> Experteninterviews <strong>und</strong> <strong>die</strong> darin abgelegten Zeugnisse<br />

der gegenwärtig etablierten Akteure <strong>des</strong> öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spitalsektors<br />

darstellen. Im nächsten Kapitel liegt der Fokus auf den Unterschieden zwischen<br />

der qualitativen <strong>und</strong> quantitativen Sozialforschung. Bei der Erfassung<br />

von intrinsischen Gründen wie Werte, Vorstellungen <strong>und</strong> Habitus, also nonmetrische<br />

Eigenschaften von Personen, stellt <strong>die</strong> qualitative Methode der Experteninterviews<br />

eine der vollumfänglichsten Erhebungsmethoden dar, wozu im<br />

Kapitel 3.2.2 „Datenerhebung <strong>und</strong> Untersuchungssample“ Stellung genommen<br />

wird.<br />

3.1.1 Qualitative versus quantitative Sozialforschung<br />

Die qualitative Sozialforschung, deren Anfänge um 1970 liegen, muss sich bis<br />

heute gegenüber den quantitativen Methoden behaupten. Erst in den Achtzigerjahren<br />

wurde der qualitative Ansatz durch Vogel & Verhallen (1983, zit. in<br />

Lamnek, 2005, S. 3) folgendermassen definiert: „... als qualitative Forschung<br />

werden jene Methoden charakterisiert, bei denen wenig Auskunftspersonen,<br />

keine Stichprobenverfahren <strong>und</strong> keine statistischen Analysen eingesetzt werden.“<br />

Über zwanzig Jahre später konstatiert Mayring (2008, S. 7), dass <strong>die</strong> qualitativen<br />

Methoden nun definitiv Einzug in <strong>die</strong> Sozialforschung fanden, <strong>und</strong> er<br />

begründet <strong>die</strong>se Feststellung unter anderem mit der Fülle an Literatur, <strong>die</strong><br />

heutzutage zu <strong>die</strong>ser Thematik zu finden sei. Die Unterschiede der qualitativen<br />

<strong>und</strong> quantitativen Sozialforschung vollumfänglich darzustellen <strong>und</strong> auszuführen,<br />

stellt keine Notwendigkeit im Rahmen der folgenden Arbeit dar. Dennoch<br />

muss der Methodik, welcher man sich bei der Erfassung <strong>und</strong> Analyse <strong>des</strong> Forschungsgegenstan<strong>des</strong><br />

be<strong>die</strong>nt, ein besonderes Augenmerk geschenkt werden,<br />

da erst deren richtige Verwendung zum gewünschten Ergebnis führt. Die Auswahl<br />

der Methodik bedingt aber <strong>die</strong> Kenntnis der Unterschiede der qualitativen<br />

<strong>und</strong> quantitativen Sozialforschung, weshalb kurz dazu Stellung genommen<br />

wird. Die folgende Abbildung zeigt <strong>die</strong> für <strong>die</strong>se Arbeit relevanten Unterschiede<br />

auf, <strong>und</strong> obwohl <strong>die</strong> Liste nicht abschliessend ist, <strong>die</strong>nt sie als Orientierungs-<br />

134


<strong>und</strong> Erklärungsraster für <strong>die</strong> Wahl zugunsten der qualitativen Methodik.<br />

Quantitative Sozialforschung Qualitative Sozialforschung<br />

Gr<strong>und</strong>orientierung Naturwissenschaftlich Geisteswissenschaftlich<br />

Wissenschaftstheoretische<br />

Positionen<br />

� Kritischer Rationalismus<br />

� Logischer Positivismus<br />

� Instrumentalismus<br />

� Hermeneutik<br />

� Phänomenologie<br />

� Konstruktivismus<br />

Erklärungsmodell kausal bzw. funktionalistisch historisch-genetisch<br />

Wissenschaftstheoretische<br />

Implikationen <strong>und</strong><br />

Konsequenzen<br />

Wirklichkeitsverständnis<br />

Methodenverständnis<br />

Gegenstandsbereich<br />

Forschungslogik<br />

Selbstverständnis der<br />

Sozialforscher<br />

Ziel der Werturteilsfreiheit<br />

wissenschaftlicher Aussagen<br />

Empirische Sozialforschung<br />

zum Zwecke der Theorieprüfung<br />

Theoretisches <strong>und</strong> technologisches<br />

Erkenntnisinteresse<br />

Abbildfunktion der Wissenschaft,<br />

<strong>die</strong> der kognitiven<br />

Strukturierung <strong>und</strong> Erklärung<br />

der als objektiv existent angenommenen<br />

Welt <strong>die</strong>nt<br />

Annahme einer objektiv <strong>und</strong><br />

autonom existierenden Realität<br />

Harte Methoden: standardisiert<br />

Konzeption: Gesellschaft als<br />

System<br />

� Deduktion<br />

� abstrahierend<br />

� objektivierbare Aussagen<br />

� Replizierbarkeit<br />

� Generalisierung<br />

Auf Unabhängigkeit bedachter<br />

Beobachter & Diagnostiker<br />

gesellschaftlicher Verhältnisse<br />

Ablehnung <strong>des</strong> Werturteilpostulats<br />

Sozialforschung als Instrument<br />

der Theorieentwicklung<br />

Kritisch-empanzipatorisches<br />

<strong>und</strong> praktisches Erkenntnisinteresse<br />

Wissenschaftliche Aussagen<br />

sind nicht Abbildungen der<br />

Realität, sondern Deskriptionen<br />

der Konstitutionsprozesse<br />

von Wirklichkeit<br />

Annahme einer symbolisch<br />

strukturierten, von sozialen<br />

Akteuren interpretierten <strong>und</strong><br />

so gesellschaftlich konstruierten<br />

Wirklichkeit<br />

Weiche Methoden: nichtstandardisiert<br />

Konzeption: Gesellschaft als<br />

Lebenswelt<br />

� Induktion<br />

� konkretisierend<br />

� Geltung der Subjektivität<br />

� Betonung <strong>des</strong> Singulären<br />

� Typisierung<br />

Faktischer <strong>und</strong> virtueller<br />

Teilnehmer: Advokat , Aufklärer<br />

Tabelle 10: Vergleich zwischen quantitativer <strong>und</strong> qualitativer Sozialforschung<br />

nach Lamnek (2005, S. 294−295)<br />

Will man ein soziales Feld wie dasjenige <strong>des</strong> Spitals <strong>und</strong> <strong>des</strong> ärztlichen Umfel<strong>des</strong><br />

im Besonderen betrachten, so reichen Fragebögen nicht aus, da <strong>die</strong>se der<br />

Komplexität <strong>des</strong> obgenannten <strong>und</strong> zu untersuchenden Fel<strong>des</strong> nicht gerecht<br />

werden können. Mit vordefinierten Antworten wird dem Befragten <strong>die</strong> Mög-<br />

135


lichkeit der Nuancierung, Argumentation <strong>und</strong> Selbstreflexion genommen, da er<br />

sich überwiegend für eine oder höchstens zwei Antworten entscheiden muss.<br />

Wie <strong>die</strong> Struktur eines Spitals <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Umfel<strong>des</strong> auf den Habitus <strong>und</strong> Ethos<br />

sowie auf das Empfinden, Wahrnehmen <strong>und</strong> <strong>die</strong> ausführende Tätigkeit eines<br />

Arztes wirkt, lässt sich nicht anhand vordefinierter Parameter <strong>und</strong> Antworten<br />

erfassen. Die folgende Arbeit hat explorativ <strong>und</strong> basierend auf Interviews <strong>die</strong><br />

Stimmen der Ärzte erfasst, <strong>die</strong> nicht als isolierte Individuen betrachtet werden<br />

sollten, sondern als Teil eines gesamten Konstrukts gesehen werden. Es war der<br />

Verfasserin der Arbeit ein Anliegen, dass der Berufsethos <strong>des</strong> Arztes aus der<br />

Sicht der Berufsgruppe der Mediziner <strong>und</strong> nicht in erster Linie aus der Sicht<br />

einer aussenstehenden Person dargestellt wird. Die Ärzte nahmen im Rahmen<br />

von Interviews Stellung zu den momentanen Tendenzen im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

<strong>und</strong> inwiefern ihr Ethos seit geraumer Zeit einem stetigen Wandel unterliegt.<br />

Vier wesentliche Erkennungsmerkmale der qualitativen Sozialforschung, <strong>die</strong> im<br />

vorliegenden Dissertationsprojekt angewendet wurden, sind:<br />

Merkmal Im Allgemeinen In der vorliegenden Arbeit<br />

Stichprobengrösse Eine sehr kleine Anzahl von<br />

Untersuchungspersonen<br />

Stichprobenwahl keine echten Stichproben,<br />

nach Zufallsprinzip<br />

Masse keine quantitativen (metrischen)<br />

Variablen<br />

136<br />

20 Ärzte <strong>und</strong> 2 CEO<br />

-13 Ärzte aus drei Schweizer Kantonsspitälern<br />

- 7 Ärzte aus Schweizer Privatspitälern<br />

- 1 CEO aus Schweizer Kantonsspital<br />

- 1 CEO aus Schweizer Privatspital<br />

Theoretisches Sampling. Auswahl basierend<br />

auf der Anzahl Arbeitsjahre, der<br />

Funktion, der öffentlichen Präsenz <strong>und</strong><br />

basierend auf den Empfehlungen von<br />

Kollegen<br />

Einbezug von Alter, Erfahrungsjahren,<br />

Arbeitsjahren im öffentlichen <strong>und</strong> privaten<br />

Spitalbereich usw.<br />

Auswertung keine statistischen Analysen In Bezug auf <strong>die</strong> Auswanderungstendenzen<br />

waren statistische Daten für den<br />

Zeitraum von 1998 bis 2008 notwendig.<br />

Die Auswertung der Interviews erfolgte<br />

nach einer kontinuierlichen Inhaltsanalyse<br />

der Experteninterviews.<br />

Tabelle 11: Merkmale der Differenzierung zur qualitativen Sozialforschung<br />

nach Lamnek (2005, S. 3−4) <strong>und</strong> Anwendung in vorliegender Arbeit (eigene Darstellung)<br />

Die Stichprobengrösse ist aus zeitlichen, aber auch aus Gründen der persönlichen<br />

Ressourcen, da das folgende Dissertationsprojekt als Einzelarbeit untersucht<br />

<strong>und</strong> verschriftet wurde, nicht grösser ausgefallen. Die Interviews wurden


ausschliesslich mit <strong>Chefärzte</strong>n <strong>und</strong> Leitenden Ärzten durchgeführt, wodurch<br />

sich <strong>die</strong> Gruppe potenzieller Interviewpartner automatisch verkleinerte. Um<br />

den Berufsethos <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> vor allem <strong>die</strong> zunehmenden Abwanderungs-<br />

tendenzen aus den öffentlichen Spitalinstitutionen erfassen zu können, bedarf<br />

es <strong>des</strong> Diskurses mit Ärzten unterschiedlicher Spezialitäten, <strong>die</strong> in öffentlichen<br />

<strong>und</strong>/oder privaten Spitälern tätig sind/waren <strong>und</strong> <strong>die</strong> auf min<strong>des</strong>tens zwei<br />

Jahrzehnte an Berufserfahrung zurückblicken können.<br />

Gewisse quantitative Daten wie das Alter oder <strong>die</strong> Anzahl der Arbeitsjahre<br />

wurden sowohl bei der Interviewauswahl als auch im Rahmen der Datenauswertung<br />

beigezogen. Das Alter <strong>und</strong> <strong>die</strong> Arbeitsjahre stellten wichtige Parameter<br />

beim Typologisieren der Ärzte in <strong>die</strong> Gruppe der Stayer <strong>und</strong> <strong>die</strong>jenige der<br />

Leaver dar. Um eine Vergleichbarkeit der Ärztetypen Stayer <strong>und</strong> Leaver erreichen<br />

zu können, dürfen <strong>die</strong> Parameter Alter <strong>und</strong> Anzahl der Tätigkeitsjahre<br />

nicht allzu stark divergieren. Die Auswertung der Anzahl an Austritten von<br />

Leitenden Ärzten <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong>n in den drei untersuchten Kantonsspitälern<br />

geschah anhand von nummerischen Daten. Dieses Vorgehen ermöglichte einerseits<br />

<strong>die</strong>jenigen Jahre mit der höchsten Abwanderungszahl eruieren <strong>und</strong> mögliche<br />

Ursachen dafür aufzeigen zu können, <strong>und</strong> andererseits konnten auch regionale<br />

Tendenzen durch den Vergleich der drei Kantonsspitäler ausgewiesen<br />

werden. So konnte beispielsweise der Hypothese, dass <strong>die</strong> regionale Nähe eins<br />

Kantonsspitals zu einem Privatspital höhere Abwanderungszahlen hervorruft,<br />

nachgegangen werden. Der Verwendung von qualitativen <strong>und</strong> quantitativen<br />

Daten steht auch hinsichtlich <strong>des</strong> methodischen Ansatzes der Gro<strong>und</strong>ed Theory<br />

nichts im Wege. Glaser <strong>und</strong> Strauss (1998, S. 26) nehmen dazu folgendermassen<br />

Stellung: „Häufig benötigt der Forscher qualitative <strong>und</strong> quantitative Daten – <strong>die</strong><br />

einen nicht, um <strong>die</strong> anderen zu testen, sondern damit sie sich gegenseitig ergänzen,<br />

weil – das ist das Entscheidende – sie sich auf <strong>die</strong> gleiche Sache beziehen.<br />

Sofern man sie nur miteinander vergleicht, tragen beide Formen von Daten<br />

dazu bei, Theorie zu generieren.“<br />

Die vorliegende Dissertation stellt eine Auftragsforschung dar, mit welcher ein<br />

Schweizer Kantonsspital das soziologische Seminar der Universität St.Gallen<br />

beauftragt hat. Welche Vorteile <strong>die</strong>se Art der Forschung mit sich bringt, inwiefern<br />

der Zugang zu Interviewpartnern vereinfacht <strong>und</strong> das Erlangen <strong>und</strong> Auswerten<br />

interner Informationen ermöglicht wird, soll im nächsten Kapitel geklärt<br />

137


werden. Eine Auftragsforschung in einem begrenzten, öffentlich teilweise zu-<br />

gänglichen, dennoch aber hinsichtlich der internen Mechanismen nach aussen<br />

geschlossenen, nach innen aber teils offenen Raum wie dem Spitalumfeld zu<br />

tätigen, bedarf eines sensiblen Gespürs für <strong>die</strong> Menschen, aber auch für <strong>die</strong><br />

Informationen, <strong>die</strong> von den Interviewpartnern preisgegeben werden.<br />

3.1.2 Die Auftragsforschung<br />

Diese Dissertation, <strong>die</strong> als Auftragsforschung entstanden ist, war auf <strong>die</strong> hohe<br />

Bereitschaft der Leitenden Ärzte <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong>, Rede <strong>und</strong> Antwort zu stehen,<br />

angewiesen. Mehrheitlich konnte durch den Verweis auf <strong>die</strong> Auftragsforschung<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Auftraggeberin <strong>die</strong>se Bereitschaft erreicht werden. Der Zugang zu den<br />

Interviewpartnern an den öffentlichen Spitälern wäre mir ohne <strong>die</strong>sen Eintritts-<br />

bonus vermutlich verwehrt geblieben. Die Arbeitgeberschaft trat Anfang 2009<br />

mit Prof. Schultheis, Ordinarius am Soziologischen Seminar der Universität<br />

St.Gallen <strong>und</strong> Doktorvater <strong>des</strong> folgenden Dissertationsprojektes, aufgr<strong>und</strong><br />

eines von ihm gehaltenen Referates in Kontakt <strong>und</strong> bat ihn um <strong>die</strong> Aufnahme<br />

eines Forschungsprojektes, das sich mit den Gründen der Abwanderungstendenzen<br />

von Ärzten aus den öffentlichen in <strong>die</strong> privaten Spitäler befasst. Ich<br />

selber war zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt noch in der Privatwirtschaft tätig, da ich ursprünglich<br />

einen Master in Marketing, Kommunikation <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

an der Universität St.Gallen abgeschlossen hatte. Kurz nach meinem Entscheid<br />

für eine Promotion im Bereich der Soziologie bot mir Franz Schultheis im April<br />

2009 <strong>die</strong> Übernahme <strong>die</strong>ses Forschungsprojektes an, das auch <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage<br />

der folgenden Dissertation darstellt, <strong>und</strong> initiierte nach meiner Zusage <strong>die</strong> Kontaktaufnahme<br />

mit dem Kantonsspital, welches den Auftrag für das vorliegende<br />

Projekt, das im Mai 2009 begann, erteilt hatte.<br />

Die Hauptproblematik stellte aus Sicht <strong>des</strong> Auftraggebers <strong>die</strong> Zunahme der<br />

Abwanderungen der Ärzte aus öffentlichen Spitälern hin zu privaten Anbietern<br />

dar. Im Sinne der Vergleichbarkeit wurde das Forschungsprojekt auf zwei weitere<br />

Kantonsspitäler ausgeweitet. Das Ziel <strong>die</strong>ses Forschungsprojektes bestand<br />

einerseits darin, <strong>die</strong> Gründe für <strong>die</strong>se Abwanderungen zu erfassen <strong>und</strong> zu<br />

konsoli<strong>die</strong>ren <strong>und</strong> andererseits <strong>die</strong> Transformationsprozesse innerhalb <strong>des</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitswesens zu eruieren, <strong>die</strong> wesentliche Implikationen auf den ärztlichen<br />

Arbeitsalltag <strong>und</strong> das berufsethische Selbstverständnis der Kaderärzte<br />

haben. In einem ersten Schritt wurde <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> der Strukturverän-<br />

138


derungen innerhalb <strong>des</strong> Spitalwesens der Schweiz analysiert. Hierbei spielten<br />

unter anderem eine zentrale Rolle <strong>die</strong> Privatisierungstendenzen <strong>und</strong> <strong>die</strong> An-<br />

gleichung der Drei-Bein- an <strong>die</strong> CEO-Struktur, das durch den zunehmenden<br />

Kostendruck implementierte neue Finanzierungsmodell (Fallkostenpauschalen)<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> steilen Spitalhierarchien im Gegensatz zu den als unternehmerisch<br />

propagierten flachen Strukturen an Privatspitälern.<br />

Die Initiantin der Auftragsforschung <strong>und</strong> gleichzeitig auch ethnographische<br />

Informantin <strong>und</strong> betroffene Zeitzeugin ermöglichte den Zugang zu den zwei<br />

Hauptkontaktpersonen, bei<strong>des</strong> <strong>Chefärzte</strong>, der beiden anderen Kantonsspitäler,<br />

mit denen man sich eine Zusammenarbeit erhoffte, <strong>die</strong> anschliessend auch<br />

zustande kam. Alle drei Kontaktpersonen sind Kaderärzte <strong>und</strong> teilweise auch<br />

Mitglieder der Geschäftsleitung <strong>des</strong> jeweiligen Spitals. Aufgr<strong>und</strong> der übersichtlichen<br />

Grösse der Schweizer Spitallandschaft kannten sie sich alle gut. Die<br />

Auswahl der Interviewpartner erfolgte bei den öffentlichen Spitälern anders als<br />

bei den privaten. Nachdem <strong>die</strong> Hauptkontaktpersonen der beiden anderen<br />

Kantonsspitäler ihr Einverständnis zur Partizipation am Forschungsprojekt<br />

gaben, begann <strong>die</strong> Auswahl der Interviewpartner. Durch <strong>die</strong> persönliche Kontaktaufnahme<br />

meiner Arbeitgeberin mit den beiden Kontaktpersonen gewann<br />

das Projekt an Kredibilität. Nach der Partizipationserklärung wurde in getrennten<br />

Gesprächen mit der Auftraggeberin <strong>und</strong> mit einer der beiden anderen Kontaktpersonen<br />

je eine Shortlist der möglichen Interviewpartner erstellt. Weshalb<br />

der Entscheid für ihre Empfehlung auf <strong>die</strong>sen oder jenen Arzt fiel <strong>und</strong> er oder<br />

sie für ein Interview besonders von Interesse sei, teilten mir <strong>die</strong> beiden Hauptkontaktpersonen<br />

im persönlichen Gespräch mit. Beachtet wurde bei der Auswahl<br />

der Interviewpartner nebst der Funktion beispielsweise auch <strong>die</strong> bereits<br />

durchlaufenen beruflichen Stationen <strong>und</strong> folglich auch, ob der potenzielle Gesprächspartner<br />

bereits einmal in einem privaten Spital tätig war. Da es für eine<br />

aussenstehende Person schwierig ist, einen Einblick in <strong>die</strong> gesamte Ärzteschaft<br />

zu erhalten <strong>und</strong> persönliche Daten wie Alter <strong>und</strong> Karriereverlauf ohne <strong>die</strong><br />

Kenntnis <strong>des</strong> Curriculum Vitae verschlossen bleiben, wurde auf sogenannte<br />

Insider-Informationen von aktiven Teilnehmern im Feld grossen Wert gelegt.<br />

Der Forscher läuft durch ein solches Auswahlverfahren, das durch einen Akteur<br />

<strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> geschieht, Gefahr, sich einem subjektiv gefärbtem Verfahren<br />

auszusetzen, wodurch möglicherweise den offenk<strong>und</strong>ig kritischen Stimmen<br />

nur wenig Raum eingeräumt wird. Die Aussagen der befragten Kaderärzte<br />

139


zeugen jedoch mehrheitlich von grosser Offenheit, einem kritischen Blick, einer<br />

äusserst differenzierten Sichtweise auf ihren beruflichen Lebensalltag <strong>und</strong> ei-<br />

nem ethisch-moralischen Verständnis ihres Berufsstan<strong>des</strong> <strong>und</strong> einem deutli-<br />

chen Vertrauen dem Interviewer gegenüber.<br />

In einem zweiten Schritt wurde folglich der Zugang zu den <strong>Chefärzte</strong>n <strong>und</strong> den<br />

Leitenden Ärzten der drei Kantonsspitäler gesucht, <strong>die</strong> alle potenzielle Inter-<br />

viewpartner darstellten. Die Erstanfragen an <strong>die</strong> potenziellen Interviewpartner,<br />

deren Namen auf der Shortlist standen, wurden teilweise durch <strong>die</strong> drei Kon-<br />

taktpersonen getätigt, <strong>die</strong> wie bereits erwähnt selber <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leiter eines<br />

Departements <strong>und</strong> folglich eine nicht zu unterschätzende hierarchische Position<br />

im Spital einnahmen. Teilweise war es aber auch möglich direkt mit ihnen Kon-<br />

takt aufzunehmen. In einem der Kantonsspitäler ergab sich <strong>die</strong> Gelegenheit, an<br />

der monatlichen Sitzung der <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leitenden Ärzte eine kurze Präsentation<br />

zum Dissertationsprojekt zu halten. Die interessierten Ärzte konnten sich<br />

nach der Präsentation direkt melden, wodurch der Erstkontakt wesentlich erleichtert<br />

wurde. Diejenigen, <strong>die</strong> ihre Bereitschaft offenk<strong>und</strong>ig preisgaben, setzten<br />

sich natürlich den Blicken der Kollegen aus <strong>und</strong> nahmen das Risiko auf sich,<br />

in der späteren Verschriftung der Interviews <strong>und</strong> Dissertationsarbeit erkennbar<br />

zu werden, <strong>die</strong>s obwohl den Interviewpartnern Anonymität zugesagt wurde<br />

<strong>und</strong> im Rahmen <strong>die</strong>ser Arbeit auch gewährleistet wird. An den beiden anderen<br />

Kantonsspitälern geschah der Zugang zu den Interviewpartnern über <strong>die</strong> Kontaktpersonen,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> erste Kontaktaufnahme mit denjenigen Ärzten vornahmen,<br />

<strong>die</strong> auf der Shortlist standen. Die Quote der Absagen oder Vertröstungen<br />

war sehr gering, <strong>die</strong>s da <strong>die</strong> Erstanfrage durch einen ihnen bekannten Kollegen<br />

getätigt oder bei direkten Anfragen auf <strong>die</strong> Auftraggeberin referenziert wurde.<br />

Die persönlichen Gespräche mit den Kontaktpersonen <strong>und</strong> Interviewpartnern<br />

haben gezeigt, dass <strong>die</strong> Initiantin der Auftragsforschung eine angesehene, geschätzte<br />

<strong>und</strong> strebsame Ärztekollegin ist, weshalb der ihr vorauseilende Ruf <strong>die</strong><br />

Interviewanfragen deutlich erleichterte. Eine Rolle spielte bestimmt auch <strong>die</strong><br />

Tatsache, dass <strong>die</strong> drei Kontaktpersonen nicht nur Kollegen, sondern teilweise<br />

auch Vorgesetzte der Interviewpartner waren. Nicht nur <strong>die</strong>se hierarchische<br />

Komponente spielte eine bedeutende Rolle, sondern auch das Verlangen der<br />

Ärzte, über den Wandel, der in ihrem Beruf offensichtlich stattfand <strong>und</strong> sich<br />

direkt auf ihren Arbeitsalltag auswirkte, zu sprechen, kam deutlich zum Vorschein.<br />

140


Die Auswahl <strong>und</strong> Ansprache der Ärzte an Privatspitälern geschah mehrheitlich<br />

auf Empfehlung von bereits interviewten Ärztekollegen, <strong>die</strong> im Laufe ihrer<br />

Karriere in einem der Kantonsspitäler mit <strong>die</strong>sen Ärzten bereits zusammengearbeitet<br />

hatten, sich folglich gut kannten <strong>und</strong> teilweise auch glaubten zu erahnen,<br />

weshalb <strong>die</strong>se Ärzte <strong>die</strong> öffentliche Institution verlassen hatten. An <strong>die</strong>ser<br />

Stelle sollte erwähnt werden, dass sich Ärzte auf Stufe Leitender Arzt <strong>und</strong><br />

Chefarzt gesamtschweizerisch gut kennen, da sie einen Teil ihrer Ausbildung<br />

gemeinsam absolviert oder gleiche Kongresse besucht haben, sich während<br />

ihrer Wanderjahre auf Stufe Assistenzarzt begegnet sind oder aufgr<strong>und</strong> derselben<br />

Spezialisierung analoge Karrierestationen durchlaufen haben. Die Ähnlichkeiten<br />

in den Lebensläufen <strong>und</strong> auch <strong>die</strong> Tatsache, dass <strong>die</strong> Stellen auf den<br />

beiden Hierarchiestufen begrenzt sind, erklärt, weshalb man sich vor allem auf<br />

Stufe Chefarzt gut kennt <strong>und</strong> den Austausch nicht scheut.<br />

Die Terminfindung für <strong>die</strong> Interviews erwies sich bei den Ärzten der öffentlichen<br />

Spitäler teilweise wesentlich schwieriger als bei den Ärzten der Privatkliniken.<br />

Von der Erstansprache bis zum Interview dauerte es bei Ärzten der privaten<br />

Spitäler durchschnittlich einen Monat, bei jenen der öffentlichen bis zu<br />

drei Monaten. Aufgr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Wartezeiten konnte <strong>die</strong> Interviewreihe nicht in<br />

den geplanten zwei bis drei Monaten durchgeführt werden, sondern dauerte<br />

acht Monate. Im Kapitel 5, das auf <strong>die</strong> Interviewauswertung fokussiert, werden<br />

der Rahmen, in welchem das Interview stattfand, <strong>die</strong> Eindrücke, <strong>die</strong> das Umfeld<br />

hinterliessen, <strong>und</strong> den Verlauf der Interviews in ihrer Gesamtheit thematisiert.<br />

Wie bereits angedeutet, stellt eine Auftragsforschung auch immer eine Gratwanderung<br />

dar. Im Falle der vorliegenden Arbeit entstand der Erstkontakt mit<br />

Franz Schultheis sowohl aus einem professionellen als auch einem persönlichen<br />

Interesse der Auftraggeberin, <strong>die</strong> Abwanderungstendenzen der Ärzte von öffentlichen<br />

Spitälern zu Privatkliniken <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich dahinter verbergenden Motivationen<br />

zu erforschen. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang muss angemerkt werden,<br />

dass sich <strong>die</strong> Auftraggeberin bewusst für <strong>die</strong> Wissenschaft der Soziologie entschied<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Problematik aus soziologischer Perspektive geklärt haben wollte.<br />

Als Teilnehmerin <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> ist sie dem Wandel ihres Berufes genauso ausgesetzt<br />

wie ihre Kollegen <strong>und</strong> kennt folglich auch <strong>die</strong> internen Mechanismen<br />

<strong>des</strong> Spital- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens. Als Forscherin fühlt man sich dazu ver-<br />

141


pflichtet, sowohl dem Auftraggeber, der zugleich Arbeitgeber ist, als auch dem<br />

Leser der Arbeit einen vollständigen Einblick in <strong>die</strong> gewonnen Daten <strong>und</strong> Er-<br />

kenntnisse zu gewähren. Gleichzeitig möchte man aber <strong>die</strong> Ärzte schützen, <strong>die</strong><br />

sich für ein Gespräch bereit erklärt <strong>und</strong> Stellung zu beruflichen <strong>und</strong> persönli-<br />

chen Umständen genommen haben. Der Gesprächspartner soll dahingehend<br />

geschützt werden, dass <strong>die</strong> Veröffentlichung seiner Aussagen nicht gleichzeitig<br />

auch sein Gesicht preisgibt. Der Interviewte muss sich bewusst sein, dass seine<br />

Worte, Gesten <strong>und</strong> Aussagen nicht lediglich im Innenraum <strong>des</strong> Tonban<strong>des</strong><br />

verenden, sondern als Zeugen der heutigen Zeit genutzt <strong>und</strong> veröffentlicht<br />

werden. Seine Ausführungen entstehen im geschlossenen Raum <strong>des</strong> Gesprächs,<br />

der aber durch <strong>die</strong> Veröffentlichung der Worte zu einem Raum der Öffentlichkeit<br />

wird. Den Gesprächspartnern wurde zugesichert, dass <strong>die</strong> Interviews im<br />

Laufe der Transkription anonymisiert werden. Während <strong>die</strong>ses Anonymisierungsprozesses<br />

wurden all jene Informationen, <strong>die</strong> den Interviewpartner entblössen<br />

könnten, verfremdet, jedoch nicht zensuriert. Um den Umfang der<br />

Dissertation in Grenzen zu halten, werden <strong>die</strong> Interviewtranskriptionen nicht<br />

im Appendix erscheinen. Aussagen aus den Interviews stellen einen bedeutenden<br />

Bestandteil <strong>des</strong> Kapitels 5 dar, obwohl auch in den vorhergehenden Kapiteln<br />

vereinzelt Interviewpassagen erwähnt werden. In Kapitel 4 werden fünf<br />

exemplarische Interviewpartner vorgestellt, wobei <strong>die</strong> Auswahl seitens der<br />

Ärzteschaft auf einen Kaderarzt <strong>des</strong> öffentlichen Spitals, einen Arzt <strong>des</strong> Privatspitals<br />

<strong>und</strong> einen Rückkehrer aus dem Privatspital fiel. Das Ziel <strong>die</strong>ser wissenschaftlichen<br />

Arbeit besteht nicht darin, <strong>die</strong> einzelnen Persönlichkeiten, <strong>die</strong> der<br />

Öffentlichkeit bekannt sind, als Individuen mit Identitäten, sondern als <strong>die</strong><br />

Gemeinschaft der Ärzte darzustellen, deren Ethos einem Wandel unterliegt, mit<br />

welchem sich jeder Mediziner auseinandersetzen muss. Die folgende Forschung<br />

soll nicht zur Entblössung der Gesichter sowie der sich dahinter befindenden<br />

Menschen beitragen <strong>und</strong> sie auch nicht zu Tätern <strong>und</strong>/oder Opfern machen.<br />

Diese Dissertation soll dem Anspruch eines Abbil<strong>des</strong> der Realität gerecht werden,<br />

wobei ein grösstmögliches Mass an Objektivität erreicht werden soll, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s mit dem Wissen, dass das Einfliessen von subjektiven Anschauungen <strong>und</strong><br />

Werten <strong>des</strong> Forschers nicht vermieden werden kann.<br />

Das Stossen auf offene Türen in einem semigeschlossenem Feld wie demjenigen<br />

<strong>des</strong> Spitals <strong>und</strong> der Zugang zu <strong>des</strong>sen Akteuren ist ein Privileg, das einem als<br />

Forscher überwiegend im Rahmen einer Auftragsforschung zukommt. Ein<br />

142


Einblick in einen Bereich zu erhalten, der der Öffentlichkeit üblicherweise verschlossen<br />

bleibt, ist eine grosse Chance aber auch ein Vertrauensbeweis, den es<br />

aufrechtzuhalten gilt.<br />

Der Mensch sucht seinen Arzt <strong>des</strong> Vertrauens nicht nur auf, um sich medizinischen<br />

Rat zu holen, sondern auch um Trost, Verständnis <strong>und</strong> Gehör zu erhalten.<br />

In <strong>die</strong>sem Moment erhebt er den Anspruch, als Mensch mit Freuden <strong>und</strong><br />

Sorgen, mit Hoffnungen <strong>und</strong> Ängsten, mutig <strong>und</strong> feig dastehen zu dürfen. Der<br />

Patient erhofft psychologisches <strong>und</strong> menschliches Verständnis seines Arztes,<br />

kein Verlachen oder Bemitleiden. In der folgenden Arbeit steht aber nicht der<br />

Patient, sondern der Arzt im Zentrum, wobei sich der Leser bewusst sein muss,<br />

dass <strong>die</strong> erwähnten Bedürfnisse der Patienten, Bedürfnisse eines jeden Menschen<br />

<strong>und</strong> folglich auch <strong>die</strong> eines Arztes sind. Der Arzt seinerseits sollte sich<br />

seines besonderen Status, der ihm als Vertrauensperson aufgr<strong>und</strong> seiner Fachkompetenz<br />

zukommt <strong>und</strong> auch aufgr<strong>und</strong> seines Images als „Halbgott in Weiss“<br />

zugeschrieben wird, immer wieder bewusst werden. Die Legitimation seines<br />

Charismas, das ihm bis anhin zugeschrieben wurde, scheint ihm teilweise abhanden<br />

gekommen zu sein. Zweifel haben offensichtlich den Glauben <strong>des</strong> Patienten<br />

an einen ethisch denkenden <strong>und</strong> handelnden Arzt erschüttert, wodurch<br />

auch der Legitimation nicht mehr derselbe Stellenwert zukommt. In <strong>die</strong>sem<br />

Zusammenhang ist der Hippokratische Eid, der einem Schwur gleichkommt,<br />

mit der Pflicht <strong>die</strong> Wahrheit zu sagen <strong>und</strong> dem Wortlaut <strong>des</strong> Ei<strong>des</strong> entsprechend<br />

zu handeln <strong>und</strong> der von Befürwortern als zeitgemäss, von Gegnern aber<br />

als veraltet verschrien wird, zu erwähnen. Auf den Eid <strong>des</strong> Hippokrates <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Genfer Deklaration <strong>des</strong> Weltärzteverb<strong>und</strong>es, <strong>die</strong> als zeitgemässe Version<br />

<strong>des</strong> Ei<strong>des</strong> betrachtet wird, wird heute sowohl in Deutschland als auch in der<br />

Schweiz nicht mehr geschworen. Medizinhistoriker sehen im Hippokratischen<br />

Eid aufgr<strong>und</strong> seiner Historie einen unzeitgemässen Text, dem eine gewisse<br />

Ablösung, <strong>die</strong> aber auch als Ergänzung betrachtet wird, durch <strong>die</strong> Genfer Deklaration<br />

widerfahren ist, wobei letztere Vieldeutigkeit <strong>und</strong> dadurch Raum für<br />

Interpretationen <strong>und</strong> dem Zeitgeist entsprechende Einzelregelungen bzw. Empfehlungen<br />

<strong>und</strong> Ergänzungen zulässt. Die Aussage von Joachim A., Chefarzt<br />

einer Fachrichtung der Inneren Medizin an einem Schweizer Kantonsspital, im<br />

Rahmen <strong>des</strong> gemeinsamen Interviews, innerhalb welchem sehr stark <strong>die</strong> monetäre<br />

Komponente <strong>des</strong> Arztberufs thematisiert wurde, verweist auf das ärztliche<br />

Selbstverständnis folgendermassen: „Wenn wirklich was schief laufen<br />

143


würde, dann ist <strong>die</strong>s letzten En<strong>des</strong> das, was dann einen Arzt<br />

auch wirklich belasten wird. Ein wenig mehr oder ein wenig<br />

weniger Geld, ich habe gesagt, dass es wichtig ist, hinsichtlich<br />

der speziellen Frage, ob man ins öffentliche Spital<br />

geht oder abwandert. Aber für das eigentliche ärztliche<br />

Wohlbefinden ist eigentlich nur wichtig, dass man recht<br />

gehandelt hat. Erinnert man sich an das, was einen wirklich<br />

belastet, dann ist es, wenn irgendwas schief laufen würde<br />

oder wenn eine Indikation nicht stimmen würde, was man ja<br />

nicht extra macht, aber ab <strong>und</strong> an kommt man erst danach<br />

drauf. Ich würde mich letztlich gar nie von dem beeinflussen<br />

lassen. Und wenn es das Spital <strong>des</strong>wegen finanziell ruinieren<br />

würde, dann wäre das System falsch. Ich würde sicherlich<br />

nicht aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Systems anders handeln.“ Zum<br />

Hippokratischen Eid bzw. zum berufsethischen Verständnis der befragten<br />

Mediziner wird im Laufe der Interviewauswertung vertiefter eingegangen.<br />

3.2 Qualitative Explorationsphase<br />

Die qualitative Forschungsmethodik <strong>und</strong> deren Instrumente bilden das methodische<br />

Gerüst <strong>die</strong>ser Arbeit, wobei im Vorfeld gesammelte quantitative Daten<br />

mit einbezogen wurden. Bezüglich <strong>des</strong> Typus der empirischen Datenerhebung<br />

fiel der Entscheid auf ein exploratives Vorgehen, welches <strong>die</strong> Erhebung von<br />

qualitativen Aspekten wie Wertungen <strong>und</strong> Beziehungen von befragten Personen,<br />

<strong>die</strong> sich in spezifischen sozialen Situationen befinden, ermöglicht mit dem<br />

Ziel, detaillierte Bef<strong>und</strong>e über soziale Prozesse zu erhalten. Gemäss Atteslander<br />

(2008, S. 56) birgt <strong>die</strong>ses Vorgehen Nachteile wie schwierige Übertragbarkeit<br />

von Bef<strong>und</strong>en, keine statistische Repräsentativität, starke Begrenzung <strong>des</strong> Objektbereichs,<br />

mögliche Beeinflussung <strong>des</strong> Forschers oder ein langer <strong>und</strong> notwendiger<br />

persönlicher Einsatz. Nichts<strong>des</strong>totrotz ist <strong>die</strong> explorative Herangehensweise<br />

im Zusammenhang mit den in <strong>die</strong>ser Arbeit zu klärenden Forschungsfragen<br />

äusserst geeignet.<br />

Die Erläuterungen zum State of the Art haben gezeigt, dass in der Schweiz der<br />

Forschungsstand hinsichtlich der treibenden <strong>und</strong> limitierenden Kräfte der<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> ihre Auswirkungen auf den<br />

Berufsalltag der Health Professionals, <strong>des</strong> Wandels <strong>des</strong> ärztlichen Berufsethos<br />

<strong>und</strong> Habitus sowie der Privatisierung öffentlicher Krankenhäuser <strong>und</strong> ihrer<br />

144


Implikationen für das berufliche Selbstverständnis <strong>des</strong> Arztes nicht annähernd<br />

in dem Masse thematisiert, erforscht <strong>und</strong> vertieft betrachtet wurde, wie <strong>die</strong>s im<br />

Nachbarland Deutschland geschah. Das wissenschaftliche Interesse am Spital-<br />

wesen Deutschlands hat vor allem seit den Erfahrungen, <strong>die</strong> Ärzte <strong>und</strong> Spitäler<br />

mit den DRG <strong>und</strong> der Privatisierungswelle im Spitalwesen gemacht haben,<br />

erheblich zugenommen. Auch <strong>die</strong> Erforschung unterschiedlicher Zugänge zu<br />

Versorgungsinstitutionen, <strong>die</strong> teils in sozialen Ungleichheiten resultieren oder<br />

durch <strong>die</strong> bereits bestehenden Ungleichheiten verstärkt werden, geschah in<br />

Deutschland grossflächiger als <strong>die</strong>s in der Schweiz der Fall ist. Die sich zuneh-<br />

mend manifestierende <strong>Ökonomisierung</strong> der Medizin <strong>und</strong> seiner Akteure be-<br />

dingt eine kontinuierliche Erforschung der ethischen Implikationen ökono-<br />

misch induzierter Eingriffe.<br />

Für das Abbilden einer sozialen Wirklichkeit stellt das Überprüfen von vorab<br />

definierten Theorien <strong>und</strong> Hypothesen keine befriedigende Lösung dar <strong>und</strong><br />

wird im Rahmen der Gro<strong>und</strong>ed Theory auch nicht als voraussetzende Bedingung<br />

erachtet. Auch das Verwenden von Fragebögen, <strong>die</strong> den Umfrageteilnehmern<br />

mit oft bereits vorformulierten Antworten vorgelegt werden, stellt<br />

keine befriedigende Methode für <strong>die</strong> folgende Arbeit dar, da dem Befragten <strong>die</strong><br />

Möglichkeit genommen wird, sich ausführlich zu erklären. Die Generierung<br />

persönlicher <strong>und</strong> teilweise hochsensibler Informationen entwickelt sich bei<br />

einer solchen Befragungsmethodik zu einem besonders schwierigen <strong>und</strong> teilweise<br />

nahezu unmöglichen Unterfangen. Die Gro<strong>und</strong>ed Theory lässt zu, dass<br />

der Forscher <strong>die</strong> Konzept- <strong>und</strong> Theoriebildung während der Datenerhebung<br />

vornimmt <strong>und</strong> plä<strong>die</strong>rt gegen eine Falsifizierung oder Verifizierung von ausschliesslich<br />

ex ante definierten Hypothesen (Mayring, 2002, S. 104). Das Aufstellen<br />

von Hypothesen, das Überprüfen von Theorien oder <strong>die</strong> Bildung eines abgehobenen<br />

Theoriekonstrukts kann dazu führen, dass <strong>die</strong> Ergebnisse zwar für<br />

den Forscher von Interesse sind, für den Befragten, dem teilweise das Verstehen<br />

der Konstrukte bereits Mühe bereitet, aber nicht. Vereinfacht ausgedrückt wird<br />

der Befragte dazu benutzt, <strong>die</strong> vom Forscher vordefinierten Theorien <strong>und</strong> Hypothesen<br />

zu bestätigen; kann er <strong>die</strong>se jedoch nicht bestätigen, da sie vielleicht<br />

nicht seinem Verständnis der Realität entsprechen <strong>und</strong> ist der Raum für Argumentation<br />

<strong>und</strong> Diskussion im Rahmen der Forschung nicht gegeben, dann<br />

kommt es zu einem Abbild einer sozialen Welt, das keinen faktischen Bezug<br />

zur realen Welt nimmt. Dieser Umstand widerspricht klar dem Gr<strong>und</strong>prinzip<br />

145


der Gro<strong>und</strong>ed Theory „... fit, <strong>und</strong>erstanding, generality and control.“ (Strauss &<br />

Corbin, 1990, S. 23). Der Vorwurf an <strong>die</strong> quantitativen Forscher, dass sie ledig-<br />

lich an der Überprüfung ihrer Hypothesen <strong>und</strong> Theorien, jedoch nicht an der<br />

realen <strong>und</strong> erlebten Welt der Befragten interessiert sind (Lamnek, 2005, S. 86),<br />

ist teilweise nicht von der Hand zu weisen.<br />

Bei der qualitativen Sozialforschung besteht <strong>die</strong> Kernaufgabe aber im Abbild<br />

der sozialen Wirklichkeit <strong>und</strong> Realität, welche von niemand anderem so sehr<br />

wahrgenommen <strong>und</strong> erlebt wird wie vom Befragten selber, dem im Falle der<br />

folgenden Arbeit der Status eines Experten in seinem beruflichen Umfeld zukommt.<br />

Der Ansatz der Gro<strong>und</strong>ed Theory eignet sich für <strong>die</strong> Thematik <strong>die</strong>ser<br />

Dissertation besonders gut, da, wie zu Beginn <strong>die</strong>ses Kapitels bereits erklärt<br />

wurde, der Wandel <strong>des</strong> Berufsethos <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> <strong>die</strong> zunehmende Abwanderung<br />

von hochqualifizierten Leitenden Ärzten <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong>n von öffentlichen<br />

hin zu privaten Spitälern spärlich erforscht wurde <strong>und</strong> folglich ein entsprechend<br />

kleiner Literaturkorpus existiert. Schweizer Spitäler werden erst seit<br />

geraumer Zeit mit betriebswirtschaftlichen Konzepten <strong>und</strong> dem öffentlichen,<br />

aber auch politischen Verlangen nach Transparenz, welche sich vorwiegend auf<br />

<strong>die</strong> Kostenseite fokussiert, konfrontiert. Folglich stellt der Erhalt von Hintergr<strong>und</strong>informationen,<br />

<strong>die</strong> öffentlich zugänglich sind, eine nicht zu unterschätzende<br />

Herausforderung dar. Das Finden von Modellen, <strong>die</strong> zum Ziel haben, <strong>die</strong><br />

Spitallandschaft, <strong>die</strong> Interdependenzen zwischen den verschiedenen Anspruchsgruppen<br />

<strong>und</strong> den hierarchischen Aufbau, der über <strong>die</strong> einfache Darstellung<br />

<strong>des</strong> Organigramms hinausgeht, zu erläutern, wird zu einem Hürdenlauf<br />

oder einem Ding der Unmöglichkeit. Im folgenden Abschnitt wird eine kurze,<br />

aber wichtige Exkursion in den Symbolischen Interaktionismus vorgenommen,<br />

anschliessend wird ausführlicher auf <strong>die</strong> Gro<strong>und</strong>ed Theory eingegangen.<br />

Die Methodologie <strong>des</strong> Symbolischen Interaktionismus kann als Stellvertretung<br />

für <strong>die</strong> qualitative Sozialforschung gesehen werden (Lamnek, 2005, S. 85). Das<br />

Verständnis <strong>des</strong> Symbolischen Interaktionismus ist im Zusammenhang mit der<br />

Gro<strong>und</strong>ed Theory von Bedeutung. Der Funktionalismus <strong>und</strong> <strong>die</strong> Konfliktansätze,<br />

<strong>die</strong> von einer Makroperspektive, auch Vogelperspektive genannt, ausgehen,<br />

unterscheiden sich zum Interaktionismus dahingehend, dass letzterer sich mit<br />

der Mikrowelt <strong>und</strong> folglich den Alltagsbeziehungen der Menschen, der sogenannten<br />

Froschperspektive, beschäftigt (Feldmann, 2006, S. 43). Gemäss Abels<br />

146


(1998, S. 44f.) beschäftigt sich der Symbolische Interaktionismus mit dem Den-<br />

ken, Fühlen <strong>und</strong> Handeln der Menschen, <strong>die</strong> als Ergebnisse zwischenmenschli-<br />

cher Beziehungen betrachtet werden. Der handelnde Mensch verhält sich also<br />

nicht funktional zu Strukturbedingungen, sondern basierend auf den Bedingungen,<br />

denen er eine Bedeutung gibt <strong>und</strong> <strong>die</strong>se so selbst schafft (Abel, 1998, S.<br />

46).<br />

Beim Symbolischen Interaktionismus wird das Zusammenleben als ein Prozess<br />

betrachtet, in welchem Menschen einander Handlungslinien anzeigen <strong>und</strong><br />

interpretieren (Blumer, 1973, S. 135, zit. in Lamnek, 2005, S. 85). Dieser Prämisse<br />

geht eine weitere Annahme voraus, nämlich <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> besagt, dass das<br />

Handeln der Menschen gegenüber Objekten gemäss der Bedeutung, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se<br />

Objekte für <strong>die</strong>sen bestimmten Menschen haben, ausgerichtet ist. Das Objekt<br />

kann jegliche Form annehmen <strong>und</strong> sowohl ein physischer Gegenstand, ein<br />

anderer Mensch wie beispielsweise ein Fre<strong>und</strong>, Elternteil oder Arbeitskollege<br />

oder auch eine Institution sein. Das Objekt kann aber auch <strong>die</strong> Form einer<br />

Handlung einer anderen Person oder einer Alltagssituation annehmen (Abel,<br />

1998, S. 46). Die zweite Prämisse besagt, dass sich <strong>die</strong> Bedeutung eines Objektes<br />

für ein Individuum ergibt, verändert oder anpasst entsprechend der Ausrichtung<br />

<strong>des</strong> Handelns einer anderen Person gegenüber <strong>die</strong>sem Objekt (Blumer,<br />

1969, S. 81). Die Bedeutung <strong>des</strong> Objektes für das Individuum entwickelt sich im<br />

Rahmen der zweiten Prämisse folglich aus der individuellen Zuschreibung <strong>des</strong><br />

Objektwertes <strong>und</strong> dem sozialen Austausch zweier oder mehrerer Individuen.<br />

Anschliessend findet ein formender Prozess (Blumer, 1969, S. 84) statt, in welchem<br />

das Individuum wieder auf <strong>die</strong> eigene Bedeutung, <strong>die</strong> ein Objekt für<br />

denjenigen hat, zurückgreift. Das Individuum benennt <strong>die</strong> Objekte, auf welche<br />

es sein Handeln ausrichtet <strong>und</strong> ordnet <strong>und</strong> strukturiert <strong>die</strong>se, wodurch es ihnen<br />

à la longue eine Bedeutung zukommen lässt. Wird <strong>die</strong>ser Prozess von den anderen<br />

Handelnden auch verfolgt, so entsteht eine Kettenreaktion, <strong>die</strong> zu einer<br />

Verkettung der Handelnden führt. Dieser Prozess resultiert in der symbolischen<br />

Definition eines Objektes, einer Situation oder einer Institution. Gemäss dem<br />

Symbolischen Interaktionismus entspringen soziale Interaktionen aus der<br />

Wertzuschreibung von Individuen <strong>und</strong> dem gegenseitigen Abgleich <strong>die</strong>ser<br />

Zuschreibungen „(…) group action is the collective action of such individuals“.<br />

Im Gegensatz dazu stehen andere soziologische Konzepte, wonach soziale<br />

Interaktionen der Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppierungen entsprin-<br />

147


gen „(…) generally lodge social action in the action of society or in some unit of<br />

society“. (Blumer, 1969, S. 84). In Lamnek (2005, S. 85) wird zu Blumers Prämis-<br />

sen <strong>und</strong> dem Symbolischen Interaktionismus folgendermassen Stellung genommen:<br />

Die genannten Prämissen lassen sich auf Organisationen,<br />

Schichtstrukturen, Institutionen etc. anwenden, da <strong>die</strong>se Makrogebilde vom<br />

Symbolischen Interaktionismus „als Anordnungen von Personen, <strong>die</strong> in ihren<br />

jeweiligen Handlungen miteinander verkettet sind“ (Blumer, 1973, zit. in Lamnek,<br />

2005, S. 85) betrachtet werden. Zu Blumers Prämissen existieren unterschiedlichste<br />

Interpretationen, <strong>die</strong> oft fein, aber nicht gr<strong>und</strong>legend voneinander<br />

divergieren. Das Thomas-Theorem veranschaulicht den Kerngedanken, der<br />

hinter dem Symbolischen Interaktionismus steckt, treffend: „Personen handeln<br />

nicht danach, wie eine Situation objektiv ist, sondern wie sie von den Handelnden<br />

,definiert‘ (interpretiert, gedeutet) wird.“ (Wiswede, 1998, S. 118). Soziale<br />

Sachverhalte wirken also nicht so auf den Menschen ein, wie sie tatsächlich<br />

sind, sondern so, wie <strong>die</strong> Menschen glauben, dass sie wären. Deutlich wird,<br />

dass beim Symbolischen Interaktionismus im Gegensatz zur behavioristischen<br />

Verhaltenstheorie Individuen als aktive <strong>und</strong> in <strong>die</strong> Handlung selbst eingreifende<br />

Personen betrachtet werden, wobei <strong>die</strong> Handlungen im Rahmen bestimmter<br />

Deutungssysteme geschehen, <strong>die</strong> aus normativen Regeln abgeleitet <strong>und</strong> symbolisch<br />

vermittel werden (Wiswede, 1998, S. 119). Folglich besteht <strong>die</strong> Realität aus<br />

einer sozialen Konstruktion <strong>und</strong> hängt von der Wahrnehmung <strong>des</strong> Einzelnen<br />

ab.<br />

Als Konklusion zum Symbolischen Interaktionismus <strong>die</strong>nen <strong>die</strong> Worte von<br />

Blumer, <strong>die</strong> sich an den Forscher richten <strong>und</strong> lauten: „Berücksichtigen Sie <strong>die</strong><br />

Beschaffenheit der empirischen Welt <strong>und</strong> bilden Sie eine methodologische Position<br />

aus, um <strong>die</strong>se Berücksichtigung zu reflektieren. Dies ist das, was meines<br />

Erachtens der Symbolische Interaktionismus zu tun bemüht ist.“ (Blumer, 1973,<br />

S. 143 f. zit. in Lamnek, 2005, 85). Im Zentrum <strong>des</strong> Symbolischen Interaktionismus<br />

stehen folglich der Mensch, <strong>die</strong> Gesellschaft, das Objekt, <strong>die</strong> soziale Interaktion<br />

<strong>und</strong> das menschliche Handeln, <strong>die</strong> alle ineinander verwoben sind, miteinander<br />

kolli<strong>die</strong>ren <strong>und</strong> sich auch ergänzen. Die Prämissen <strong>des</strong> Symbolischen<br />

Interaktionismus werden bei der Auswertung der Interviews eine Rolle spielen,<br />

eine vollständige Umsetzung <strong>und</strong> Integration <strong>des</strong> Konzeptes wird jedoch nur<br />

am Rande stattfinden. Von Relevanz wird der Symbolische Interaktionismus<br />

aber dann sein, wenn es darum geht, <strong>die</strong> Gründe für den Verbleib der Leiten-<br />

148


den Ärzte <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong> im öffentlichen Spital zu eruieren, damit einher geht<br />

<strong>die</strong> These, dass sich der Arzt <strong>des</strong> öffentlichen Spitalwesens seinem berufsethi-<br />

schen Selbstverständnis <strong>und</strong> seinem inkorporierten Habitus verpflichtet fühlt<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Abwanderung in einem merklichen Bruch mit seiner „totalen sozialen<br />

Rolle“ resultieren würde.<br />

3.2.1 Epistemologische Verortung der Gro<strong>und</strong>ed Theory<br />

Die Gro<strong>und</strong>ed Theory ist eine Methodik, <strong>die</strong> sich für all jene Forscher eignet,<br />

<strong>die</strong> ihr methodisches Vorgehen bei der Bildung von Theorien gerne explizieren<br />

<strong>und</strong> hinsichtlich der Schritte <strong>und</strong> Wege der Theorieentwicklung einen persönlichen<br />

Beitrag leisten möchten (Lamnek, 2005, S. 101). Bei der Gro<strong>und</strong>ed Theory<br />

beruhen <strong>die</strong> Theorien auf den empirischen Daten <strong>und</strong> Einsichten, wobei<br />

Gro<strong>und</strong>ed gleichbedeutend für „in der Empirie verankert“ ist (Lamnek, 2005, S.<br />

102).<br />

Zunehmende<br />

Generalisierung<br />

Abbildung 7: Genese formaler Theorien nach Glaser <strong>und</strong> Strauss<br />

(1998, zit. in Lamnek, 2005, S. 113)<br />

Verallgemeinerung<br />

(induktiv)<br />

Durchgehende Methode:<br />

vergleichende Analyse<br />

Anhand der Gro<strong>und</strong>ed Theory, <strong>die</strong> im Deutschen unter datenbasierte Theorie<br />

bekannt ist, sollen formale Theorien entdeckt <strong>und</strong> entwickelt werden. Die formalen<br />

Theorien entstehen, indem von den Fakten ausgegangen wird, welche<br />

eine Verallgemeinerung erfahren <strong>und</strong> in der Folge induktiv in einer gegenstandsbezogenen<br />

Theorie resultieren. Diese Theorien, <strong>die</strong> in der Empirie entstanden<br />

<strong>und</strong> folglich auch darin verankert sind, erfahren eine zunehmende<br />

Generalisierung <strong>und</strong> werden so zu Formal Theories (Lamnek, 2005, S. 113).<br />

149


Es geht bei der Gro<strong>und</strong>ed Theory nicht in erster Linie um das Generieren von<br />

Theorien, <strong>die</strong> dem Anspruch der Gültigkeit für <strong>die</strong> Ewigkeit gerecht werden<br />

müssen, da auch Theorien einem stetigen Wandel unterliegen <strong>und</strong> es zu einer<br />

Anpassung <strong>und</strong> Veränderung je nach interpretierendem Subjekt kommen kann.<br />

Der Ursprung, welcher gleichzeitig den Anstoss zur Ausarbeitung der Gro<strong>und</strong>ed<br />

Theory darstellte, war der damalige Graben, der zwischen der Theorie <strong>und</strong><br />

der empirischen Forschung unüberbrückbar schien. Barney Glaser <strong>und</strong> Anselm<br />

Strauss haben mit dem Buch „The Discovery of Gro<strong>und</strong>ed Theory“, welches<br />

1967 erschien, das F<strong>und</strong>ament der Gro<strong>und</strong>ed Theory gelegt. Deutlich erklärten<br />

beide, dass es ihnen nicht darum ginge, <strong>die</strong> Prüfmethoden zu verbessern, sondern<br />

ihr Anliegen auf <strong>die</strong> Bewusstseinsstärkung der Soziologen abziele, <strong>die</strong> ihre<br />

Aufgaben, insbesondere das Aufstellen von soziologischen Theorien, wieder<br />

ernst nehmen müssten (Lamnek, 2005, S. 101).<br />

Von Bedeutung ist im Zusammenhang mit der Herkunft der Gro<strong>und</strong>ed Theory<br />

<strong>die</strong> Kenntnis, dass zwei Hauptströme <strong>die</strong>ser Methodik existieren. Die Autoren<br />

<strong>des</strong> Fachwerkes „The Discovery of Gro<strong>und</strong>ed Theory“ Barney Glaser <strong>und</strong> Anselm<br />

Strauss entwickelten im Laufe der Zeit zwei unterschiedliche Verfahrensvarianten,<br />

<strong>die</strong> sich teilweise widersprechen. Eine empirische Variante der<br />

Gro<strong>und</strong>ed Theory wird von Barney Glaser, der aus der positivistischen <strong>und</strong><br />

quantitativ orientierten Tradition der Columbia University stammte, verbreitet.<br />

Dagegen verfolgt Anselm Strauss, der ein Schüler von Herbert Blumer war <strong>und</strong><br />

später mit Juliet Corbin zusammenarbeitete, eine pragmatische Variante, deren<br />

Herkunft auf <strong>die</strong> Chicagoer Schule <strong>und</strong> den Symbolischen Interaktionismus<br />

zurückzuführen ist (Charmaz, 2006, S. 7 ff.). Die Gro<strong>und</strong>ed Theory fusst folglich<br />

auf zwei bedeutenden Denkrichtungen. Strauss gehört der „Chicagoer Schule<br />

der Soziologie“ an, <strong>die</strong> in ihrer Form dem amerikanischen Pragmatismus entspricht,<br />

<strong>des</strong>sen Schwerpunkt im Verständnis einer Methode in Bezug auf den<br />

Problemlösungsprozess darstellt. Folglich ist er ein führender Vertreter eines<br />

pragmatistisch reformulierten Interaktionismus (Strübing, 2008, S. 66). Seine<br />

akademische Ausbildung genoss er unter anderem bei Herbert Blumer, <strong>des</strong>sen<br />

Symbolischer Interaktionismus bereits im Vorfeld betrachtet wurde. Die zweite<br />

Denkrichtung entspricht derjenigen von Glaser, <strong>des</strong>sen Ausbildung an der von<br />

Paul Lazarsfeld gegründeten „Columbia School“ begann, <strong>die</strong> sich dem Positivismus<br />

verpflichtet sieht. Diese Schule hat sich einer eher kritischrationalistisch<br />

orientierten <strong>und</strong> vorwiegend quantifizierenden Forschungsme-<br />

150


thodik verpflichtet (Strübing, 2008, S. 67). Eines von Glasers Zielen im Rahmen<br />

der Gro<strong>und</strong>ed Theory bestand in der Ko<strong>die</strong>rung der Ergebnisse qualitativer<br />

Forschungsmethoden. Laszerfeld selbst legte grossen Wert auf <strong>die</strong> Ko<strong>die</strong>rung<br />

der Ergebnisse quantitativer Forschungsmethoden (Charmaz, 2006, S. 7).<br />

Die erstgenannte Denkrichtung, <strong>die</strong> Chicagoer Schule der Soziologie, hebt besonders<br />

<strong>die</strong> Datenerhebungsmethoden der Feldbeobachtung <strong>und</strong> <strong>des</strong> Interviews<br />

hervor, <strong>die</strong> beide als Basis der soziologischen Stu<strong>die</strong> gelten <strong>und</strong> auch im<br />

Rahmen der Gro<strong>und</strong>ed Theory anzutreffen sind. Strauss geht von der Annahme<br />

aus, dass ein Verhältnis wechselseitiger Konstitution zwischen dem steten Fluss<br />

der „world in the making“ <strong>und</strong> dem erkennenden Subjekt besteht. Im amerikanischen<br />

Pragmatismus ist <strong>die</strong> Realität folglich dynamisch, wobei gewisse Relationen<br />

einem Prozess der Konstruktion, der aber keine Willkür darstellt, unterstehen.<br />

Glaser hält an der „Tabula-rasa-Mentalität“ fest, <strong>die</strong> auf das Ausblenden<br />

von theoretischem Vorwissen <strong>des</strong> Forschers abzielt. Glaser plä<strong>die</strong>rt folglich für<br />

<strong>die</strong> Vorstellung einer existenten, absoluten Realität, welche eine Notwendigkeit<br />

für das Erlangen von rein induktiven Erkenntnissen darstellt. Auch im Zusammenhang<br />

mit dem Tabula-rasa-Prinzip kam es seitens Glaser zu einigen<br />

Inkonsequenzen (Strübing, 2008, S. 68). Auf <strong>die</strong> Differenzen zwischen Strauss<br />

<strong>und</strong> Glaser wird auch in den folgenden Kapiteln kontinuierlich eingegangen,<br />

da es bei der Weiterinterpretation <strong>und</strong> Ausarbeitung der Gro<strong>und</strong>ed Theory zu<br />

einem Bruch zwischen Glaser <strong>und</strong> Strauss kam, der hauptsächlich auf <strong>die</strong> akademische<br />

Herkunft beider Wissenschaftler zurückzuführen ist.<br />

Wie bereits beim Symbolischen Interaktionismus erwähnt wurde, besteht <strong>die</strong><br />

Realität gemäss Strauss <strong>und</strong> Blumer aus einer sozialen Konstruktion der Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> der Realität an sich, wobei <strong>die</strong>se Konstruktion durch Interaktion <strong>und</strong><br />

folglich durch Kommunikation <strong>und</strong> Sprache geschieht. Gleichzeitig ist <strong>die</strong>ser<br />

Prozess von der Wahrnehmung <strong>des</strong> Einzelnen abhängig. Diese Sichtweise hielt<br />

dank Strauss Einzug in <strong>die</strong> Gro<strong>und</strong>ed Theory, da <strong>die</strong>ser, wie bereits erwähnt,<br />

ein Schüler von Blumer war. Zusammenfassend formuliert stehen Symbole für<br />

soziale Konstrukte, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Welt beschreiben <strong>und</strong> denen Bedeutungen zugeschrieben<br />

werden, welche anschliessend <strong>die</strong> Handlungsgr<strong>und</strong>lage darstellen.<br />

Der Symbolische Interaktionismus fokussiert auf <strong>die</strong> Sprache <strong>und</strong> das gewohnheitsmässige<br />

Verhalten. Beide Komponenten finden sich bei der Datenerhebung<br />

wieder, <strong>die</strong> sich auf Beobachtungen <strong>und</strong> Interviews stützt, folglich den direkten<br />

151


Kontakt mit dem zu untersuchenden Objekt sucht <strong>und</strong> ein wesentlicher Be-<br />

standteil der Gro<strong>und</strong>ed Theory darstellt (Charmaz, 2006, S. 7).<br />

Das Buch „Basics of Qualitative Research: Gro<strong>und</strong>ed Theory Procedures and<br />

Techniques“, welches 1990 durch Strauss <strong>und</strong> Corbin herausgegeben wurde<br />

<strong>und</strong> gleichzeitig ihr gemeinsames Erstlingswerk darstellt, offenbart <strong>die</strong> diffe-<br />

renten Richtungen der Gro<strong>und</strong>ed Theory. Die Kritik von Glaser an <strong>die</strong>sem<br />

Werk lautete, dass <strong>die</strong> Methodik einer zu stark prozessorientierten Entwicklung<br />

unterliege <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mechanik der Forschungsmethodik zu stark hervorgehoben<br />

werde. Er sah darin folglich <strong>die</strong> Gefahr <strong>des</strong> Verlustes der theoretischen Sensibilität<br />

<strong>und</strong> der Bedeutungseinsicht (Goulding, 2002, S. 47). Für Glaser (1992, S. 16)<br />

lautete <strong>die</strong> Aufgabe der Gro<strong>und</strong>ed Theory folgendermassen: „The gro<strong>und</strong>ed<br />

theory approach is a general methodology of analysis linked with data collection<br />

that uses a systematically applied set of methods to generate an inductive<br />

theory about a substantive area.”<br />

Die beiden Strömungen erfahren insbesondere bezüglich der unterschiedlichen<br />

Ko<strong>die</strong>rverfahren einen offensichtlichen Bruch; so existieren bei Glaser ausschliesslich<br />

das offene <strong>und</strong> selektive Ko<strong>die</strong>ren, Strauss <strong>und</strong> Corbin dagegen<br />

fügten das axiale Ko<strong>die</strong>ren den beiden anderen Ko<strong>die</strong>rungsprozessen hinzu.<br />

Glasers Schwerpunkte bilden vor allem <strong>die</strong> interpretative, kontextuelle <strong>und</strong><br />

emergente Seite der Theoriegenerierung, dagegen ernannten Strauss <strong>und</strong> Corbin<br />

später den Prozess <strong>des</strong> Ko<strong>die</strong>rens <strong>und</strong> <strong>des</strong> Vergleichens zu ihren Schwerpunkten<br />

(Goulding, 1999 zit. in Goulding, 2002, S. 47).<br />

Von Bedeutung für das methodische Vorgehen der vorliegenden Arbeit ist der<br />

Anspruch der Gr<strong>und</strong>form der Gro<strong>und</strong>ed Theory, also das unvoreingenommene<br />

Herangehen an das Untersuchungsfeld ohne das Setzen fester Kategorien oder<br />

Hypothesen. Diese Phase der „Theorie-Armut“ sollte nach den ersten Erkenntnissen<br />

<strong>und</strong> Kategorien durch eine Phase abgelöst werden, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> in der<br />

Anfangsphase entstandenen Teile eines theoretischen Bezugsrahmens geleitet<br />

<strong>und</strong> systematisiert wurden (Lamnek, 2005, S. 106). Auf <strong>die</strong> Datenerhebung wird<br />

im nächsten Abschnitt eingegangen, wobei immer wieder auch Vergleiche<br />

zwischen der Gr<strong>und</strong>theorie nach Glaser <strong>und</strong> Strauss integriert werden.<br />

3.2.2 Datenerhebung <strong>und</strong> Untersuchungssample<br />

Gemäss Glaser <strong>und</strong> Strauss (1998, S. 26) taugt „... im Prinzip jede Form von<br />

152


Daten sowohl für <strong>die</strong> Verifizierung als auch zur Generierung von Theorie.“ Im<br />

Rahmen der Gro<strong>und</strong>ed Theory plä<strong>die</strong>ren sowohl Glaser <strong>und</strong> Strauss als auch<br />

Strauss <strong>und</strong> Corbin für eine induktive Theoriegenerierung wie <strong>die</strong> folgende<br />

Textpassage aus dem Werk von Strauss <strong>und</strong> Corbin (1990, S. 23) zeigt: „A<br />

gro<strong>und</strong>ed theory is one that is inductively derived from the study of the phenomenon<br />

it represents.“ Die generierte Theorie sollte den folgenden Kriterien<br />

„... fit, <strong>und</strong>erstanding, generality, and control“ gerecht werden. Die Theorie<br />

sollte der Realität entsprechen, verständlich sein <strong>und</strong> sowohl für <strong>die</strong> Menschen,<br />

Berufsgruppen etc. <strong>und</strong> das Feld, in welchem sich <strong>die</strong>se befinden, sinnvoll sein.<br />

Strübing (2008, S. 7) zeigt auf, dass <strong>die</strong> Gro<strong>und</strong>ed Theory kein starres Methodengerüst,<br />

sondern eine konzeptuell verdichtete, methodologisch begründete<br />

<strong>und</strong> in sich konsistente Sammlung von Vorschlägen darstellt, <strong>die</strong> sich für <strong>die</strong><br />

Erzeugung gehaltvoller Theorien über sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche<br />

als nützlich erwiesen haben.<br />

Wie bereits erläutert, wurden für <strong>die</strong> vorliegende Dissertation zwanzig Kaderärzte<br />

<strong>und</strong> zwei CEOs befragt. Die Stichprobe setzt sich aus Ärzten aus drei<br />

öffentlichen Kantonsspitälern als auch diversen privaten Spitälern zusammen.<br />

Der persönliche Kontakt der Initiantin der Auftragsforschung zu den beiden<br />

anderen Kantonsspitälern ermöglichte einen wertvollen Zugang zu erwiesenen<br />

Experten <strong>des</strong> medizinischen Fel<strong>des</strong>. In Bezug auf <strong>die</strong> Abwanderungstendenzen<br />

der Ärzte öffentlicher Spitäler zu privaten Spitälern stand zu Beginn <strong>des</strong> Projektes<br />

<strong>die</strong> These im Raum, dass <strong>die</strong> regionale Nähe eines Kantonsspitals <strong>die</strong> Abwanderung<br />

zu einer Privatklinik fördere. Darauf wurde infolge<strong>des</strong>sen bei der<br />

Auswahl der Kantonskliniken besonders Acht gegeben. Bei einem der partizipierenden<br />

Kantonsspitäler bestand zu Beginn <strong>die</strong>ses Forschungsprojektes noch<br />

keine regionale Nähe zu einem Privatspital, was bei den anderen beiden der<br />

Fall war. Im Laufe <strong>des</strong> Projektes fand jedoch <strong>die</strong> Übernahme eines dem Kantonsspital<br />

benachbarten Spitals durch <strong>die</strong> grösste Schweizer Privatklinikgruppe<br />

statt. Während der Interviews befand sich <strong>die</strong>ses Vorhaben in der Planung, <strong>die</strong><br />

Kaderärzte am Kantonsspital berichteten aber bereits von Abwerbungs- bzw.<br />

Übertrittsangeboten, also Lockrufen aus dem Markt, seitens der potenziell<br />

übernehmenden Privatklinikgruppe. Dass nicht nur Interviews mit Ärzten,<br />

sondern auch mit CEOs geführt wurden, ist auf <strong>die</strong> neuen CEO-Modelle <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Zunahme der Besetzung der oberen Entscheidungsgremien durch Ökonomen<br />

eine Tendenz, <strong>die</strong> von befragten Ärzten sowohl moniert als auch mit Ver-<br />

153


ständnis akzeptiert wurde, zurückzuführen. Früher wurden Spitäler oft von<br />

einem sogenannten Dreibein, das sich aus je einer Führungsperson der Medi-<br />

zin, der Pflege <strong>und</strong> der Betriebswirtschaft zusammensetzte, geführt. In der<br />

Folge wurde ein Interview mit einem CEO eines öffentlichen Spitals <strong>und</strong> eines<br />

mit einem CEO eines Privatspitals geführt. Wie genau das Auswahlverfahren<br />

<strong>und</strong> das theoretische Sampling in der vorliegenden Arbeit aussah, kann in<br />

Kapitel 3.1.2 nachgelesen werden. Besonders zu erwähnen ist aber in <strong>die</strong>sem<br />

Zusammenhang, dass zahlreiche Interviewanfragen auf Empfehlung von inter-<br />

viewten Ärzten <strong>und</strong> folglich Kollegen der Angefragten basierten. Die befragten<br />

Ärzte empfahlen Kollegen weiter, mit denen sie zusammengearbeitet <strong>und</strong> von<br />

denen sie wussten, dass sie das öffentliche Spital verlassen hatten <strong>und</strong> nun an<br />

einer Privatklinik tätig waren. Einige Namen von Ärzten, <strong>die</strong> von öffentlichen<br />

Spitälern abgewandert sind, wurden im Rahmen unterschiedlicher Interviews<br />

mehrmals genannt. Dies kam vor allem dann vor, wenn der Weggang eines<br />

Arztes, der sich zwar dem öffentlichen Sektor seit Jahrzehnten verschrieben<br />

hatte, aber trotzdem in ein Privatspital abwanderte, plötzlich <strong>und</strong> unverhofft<br />

geschah. Einige Interviews fanden mit Ärzten statt, <strong>die</strong> in der Öffentlichkeit,<br />

aber auch innerhalb ihres Fachgebietes einen gewissen Bekanntheitsgrad aufweisen,<br />

<strong>die</strong> als besonders kompetent gelten <strong>und</strong> auch keine Abneigung der<br />

medialen Präsenz gegenüber zeigen. Alle anderen Interviews wurden, wie<br />

bereits in Kapitel 3.1.2 beschrieben wurde, durch <strong>die</strong> drei Kontaktpersonen der<br />

öffentlichen Spitäler initiiert. Die Anzahl der Interviewpartner hat im Laufe der<br />

Interviewreihe zugenommen, da <strong>die</strong> kontinuierliche Befragung von Experten,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> letzten ein bis zwei Ärztegenerationen mitgeprägt <strong>und</strong> teils gefördert<br />

haben, <strong>die</strong> zu den sogenannten Koryphäen in ihrer Spezialität gehören <strong>und</strong> auf<br />

einige Jahre an Berufserfahrung zurückblicken können, ein weiterer wertvoller<br />

Beitrag für <strong>die</strong> folgende Arbeit darstellt. Die Anzahl der Interviews konnte aber<br />

nicht ins Unermessliche erhöht werden, da der zeitliche Rahmen <strong>des</strong> Forschungsprojektes<br />

bei zwei Jahren lag, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ressourcen für das Führen von<br />

Interviews, für deren Transkription, für das stetige Analysieren der Daten <strong>und</strong><br />

für <strong>die</strong> Herausarbeitung der darin enthaltenen Tendenzen <strong>und</strong> ihre Verdichtung<br />

begrenzt waren.<br />

Hinsichtlich der Festlegung der Samplegrösse entschied man sich für das theoretische<br />

Sampling der Gro<strong>und</strong>ed Theory. Glaser <strong>und</strong> Strauss (1998, S. 53) definieren<br />

das im Rahmen der Gro<strong>und</strong>ed Theory benutzte Auswahlverfahren,<br />

154


welches „Theoretical Sampling“ genannt wird, folgendermassen: „Theoreti-<br />

sches Sampling meint den auf <strong>die</strong> Generierung von Theorie zielenden Prozess<br />

der Datenerhebung, während<strong>des</strong>sen der Forscher seine Daten parallel erhebt,<br />

ko<strong>die</strong>rt <strong>und</strong> analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste<br />

erhoben werden sollen <strong>und</strong> wo sie zu finden sind. Dieser Prozess der Datenerhebung<br />

wird durch <strong>die</strong> im Entstehen begriffene – materiale oder formale –<br />

Theorie kontrolliert.“ Für Glaser (1992, 101f.) stellt das theoretische Sampling<br />

einen Prozess dar, welcher <strong>die</strong> Datenerhebung lenkt <strong>und</strong> welcher zulässt, dass<br />

<strong>die</strong> Erhebung <strong>und</strong> Analyse von Daten noch <strong>und</strong> gerade während der Theoriegenerierung<br />

eingearbeitet werden (Glaser & Strauss, 1998, S. 56). Dabei findet<br />

eine Gleichzeitigkeit der Prozessschritte <strong>und</strong> durch <strong>die</strong> präzise Erweiterung der<br />

Samples eine Anreicherung der Theorie statt (Strübing, 2008, S. 87). Die Samplepopulation<br />

<strong>und</strong> deren Grösse wird folglich nicht wie bei quantitativen Stu<strong>die</strong>n<br />

ex ante determiniert. Es können Personen dem Sample hinzugefügt werden,<br />

falls <strong>die</strong>se wichtige Auskünfte über das Untersuchungsobjekt oder den<br />

damit zusammenhängenden Kontextfaktor ankündigen. Die Relevanz der Daten<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Datenmenge werden gesichert, indem <strong>die</strong> Kriterien dafür, was<br />

überhaupt erhoben werden soll, aus der entstehenden Theorie selber abgeleitet<br />

werden (Glaser & Strauss, 2008, S. 56).<br />

Das folgende Tableau zeigt <strong>die</strong> Zusammensetzung der interviewten Kaderärzte,<br />

<strong>die</strong> entweder aus einem der drei öffentlichen Spitäler oder einer Klinik der<br />

Privatklinikgruppe entstammen. Im zweiten Abschnitt der Tabelle (ab Trägerschaft<br />

Privatklinik) entsprechen <strong>die</strong> Geburtsdaten ungefähren Werten, <strong>die</strong>se<br />

wurden anhand von Interviewaussagen bezüglich beruflicher Werdegang,<br />

Kollegen, mit denen sie <strong>die</strong> Ausbildung absolviert haben, oder Verweise auf<br />

Kollegen <strong>des</strong> öffentlichen Spitals, mit welchen sie zusammengearbeitet haben,<br />

errechnet, sie entsprechen aber nicht immer der Realität. Die Daten der Rubrik<br />

„ehemalige Funktion am KS“ wurden den Interviews <strong>und</strong> den online zur Verfügung<br />

stehenden CVs <strong>die</strong>ser Ärzte entnommen. Die nummerischen Daten<br />

wurden im Rahmen der Interviewauswertung mit herkunftsspezifischen Daten,<br />

Fakten zur beruflichen Laufbahn <strong>und</strong> weiteren soziodemographischen Daten<br />

angereichert. Die anbei vorliegenden Daten <strong>die</strong>nten einer ersten Typologisierung<br />

in <strong>die</strong> Kategorien „Stayer“, „Leaver“ <strong>und</strong> „Rückkehrer“.<br />

155


N akad.<br />

156<br />

Grad<br />

Pseudonym Alter<br />

(2011)<br />

1 Prof. Dr. Lena C. 60 Chefärztin Innere Medizin<br />

Departementsleiterin Medizin<br />

2 PD Dr. Beat U. 51 Chefarzt Spezialität der Inneren<br />

Medizin<br />

3 Dr.<br />

med.<br />

derzeitige Funktion Fachgebiet Trägerschaft<br />

Medizin Kantonsspital<br />

Medizin Kantonsspital<br />

Klaus K. 47 Leitender Arzt Innere Medizin Medizin Kantonsspital<br />

4 Prof. Dr. Daniel S. 60 Chefarzt Spezialität der Inneren<br />

Medizin<br />

5 Prof. Dr. Andreas L. 57 Chefarzt Chirurgie<br />

Departementsleiter Chirurgie<br />

6 PhD Dr. Emil E. 47 Co-Chefarzt Spezialität der<br />

Inneren Medizin<br />

7 Dr.<br />

med.<br />

8 Dr.<br />

med.<br />

9 Dr.<br />

med.<br />

10 Dr.<br />

med.<br />

11 Dr.<br />

med.<br />

Bernard S. 54 Leitender Arzt Spezialität der<br />

Chirurgie<br />

Martin A. 58 Leitender Arzt Spezialität der<br />

Inneren Medizin<br />

Medizin Kantonsspital<br />

Chirurgie Kantonsspital<br />

Anästhesie Kantonsspital<br />

Chirurgie Kantonsspital<br />

Medizin Kantonsspital<br />

Hans S. 60 Chefarzt Kardiologie Medizin Kantonsspital<br />

Joachim A. 58 Chefarzt Spezialität der Inneren<br />

Medizin<br />

Karl K. 51 Chefarzt Spezialität der Inneren<br />

Medizin<br />

12 Prof. Dr. Petra S. 60 Chefärztin Spezialität der<br />

Inneren Medizin<br />

13 Prof. Dr. Otto K. 59 Chefarzt Spezialität der Inneren<br />

Medizin<br />

14 Dr. med<br />

M.H.A.<br />

15 Dr.<br />

med.<br />

16 Prof. Dr.<br />

med.<br />

17 Prof. Dr.<br />

med.<br />

18 Dr.<br />

med.<br />

19 Dr.<br />

med.<br />

20 Prof. Dr.<br />

med.<br />

21 Prof. Dr.<br />

med.<br />

Medizin Kantonsspital<br />

Medizin Kantonsspital<br />

Medizin Kantonsspital<br />

Medizin Kantonsspital<br />

Tobias F. 54 CEO Verwaltung Kantonsspital<br />

Victor H. 51 Facharzt FMH Innere Medizin<br />

(Spezialität)<br />

Yann S. 58 Facharzt FMH Innere Medizin<br />

(Spezialität)<br />

Walter I. 55 Facharzt FMH für Chirurgie<br />

(Spezialität)<br />

Adrian L. 51 Facharzt FMH Innere Medizin<br />

(Spezialität)<br />

Medizin Privatspital<br />

Medizin Privatspital<br />

Chirurgie Privatspital<br />

Medizin Privatspital<br />

Bernd A. 51 Facharzt FMH Chirurgie Chirurgie Privatspital<br />

Xavier R. 62 Facharzt FMH Innere Medizin<br />

(Spezialität)<br />

Christian<br />

N.<br />

62 Facharzt FMH für Chirurgie<br />

(Spezialität)<br />

Medizin Privatspital<br />

Chirurgie Privatspital<br />

22 Dr.<br />

med.<br />

Louis B. 49 CEO Verwaltung Privatspital<br />

Tabelle 12: Untersuchungssample – Interviewpartner aus Kantonsspitälern <strong>und</strong> Privatspitälern<br />

(eigene Darstellung)


Bei der Betrachtung <strong>des</strong> zeitlichen Aspekts der Forschungsphase fällt auf, dass<br />

der Anspruch der Parallelität, also der gleichzeitigen theoriegeleiteten Erhebung,<br />

Ko<strong>die</strong>rung <strong>und</strong> Analyse der Daten im Prozess der Theoriegenierung,<br />

einen massgeblichen Unterschied zu anderen Methoden darstellt. Gemäss Glaser<br />

<strong>und</strong> Strauss ist an eine Trennung <strong>die</strong>ser Phasen nicht zu denken (1998, S.<br />

78), <strong>und</strong> so plä<strong>die</strong>ren sie für den gleichzeitigen Ablauf <strong>des</strong> theoretischen Samplings<br />

<strong>und</strong> der Sammlung von Daten zur Theoriengenerierung. Im Gegensatz zu<br />

vielen anderen Methoden zielt das Sampling der Gro<strong>und</strong>ed Theory auf <strong>die</strong><br />

Theoriegenese <strong>und</strong> nicht auf <strong>die</strong> Theorieprüfung ab (Strübing, 2008, S. 32f). Der<br />

gesamte Prozess fokussiert folglich auf <strong>die</strong> Eruierung von emergenten Kernkategorien,<br />

<strong>die</strong> anschliessende Entwicklung von Hypothesen <strong>und</strong> <strong>die</strong> finale Integration<br />

in Theorien, wobei das theoretische Sampling bei jedem Schritt kontrolliert<br />

werden muss (Glaser & Strauss, 1998, S. 79). Im Kapitel „Datenauswertung“<br />

wird über den Prozess <strong>des</strong> Vergleichens gesprochen, auf den hier nicht<br />

näher eingegangen wird. Bevor <strong>die</strong>ser Prozess jedoch eintritt, muss ein gewisses<br />

Mass an Sättigung erreicht worden sein. Mit theoretischer Sättigung wird<br />

<strong>die</strong>jenige Etappe angesprochen, in welcher <strong>die</strong> systematisch <strong>und</strong> fortgesetzt<br />

erhobenen Daten, <strong>die</strong> der Prüfung bestimmter theoretischer Konzepte <strong>die</strong>nen,<br />

lediglich noch bestätigt werden <strong>und</strong> keine weiteren Inputs bzw. keine weiteren<br />

Eigenschaften der Konzepte mehr erbringen (Strübing, 2008, S. 32). Auf <strong>die</strong><br />

Phase der theoretischen Sättigung innerhalb einer Kategorie folgt <strong>die</strong> Modifizierung<br />

der Sampling-Strategie, wobei parallel oder auch an <strong>des</strong>sen Anschluss <strong>die</strong><br />

Strategie der Minimierung <strong>und</strong> Maximierung von Differenzen zwischen Vergleichsgruppen<br />

erfolgt. Der Soziologe kann durch <strong>die</strong>sen Prozess <strong>die</strong> theoretische<br />

Relevanz seiner Datenerhebung kontrollieren (Glaser & Strauss, 1998, S.<br />

62f). Im Kapitel 3.2.3 wird das Vorgehen ausführlicher thematisiert. Für Glaser<br />

<strong>und</strong> Strauss (1998, S. 69) stellt <strong>die</strong> theoretische Sättigung „... das Kriterium, um<br />

zu beurteilen, wann mit dem Sampling (je Kategorie) aufgehört werden kann“<br />

dar. Anhand <strong>die</strong>ser unterschiedlichen <strong>und</strong> teilweise parallelen Verläufe wird<br />

ersichtlich, dass <strong>die</strong> Datenerhebung im Rahmen <strong>des</strong> theoretischen Samplings<br />

nicht eine einmalige Aktion darstellt, sondern aus einem mehrstufigen Prozess<br />

besteht (Charmaz, 2006, S. 107). Wann <strong>die</strong> theoretische Sättigung genau eintritt<br />

<strong>und</strong> welche Regeln dabei beachtet werden müssen, sind Fragen, auf welche es<br />

keine klaren Antworten gibt. Wie aber bereits erwähnt wurde, appelliert <strong>die</strong><br />

theoretische Sättigung an das Feingefühl <strong>des</strong> Forschers, der selber erkennen<br />

muss, wann eine Theorie gesättigt ist, ob weitere Interviews auch tatsächlich<br />

157


mehr Daten liefern oder ob <strong>die</strong> gewonnenen Daten nur noch zu einer Bestäti-<br />

gung der Theorie führen. Bei <strong>die</strong>sem Verfahren ist Vorsicht geboten, da in jeder<br />

Forschung <strong>die</strong> Phase <strong>des</strong> Abschlusses der Datengenerierung eintreten muss,<br />

was natürlich auch immer <strong>die</strong> Gefahr <strong>des</strong> zu frühen Abschlusses in sich birgt.<br />

Die Datenerhebung der vorliegenden Stu<strong>die</strong> geschieht mittels Experteninterviews.<br />

Offene Konzepte <strong>und</strong> wenig strukturierte Befragungen wie <strong>die</strong> Experteninterviews<br />

erfolgen vor allem bei explorativen Zielen <strong>und</strong> bei der Klärung<br />

von Zusammenhängen (Atteslander, 2008, S. 129). Ein Experte verfügt über ein<br />

aufgabenbezogenes, relativ genau umrissenes Teil-Wissen innerhalb eines Sonderwissensbereichs,<br />

das zur Erfüllung seiner Spezialistenfunktion erforderlich<br />

ist (Bogner, Littig, Menz, 2009, S. 100). Er verfügt über das Wissen in Bezug auf<br />

<strong>die</strong> Prinzipien <strong>des</strong> Sachverhaltes bzw. der Sachlogik <strong>und</strong> folglich über einen<br />

relativ exklusiven Wissensbestand. Sein Wissen ist aber prinzipiell nicht für<br />

jedermann zugänglich (Bogner, Littig, Menz, 2009, S. 101). Meuser <strong>und</strong> Nagel<br />

(1991, zit. in Bogner et al., 2009, S. 101) zeigen auf, dass Experten über einen<br />

„privilegierten Informationszugang“ verfügen, was im Falle <strong>des</strong> Arztes sowohl<br />

hinsichtlich seiner Fachkompetenz, seiner Schweigepflicht, aber auch hinsichtlich<br />

seiner Position im relativ geschlossenen Feld <strong>des</strong> Spitals vollständig gegeben<br />

ist.<br />

Die durchgeführten Interviews werden den Ansprüchen <strong>des</strong> standardisierten<br />

Interviews gerecht, da <strong>die</strong> Antworten im Anschluss an <strong>die</strong> Gespräche in Kategorien<br />

unterteilt werden, um eine Vergleichbarkeit herstellen zu können (Atteslander,<br />

2008, S. 134). Die Kategorisierung wurde jedoch nicht bereits vor oder<br />

während der Anfangsphase der Interviews vorgenommen, sondern erfolgte erst<br />

im Laufe <strong>des</strong> gesamten Interviewprozesses. Dieses Vorgehen ist vor allem bei<br />

wenig strukturierten Interviews, in denen so wenig Themenkontrolle als möglich<br />

ausgeübt werden soll, gängig (Atteslander, 2008, S. 130). Hinsichtlich der<br />

Frageform wurden offene Fragen gewählt, da <strong>die</strong>se dem Befragten einen freien<br />

Redefluss ermöglichen. Die Erstellung eines systematisierten <strong>und</strong> nach Themengebieten<br />

aufgeteilten Leitfadens fand im Vorfeld statt. Gemäss Meuser <strong>und</strong><br />

Nagel (1991, zit. in Garz et al., 1991, S. 448) ist <strong>die</strong> Erstellung eines Leitfadens<br />

sinnvoll, da dadurch das Interview eine Struktur erhält <strong>und</strong> ein zu starkes Abweichen<br />

vom untersuchten Themenkomplex verhindert werden kann. Ein guter<br />

Leitfaden lässt aber auch genügend Freiraum für <strong>die</strong> Ausführungen <strong>des</strong> Befrag-<br />

158


ten zu (Meuser & Nagel, 1991, zit. in Garz & Kraimer, 1991, S. 449) <strong>und</strong> bietet<br />

dem Interviewer <strong>die</strong> Chance, sich wichtige Gr<strong>und</strong>kenntnisse über <strong>die</strong> Thematik<br />

anzueignen, <strong>die</strong> für ein unverkrampftes Führen <strong>des</strong> Interviews <strong>und</strong> das Selbst-<br />

vertrauen <strong>des</strong> Interviewers eminent wichtig sind. Ein erfolgreiches Interview ist<br />

nicht nur dasjenige, das von den Daten her betrachtet am Ergiebigsten ist, son-<br />

dern auch dasjenige, das dem Interviewten das Gefühl gibt, ernst genommen<br />

worden zu sein <strong>und</strong> mit einer vorinformierten Person, <strong>die</strong> ein reelles Interesse<br />

an der Thematik zeigt, ein Gespräch geführt zu haben. Der Interviewer sollte<br />

sich sprachlich gesehen auf den Sprachcode <strong>des</strong> Experten einlassen <strong>und</strong> ihm<br />

nicht seine Sprache aufzwängen. Einige weitere Faktoren wie Alter, Geschlecht,<br />

hierarchischer Rang oder teilweise auch <strong>die</strong> Herkunft können <strong>die</strong> Interviewsi-<br />

tuation wesentlich beeinflussen, wobei <strong>die</strong>s Faktoren darstellen, <strong>die</strong> weder<br />

technisch noch methodisch kontrollierbar sind (Meuser & Nagel, 1991, zit. in<br />

Garz & Kraimer, 1991, S. 451).<br />

In <strong>die</strong>sem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass, bezogen auf <strong>die</strong> fol-<br />

gende Arbeit, der Interviewleitfaden, der in Appendix A beigelegt ist, einige<br />

situative Anpassungen erfahren musste. So wurden beispielsweise im siebten<br />

Themenblock, in welchem es um <strong>die</strong> Erfassung <strong>des</strong> Arbeitsumfel<strong>des</strong> ging <strong>und</strong><br />

welcher im nächsten Abschnitt ausführlicher erläutert wird, Fragen auf <strong>die</strong><br />

Situation hin angeglichen. Die Interviews wurden mit Ärzten geführt, von<br />

denen gewisse an öffentlichen <strong>und</strong> andere an privaten Spitälern tätig waren.<br />

Diese Verschiedenheit in der Arbeitgeberschaft <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit zusammenhängenden<br />

Unterschiede bezüglich der Institution, welcher sie sich verpflichtet<br />

haben, führten zu differenten Ausgangspositionen. Die Ärzte, <strong>die</strong> an öffentlichen<br />

Spitälern tätig waren, wurden im Rahmen <strong>des</strong> vierten Themenblocks nach<br />

den Motiven <strong>des</strong> Verbleibens im öffentlichen Spital, der möglichen Steigerung<br />

ihrer Loyalität <strong>und</strong> den Freuden als auch Frustrationen, denen sie in ihrer täglichen<br />

Arbeit ausgesetzt sind, gefragt. Die Vorstellungen <strong>die</strong>ser Ärzte hinsichtlich<br />

der Gründe für <strong>die</strong> Abwanderung ihrer Kollegen aus dem öffentlichen in<br />

den privaten Spitalalltag wurden weiter thematisiert, <strong>die</strong>s da <strong>die</strong> von ihnen<br />

angegebenen Gründe als Vergleichsargumente zu den Begründungen der abgewanderten<br />

Ärzte <strong>die</strong>nten. Im Fokus der Fragen, <strong>die</strong> an <strong>die</strong> abgewanderten<br />

Ärzte gestellt wurden, stand <strong>die</strong> Erfassung <strong>des</strong> Erfüllungsgra<strong>des</strong> ihrer Erwartungen,<br />

<strong>die</strong> vor dem Antritt ihrer Stelle an eine Privatklinik vorherrschten. Ein<br />

Vergleich zwischen ihrem Arbeitsalltag im öffentlichen <strong>und</strong> ihrem jetzigen im<br />

159


privaten Spital wird weiter vorgenommen. Welche Rolle der monetäre Faktor<br />

beim Entschluss, den öffentlichen Sektor zu verlassen, gespielt hat <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Form <strong>des</strong> heutigen Anstellungsverhältnisses sind Fragen, zu welchen Antwor-<br />

ten gef<strong>und</strong>en werden sollten <strong>und</strong> auch wurden.<br />

Zu Beginn je<strong>des</strong> Interviews wurde eine kurze Erläuterung zum Inhalt <strong>und</strong> Ziel<br />

<strong>des</strong> Forschungsprojektes gegeben. Die Interviews wurden mit Ärzten der Stu-<br />

fen Leitender Arzt <strong>und</strong> Chefarzt durchgeführt. Da in der Schweiz <strong>die</strong> Anzahl<br />

der Ärzte auf <strong>die</strong>sen beiden Stufen relativ klein ist <strong>und</strong> sich <strong>die</strong> Ärzte untereinander<br />

kennen, musste ein besonders grosses Augenmerk auf <strong>die</strong> konsistente<br />

Anonymisierung <strong>des</strong> Gesagten gelegt werden. Die Eingrenzung <strong>des</strong> Samples<br />

<strong>und</strong> dementsprechende Konzentration auf <strong>die</strong> zwei genannten Hierarchieebenen<br />

fand zum einen aufgr<strong>und</strong> der zeitlichen Begrenzung <strong>des</strong> Forschungsprojektes<br />

<strong>und</strong> zum anderen aufgr<strong>und</strong> der anhand quantitativer Zahlen erwiesenen<br />

<strong>und</strong> erhöhten Abwanderungstendenzen auf den beiden genannten Ebenen<br />

statt. Die Anzahl der Interviewteilnehmer wurde im Sinne der theoretischen<br />

Sättigung während der Interviewphase, <strong>die</strong> zwischen September 2009 <strong>und</strong> Mai<br />

2010 stattfand, festgelegt. An <strong>die</strong>ser Stelle soll in Erinnerung gerufen werden,<br />

dass <strong>die</strong> theoretische Sättigung als derjenige Zustand gekennzeichnet wird, in<br />

welchem <strong>die</strong> Kategorien „gesättigt“ sind, wenn das Erheben von Daten weder<br />

neue theoretische Einsichten erbringt noch neue Aspekte <strong>die</strong> Kernkategorien<br />

anreichern (Charmaz, 2006, S. 113). Wie bereits erwähnt wurde, ist der Punkt<br />

der Erreichung <strong>die</strong>ser theoretischen Sättigung sehr schwierig fassbar <strong>und</strong> birgt<br />

<strong>die</strong> Gefahr in sich, den Datenerhebungsprozess verfrüht oder gar nie zu beenden.<br />

Die Interviews wurden immer in den Spitälern, in welchen <strong>die</strong> befragten Ärzte<br />

tätig waren, durchgeführt <strong>und</strong> fanden nahezu durchwegs in den Büros der<br />

Ärzte statt. Nur in einem einzigen Falle fand das Gespräch im Sitzungszimmer<br />

der Spitalabteilung statt, auf welcher der Interviewpartner Chefarzt war. Das<br />

Aufnahmegerät <strong>die</strong>nte als Gr<strong>und</strong>lage für <strong>die</strong> spätere Transkription <strong>und</strong> wurde<br />

nach der Begrüssung <strong>des</strong> Interviewpartners eingeschaltet. Im Laufe <strong>des</strong> Gesprächs<br />

wurden Notizen niedergeschrieben, <strong>die</strong> in erster Linie als Gedankenstütze<br />

<strong>die</strong>nten. Sogenannte Memos, <strong>die</strong> in der Gro<strong>und</strong>ed Theory stark verankert<br />

sind, wurden teilweise erstellt <strong>und</strong> halfen bei der Rahmung der Interviews.<br />

Memos werden geschrieben, um <strong>die</strong> Atmosphäre im Interviewraum, das Ver-<br />

160


halten <strong>des</strong> Arztes auf <strong>die</strong> Fragen <strong>und</strong> dem Interviewten gegenüber, <strong>die</strong> Impressionen<br />

<strong>des</strong> Forschers <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Umschreibung der gesamten Interviewsituation<br />

zu erfassen (Goulding, 2002, S. 75). All jene Faktoren, <strong>die</strong> später nicht oder<br />

nur schwierig wieder eruiert werden können <strong>und</strong> <strong>die</strong> in der Interviewtranskription<br />

nicht umfassend genug zum Ausdruck kommen, erhalten durch das Niederschreiben<br />

in Form von Memos oder Rahmungen eine Bedeutung.<br />

Bei gering strukturierten Interviews ist es wichtig, dem Befragten eine Anlaufphase<br />

zu gewähren, in welcher sich <strong>die</strong>ser auf <strong>die</strong> Gesprächssituation einstellen<br />

kann <strong>und</strong> so <strong>die</strong> Möglichkeit erhält, sich in den Interviewablauf einzugewöhnen,<br />

weshalb auch <strong>die</strong> entscheidenden Fragen nicht gleich zu Beginn <strong>des</strong> Interviews<br />

gestellt werden sollten (Atteslander, 2008, S. 128). Der erste Teil <strong>des</strong> Interviews<br />

bezog sich auf <strong>die</strong> persönlichen Motivationsfaktoren, <strong>die</strong> den Befragten<br />

dazu bewogen hatten, den Beruf <strong>des</strong> Arztes zu erlernen. Die Herkunft <strong>des</strong><br />

Interviewpartners rückte in den Vordergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> der Vermutung, dass Ärzte<br />

mehrheitlich aus Ärztefamilien stammen, sollte nachgegangen werden. Im<br />

zweiten Teil standen Fragen hinsichtlich <strong>des</strong> Werdegangs, der Karriere <strong>und</strong> der<br />

beruflichen Verwirklichung im Vordergr<strong>und</strong>, wobei Fragen zum Studium <strong>und</strong><br />

der Assistenz- <strong>und</strong> Oberarztzeit im Vordergr<strong>und</strong> standen. Der Erfahrungsbericht<br />

der Ärzte bezüglich ihrer ersten Arbeitsjahre <strong>die</strong>nte auch dazu, einen<br />

Vergleich mit den heutigen Assistenzärzten <strong>und</strong> deren Arbeitsalltag vorzunehmen.<br />

Dass der Fokus auf der Arbeitszeit der heutigen Assistenzärzte lag, <strong>die</strong><br />

seit Januar 2005 unter der gesetzlichen Restriktion der 50-St<strong>und</strong>en-Woche stehen,<br />

hing unter anderem mit dem geringen Verständnis der erfahrenen Ärzte<br />

gegenüber <strong>die</strong>ser gesetzlichen Neuregelung zusammen. Der dritte Themenblock,<br />

der teilweise bereits im zweiten Block thematisiert wurde <strong>und</strong> sich mit<br />

der momentanen familiären Situation <strong>des</strong> Arztes beschäftigte <strong>und</strong> folglich stark<br />

deren Privatleben thematisierte, wurde teilweise am Anfang, teilweise aber<br />

auch erst am Ende <strong>des</strong> Gespräches eingesetzt. Für <strong>die</strong>sen Themenblock kamen<br />

aber keine vordefinierten Fragen zum Einsatz, sondern <strong>die</strong>se ergaben sich aus<br />

der Gesprächssituation. Teilweise schnitten <strong>die</strong> Ärzte selber das Thema an, teils<br />

wurden Fragen dazu gestellt, <strong>und</strong> in einigen wenigen Fällen wurde <strong>die</strong> Thematik<br />

ausgelassen, da der Interviewpartner sich gegenüber <strong>die</strong>ser deutlich abgrenzte.<br />

Der vierte Themenblock fokussierte auf <strong>die</strong> Erfahrungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Befragten<br />

als Leitende Ärzte machten bzw. machen; <strong>die</strong>se Hierarchiestufe stellt<br />

für viele das Sprungbrett für den Chefarztposten dar, weshalb auch Fragen zur<br />

161


eruflichen Identität integriert wurden. Der nächste <strong>und</strong> auch ergiebigste The-<br />

menblock, der bereits im vorhergehenden Abschnitt thematisiert wurde, ging<br />

auf <strong>die</strong> momentane Arbeitssituation ein. Das Ziel war, in Erfahrung zu bringen,<br />

wie sich der Befragte in seinem Arbeitsumfeld fühlt, welche Tätigkeitsbereiche<br />

ihm Freude bereiten <strong>und</strong> welche als Last angesehen werden. Die Forschungs-<br />

frage hinsichtlich der Abwanderungsgründe stand bei Ärzten, <strong>die</strong> im ungefäh-<br />

ren Zeitraum der letzten zehn Jahre das öffentliche Spital verlassen <strong>und</strong> eine<br />

neue Stelle an einer Privatklinik angetreten hatten, im Vordergr<strong>und</strong>. Es wurde<br />

nach den Beweggründen für den Weggang, den Unterschieden hinsichtlich<br />

ihrer ärztlichen Tätigkeit an einem öffentlichen <strong>und</strong> einem privaten Spital <strong>und</strong><br />

dem Erfüllungsgrad ihrer Erwartungen, <strong>die</strong> sie sich vor ihrem Antritt an <strong>die</strong><br />

Privatklinik gemacht hatten, gefragt. Bezüglich der Ärzte, <strong>die</strong> den öffentlichen<br />

Spitälern erhalten blieben, standen <strong>die</strong> Gründe für den Verbleib, der Grad ihrer<br />

Loyalität dem öffentlichen Spital gegenüber, <strong>die</strong> Eventualität einer möglichen<br />

Abwanderung <strong>und</strong> <strong>die</strong> Motive für oder gegen eine Abwanderung im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Auf <strong>die</strong>sen Themenblock folgten Fragen zum Berufsstand <strong>des</strong> Arztes im<br />

Allgemeinen <strong>und</strong> zum Wandel der ärztlichen Tätigkeit. Der Berufsethos, der<br />

Berufsstolz, der Status der ärztlichen Berufsgruppe, <strong>die</strong> Belastungen <strong>und</strong> Zumutungen,<br />

<strong>die</strong> Work-Life-Balance sowie der Vergleich der heutigen mit der<br />

jüngeren Generation standen im Fokus der Fragestellungen. Zu den Schwerpunkten<br />

<strong>des</strong> vorletzten Blocks gehörten aktuelle Themen wie <strong>die</strong> DRG <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Privatisierungs- <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong>stendenzen, <strong>die</strong> auch im Schweizer<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen immer stärker Einzug halten. Im Zentrum <strong>des</strong> letzten Blocks<br />

stand immer <strong>die</strong> Frage: „Würden Sie den Beruf <strong>des</strong> Arztes nochmals wählen?“,<br />

<strong>die</strong> das Interview gewissermassen abr<strong>und</strong>en sollte. Im Anschluss wurden <strong>die</strong><br />

Interviews vollständig transkribiert <strong>und</strong> anonymisiert. Der Interviewleitfaden<br />

findet sich in Appendix A, <strong>die</strong> Interviewtranskriptionen der über zwanzig Interviews<br />

hingegen werden nicht vollständig abgebildet. Passagen der Interviews<br />

lassen sich innerhalb der gesamten Arbeit finden, jedoch schwerpunktmässig<br />

bei der Darstellung von vier exemplarischen Porträts in Kapitel 4 <strong>und</strong><br />

im Rahmen der Interviewauswertung in Kapitel 5.<br />

3.2.3 Datenauswertung<br />

Constant comparative method<br />

Bei der Gro<strong>und</strong>ed Theory spricht man von der Theoriegenerierung mittels<br />

162


komparativer Analyse, <strong>die</strong> in ihrer ursprünglichen Form "constant comparative<br />

method" genannt wird, wobei <strong>die</strong> Daten wiederkehrend verglichen werden <strong>und</strong><br />

ihnen so eine Bedeutung zugewiesen wird (Glaser & Strauss, 1998, S. 108). Die<br />

Methode <strong>des</strong> ständigen Vergleichens nach Glaser <strong>und</strong> Strauss (1967) erfordert<br />

vier Stufen: (1) das Vergleichen der Vorkommnisse einer jeden Kategorie, (2)<br />

<strong>die</strong> Integration von Kategorien <strong>und</strong> deren Eigenschaften, (3) <strong>die</strong> Begrenzung<br />

der Theorie <strong>und</strong> (4) das Abfassen der Theorie (Glaser & Strauss, 1998, S. 111).<br />

Auf <strong>die</strong> einzelnen Phasen kann, solange <strong>die</strong> Analyse nicht abgeschlossen ist,<br />

immer wieder zurückgegriffen werden.<br />

Coding I<br />

Das mehrstufige Auswertungsverfahren empirischer Daten wird nach Glaser<br />

<strong>und</strong> Strauss „Ko<strong>die</strong>ren“ genannt. Bei Charmaz (2006, S. 186 f.) wird Coding<br />

folgendermassen beschrieben: „... the process of defining what the data are<br />

about. Unlike quantitative researchers, who apply preconceived categories or<br />

co<strong>des</strong> to the data, a gro<strong>und</strong>ed theorist creates qualitative co<strong>des</strong> by defining<br />

what he or she sees in the data. Thus, the co<strong>des</strong> are emergent – they develop as<br />

the researcher stu<strong>die</strong>s his or her data.” Der Prozess <strong>des</strong> Ko<strong>die</strong>rens kann den<br />

Forscher in neue <strong>und</strong> noch unentdeckte Gebiete führen, neue Betrachtungsebenen<br />

<strong>des</strong> Forschungsobjektes erschliessen, zu weiterführender Datengenierung<br />

animieren <strong>und</strong> zusätzliche neue Forschungsfragen aufkommen lassen<br />

(Charmaz, 2006, S. 187). Die Leitidee, <strong>die</strong> hinter dem Ko<strong>die</strong>rprozess steckt, ist<br />

<strong>die</strong> Methode <strong>des</strong> ständigen Vergleichens der Daten (Strübing, 2008, S. 18). Diese<br />

Methode <strong>des</strong> Vergleichens, welche gleichzeitig das Ko<strong>die</strong>ren <strong>und</strong> Analysieren<br />

der Daten verlangt, <strong>die</strong>nt der systematischen Generierung von Theorie <strong>und</strong><br />

verdeutlicht gleichzeitig den iterativen Forschungsprozess. Weitere Ausführungen<br />

zur Ko<strong>die</strong>rung folgen im Abschnitt Coding II <strong>und</strong> im Kapitel Offenes<br />

Ko<strong>die</strong>ren, welches <strong>die</strong> Einleitung zu den beiden weiteren Ko<strong>die</strong>rungsstufen<br />

darstellt.<br />

Category<br />

In Strübing (2008, S. 18) wird der vielverwendete Begriff der Kategorie folgendermassen<br />

beschrieben: „,Kategorie‘ steht hier für das theoretische Konzept,<br />

<strong>des</strong>sen strukturelle Eigenschaften sich erst aus der vergleichenden Analyse der<br />

durch <strong>die</strong>ses Konzept repräsentierten empirischen Phänomene ergeben.“ Mit<br />

hier spricht Strübing <strong>die</strong> Aussage von Glaser <strong>und</strong> Strauss (1998, S. 112) an, <strong>die</strong><br />

163


lautet: „Dieses ständige Vergleichen von Vorkommnissen führt sehr bald zur<br />

Generierung von theoretischen Eigenschaften der Kategorie.“ Die Auslegung<br />

<strong>des</strong> Kategorie-Begriffes nach Strauss <strong>und</strong> Corbin (1990, S. 61) wird in der fol-<br />

genden Definition treffend subsumiert: „A classification of concepts. This classi-<br />

fication is discovered when concepts are compared one against another and<br />

appear to pertain to a similar phenomenon. Thus the concepts are grouped<br />

together <strong>und</strong>er a higher order, more abstract concept called a category.” Ein<br />

theoretisches Konzept im Rahmen <strong>die</strong>ser Arbeit stellt das Phänomen der kognitiven<br />

Dissonanzen dar, das sich anhand <strong>des</strong> Vergleichs unterschiedlicher Interviews<br />

erkennen lässt <strong>und</strong> sich in unterschiedlichen Kategorien wiederholt abzeichnet.<br />

Die kognitiven Dissonanzen treten sowohl bei den Stayern als auch<br />

bei den Leavern auf <strong>und</strong> entstehen durch <strong>die</strong> Marktvergesellschaftung <strong>und</strong><br />

<strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Krankenhauswesens <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich daraus ergebende neue<br />

Alternative, nämlich einer Tätigkeit in einem den Marktgesetzen ausgesetzten<br />

<strong>und</strong> gehorchenden Privatkrankenhaus. Diese Alternative führt zu einem erweiterten<br />

Möglichkeitsrahmen <strong>und</strong> zu der Chance eines Austritts aus dem öffentlichen<br />

Krankenhauswesen, <strong>die</strong> seitens der Leaver <strong>und</strong> Stayer zu kognitiven Dissonanzen,<br />

zu einem sogenannten Störgefühl, führen. Bei den Stayern kann <strong>die</strong>se<br />

Form von Dissonanz, <strong>die</strong> vor, während oder nach der Entschlussfassung für<br />

eine ärztliche Tätigkeit im öffentlichen Spital auftritt, dazu beitragen, dass <strong>die</strong>se<br />

von sich aus oder durch ihr Umfeld zu einer nochmaligen bzw. steten Reflexion<br />

ihres Entschei<strong>des</strong> animiert werden. Die wiederholte Reflexion, <strong>die</strong> durch das<br />

soziale Umfeld <strong>und</strong> durch <strong>die</strong> anhaltende <strong>Ökonomisierung</strong> der „totalen sozialen<br />

Rolle“ <strong>und</strong> den damit einhergehenden Status- <strong>und</strong> Stan<strong>des</strong>verlust, <strong>die</strong> wiederum<br />

zu einer steten Entzauberung <strong>des</strong> Arztberufs beitragen, induziert wird,<br />

kann eine kognitive Dissonanz zur Folge haben. Das Störgefühl der Stayer, <strong>die</strong><br />

möglicherweise aus idealistischen <strong>und</strong> stan<strong>des</strong>mässigen Gründen eine monetäre<br />

Bereicherung ausschlagen, <strong>die</strong> durch den möglichen Übertritt in ein privates<br />

Spital in Aussicht gestellt wird, kann darin begründet sein, dass erstere sich als<br />

Verlierer wahrnehmen <strong>und</strong> von ihrem Umfeld als Arzt mit einem antiquierten<br />

<strong>und</strong> idealisierten Berufsethos betrachtet werden. Seitens der Leaver kann eine<br />

kognitive Dissonanz dann auftreten, wenn <strong>die</strong> erwarteten oder von Leavern<br />

propagierten Vorteile einer Tätigkeit im privaten Spitalwesen nicht eintreten.<br />

Der monetäre Ver<strong>die</strong>nst muss über <strong>die</strong> Jahre hinweg verstärkt oder teils ausschliesslich<br />

durch <strong>die</strong> Belegärzte erwirtschaftet werden <strong>und</strong> <strong>die</strong>s getreu dem<br />

Motto einer selbstständigen Unternehmensführung. Bleiben jedoch <strong>die</strong> Patien-<br />

164


ten aus oder befindet sich <strong>die</strong> interne Konkurrenz im Vormarsch, führt <strong>die</strong>s zu<br />

einer teils drastischen Minimierung <strong>des</strong> Gehalts <strong>und</strong> zu einer Dissonanz hin-<br />

sichtlich der ursprünglichen Vorstellungen, <strong>die</strong> der Entscheidungsfindung<br />

zugr<strong>und</strong>e lagen, <strong>und</strong> der im Privatkrankenhaus gelebten Realität. Seitens der<br />

Leaver können auch moralische Dissonanzen auftreten, beispielweise bezüglich<br />

der in Privatkliniken vorgenommenen Patientenselektion <strong>und</strong> <strong>des</strong> eigenen<br />

Wunsches an eine sozial <strong>und</strong> fachlich breit aufgestellte Patientenversorgung.<br />

Dieser Wunsch entsteht, entsprechend zahlreicher Interviewaussagen, einer-<br />

seits aus dem Interesse an herausfordernden <strong>und</strong> komplexen Fällen <strong>und</strong> ande-<br />

rerseits aus der kulturellen Vielfalt, <strong>die</strong> eine breite Patientenversorgung zu<br />

bieten hat. Mit der Abwanderung an eine Privatklinik geht <strong>die</strong> angesprochene<br />

Breite <strong>und</strong> Tiefe grösstenteils verloren. Die Ausrichtung <strong>des</strong> Versorgungsange-<br />

bots an den Wünschen der Zusatzversicherten, <strong>die</strong> Auslagerung komplizierter,<br />

polymorbider <strong>und</strong> demzufolge kostspieliger Fälle <strong>und</strong> <strong>die</strong> Patientenselektion<br />

zugunsten Privat- <strong>und</strong> Halbprivatversicherter sind, bezogen auf das berufsethi-<br />

sche Selbstverständnis, unvereinbar mit dem Hippokratischen Eid <strong>und</strong> der<br />

Genfer Deklaration <strong>des</strong> Weltärzteverb<strong>und</strong>s, <strong>die</strong> als zeitgemässe Fassung <strong>des</strong><br />

Ei<strong>des</strong> gilt. Die befragten Kaderärzte gehören zu einer Generation, <strong>die</strong> sich an<br />

Vorbildern orientiert, <strong>die</strong> sich mehrheitlich dem ärztlichen Berufsethos im<br />

Dienste der Allgemeinheit verschreiben. Sie genossen ihre Ausbildung wäh-<br />

rend einer Epoche, in der <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> öffentlichen Gutes Ges<strong>und</strong>-<br />

heit noch nicht begonnen hatte bzw. lediglich primäre Anzeichen für eine sol-<br />

che Tendenz bestanden. Dies führt dazu, dass <strong>die</strong> damalige Ausgangslage eine<br />

vollkommen andere war als <strong>die</strong>jenige, in welcher <strong>die</strong> heutige Generation an<br />

Ärzten heranwächst. Dadurch, dass <strong>die</strong> befragte Generation der alten Wertehie-<br />

rarchie ihren Glauben schenkt <strong>und</strong> sowohl ihre Einsätze als auch ihren Lohn in<br />

Form von Privilegien, Status <strong>und</strong> stan<strong>des</strong>gemässer Entlohnung kennt, geraten<br />

<strong>die</strong> Leaver in eine moralische Dissonanz hinsichtlich ihres inkorporierten Habi-<br />

tus <strong>und</strong> den ökonomisierten strukturellen Rahmenbedingungen, <strong>die</strong> beispiels-<br />

weise zur höchstmöglichen Gewinnerzielung eine Ausrichtung auf lukrative<br />

Patienten- bzw. Versichertengruppen institutionalisieren. Zu den Kategorien<br />

gehören nebst den kognitiven <strong>und</strong> den moralischen Dissonanzen auch <strong>die</strong> theo-<br />

retischen Phänomene Newspeak <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende Angleichung<br />

<strong>des</strong> medizinischen Jargons an den ökonomischen Jargon, <strong>die</strong> Manageralisierung<br />

der Arztberufs oder das Phänomen der Kommodifizierung <strong>des</strong> public good<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> ihre De- <strong>und</strong> Rekommodifizierung.<br />

165


Minimizing and Maximizing<br />

Ein guter Gr<strong>und</strong> für den Vergleich der gesammelten Daten liegt in der Eruie-<br />

rung der Unterschiede <strong>und</strong> Übereinstimmungen. Glaser <strong>und</strong> Strauss (1967, S.<br />

55) sprechen in <strong>die</strong>sem Zusammenhang von der Minimierung („minimizing")<br />

<strong>und</strong> Maximierung („maximizing") von Unterschieden. Dieser Prozess der Mi-<br />

nimierung der Datenunterschiede ermöglicht 1) <strong>die</strong> Verifizierbarkeit <strong>des</strong> Kon-<br />

zepts, 2) das Kennenlernen der gr<strong>und</strong>legenden Eigenschaften einer Kategorie<br />

<strong>und</strong> 3) <strong>die</strong> Etablierung einer Reihe von eindeutigen Bedingungen, unter denen<br />

eine Kategorie zu einem gewissen Grade oder als Typ existiert, was <strong>die</strong> Wahrscheinlichkeit<br />

einer theoretischen Vorhersage erhöht (Glaser & Strauss, 1998, S.<br />

63). Der Prozess der Maximierung der Unterschiede innerhalb der Daten erlaubt<br />

dem Forscher <strong>die</strong> Generierung der theoretischen Eigenschaften einer<br />

Kategorie <strong>und</strong> steckt den grösstmöglichen Geltungsbereich einer Theorie ab.<br />

Das Auftreten von Unterschieden sogenannter maximaler Differenzen innerhalb<br />

der Daten trägt zur Bereicherung der Forschungsergebnisse bei. Der Forscher<br />

erreicht durch den Wechsel der Bezugsgrösse seiner Untersuchung, der<br />

<strong>die</strong> Unterschiede maximiert, weitere überraschende Entdeckungen von Differenzen<br />

innerhalb der Daten, <strong>die</strong> auf wertvolle Kontextvariablen hinweisen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Reichweite der Theorie erweitern (Glaser & Strauss, 1998, S. 64f).<br />

Coding II<br />

„Coding“ steht gemäss Strauss <strong>und</strong> Corbin (1990, S. 61) für: „the process of<br />

analyzing data”. Hinsichtlich <strong>des</strong> Ko<strong>die</strong>rungsprozesses <strong>und</strong> der Theoriegenerierung<br />

scheint in den späteren Werken zwischen Strauss <strong>und</strong> Glaser kein Konsens<br />

zu herrschen. Glaser (1978, 55ff.) spricht von einem zweistufigen Ko<strong>die</strong>rprozess,<br />

der aus dem offenen <strong>und</strong> dem selektiven Ko<strong>die</strong>ren besteht. Dagegen<br />

unterscheiden Strauss <strong>und</strong> Corbin (1990, S. 61ff.) in ihrem dreistufigen Ko<strong>die</strong>rprozess<br />

zwischen offenem, axialem <strong>und</strong> selektivem Ko<strong>die</strong>ren. Betrachtet man<br />

das eigene Datenmaterial, welches in der Dissertationsarbeit zuerst <strong>die</strong> Form<br />

eines Interviews, dann einer Interviewtranskription <strong>und</strong> schliesslich eines Textes<br />

annahm, so hat man das Gefühl, einem „geschlossenen Raum“ ausgesetzt<br />

worden zu sein, <strong>des</strong>sen verborgenen Sinn man zuerst noch erkennen <strong>und</strong> extrahieren<br />

muss (Strübing, 2008, S. 19). Die Datensammlung beginnt aber bereits<br />

beim Erlangen <strong>des</strong> Vorwissens, beim Einlesen in <strong>die</strong> Thematik <strong>und</strong> bei der<br />

Diskussion mit Menschen, <strong>die</strong> sich mit ähnlichen Themen befassen, wobei <strong>die</strong><br />

166


daraus resultierenden Erkenntnisse bereits als Datenmaterial betrachtet werden.<br />

Das Vorwissen kann teilweise aus Forschungsstu<strong>die</strong>n zur untersuchten<br />

Thematik, <strong>die</strong> andere Forscher im Vorfeld verschriftet hatten, gewonnen werden,<br />

teilweise helfen auch Hintergr<strong>und</strong>informationen oder Me<strong>die</strong>nberichte.<br />

Vorwissen kann aus unterschiedlichsten Daten gewonnen werden. Im Falle der<br />

folgenden Arbeit wurden beispielsweise Geschäftsbericht der Spitäler, Curriculum<br />

Vitae der zu interviewenden Ärzte oder auch Zeitungsberichte herangezogen.<br />

Natürlich spielten auch Stu<strong>die</strong>n oder Forschungsberichte, <strong>die</strong> zu verwandten<br />

Themen der Dissertation verfasst wurden, eine bedeutende Rolle.<br />

Strauss <strong>und</strong> Corbin unterscheiden für den Prozess der Erkennung <strong>des</strong> Sinnes,<br />

den sie als „Ko<strong>die</strong>ren“ bezeichnen, zwei gr<strong>und</strong>legende Alternativen. 1) Möchte<br />

man Hypothesen überprüfen, dann besteht <strong>die</strong> Möglichkeit, zuerst <strong>die</strong> Daten zu<br />

ko<strong>die</strong>ren <strong>und</strong> anschliessend zu analysieren. Für <strong>die</strong>se Herangehensweise eignet<br />

sich <strong>die</strong> qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring, <strong>die</strong> mit bereits existierenden<br />

Kategoriensystemen operiert (Mayring, 2008). 2) Existieren jedoch noch<br />

keine theoretische Rahmung <strong>und</strong> keine theoretischen Begriffe <strong>und</strong> muss deren<br />

Erarbeitung erst noch im Forschungsprozess geschehen, dann ist das Ko<strong>die</strong>ren<br />

anhand <strong>des</strong> Subsumierens qualitativer Daten unter existierende Konzepte nicht<br />

möglich (Strübing, 2008, S. 19). Die Gro<strong>und</strong>ed Theory bezieht sich auf <strong>die</strong> zweite<br />

Alternative, <strong>und</strong> so versteht sie das Ko<strong>die</strong>ren als "... Prozess der Entwicklung<br />

von Konzepten in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material" (Strübing,<br />

2008, S. 19).<br />

In der vorliegenden Arbeit wird sich <strong>die</strong> Datenauswertung an den dreistufigen<br />

Ansatz von Strauss <strong>und</strong> Corbin anlehnen. Es wurden sowohl Ko<strong>des</strong> <strong>und</strong> Kategorien<br />

gebraucht, <strong>die</strong> in der gängigen Forschungsliteratur zu finden waren, als<br />

auch eigene entwickelt, <strong>die</strong> sich aus dem Vergleich der unterschiedlichen Interviewkontexte,<br />

der Interviewaussagen, der verwendeten Sprache <strong>und</strong> der Untersuchungssituation<br />

an sich herausbildeten (Locke, 2001, S. 74f). Die einzelnen<br />

Schritte innerhalb der Datenerhebung, <strong>des</strong> Ko<strong>die</strong>rungsprozesses <strong>und</strong> der Analyse<br />

dürfen weder als streng gestuft noch als scharf voneinander getrennt verstanden<br />

werden.<br />

3.2.3.1 Der Stellenwert theoretischen Vorwissens<br />

Die ersten Schritte <strong>und</strong> anfänglichen herantastenden Versuche an <strong>die</strong> eigene<br />

Forschungsthematik stellen für den Forscher üblicherweise eine grosse Heraus-<br />

167


forderung dar, da das persönliche theoretische Wissen über das Forschungsob-<br />

jekt noch relativ dünn gesät, der Drang aber, im Feld tätig sein zu wollen, doch<br />

relativ gross ist. Wie bereits in Kapitel 3.2.1 „Epistemologische Verortung der<br />

Gro<strong>und</strong>ed Theory“ angedeutet wurde, hielt Glaser lange an der „Tabula-rasa-<br />

Mentalität“ fest <strong>und</strong> vertrat folglich <strong>die</strong> Vorstellung, dass der Forscher so objek-<br />

tiv, unvoreingenommen <strong>und</strong> folglich so theoriefrei als möglich an das For-<br />

schungsobjekt herantreten sollte. Glaser wirft in seinem Buch „Emergence vs<br />

Forcing“ Strauss <strong>und</strong> Corbin vor "... den Daten eine theoretische Struktur überzustülpen"<br />

(Strübing, 2008, S. 68), wodurch der gesamte induktive Prozess der<br />

Theoriegenerierung negativ beeinflusst werden. Diese Unvoreingenommenheit<br />

stellt aber für den Forscher eine nicht zu verachtende Herausforderung <strong>und</strong><br />

teilweise auch grosse Hürde dar, da er sich dem Feld <strong>und</strong> seinem Forschungsobjekt<br />

vollumfänglich aussetzen muss. Er wird ins Feld geschickt, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

ohne oder nur mit spärlichem theoretischem Vorwissen, muss folglich versuchen,<br />

sein Alltagswissen zu unterdrücken, muss seine eigenen Erfahrungen<br />

machen, eine verstehende Haltung einnehmen <strong>und</strong> schliesslich erklärend vorgehen.<br />

Dieser Anspruch an <strong>die</strong> „Tabula-rasa-Mentalität“ wurde aber auch von<br />

Glaser nicht konsistent aufrechterhalten (Strübing, 2008, S. 68) <strong>und</strong> wurde auch<br />

teilweise missverstanden, weshalb Strauss <strong>und</strong> Corbin (1994) in einem ihrer<br />

Werke auch dazu Stellung nehmen: „... but too rigid a conception of induction<br />

can lead to sterile or boring stu<strong>die</strong>s. Alas, gro<strong>und</strong>ed theory has been used as a<br />

justification for such stu<strong>die</strong>s. (…) Because of the partly rhetorical purpose of<br />

that book (Discovery) and the authors` emphasis on the need for gro<strong>und</strong>ed<br />

theories, Glaser and Strauss overplayed the inductive aspects.” (Strauss & Corbin,<br />

1994, zit. in Denzin, S. 277) Auch Glaser <strong>und</strong> Strauss machten in ihrem<br />

Erstlingswerk interessanterweise auf das Konzept der „theoretischen Sensibilität“<br />

(Glaser & Strauss, 1967, S. 46f.) aufmerksam, <strong>die</strong> für den Einbezug einer vor<br />

dem Beginn der jeweiligen Forschungsarbeit geprägten (theoretischen) Perspektive<br />

in den Ansatz der Gro<strong>und</strong>ed Theory plä<strong>die</strong>rt (Strübing, 2008, S. 58). Glaser<br />

<strong>und</strong> Strauss richten sich bei ihrer Definition der theoretischen Sensibilität dahingehenden<br />

an den Forscher, dass <strong>die</strong>ser ein gewisses Mass an Sensibilität<br />

walten lassen muss, wenn es um das Konzeptualisieren <strong>und</strong> Formulieren einer<br />

aus den Daten hervorgehenden Theorie geht. Sie beziehen sich folglich auf den<br />

bereits stattfindenden Prozess der empirischen Theoriegenerierung. Im Vergleich<br />

dazu richtet sich <strong>die</strong> Definition von Strauss <strong>und</strong> Corbin immer stärker<br />

auf den ex ante Prozess der Forschungsarbeit, <strong>und</strong> so plä<strong>die</strong>ren sie folglich für<br />

168


den Einbezug von Vorwissen in Form von Fach- <strong>und</strong> sonstiger Literatur sowie<br />

von beruflicher <strong>und</strong> persönlicher Erfahrung (Strauss & Corbin, 1996, S. 25f.).<br />

Eine vorsichtige Haltung beim Gebrauch von Literatur (technical and nontechnical<br />

literature, wie sie Strauss <strong>und</strong> Corbin [1990, S. 48f.] nennen) soll dennoch<br />

walten: „We remind you, however, that categories and their relationships must<br />

be checked against your primary data. You can use all types of literature judged<br />

as relevant, but must guard against becoming a captive of any of them.”<br />

(Strauss & Corbin, 1990, S. 56) Der Forscher soll sich jedoch nicht zu sehr auf<br />

eine ex ante Orientierung an einer bestimmten theoretischen Perspektive festlegen,<br />

da es ansonsten zu einer Einschränkung der Gewinnung neuer Einsichten<br />

aus dem empirischen Material kommt (Strübing, 2008, S. 58). Das Gemeinsame<br />

beider Definitionen ist der Anspruch der Gro<strong>und</strong>ed Theory, welcher sich zwar<br />

gegen das dichte Beschreiben eines untersuchten empirischen Phänomens, aber<br />

für das Erklären eines Phänomens aus <strong>des</strong>sen Verstehen heraus ausspricht. Der<br />

Forscher soll neues Wissen schaffen.<br />

Die „Tabula-rasa-Mentalität“, <strong>die</strong> damit zusammenhängende Kasteiung <strong>des</strong><br />

Forschers vor dem Eintritt in das Feld <strong>und</strong> in <strong>die</strong> anschliessende Phase der<br />

Ko<strong>die</strong>rung <strong>und</strong> Datenanalyse, sowie <strong>die</strong> geforderte vollkommene Objektivität<br />

stellen für den Forscher einen nahezu unerreichbaren Zustand dar, der persönlich<br />

auch nicht wünschenswert ist, da er <strong>die</strong> Wertefreiheit postuliert. Auf <strong>die</strong><br />

Unterschiede in der Definition der Gro<strong>und</strong>ed Theory, <strong>die</strong> zwischen dem Verständnis<br />

der Theorie seitens von Strauss <strong>und</strong> demjenigen seitens von Glaser<br />

existieren, wird in den folgenden Kapiteln nicht mehr Bezug genommen. Die<br />

drei Stufen der Ko<strong>die</strong>rung nach Strauss <strong>und</strong> Corbin werden in den folgenden<br />

Kapiteln erläutert.<br />

3.2.3.2 Offenes Ko<strong>die</strong>ren<br />

Durch ein analytisches Herausarbeiten einzelner Phänomene wird beim offenen<br />

Ko<strong>die</strong>ren ein "Aufbrechen" der Daten vorgenommen (Strübing, 2008, S. 20). Im<br />

offenen Ko<strong>die</strong>ren, das ein Bestandteil der Datenanalyse darstellt, werden den<br />

sogenannten „Phänomenen“ <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Ausprägungen Namen <strong>und</strong> Kategorien<br />

zugeteilt. Im Rahmen <strong>die</strong>ses Prozesses werden <strong>die</strong> Phänomene, <strong>die</strong> ein<br />

Vorkommnis in den Daten, <strong>des</strong>sen Kontext es in <strong>die</strong>sem Prozessschritt zu analysieren<br />

gilt (Strübing, 2008, S. 27), dargestellt, hinterfragt <strong>und</strong> erforscht. Beim<br />

offenen Ko<strong>die</strong>ren be<strong>die</strong>nt sich der Forscher zweier analytischer Verfahren. Zum<br />

169


einen verwendet er <strong>die</strong> Methode <strong>des</strong> ständigen Vergleichens <strong>und</strong> zum anderen<br />

<strong>die</strong>jenige <strong>des</strong> Fragestellens, wobei das Ziel darin besteht, das Phänomen möglichst<br />

genau zu beschreiben, um so das Konzeptualisieren <strong>und</strong> anschliessende<br />

Kategorisieren der Daten vornehmen zu können (Strauss & Corbin, 1990, S.<br />

62f.).<br />

Bei der Arbeit wurden <strong>die</strong> transkribierten Interviews auf ihre Bedeutungsinhalte,<br />

wiederholenden <strong>und</strong> widersprüchlichen Aussagen hin analysiert, wobei <strong>die</strong><br />

Aussagen in ihre Sinneinheiten zerlegt <strong>und</strong> den einzelnen Phänomenen Namen<br />

zugeordnet wurden. Das Konzeptualisieren stellt den ersten Schritt in <strong>die</strong>ser<br />

Form der Datenanalyse dar, <strong>die</strong> immerzu parallel mit der Datenerhebung erfolgt<br />

(Goulding, 2002, S. 75). Betrachtet man Interviews Linie für Linie (Line-byline<br />

Analysis − Goulding, 2002, S. 76) <strong>und</strong> erkennt sowie benennt man<br />

Kernwörter oder Kernaussagen bzw. verschiedene Phänomene, so können<br />

H<strong>und</strong>erte von unterschiedlichen Ko<strong>des</strong> entstehen, <strong>die</strong> teilweise in keinem weiteren<br />

Zusammenhang zueinander stehen. Diese Ko<strong>des</strong> müssen anschliessend<br />

verdichtet <strong>und</strong> reduziert werden. Dieses Verfahren wird so lange fortgesetzt,<br />

bis ein gewisses Muster bzw. Beziehungen innerhalb der Daten erkennbar werden,<br />

wobei eine stetige Anreicherung durch neue Daten das Erkennen von<br />

Beziehungen wesentlich erleichtert (Goulding, 2002, S. 77f.). Die Datenanreicherung<br />

wird dank der zunehmenden Anzahl an geführter <strong>und</strong> transkribierter<br />

Interviews, <strong>die</strong> nach der Line-by-line Methode analysiert werden, erzielt. Auf<br />

<strong>die</strong> Phase <strong>des</strong> Erkennens <strong>und</strong> folglich auch Beschreibens von Beziehungen folgt<br />

<strong>die</strong> Phase <strong>des</strong> Inbezugsetzens der Ko<strong>des</strong> mit dem Ziel, erklärende Konzepte zu<br />

bilden.<br />

3.2.3.3 Axiales Ko<strong>die</strong>ren<br />

Beim axialen Ko<strong>die</strong>ren liegt der Fokus auf der Erarbeitung eines phänomenbezogenen<br />

Zusammenhangmodells, anhand welchem man <strong>die</strong> qualifizierten Beziehungen<br />

zwischen den Konzepten erarbeitet, <strong>die</strong> dann wiederum, dank <strong>des</strong> kontinuierlichen<br />

Vergleichens, stetig überprüft werden <strong>und</strong> weitere Zusammenhänge<br />

zwischen den Konzepten <strong>und</strong> Kategorien zum Vorschein bringen (Strübing,<br />

2008, S. 20).<br />

Die Begriffe Konzepte <strong>und</strong> Kategorie werden bei der Definition der Gro<strong>und</strong>ed<br />

Theory von Glaser, Strauss oder Corbin, aber auch von unterschiedlichen weitere<br />

Autoren in vielzähligen Kontexten <strong>und</strong> teilweise auch ungleich gebraucht.<br />

170


In <strong>die</strong>ser Arbeit wird <strong>die</strong> folgende Definition von Strauss <strong>und</strong> Corbin (1990, zit.<br />

in Strübing, 2008, S. 21) verwendet: „Konzepte <strong>die</strong> sich als dem gleichen Phänomen<br />

zugehörig erweisen, werden so gruppiert, dass sie Kategorien bilden.<br />

Nicht alle Konzepte werden Kategorien. Letztere sind hochrangigere, abstraktere<br />

Konzepte als <strong>die</strong>, <strong>die</strong> sie repräsentieren.“ Je<strong>des</strong> Phänomen bzw. jede Kategorie<br />

wird systematisch erfasst <strong>und</strong> auf ihre Ursachen, Umstände <strong>und</strong> Konsequenzen<br />

hin verglichen. Bei Strauss <strong>und</strong> Corbin gestalten sich <strong>die</strong> Prüfmerkmale<br />

etwas ausführlicher: (1) Erkennen <strong>des</strong> zentralen <strong>und</strong> zu prüfenden Phänomens,<br />

(2) kausale Konditionen/Zusammenhänge, <strong>die</strong> zu <strong>die</strong>sem Phänomen führen,<br />

(3) Dimensionen <strong>des</strong> Phänomens <strong>und</strong> (4) Eigenschaften der Konditionen/Zusammenhänge,<br />

(5) Kontext, in welchem sich das Phänomen abspielt <strong>und</strong><br />

entfaltet, (6) damit zusammenhängende Strategien, Interaktionen <strong>und</strong> Konsequenzen<br />

(Strauss & Corbin, 1997, S. 133). Während <strong>des</strong> axialen Ko<strong>die</strong>rens werden<br />

nur <strong>die</strong>jenigen Phänomene einer Prüfung unterzogen, <strong>die</strong> zur Klärung der<br />

Forschungsfrage von Relevanz sind. Der nächste Schritt besteht dann in der<br />

Formulierung vager Hypothesen, wobei <strong>die</strong> ergiebigen Hypothesen anschliessend<br />

in einigen wenigen Konzepten resultieren oder zu Schlüssel- oder Kernkategorien<br />

erkoren werden.<br />

Strauss <strong>und</strong> Corbin (1990, S. 113) stellen <strong>die</strong> Beziehungen zwischen den einzelnen<br />

Kategorien <strong>und</strong> Subkategorien mittels eines Miniframeworks dar. Die Abbildung<br />

8 zeigt ein solches Miniframework, welches <strong>die</strong> Beziehung zwischen<br />

zwei Konzepten/Subkategorien <strong>des</strong> untersuchten Phänomens „zunehmende<br />

Abwanderungstendenzen aus dem öffentlichen Spitalwesen“ aufzeigt, nämlich<br />

der „Loyalität gegenüber dem öffentlichen Spitalwesen“ <strong>und</strong> den „Erwartungen<br />

an <strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leitende Ärzte hinsichtlich der Ausführung von administrativen<br />

<strong>und</strong> nicht-ärztlichen Tätigkeiten“. Anhand <strong>des</strong> folgenden Modells<br />

werden <strong>die</strong> Subkategorien, ihre untereinander stattfindenden Interaktionen <strong>und</strong><br />

ihre Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Kategorien ersichtlich. Beide im<br />

Beispiel gewählten Subkategorien beschreiben <strong>die</strong> Auswirkungen der Abwanderung<br />

von Ärzten aus dem öffentlichen Spitalwesen <strong>und</strong> bilden somit den<br />

Schnittpunkt der beiden Achsen.<br />

Der Zusammenhang der beiden Subkategorien ist im Miniframework folgendermassen<br />

zu verstehen: Wird der Aufwand an administrativer <strong>und</strong> nichtärztlicher<br />

Tätigkeit in grösserem Ausmass gesteigert, ist eine negative Auswir-<br />

171


kung auf <strong>die</strong> Loyalität <strong>des</strong> Mitarbeiters gegenüber dem öffentlichen Spitalwe-<br />

sen festzustellen. Die Ursachen dafür sind:<br />

− Der erhöhte Zeitbedarf für nicht-ärztliche Tätigkeiten entfernt den Arzt<br />

172<br />

immer mehr von seinem Kerngeschäft.<br />

− Aufgr<strong>und</strong> der zusätzlichen administrativen Tätigkeit wesentlich längere<br />

Arbeitszeiten. Nach der regulären Arbeitszeit soll der Arzt für Sitzungen,<br />

Gespräche mit den Mitarbeitern/Teams, Führungstätigkeiten, administrative<br />

Tätigkeiten wie das Ausfüllen von Versicherungsunterlagen, Budgets etc.<br />

zur Verfügung stehen.<br />

− Folglich eine schwindende Identifikation mit dem Beruf <strong>des</strong> Arztes, was in<br />

einer Entfremdung zur medizinischen Kernkompetenz resultiert.<br />

All <strong>die</strong>s hat eine geringere Loyalität gegenüber dem öffentlichen Spital zur<br />

Folge.<br />

Loyalität gegenüber<br />

dem öffentlichen<br />

Spitalwesen<br />

positiv<br />

M<br />

Smartphone<br />

unverändert<br />

gesteigert<br />

negativ<br />

Ausführung von administrativen<br />

& nicht-ärztlichen Tätigkeiten<br />

Abbildung 8: Axiales Ko<strong>die</strong>ren am Beispiel Loyalität gegenüber dem öffentlichen Spitalwesen <strong>und</strong><br />

Ausführung von administrativen <strong>und</strong> nicht-ärztlichen Tätigkeiten<br />

(eigene Darstellung angelehnt an Strauss & Corbin, 1990, S. 113)<br />

Die axiale Ko<strong>die</strong>rung wird durch Strübing (2008) bildlich so beschrieben, dass<br />

das axiale Ko<strong>die</strong>ren "Schnitte durch das Material" darstellt, wobei nur "eine<br />

dünne Schicht" der Zusammenhänge, <strong>die</strong> um eine Reihe von Phänomenen<br />

existieren, herausgearbeitet wird (S. 28). Im Zentrum <strong>des</strong> axialen Ko<strong>die</strong>rens<br />

stehen nicht <strong>die</strong> Eruierung der Zusammenhänge zwischen den gesamten Phänomen-Komponenten,<br />

sondern lediglich <strong>die</strong> Beziehungen zwischen einzelnen


Komponenten.<br />

3.2.3.4 Selektives Ko<strong>die</strong>ren<br />

Nach dem offenen <strong>und</strong> dem axialen Ko<strong>die</strong>ren, in deren Rahmen <strong>die</strong> Ausarbei-<br />

tung von Kategorien, deren Eigenschaften, Dimensionen <strong>und</strong> untereinander<br />

stattfindenden Beziehungen sowie <strong>die</strong> partielle Eruierung von Kernkategorien<br />

erfolgte, tritt nun <strong>die</strong> Phase <strong>des</strong> selektiven Ko<strong>die</strong>rens ein. In gewissen Fällen<br />

fand gemäss Strauss <strong>und</strong> Corbin (1990, S. 117) in den ersten beiden Phasen<br />

bereits <strong>die</strong> Formulierung eines Konzeptes statt, welches weiterführende Infor-<br />

mationen zur Kernfrage „... what your research is all about“ gibt. Für Strauss<br />

<strong>und</strong> Corbin wird beim selektiven Ko<strong>die</strong>ren lediglich stärker abstrahiert <strong>und</strong><br />

konzeptionell gearbeitet, als <strong>die</strong>s beim axialen Ko<strong>die</strong>ren der Fall war. Strauss<br />

<strong>und</strong> Corbin (1996, S. 94) definieren selektives Ko<strong>die</strong>ren folgendermassen: „Der<br />

Prozess <strong>des</strong> Auswählens der Kernkategorie, <strong>des</strong> systematischen In-Beziehung-<br />

Setzens der Kernkategorie mit anderen Kategorien, der Vali<strong>die</strong>rung <strong>die</strong>ser<br />

Beziehungen <strong>und</strong> <strong>des</strong> Auffüllens von Kategorien, <strong>die</strong> einer weiteren Verfeinerung<br />

<strong>und</strong> Entwicklung bedürfen.“<br />

Das selektive Ko<strong>die</strong>ren wird oft als Vorstu<strong>die</strong> der effektiven Theoriegenerierung<br />

gesehen. Im Rahmen <strong>des</strong> offenen <strong>und</strong> axialen Ko<strong>die</strong>rens kristallisieren<br />

sich oft zwei oder drei theoretische Konzepte heraus, wobei <strong>die</strong>se durch <strong>die</strong><br />

Entwicklung der Untersuchungsfrage weiter beeinflusst werden. Diese Konzepte<br />

spielen eine zentrale Rolle bei der sich in der Entstehung befindenden Theorie<br />

(Strübing, 2008, S. 20). Beim selektiven Ko<strong>die</strong>ren sollen <strong>die</strong> bisher erarbeiteten<br />

theoretischen Konzepte zu den bislang wenig geprüften Kernkategorien in<br />

Beziehung gesetzt werden. Teilweise werden aber auch erst im Rahmen <strong>des</strong><br />

selektiven Ko<strong>die</strong>rens Kernkategorien (Core Categories) bzw. Schlüsselkategorien<br />

herausgearbeitet, <strong>die</strong>, wie bereits erwähnt wurde, zentrale Konzepte, <strong>die</strong><br />

das Phänomen am treffendsten beschreiben, zusammenfassen. Im Rahmen <strong>des</strong><br />

selektiven Ko<strong>die</strong>rens werden Bezüge der Kategorien <strong>und</strong> Subkategorien zu den<br />

auserlesenen Kernkategorien geprüft <strong>und</strong> letztere dadurch vali<strong>die</strong>rt. (Strübing,<br />

2008, S. 21). Charmaz (2006, S. 60f.) schlägt vor, <strong>die</strong> Ko<strong>des</strong> <strong>und</strong> Kategorien, <strong>die</strong><br />

weiterverfolgt werden sollen, immer wieder mit dem theoretischen Bezugssystem<br />

<strong>und</strong> der empirischen Realität zu vergleichen <strong>und</strong> zu überprüfen. Der Prozess<br />

<strong>des</strong> Ko<strong>die</strong>rens ermöglicht dem Forscher das Fokussieren auf seine Daten,<br />

wodurch er lernt, mit den Daten zu arbeiten <strong>und</strong> zu interagieren, was ihm ein<br />

173


tieferes Verständnis der empirischen Welt (Charmaz, 2006, S. 70) ermöglicht.<br />

3.2.4 Gütekriterien<br />

Gütekriterien stellen Anhaltspunkte dar, anhand derer <strong>die</strong> erreichte Qualität<br />

von Forschungsprozessen <strong>und</strong> -ergebnissen überprüft werden können. Verwechselt<br />

dürfen <strong>die</strong> Gütekriterien jedoch nicht mit den Massnahmen der Qualitätssicherung,<br />

<strong>die</strong> der Erzielung qualitativ hochwertiger Ergebnisse <strong>die</strong>nen<br />

(Strübing, 2008, S. 80). Betrachtet man <strong>die</strong> Fülle an Literatur, <strong>die</strong> um das methodische<br />

Vorgehen der Gro<strong>und</strong>ed Theory existiert, so wird deutlich, dass ihr ein<br />

fester Platz innerhalb der qualitativen Sozialforschung zukommt. Die qualitativ-interpretativen<br />

Verfahren stellen einen festen Bestandteil der empirischen<br />

Methoden der Sozialwissenschaften dar (Strübing, 2008, S. 79). Dass nun nach<br />

Gütekriterien verlangt wird <strong>und</strong> Legitimationsansprüche immer stärker in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> rücken, versteht sich von selbst, da auch <strong>die</strong> quantitativen Verfahren<br />

<strong>die</strong>sen Kriterien gerecht werden mussten. Inwiefern <strong>die</strong> drei Gütekriterien<br />

Validität (Gültigkeit), Reliabilität (Zuverlässigkeit) <strong>und</strong> Objektivität, <strong>die</strong> bei den<br />

quantitativen Methoden angewendet werden, im Rahmen der qualitativen<br />

Analyse Verwendung finden, scheint aber noch unklar zu sein (Mayring, 2002,<br />

S. 140). Eine bedeutende Schwierigkeit innerhalb <strong>des</strong> gesamten Legitimationsprozesses<br />

besteht in der Tatsache, dass viele der qualitativen Verfahren auf<br />

jeweils unterschiedlichen <strong>und</strong> voneinander abweichenden Prämissen aufbauen<br />

<strong>und</strong> folglich der Bedarf nach divergierenden Legitimationen für <strong>die</strong> Gültigkeit<br />

<strong>und</strong> Angemessenheit der jeweiligen Verfahrensregeln gross ist (Strübing, 2008,<br />

S. 79). Die Gefahr der Ungültigkeit tritt bei den quantitativen Verfahren vor<br />

allem im Rahmen der Erhebungsmethoden auf, wohingegen in der Anwendung<br />

qualitativer Methoden <strong>die</strong> prekäre Phase <strong>des</strong> Eintreffens von „Gültigkeitsgefährdungen“<br />

erst bei der Auswertung <strong>und</strong> Interpretation zum Thema<br />

wird (Strübing, 2008, S. 81). Ob nun <strong>die</strong> quantitativen Gütekriterien der internen<br />

<strong>und</strong> externen Validität, Reliabilität <strong>und</strong> Objektivität für <strong>die</strong> Beurteilung<br />

qualitativer Forschungsergebnisse zum Tragen kommen sollen, bleibt eine stark<br />

umstrittene Frage, wobei angemerkt werden muss, dass <strong>die</strong> oben genannten<br />

Gütekriterien <strong>die</strong> am häufigsten verwendeten darstellen. Strauss <strong>und</strong> Corbin<br />

(1990, S. 250) führen zwei weitere Kriterien an, <strong>die</strong> teilweise auch bei den quantitativen<br />

Forschungsstilen angewendet <strong>und</strong> im nächsten Abschnitt ausführlicher<br />

betrachtet werden, wobei zuerst der Umgang mit der geläufigen Trias<br />

erläutert wird.<br />

174


Strauss <strong>und</strong> Corbin be<strong>die</strong>nen sich der Trias herkömmlicher Gütekriterien <strong>und</strong><br />

passen <strong>die</strong>se an <strong>die</strong> qualitätssichernden Strategien an, auf deren Integration in<br />

das methodische Vorgehen der Gro<strong>und</strong>ed Theory geachtet wurde. Die Anpassung<br />

erfolgt, da sie der Komplexität der zu untersuchenden sozialen Welt gerecht<br />

werden muss. Strauss <strong>und</strong> Corbin versuchen anhand <strong>des</strong> Vergleichs der<br />

Qualitätskriterien <strong>und</strong> -strategien, <strong>die</strong> sie in ihren Forschungsstil integriert<br />

haben <strong>und</strong> denen dadurch eine besonders wichtige Stellung zukommt, mit den<br />

ob genannten Gütekriterien aufzuzeigen, dass ihr methodisches Vorgehen den<br />

gängigen Kriterien gerecht wird (Strübing, 2008, S. 85). Die Positivisten würden<br />

ähnlich vorgehen, obwohl ihr Augenmerk noch viel stärker auf der Trias liegen<br />

würde, da für sie keine wesentlichen Unterschiede zwischen der quantitativen<br />

<strong>und</strong> qualitativen Forschung bestehen (Denzin, 1994, S. 5). Die Befürworter <strong>des</strong><br />

Post-Positivismus hingegen machen sich für <strong>die</strong> Einführung eigener Gütekriterien<br />

stark (Mayring, 2002, S. 141), <strong>und</strong> wieder andere sprechen sich gänzlich<br />

gegen Legitimationskriterien aus.<br />

Strauss <strong>und</strong> Corbin zeigen anhand der Kriterien Wiederholbarkeit <strong>und</strong> Generalisierung,<br />

dass keine von beiden gleichermassen, wie <strong>die</strong>s in der quantitativen<br />

Methodik, in welcher <strong>die</strong>se Kriterien der Prüfung der Zuverlässigkeit eines<br />

Forschungsergebnisses <strong>die</strong>nen, angewendet werden können (Strübing, 2008, S.<br />

81). Durch <strong>die</strong> Wiederholbarkeit könne man in der Theorie getroffene Kausalaussagen<br />

bei einer erneuten Durchführung der Forschung testen. Das Ergebnis<br />

jedoch werde nie identisch sein, da eine Herstellung von deckungsgleichen<br />

Ausgangsbedingungen <strong>und</strong> das Vorhandensein aller dazu nötigen Variablen<br />

nicht möglich seien (Strauss <strong>und</strong> Corbin, 1990, S. 250). Die Idee, welche sich<br />

dahinter verbirgt, ist <strong>die</strong> Prozesshaftigkeit der sozialen Wirklichkeit <strong>und</strong> der<br />

Theorien, <strong>die</strong> darüber existieren (Strübing, 2008, S. 81). Bezogen auf das Kriterium<br />

der Generalisierung besteht gemäss Steinke (1999, S. 75) das Ziel der<br />

Gro<strong>und</strong>ed Theory nicht in der Produktion von Ergebnissen, <strong>die</strong> repräsentativ<br />

für eine breite Population stehen, sondern im Aufbau einer Theorie, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Bedingungen, unter denen ein Phänomen in den jeweiligen Untersuchungsdaten<br />

auftritt, spezifiziert. Diese Spezifikation findet in dem Sinne statt, dass <strong>die</strong><br />

Erfassung <strong>des</strong> Phänomens, basierend auf den Parametern Bedingungen (unter<br />

denen ein Phänomen auftaucht), Aktionen <strong>und</strong> Interaktionen (durch welche das<br />

Phänomen ausgedrückt wird) <strong>und</strong> Konsequenzen (Resultat aus dem Phänomen),<br />

geschieht. Eine abschliessende Diskussion bezüglich Gütekriterien <strong>und</strong><br />

175


ihrer Anwendung oder Integration im Rahmen der Gro<strong>und</strong>ed Theory würde<br />

den Umfang der Dissertation sprengen. Abschliessend soll festgehalten werden,<br />

dass <strong>die</strong> vorgestellten methodischen Etappen der Gro<strong>und</strong>ed Theory „das theo-<br />

retische Sampling, der iterative Prozess der Theoriebildung, das Schreiben von<br />

Forschungsmemos sowie <strong>die</strong> Methode <strong>des</strong> ständigen Vergleichens der Daten<br />

<strong>und</strong> Ko<strong>des</strong>“ schliesslich <strong>die</strong> Kriterien der Qualitätssicherung (Strübing, 2008, S.<br />

86f) darstellen <strong>und</strong> bei der Durchführung <strong>des</strong> folgenden Forschungsprojektes<br />

beachtet wurden.<br />

Das theoretische Sampling, das einer Feinsteuerung der Fallauswahl im Daten-<br />

generierungs- <strong>und</strong> Datenauswertungsprozess folglich im gesamten Theoriebil-<br />

dungsprozess entspricht, <strong>und</strong> <strong>die</strong> theoretische Sättigung, <strong>die</strong> erlangt wird,<br />

wenn keine neuen Fakten auftauchen (Goulding, 2002, S. 70), <strong>die</strong>nen der konzeptuellen<br />

Dichte <strong>und</strong> der Ausschöpfung <strong>des</strong> Fallmaterials. Diese beiden Werkzeuge<br />

lassen das Fehlen eines Falsifikationsverfahrens, wie das Widerlegen von<br />

Hypothesen, das kein Bestandteil der Gro<strong>und</strong>ed Theory darstellt, in den Hintergr<strong>und</strong><br />

rücken. Falsifikationslogische Vorgehen würden aber <strong>die</strong> Gefahr <strong>des</strong><br />

Einbezuges widersprüchlicher Forschungsergebnisse in <strong>die</strong> Theorie eingrenzen<br />

(Strübing, 2008, S. 87). Die Memos, <strong>die</strong> im Laufe <strong>des</strong> Interviews oder kurz nach<br />

den Interviews im Sinne einer Notiz <strong>und</strong> Gedankenstütze niedergeschrieben<br />

wurden <strong>und</strong> <strong>die</strong> der Erzeugung <strong>und</strong> Sicherung qualitativ hochwertiger Analyseergebnisse<br />

<strong>die</strong>nen, stellen ein wichtiges Instrument im Rahmen <strong>des</strong> für <strong>die</strong>sen<br />

Forschungsstil typischen <strong>und</strong> kontinuierlichen Schreibprozesses dar (Strübing,<br />

2008, S. 88). Dieser Prozess verfolgt das Ziel der gedanklichen Präzision <strong>und</strong><br />

Konsistenz, wirkt dem Verlust von analytisch wertvollen Ideen entgegen, ist<br />

zum einen von grosser Relevanz bei der Entstehung einer schlüssigen Theorie<br />

<strong>und</strong> führt zum anderen zur Korrektur von analytischen Fehlentwicklungen<br />

(Strübing, 2008, S. 88). Dank der Methode <strong>des</strong> ständigen Vergleichens erfährt<br />

<strong>die</strong> Theorie peu à peu eine Erhöhung der Reichweite, Dichte <strong>und</strong> Komplexität.<br />

Dank <strong>des</strong> Vergleichens wird der Forderung nach Validität Rechnung getragen,<br />

werden <strong>die</strong> internen Widersprüche abgebaut <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ursache-Wirkung-<br />

Beziehungen expliziert, wodurch <strong>die</strong> interne Qualitäts- <strong>und</strong> Güteprüfung sichergestellt<br />

werden soll (Strübing, 2008, S. 86). Ein nicht zu unterschätzender<br />

Beitrag im Qualitätssicherungsprozess stellt der Wissensaustausch <strong>des</strong> Forschers<br />

mit seinem Team <strong>und</strong>/oder seinen nicht direkt im Projekt involvierten<br />

Kollegen sowie mit den Personen <strong>des</strong> zu untersuchenden Fel<strong>des</strong> dar (Strübing,<br />

176


2008, S. 88). Ein weiteres forschungsmethodisches Vorgehen, das <strong>die</strong> externe<br />

Validität stärkt, stellt <strong>die</strong> Cross-Case Analyse dar, indem anhand <strong>des</strong> Verglei-<br />

chens der unterschiedlichen Cases bzw. Interviewaussagen, Interviewpartnern,<br />

Rahmenbedingungen etc. nach Unterschieden (Differences) <strong>und</strong> Übereinstim-<br />

mungen (Similarities) gesucht wird. Dieses Vorgehen wurde in Kapitel 3.2.3, in<br />

welchem <strong>die</strong> Datenauswertung <strong>und</strong> insbesondere das Prinzip „Maximizing and<br />

Minimizing“ erläutert wurde, bereits ausführlicher dargestellt. Diese Art der<br />

Analyse <strong>die</strong>nt im Rahmen der Arbeit der Erkennung gleicher bzw. divergenter<br />

Aussagen der befragten Ärzte öffentlicher <strong>und</strong> privater Spitäler in Bezug auf<br />

ausserwählte Themen wie beispielsweise hinsichtlich der Motivation, <strong>die</strong> hinter<br />

dem Entscheid steckt, an einem öffentlichen bzw. privaten Spital tätig zu sein.<br />

Die Schwierigkeiten, <strong>die</strong> für den Forscher bei der Anwendung der Gro<strong>und</strong>ed<br />

Theory auftreten können, liegen aber in erster Linie nicht in der Anwendung<br />

<strong>des</strong> methodischen Vorgehens, sondern im Umgang mit den wenigen Richtlinien,<br />

<strong>die</strong> der Gro<strong>und</strong>ed Theory zugr<strong>und</strong>e liegen. Der Forscher muss bereit sein,<br />

sich in ein Feld zu begeben, ohne sich vorher ausführlicher mit der Theorie<br />

befasst zu haben, wobei <strong>die</strong>ses Vorgehen einige Risiken in sich birgt, welche<br />

Strauss <strong>und</strong> Corbin im Rahmen ihrer Diskussion hinsichtlich der Tabula-rasa-<br />

Mentalität hervorhoben. Die Gefahren können minimiert werden, wenn der<br />

Forscher systematisch vorgeht, also seine Grenzen von Beginn an festlegt, Einblick<br />

in <strong>die</strong> benötigte Literatur nimmt, <strong>die</strong> wichtigen Forschungsfragen bereits<br />

im Vorfeld definiert <strong>und</strong> erst danach mit der Datengenerierung beginnt (Goulding,<br />

2002, S. 156). Dennoch muss er sich, egal für welche Form der Herangehensweise<br />

er sich entscheidet, offen <strong>und</strong> flexibel mit dem Datenmaterial auseinandersetzen.<br />

Beachtet werden muss, dass keine der beiden Herangehensweisen<br />

eine Explorationsphase mit ergiebigen Resultaten garantiert <strong>und</strong> <strong>die</strong> Theoriegenerierung<br />

zusichert. Die qualitätssicherenden Pfeiler der Gro<strong>und</strong>ed Theory,<br />

das theoretische Sampling, <strong>die</strong> Theoriegenese <strong>und</strong> das Verweilen im Feld bis<br />

zur Sättigung, bergen <strong>die</strong> Gefahr in sich, den persönlich definierten oder vorgesetzten<br />

Zeitplan ausser Acht zu lassen, Pläne <strong>und</strong> Strategien mehrmals verwerfen<br />

zu müssen oder den Forschungsprozess zu früh, zu spät oder gar nie abzuschliessen<br />

(Goulding, 2002, S. 157).<br />

Die Gro<strong>und</strong>ed Theorie strebt <strong>die</strong> soziologische Theoriebildung an, wobei <strong>die</strong>s<br />

nicht nur um der Generierung einer Theorie willen getan wird, sondern um<br />

177


dem Ziel einer verbesserten Handlungsfähigkeit der Akteure im Untersu-<br />

chungsbereich nachzukommen (Strübing, 2008, S. 85). Diesem Anspruch kann<br />

<strong>die</strong> Arbeit gerecht werden, wenn nach deren Publikation der Austausch mit<br />

den Ärzten <strong>und</strong> der Leserschaft gesucht wird. Bezüglich der Vali<strong>die</strong>rung der<br />

Forschungsergebnisse herrscht bei Glaser <strong>und</strong> Strauss (1998, S. 248) Einigkeit:<br />

„Die Praxis bringt also in gewisser Weise den Test <strong>und</strong> <strong>die</strong> Vali<strong>die</strong>rung der<br />

Theorie.“ Deshalb soll versucht werden, der Prämisse von Glaser <strong>und</strong> Strauss<br />

gerecht zu werden, ohne das Ziel der Generierung eines Abbil<strong>des</strong> einer sozialen<br />

Realität aus den Augen zu verlieren. Von besonderer Relevanz erscheint in<br />

<strong>die</strong>sem Zusammenhang auch <strong>die</strong> adäquate Vermittlung der Forschungsergebnisse<br />

an <strong>die</strong> Träger professionellen Handelns (Strübing, 2008, S. 86), welche im<br />

Falle <strong>die</strong>ser Arbeit in erster Linie <strong>die</strong> Ärzte sind. Der interessierten Öffentlichkeit<br />

sollte der Zugang zu den Daten <strong>und</strong> Ergebnissen aber nicht verwehrt bleiben,<br />

weshalb feldspezifische Rahmenbedingungen erläutert wurden <strong>und</strong> der<br />

Schreibstil entsprechend weniger akademisch gehalten ist.<br />

178


4 Lebenswelten<br />

„Nicht verlachen, nicht bemitleiden, nicht verabscheuen, sondern verstehen!“<br />

Baruch de Spinoza<br />

4.1 Beat U. − „... entweder durch das Geld oder <strong>die</strong> Macht motiviert.“<br />

4.1.1 Der Stayer − Porträt eines Chefarztes<br />

Das Gespräch mit dem Chefarzt Beat U. fand an einem Nachmittag im September<br />

2010 statt. Beat U. wurde mir von einer seiner Kolleginnen empfohlen.<br />

Weshalb sie gerade ihn für ein Interview als prä<strong>des</strong>tiniert erachtete, war mir im<br />

Vorfeld unklar. Im Laufe <strong>des</strong> Gesprächs wurde deutlich, dass Beat U. nicht nur<br />

ein ausserordentlich kompetenter Gesprächspartner ist, sondern auch eine klare<br />

Meinung zum Wandel seines Berufsfel<strong>des</strong> vertritt. Er gehört zu denjenigen, <strong>die</strong><br />

entgegen den Zeichen der Zeit <strong>und</strong> der offensichtlichen Entzauberungstendenzen<br />

seines Berufsstan<strong>des</strong> weiterhin unbeirrt <strong>und</strong> stärker denn je <strong>die</strong> Wichtigkeit<br />

der öffentlichen Spitäler, <strong>die</strong> der Sicherung der Gr<strong>und</strong>versorgung aller <strong>die</strong>nen,<br />

betonen <strong>und</strong> an ihrem berufsethischen Verständnis festhalten. Beat U. ist Chefarzt<br />

eines Fachbereiches innerhalb der Inneren Medizin an einem Schweizer<br />

Kantonsspital, das in seiner Region zu den grössten Arbeitgebern <strong>des</strong> Kantons<br />

gehört, <strong>und</strong> betreut überwiegend ambulante Patienten. Das Büro von Beat U.<br />

gehört im Vergleich zu jenen seiner Kollegen zu den geräumigen, da neben<br />

seinem Arbeitstisch <strong>und</strong> einem eher kleinen Bereich für <strong>die</strong> Patientenbehandlung<br />

ein zusätzlicher Tisch für Gespräche vorhanden ist. Als Einstieg in das<br />

Gespräch <strong>die</strong>nten zwei, drei Sätze zu meiner Person, ein paar Stichwörter zum<br />

Forschungsprojekt <strong>und</strong> ein kurzer Überblick zu den Fragen. Im Laufe der Interviewphase,<br />

<strong>die</strong> im Rahmen der folgenden Dissertation insgesamt zehn Monate<br />

in Anspruch nahm (Kontakt zur Schlüsselperson, Weitervermittlung der möglichen<br />

Interviewpartner, Kontaktaufnahme, Terminfindung, Einplanung möglicher<br />

Terminverschiebungen <strong>und</strong> Durchführung <strong>des</strong> Interviews), erwies sich <strong>die</strong><br />

kurze Einführung zur Forschungsthematik <strong>und</strong> zur Methodik der Experteninterviews<br />

als äusserst hilfreich, da der Interviewpartner den Kontext besser<br />

erfassen <strong>und</strong> sich dadurch einfacher auf <strong>die</strong> Situation einstellen konnte.<br />

179


Beat U. ist von grosser, sportlicher Statur <strong>und</strong> Anfang fünfzig. War er zu Beginn<br />

eher skeptisch, ironisch <strong>und</strong> teilweise auch zurückhaltend, wurde er im Laufe<br />

<strong>des</strong> Gesprächs zunehmend sympathisch, mitfühlend <strong>und</strong> offener. Den Wandel,<br />

der sich in seinem Berufsstand vollzog, nahm er merklich wahr. Anhand seiner<br />

Aussagen wurde sein zivilisationskritischer Durchblick <strong>und</strong> seine Position als<br />

Beobachter, als betroffener Akteur <strong>und</strong> als langsam, aber kontinuierlich entmachteter<br />

Machtinhaber innerhalb <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> erkennbar, der mit einem diagnostischen<br />

Blick seine Kollegen, aber auch <strong>die</strong> strukturellen Bedingungen seines<br />

Umfel<strong>des</strong> erfasst.<br />

Das Verhalten von Beat U. in der ersten Viertelst<strong>und</strong>e <strong>des</strong> Gesprächs könnte<br />

man als verhalten, distanziert <strong>und</strong> teils auch als kritisch charakterisieren. Seine<br />

anfängliche Skepsis liess sich auch anhand seiner zurückgelehnten Körperhaltung<br />

<strong>und</strong> seinen verschränkten Armen erkennen. Es soll hier keine pseudopsychologische<br />

Analyse oder Deutung der Attitüde von Beat U. vorgenommen<br />

werden, dennoch geben sowohl <strong>die</strong> drei als persönliche Idiosynkrasien (Pfadenhauer<br />

& Scheffer, 2009, S. 7) bezeichneten Eigenschaften, wie <strong>die</strong> Körperhaltung,<br />

<strong>die</strong> Ausdrucksstärke der Stimme <strong>und</strong> das Verhalten, als auch <strong>die</strong> Art <strong>und</strong><br />

Weise, wie ausschweifend oder knapp Fragen beantwortet werden oder eben<br />

nicht, wichtige Hinweise zum Befinden <strong>des</strong> Gesprächspartners <strong>und</strong> zur in kürzester<br />

Zeit hergestellten Vertrauenssituation zwischen Gesprächspartner <strong>und</strong><br />

Interviewer. Die Befindlichkeit von Beat U. lockerte sich im Laufe <strong>des</strong> Interviews<br />

auf. Besonders auffällig war seine Aufmerksamkeit hinsichtlich <strong>des</strong> von<br />

mir oft verwendeten Begriffs „damals“, um Bezug zu seinen Stu<strong>die</strong>n- <strong>und</strong> Assistenzarztjahren<br />

zu nehmen. Diese Wortwahl erschien ihm jedoch unpassend,<br />

da er sich dadurch sichtlich älter fühlte, als er war oder als er sich empfand.<br />

Beat U. ist in den Sechzigerjahren geboren <strong>und</strong> in einer Schweizer Bergregion<br />

aufgewachsen. Sein Vater baute über <strong>die</strong> Jahre eine Firma im Bereich der Autoelektronik<br />

auf, <strong>und</strong> seine Mutter war Telefonistin, sowohl in der nahen als auch<br />

fernen Verwandtschaft gab es keine Ärzte. Beat U. gehörte folglich keiner Ärztedynastie<br />

an, er war kein Erbe, dem der ärztliche Habitus <strong>und</strong> das symbolische<br />

wie soziale Kapital in <strong>die</strong> Wiege gelegt worden war. Ursprünglich wollte Beat<br />

U. Chemie stu<strong>die</strong>ren, als er aber das Studium an der ETH, der Eidgenössischen<br />

Technischen Hochschule in Zürich, genauer betrachtete, stellte er fest, dass das<br />

Studium nicht seinen Vorstellungen entsprach. Er gehörte zu den Schülern, <strong>die</strong><br />

180


ohne grossen Aufwand gute Ergebnisse erzielten <strong>und</strong> <strong>die</strong> im Beruf nach einer<br />

Herausforderung suchten. Nachdem <strong>die</strong> ETH nicht infrage kam, entschied sich<br />

Beat U. für <strong>die</strong> Medizin. Die Entscheidung für <strong>die</strong>se Fachrichtung hat er eher<br />

zufällig als geplant gefällt, es war keine Liebe auf den ersten Blick, <strong>und</strong> das<br />

Studium an sich war hart, aber spannend gewesen. Diese Spannung habe im<br />

Laufe der Assistenzzeit zugenommen, was mit der Faszination für <strong>die</strong> Detektivarbeit<br />

in Bezug auf Symptome sowie Krankheiten <strong>und</strong> deren Ursachen zusammenhing,<br />

<strong>und</strong> auch heute noch stellt der Beruf <strong>des</strong> Arztes für Beat U. einen<br />

der spannendsten Berufe dar. Nebst seinem Studium spielte er bis zum dreissigsten<br />

Lebensjahr in der ersten Liga Fussball <strong>und</strong> <strong>die</strong>s, obwohl <strong>die</strong> 100-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche während seiner Assistenzarztjahre, <strong>die</strong> er in einem Regionalspital<br />

einer Schweizer Bergregion absolvierte, sein Alltag war. Das Privatleben<br />

konnte während der Woche nicht gepflegt werden, jedoch verdeutlichen seine<br />

Aussagen, dass <strong>die</strong> Freizeit, seine damalige Fre<strong>und</strong>in, seine Fre<strong>und</strong>e, aber auch<br />

<strong>die</strong> Region, von der er stammte, ihm sehr am Herzen lagen: „Während der<br />

Woche war ich an der Uni, Freitagabend aber trat ich den<br />

Heimweg an, fuhr durch den Tunnel, <strong>und</strong> dann war man wieder<br />

zu Hause.“ Beat U. gründete bereits während seiner Assistenzzeit eine Familie,<br />

was hinsichtlich der ihm zur Verfügung stehenden Zeit ein relativ mutiges,<br />

aber im Quervergleich zu seinen Kollegen kein aussergewöhnliches Unterfangen<br />

darstellte. Die Assistenzarztzeit gehörte, bezogen auf <strong>die</strong> gesamte berufliche<br />

Laufbahn eines Arztes, bestimmt zu den arbeitsintensivsten Jahren, da<br />

nebst dem wöchentlichen Dienst von Montag bis Freitag zusätzliche Schichten<br />

wie der Notfall-, Wochenend- <strong>und</strong> 24-St<strong>und</strong>en<strong>die</strong>nst geleistet werden mussten.<br />

Zu Beginn der Neunzigerjahre, als Beat U. Assistenzarzt war, war sein Alltag<br />

von arbeitsreichen <strong>und</strong> langen Wochen geprägt; alle drei Wochen leistete er<br />

Wochenend<strong>die</strong>nst, <strong>und</strong> einmal im Monat absolvierte er den 24-St<strong>und</strong>en<strong>die</strong>nst.<br />

Die Assistenzarztzeit folgt auf das Medizinstudium, das unterteilt wird in eine<br />

vorklinische <strong>und</strong> eine klinische Ausbildung. Die erste Etappe dauert zwei Jahre,<br />

<strong>die</strong> zweite vier Jahre, wobei im Laufe der zweiten Ausbildungsphase bzw. im<br />

fünften Jahr <strong>die</strong> Tätigkeit im Krankenhaus beginnt. Das medizinische Staatsexamen<br />

ist <strong>die</strong> Würde, <strong>die</strong> der Medizinstudent nach gut sechs Jahren erhält. Die<br />

erfolgreiche Absolvierung <strong>des</strong> Staatsexamens läutet <strong>die</strong> Ausbildung als Assistenzarzt<br />

ein, <strong>die</strong> <strong>die</strong> angehenden FMH Fachärzte Mitte zwanzig beginnen <strong>und</strong><br />

innerhalb von fünf bis sechs Jahren abschliessen. Die klinisch tätigen Assistenzärzte<br />

der Humanmedizin streben nach dem Staatsexamen entweder <strong>die</strong> Erlan-<br />

181


gung <strong>des</strong> ersten Facharzttitels oder <strong>die</strong> Zulassung zur Eröffnung einer eigenen<br />

Privatpraxis an. Demzufolge beendet ein Arzt seine fachärztliche Ausbildung<br />

frühestens Anfang dreissig, bis dahin entspricht sein Ver<strong>die</strong>nst ungefähr CHF<br />

107‘000 pro Jahr (NZZ, 2008). Einige interviewte Kaderärzte prangerten das<br />

Durchschnittsgehalt eines Assistenzarztes im Gegensatz zu den Einkommen<br />

von Absolventen beispielsweise der Wirtschaftswissenschaften an. Für Beat U.<br />

spielte während seiner Assistenzarztjahre der Lohn als monetärer Gegenwert<br />

für seine Arbeit eine zweitrangige Rolle. Als Lohn für <strong>die</strong> langen Arbeitstage<br />

betrachteten er <strong>und</strong> seine Kollegen das Wissen, das sie sich im Laufe ihrer Arbeitszeiten<br />

aneignen konnten. Er hatte zu <strong>die</strong>ser Zeit als junger <strong>und</strong> äusserst<br />

zielstrebiger <strong>und</strong> aufstrebender Arzt nie das Gefühl <strong>des</strong> Verzichts oder der<br />

Aufopferung verspürt, was folgende Aussagen verdeutlichen: „Das Spannende<br />

an der Medizin ist das Erkennen, was dem Patienten<br />

fehlt, sein Leiden.“ Oder: „Es tönt vielleicht etwas pathetisch.<br />

Aber es war für uns damals eine Befriedigung, ein<br />

Lohn für unsere Zeit, wenn wir nach zwölf oder dreizehn<br />

St<strong>und</strong>en Arbeit was lernen oder machen durften.“ Dieses Gefühl<br />

hat sich im Laufe seiner Laufbahn verändert, was deutlich mit der zunehmenden<br />

Entzauberung seines Status als Arzt zusammenhängt <strong>und</strong> sich anhand der<br />

folgenden Aussage, <strong>die</strong> am Ende <strong>des</strong> Interviews gemacht wurde, offenbart:<br />

„Einfach, von 1981 bis vor zwei Jahren, habe ich nur für<br />

<strong>die</strong> Medizin gelebt. Gut, ich habe alles für meine Familie<br />

gemacht, ich habe vier Kinder. Aber ich habe nichts für<br />

mich gemacht. Ich würde was anderes machen, was komplett<br />

anderes machen, ich würde aufs Konservatorium gehen.“ Gleichzeitig<br />

muss aber hinzugefügt werden, dass Beat U. <strong>die</strong> Begeisterung für den<br />

Arztberuf nie verloren hat. Die Frage, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Antwort einleitete, war, ob er<br />

den Beruf <strong>des</strong> Arztes heute noch einmal wählen würde, <strong>die</strong>se Frage entsprach<br />

der vermeintlich letzten Frage <strong>des</strong> Gesprächs. Beat U. gehört zu den wenigen<br />

interviewten Kaderärzte, <strong>die</strong> darauf mit einem klaren Nein antworteten. Dieses<br />

Nein stellt im Falle von Beat U. keinesfalls eine fehlende Identifikation mit<br />

seiner „totalen sozialen Rolle“ als Arzt dar, <strong>die</strong> er noch immer sehr stark vertritt<br />

<strong>und</strong> lebt, was auch damit zusammenhängt, dass Beat U. seinen Beruf als Berufung<br />

<strong>und</strong> eben nicht als Job sieht <strong>und</strong> dass für ihn <strong>die</strong> stetige Wissensaufnahme<br />

<strong>und</strong> -verarbeitung im Zentrum seiner ärztlichen Tätigkeit steht. Den Abbau<br />

seines beruflichen Status <strong>und</strong> Ethos erfährt er am eigenen Leibe <strong>und</strong> nimmt ihn<br />

deutlich wahr, was zu einer teils ausgeprägten, aber nicht klar ersichtlichen<br />

182


Frustration führt. Diese hängt unter anderem eng mit der zunehmend schwä-<br />

cheren Identifikation der angehenden Ärzte mit der „totalen sozialen Rolle“,<br />

der zunehmenden Wichtigkeit einer selbstbestimmten Work-Life-Balance <strong>und</strong><br />

der immer stärkeren Bedrohung durch marktwirtschaftlich geführte Spitäler,<br />

<strong>die</strong> zusehends Kollegen aus dem öffentlichen Spital abwerben, zusammen.<br />

Die Akkumulation von ökonomischem Kapital spielte für den jungen Arzt Beat<br />

U. während der ersten Jahre keine ausschlaggebende Rolle, was auch <strong>die</strong> Tatsache<br />

zeigt, dass er <strong>und</strong> seine Familie anderthalb Jahre nach England zogen <strong>und</strong><br />

Beat U. in einem der grössten <strong>und</strong> angesehensten Spitäler <strong>des</strong> NHS (National<br />

Health Service) unentgeltlich tätig war. Die Stellen im NHS, <strong>die</strong> im klinischen<br />

Bereich vergeben wurden <strong>und</strong> Tätigkeiten mit Patienten zuliessen, waren begrenzt<br />

<strong>und</strong> wurden zuerst an Engländer, anschliessend an Anwärter aus EU-<br />

Staaten <strong>und</strong> zuletzt an Nicht-EU-Bürger vergeben. Die Chancen von Beat U. als<br />

Schweizer <strong>und</strong> somit Nicht-EU-Bürger lagen demzufolge schlecht, weshalb er<br />

sich seinen Aufenthalt in England von seinen Ersparnissen finanzieren musste.<br />

Die Erfahrungen, <strong>die</strong> er damals in England machte, halfen ihm, einen Vergleich<br />

zwischen dem Berufsalltag in England <strong>und</strong> dem in der Schweiz zu ziehen, anhand<br />

<strong>des</strong>sen er <strong>die</strong> Erschwernisse seines beruflichen Alltags in der Schweiz<br />

relativieren konnte, da sich sowohl <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen, der Ver<strong>die</strong>nst als<br />

auch der Umgang mit den Patienten massgeblich voneinander unterschieden.<br />

Der Unterschied bestand aber nicht darin, dass das Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

als durchwegs fortschrittlicher bezeichnet werden konnte als dasjenige von<br />

Grossbritannien, aber angesichts der merklich ausgeprägten <strong>und</strong> fortschreitenden<br />

Zwei-Klassen-Medizin in Grossbritannien war eine wesentliche Differenz<br />

insbesondere hinsichtlich der Zugangschancen der breiten Allgemeinheit zu<br />

einer umfassenden Ges<strong>und</strong>heitsversorgung zu verzeichnen. Die Tagesabläufe<br />

waren im Bereich der Patientenbetreuung <strong>und</strong> auf Stufe Assistenzarzt zeitlich<br />

wesentlich stärker reglementiert, <strong>die</strong> Empathie zu den Patienten wurde erheblich<br />

betont <strong>und</strong> von den Kaderärzten auch bewusst gelebt, indem Patienten in<br />

den Arm genommen wurden oder sich der Arzt auf das Krankenbett setzte. Der<br />

Umgang unter den Arztkollegen sei viel kollegialer <strong>und</strong> lockerer gewesen, der<br />

Patient hingegen musste sich in Geduld üben <strong>und</strong> lange Wartezeiten akzeptieren,<br />

oder er erfuhr aufgr<strong>und</strong> von Parametern wie Altersbeschränkungen beispielsweise<br />

keine umfassende Betreuung mehr, was ein deutliches Indiz für<br />

eine voranschreitende Zwei-Klassen-Medizin darstellte. Beat U. beschreibt <strong>die</strong><br />

183


Situation im NHS folgendermassen: „Wenn es irgendwo sticht oder<br />

<strong>die</strong> Hüfte schmerzt, hat man nicht nach zwei Tagen schon<br />

eine Hüftprothese, sondern man wartet ein Jahr oder so. Das<br />

Warten auf eine Behandlung, auf eine Diagnose, das kann man<br />

sich hier gar nicht vorstellen.“ Oder: „Gehörte man aber zum<br />

Kader, dann war <strong>die</strong>s ganz anders. Sie haben <strong>die</strong> Leute mit<br />

ihren Vornamen angesprochen, haben sich auf deren Bett gesetzt<br />

<strong>und</strong> haben sie in <strong>die</strong> Arme genommen. So etwas wäre<br />

hier in unserer Gesellschaft <strong>und</strong>enkbar.“ NHS, das staatliche Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />

Grossbritanniens, wird nicht, wie <strong>die</strong>s in der Schweiz der Fall<br />

ist, über Sozialversicherungsbeiträge, sondern über Steuern finanziert <strong>und</strong><br />

gewährleistet <strong>die</strong> medizinische Versorgung einer in Grossbritannien lebenden<br />

Person im Bereich der Primärversorgung über <strong>die</strong> Hausärzte <strong>und</strong> im Bereich<br />

der Sek<strong>und</strong>ärversorgung über <strong>die</strong> Krankenhäuser. Dieses nationale Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />

wird dem Prinzip <strong>des</strong> Sozialstaates gerecht, das den sozialen Ausgleich<br />

gewährleistet, der innerhalb der Gesellschaft für einen freien Zugang zu<br />

einem Ges<strong>und</strong>heitssystem sorgt, das <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung je<strong>des</strong> einzelnen<br />

Bürgers sicherstellt, unabhängig von einer vertraglichen Verpflichtung.<br />

Der Tagesablauf von Beat U. im Rahmen seines Auslandsaufenthaltes glich, im<br />

Gegensatz zu demjenigen in der Schweiz, dem eines Beamten, da <strong>die</strong> Tage<br />

zeitlich klar geregelt <strong>und</strong> strukturiert waren, wobei in <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

beachtet werden muss, dass Beat U. dort als clinical assistant tätig war, was mit<br />

der Position <strong>des</strong> hiesigen Assistenzarztes gleichgesetzt werden kann. Die<br />

Sprechst<strong>und</strong>en wurden um fünf Uhr abends beendet, im Anschluss daran standen<br />

administrative Tätigkeiten an, <strong>die</strong> aber im Vergleich zur Schweiz wesentlich<br />

geringer ausfielen, <strong>und</strong> falls der Wunsch bestand, einer Forschungstätigkeit<br />

nachzugehen, so musste auch <strong>die</strong>s im Anschluss an <strong>die</strong> Arbeitszeit durchgeführt<br />

werden. Wie bereits erwähnt, empfand Beat U. <strong>die</strong> Zusammenarbeit mit<br />

den Arztkollegen als wesentlich lockerer, was er mit den in englischen Spitälern<br />

herrschenden flacheren Hierarchien begründet. Der kollegiale Umgang zwischen<br />

<strong>Chefärzte</strong>n <strong>und</strong> Assistenzärzten beispielsweise führe dazu, dass letztere<br />

bei der Visite auch Fragen stellen <strong>und</strong> den aktiven Austausch mit den Kaderärzten<br />

suchen würden, was in Schweizer Spitälern in nur sehr geringem Masse<br />

geschehe, da <strong>die</strong> jungen Ärzte eine sehr hohe, persönliche Hemmschwelle zu<br />

überwinden hätten <strong>und</strong> <strong>die</strong> positive <strong>und</strong> förderliche Auseinandersetzung mit<br />

ihren Vorgesetzten zu meiden versuchten.<br />

184


Den Schritt nach England hat Beat U. bewusst getätigt <strong>und</strong> <strong>die</strong>s vermutlich<br />

auch im Hinblick auf seine weitere Karriere, jedoch würde er seinen Weg zum<br />

Chefarztposten nicht als Laufbahnplanung bezeichnen. Er ist nicht der Meinung,<br />

dass seine damaligen Kommilitonen oder <strong>die</strong> Mehrheit der heutigen<br />

Medizinstudenten eine reelle Vorstellung von ihrem zukünftigen Spezialgebiet<br />

haben, sondern dass <strong>die</strong> Mehrzahl der ärztlichen Laufbahnen von Zufällen<br />

geprägt ist. Beat U. erkennt aber deutliche Unterschiede zwischen seiner Ärztegeneration<br />

<strong>und</strong> der heutigen, heranwachsenden Ärztepopulation, <strong>die</strong> ihrer<br />

Freizeit <strong>und</strong> ihrem Privatleben eine hohe Priorität einräumt. Auch <strong>die</strong> Ansprüche<br />

seien merklich gestiegen, was man anhand der Lebensumstände, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

heutigen Studenten pflegen, bereits erkenne. Beat U. vertritt eine gespaltene<br />

Meinung zur 50-St<strong>und</strong>en-Woche, zum einen scheint er Verständnis für <strong>die</strong><br />

Tatsache zu haben, dass <strong>die</strong> heutigen Assistenten ihrem Privatleben eine höhere<br />

Priorität zusprechen, andererseits haben <strong>die</strong> Erfahrungen, <strong>die</strong> er während seiner<br />

Assistenzjahre gemacht hat, sein berufsethisches Verständnis geschärft <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Faszination für den Arztberuf genährt. Das Fehlen <strong>die</strong>ser Erfahrung bei den<br />

heutigen Assistenzärzten <strong>und</strong> <strong>die</strong> geringere Bereitschaft, während der ersten<br />

Berufsjahre Kompromisse hinsichtlich <strong>des</strong> Privatlebens einzugehen, was auch<br />

damit zusammenhängt, dass <strong>die</strong> heutige junge Ärztegeneration ihren Beruf<br />

nicht mehr als Berufung, sondern als Job sieht, hat massgeblich zum Wandel<br />

<strong>des</strong> Arztberufs beigetragen. Dieser Wandel hat sich in neuen rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

wie der 50-St<strong>und</strong>en-Woche oder der Generalarbeitsverträge<br />

niedergeschlagen, <strong>die</strong> im Detail Höchstarbeitszeiten, Ruhezeiten oder Dienste<br />

wie Nacht-, Wochenend-, Präsenz- <strong>und</strong> Pikett<strong>die</strong>nst regeln. Parallel zum strukturellen<br />

Wandel, der sich in neuen Gesetzen, Verordnungen oder Prozessen<br />

niederschlägt, findet ein Wandel <strong>des</strong> Habitus statt, der sich langsam, aber stetig<br />

<strong>und</strong> teils verzögert, teils gleichzeitig vollzieht. Der Heroismus der bedingungslosen<br />

Hingabe an <strong>die</strong> beruflichen Aufgaben, entsprechend einer radikalen Auslegung<br />

<strong>des</strong> hippokratischen Ei<strong>des</strong> <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen charismatischer Ausstrahlung, ist<br />

mit <strong>die</strong>ser Art bürokratischer Regulierung mit Stechuhr <strong>und</strong> St<strong>und</strong>enblatt kaum<br />

in Einklang zu bringen.<br />

Anhand <strong>des</strong> Werdegangs von Beat U. <strong>und</strong> seinen Schilderungen hinsichtlich<br />

seiner ersten Erfahrungen im Spitalalltag erkennt man unschwer eine asketische<br />

Gr<strong>und</strong>haltung, <strong>die</strong> dadurch gekennzeichnet ist, dass das stetige Generieren <strong>und</strong><br />

Verarbeiten von Wissen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> treibenden Faktoren seiner beruflichen Karriere<br />

185


darstellen, in einer unverkennbaren Leistungsorientierung resultieren. Die<br />

nahezu vollständige Identifikation mit der „totalen sozialen Rolle“ <strong>des</strong> Arztes,<br />

<strong>die</strong> anscheinend er <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mehrheit der Kollegen seiner Generation verinnerlicht<br />

haben <strong>und</strong> <strong>die</strong> im nächsten Abschnitt erläutert wird, lässt ihn als Fremden<br />

in seinen eigenen Reihen <strong>und</strong> einer Berufswelt zurück, deren objektive Strukturen<br />

sich mehr <strong>und</strong> mehr von seinen in den frühen Jahren erworbenen subjektiven<br />

Dispositionen <strong>und</strong> seinem beruflichen Habitus entfernen. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

spielt <strong>die</strong> Idee <strong>des</strong> gebrochenen Habitus nach Pierre Bour<strong>die</strong>u<br />

eine bedeutende Rolle sowie auch <strong>die</strong> dem Prinzip der Anomie entsprechende<br />

Institutionalisierung neuer materieller, institutioneller, struktureller <strong>und</strong> objektiver<br />

Strukturen. 49<br />

Die Assistenzjahre sind gegenwärtig nicht mehr von 100- bis 120-St<strong>und</strong>en-<br />

Wochen gekennzeichnet, bei der Wochenplanung können Wünsche angebracht<br />

werden, was <strong>die</strong> Erstellung <strong>des</strong> Plans zu einem Hürdenlauf werden lässt <strong>und</strong><br />

zusätzlich Zeit in Anspruch nimmt, während <strong>die</strong> Work-Life-Balance <strong>des</strong> Einzelnen<br />

eine neue, für den Arztberuf noch nie da gewesene Priorität einnimmt.<br />

Beat U. erkennt, dass <strong>die</strong> alte Schule, in welcher er regelrecht zum Arzt gemacht<br />

wurde, der er entstammt, <strong>die</strong> er verinnerlicht hat <strong>und</strong> deren Werte er vertritt,<br />

passé <strong>und</strong> anscheinend auch unwiederbringlich vorbei ist, weshalb er sich folglich<br />

auch als Dinosaurier, als Urgestein, aber auch als Fremder sieht, der sehr<br />

wohl einen Platz in der Hierarchie inne hat, der sich aber in der Struktur <strong>des</strong><br />

Spitals nicht mehr wiedererkennt.<br />

Beat U. spricht zwar höchst selten über den Ver<strong>die</strong>nst, er tut es aber im Zusammenhang<br />

mit den leistungsorientierten Gehältern, <strong>die</strong> an seinem Kantonsspital<br />

nach dem Bonus-Malus-Prinzip funktionieren, wozu er sich folgendermassen<br />

äussert: „Der Arzt wird mit Bonus <strong>und</strong> Malus folglich<br />

wie ein Banker behandelt. Wir sprechen hier von wenig Geld.<br />

Der Betrag macht 5-10% vom Lohn aus. Man macht aber vieles<br />

damit kaputt, also <strong>die</strong> Zusammenarbeit, <strong>die</strong> Teammitarbeit<br />

<strong>und</strong> natürlich auch <strong>die</strong> eigene Identifizierung mit dem Spital.<br />

Die Herren machen sich darüber keine Gedanken.“ Der<br />

Leistungslohn, den Beat U. anspricht, widerspricht dem antiökonomischen<br />

49 „Le processus d’institutionalisation de l’anomie qui est corrélatif de la constitution d’un champ dans lequel chaque<br />

créateur est autorisé à instaurer son propre nomos dans un œuvre apportant avec elle le principe (sans antécédent) da<br />

sa propre perception.“ (Bour<strong>die</strong>u, 1992b, S. 103)<br />

186


Ethos, das im Habitus <strong>des</strong> Arztes verinnerlicht wurde <strong>und</strong> das zusehends ero-<br />

<strong>die</strong>rt, was durch <strong>die</strong> zunehmende Verbreitung der leistungsorientierten Gehäl-<br />

ter sowohl in privaten als auch öffentlichen Spitälern verstärkt wird. Dem Be-<br />

rufsmenschen Arzt ist ein rappenspalterisches Verhalten fremd, <strong>und</strong> <strong>die</strong> 5-10%<br />

flexiblen Lohnanteils hätten früher als quantité négligeable gegolten, was damit<br />

zusammenhängen könnte, dass <strong>die</strong> Arztgehälter bis anhin in der Öffentlichkeit<br />

wenig thematisiert wurden, da ein breiter Konsens darüber bestand, dass Ärzte<br />

traditionellerweise gut ver<strong>die</strong>nen <strong>und</strong> der Anschein entstand, dass <strong>die</strong> Ärzteschaft<br />

mit ihren Einkommen zufrieden ist. Dennoch scheint auch bezüglich<br />

<strong>die</strong>sem Paradigma ein Wandel stattzufinden, da im Rahmen der Interviews <strong>die</strong><br />

Relevanz <strong>des</strong> ökonomischen Kapitals <strong>und</strong> <strong>die</strong> Erteilung bzw. Umverteilung von<br />

Machtpositionen zusehends sichtbar wird, was zur Folge hat, dass offener <strong>und</strong><br />

gängiger über Geld <strong>und</strong> Gehälter gesprochen wird, wobei für einen Laien <strong>die</strong><br />

Abgrenzung zwischen Netto- <strong>und</strong> Bruttogehältern <strong>und</strong> das inklu<strong>die</strong>rte bzw.<br />

exklu<strong>die</strong>rte Honorar schwer nachzuvollziehen sind. Die beiden genannten<br />

Indizien der <strong>Ökonomisierung</strong>, <strong>die</strong> leistungsorientierte Entlohnung <strong>und</strong> das<br />

Ringen um Machtpositionen, stehen exemplarisch für den Einzug eines neuen<br />

Managements, das <strong>die</strong> ihnen bekannten <strong>und</strong> ihrer Feldlogik entsprechenden<br />

Spielregeln einführt. Das Feld, welches bis anhin antiökonomischen Prinzipien<br />

gehorchte <strong>und</strong> den ärztlichen Dienst an der Allgemeinheit als gr<strong>und</strong>legende<br />

<strong>und</strong> ärztliche Pflicht erachtete, sieht sich einer neuen sozioökonomischen Logik<br />

ausgesetzt, <strong>die</strong> oft von Ökonomen initiiert <strong>und</strong> implementiert wird, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

ungeachtet der Tatsache, dass <strong>die</strong>se Logik nicht derjenigen <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> entspricht.<br />

Das Berufsethos <strong>des</strong> Arztes erfährt durch <strong>die</strong>se politisch auferlegten<br />

Spielregeln eine offensichtliche <strong>und</strong> starke Erosion <strong>des</strong> inkarnierten, ärztlichen<br />

Habitus bzw. eine Aufweichung der inkorporierten, traditionellen Rolle <strong>des</strong><br />

Arztes. Dadurch stellt sich bei Beat U. ein Gefühl der Fremdheit ein, was dazu<br />

führt, dass seine Identifikation mit seinem Berufsumfeld stetig abnimmt, da er<br />

sich mit seinem Rollenverständnis <strong>und</strong> dem berufsethischen Verständnis nicht<br />

mehr wiedererkennt <strong>und</strong> seine Rolle als Arzt in der Struktur <strong>des</strong> Krankenhauses<br />

nicht wiederfindet. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang spielt auch das Phänomen<br />

der Verdrängung der intrinsischen Motivation eine relevante Rolle, <strong>die</strong> im Englischen<br />

unter motivation crowding out effect bekannt ist <strong>und</strong> Mathias Binswanger<br />

(2010, S. 104f.) in seinem Sinnlose Wettbewerbe treffend thematisiert. Binswanger<br />

nimmt in seinem Buch Bezug auf ein sich in der breiten Öffentlichkeit, aber<br />

auch unter Managern halten<strong>des</strong> Paradigma, wonach mehr Wettbewerb dazu<br />

187


führt, dass sich der oder <strong>die</strong> Beste durchsetzt, dass mehr Effizienz erreicht <strong>und</strong><br />

dadurch auch eine höhere Qualität erzielt wird. Dieses Paradigma hat auch im<br />

Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen Einzug gehalten, dementsprechend wird beispielsweise<br />

dem WZW50-Prinzip oder den leistungsabhängigen Gehältern, <strong>die</strong><br />

vor allem bei den Belegärzten an Privatspitälern stark vertreten sind, eine immer<br />

grössere Bedeutung zugesprochen. Die flexiblen Lohnanteile haben langsam,<br />

aber nachhaltig auch Einzug in <strong>die</strong> öffentlichen Spitäler gehalten. Diesem<br />

Entlohnungssystem liegt <strong>die</strong> Annahme zugr<strong>und</strong>e, dass, je höher der flexible<br />

Lohnanteil, umso grösser auch <strong>die</strong> Arbeitsproduktivität sei <strong>und</strong> folglich auch<br />

das erzielte Wachstum. Der emeritierte Ökonomieprofessor der Universität<br />

Zürich, Bruno S. Frey, zeigt jedoch deutlich auf, dass keine empirische Gr<strong>und</strong>lage<br />

existiert, <strong>die</strong> einen Zusammenhang zwischen dem Erfolg eines Unternehmens<br />

<strong>und</strong> seinem Vergütungssystem bestätigt (Frey, 2003, zit. in Binswanger,<br />

2010, S. 104). Zahlreiche Forschungen hinsichtlich <strong>des</strong> Verdrängungseffektes<br />

haben gezeigt, dass Belohnungen nicht einfach als Motivationsverstärker betrachtet<br />

werden dürfen, da sie eher zur Verdrängung intrinsischer Motivationen<br />

derjenigen Menschen beitragen, <strong>die</strong> kreative <strong>und</strong> anspruchsvolle Tätigkeiten<br />

ausführen <strong>und</strong> für solche Tätigkeiten prä<strong>des</strong>tiniert, ja vielleicht sogar berufen<br />

sind. Gerade im Ges<strong>und</strong>heitsbereich oder in der Wissenschaft spielen solche<br />

intrinsischen Gründe eine eminent wichtige Rolle, was auch zahlreiche Interviewaussagen<br />

beweisen, in welchen sich <strong>die</strong> Ärzte mehr Wahrnehmung, höhere<br />

Anerkennung oder, wie Beat U., mehr Mitspracherecht (nichtmaterielle Belohnungen)<br />

wünschen. Wird <strong>die</strong> ärztliche Leistung einer zunehmenden Messung<br />

unterzogen, der Arbeitsalltag nicht nur durch <strong>die</strong> ärztliche Kernkompetenz,<br />

sondern zusehends von administrativen Arbeiten reglementiert <strong>und</strong> fühlen sich<br />

<strong>die</strong> Ärzte verstärkt fremdbestimmt, sinkt <strong>die</strong> Lust an ihrer komplexen Arbeitstätigkeit<br />

zusehends, was sich intensiviert, wenn <strong>die</strong> Leistungen zu messbaren<br />

Grössen zusammengefasst werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Belohnung sich an <strong>die</strong>sen orientiert.<br />

Der intrinsisch motivierte Mensch, der auf einen Leistungsmessungs-, Evaluations-<br />

<strong>und</strong> Wettbewerbszirkus keine Lust hat, wird sich zusehends von extrinsischen<br />

Belohnungen abwenden (Binswanger, 2010, S. 109). Oder aber <strong>die</strong> Förderung<br />

von extrinsischer Motivation wird eine Verdrängung von intrinsischer<br />

50 Die Leistungen der obligatorischen Krankenversicherungen haben den Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit zu entsprechen. Kriterien, <strong>die</strong> inskünftig möglicherweise auch auf das berufsethische Handeln<br />

Anwendung finden werden.<br />

188


Motivation zur Folge haben. Binswanger ist sogar der Meinung, dass eine Ver-<br />

drängung der intrinsischen Motivation zu einer Verdrängung von Qualität<br />

führt (Binswanger, 2010, S. 106).<br />

Obwohl gemäss Beat U. sein flexibler Lohnanteil gering ist <strong>und</strong> zwischen fünf<br />

<strong>und</strong> zehn Prozent seines Lohnes ausmacht, trägt ein monetäres Anreizsystem,<br />

das durch den am Umsatz orientierten Anteil geschaffen wird, nicht zum Arbeitsklima<br />

bei. Gemäss ihm darf <strong>die</strong> Motivation, <strong>die</strong> den Einzelnen dazu treibt,<br />

Medizin zu stu<strong>die</strong>ren, den Beruf <strong>des</strong> Arztes zu ergreifen <strong>und</strong> anschliessend als<br />

Oberarzt oder Kaderarzt tätig zu sein, nicht durch den Ver<strong>die</strong>nst angespornt<br />

werden, sondern in der vollständigen Identifikation mit der „totalen sozialen<br />

Rolle“ <strong>des</strong> Arztes. Diese Identifikation, <strong>die</strong> er auch als Feu sacré bezeichnet,<br />

wünscht er bei seinen angehenden Ärzten wiederzufinden. Kann er eine solche<br />

Faszination für den Arztberuf im Handeln seiner Assistenzärzte wiederfinden,<br />

so stellt für ihn <strong>die</strong> Ausbildung der Assistenzärzte eine der befriedigendsten<br />

Aufgaben eines Kaderarztes dar, was er folgendermassen beschreibt: „Das<br />

Arbeiten mit Leuten, mit jungen Assistenten, in welchen man<br />

teilweise auch das Feu sacré erkennt oder aber <strong>die</strong>jenigen,<br />

<strong>die</strong> sich damit anstecken lassen, das ist enorm befriedigend.<br />

Das Weitergeben an Erfahrungen, das Weitergeben <strong>des</strong>sen,<br />

was man gesehen hat, ist enorm befriedigend, vor allem<br />

auch wenn man sieht, dass <strong>die</strong>s aufgenommen wird.“ Dies entspricht<br />

einer vollständigen Inkorporation der ärztlichen Rolle, <strong>die</strong> nicht mehr<br />

lediglich mit der Professionsrolle gleichgesetzt werden kann, da sie vollumfänglich<br />

inkorporiert wird <strong>und</strong> <strong>die</strong>s im Sinne der absoluten Einigkeit von Körper<br />

<strong>und</strong> Geist, im französischen unter „corps et âme“ bekannt. Seine Generation<br />

habe sich mit dem Beruf <strong>des</strong> Arztes vollständig identifiziert: „... vielleicht<br />

auch zu viel identifiziert“, was er hinsichtlich seines fachlichen<br />

Wissens nicht bereut. Er räumt aber deutlich ein, dass <strong>die</strong>se fast vollständige<br />

Identifikation mit der Profession <strong>des</strong> Arztes auch Opfergaben fordert.<br />

Vorstellbar ist, dass sowohl der Entzauberungsprozess, den Beat U. über <strong>die</strong><br />

Jahre hinweg durchlief, als auch eine gewisse Wehmut bezüglich <strong>des</strong> früheren<br />

ärztlichen Status, dem <strong>die</strong> Rolle der Vertrauensperson, <strong>des</strong> Fre<strong>und</strong>es der Familie<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong> respektierten <strong>und</strong> fachlich kompetenten Arztes im Dienste der Allgemeinheit<br />

zukam, zu einer geringen, aber dennoch spürbaren Hochstilisierung<br />

seiner Generation führt. Er wahrt heute zur „totalen sozialen Rolle“ <strong>des</strong> Arztes<br />

eine gewisse Distanz, was anhand folgender Worte ersichtlich wird: „Das<br />

189


würde bedeuten: im Spital leben, für das Spital leben.<br />

L’hôpital c’est moi. Diese Ärzte sind dann das Spital. Diese<br />

Macht <strong>und</strong> Kompetenzfülle gibt es heute nicht mehr.“ Und<br />

dennoch steht ihm <strong>die</strong>se Rolle näher als <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> von gewissen jungen<br />

Ärzten oder arrivierten Ärzten, <strong>die</strong> ans Privatspital wechseln, propagiert <strong>und</strong><br />

gelebt wird. Bestimmt kann Beat U. in <strong>die</strong>sem Zusammenhang auch eine nostalgische<br />

Sehnsucht nicht abgesprochen werden. „Entweder man baut sich<br />

an dem auf, was man innerhalb <strong>des</strong> Berufes lernen kann oder<br />

man macht sich kaputt, indem man all <strong>die</strong>s anschaut, was man<br />

nicht hat. Es gibt immer Sachen, <strong>die</strong> man gern hätte, welche<br />

der Andere hat.“ Zum langsamen, aber steten Verlust <strong>des</strong> ärztlichen Prestiges<br />

haben gemäss Beat U. nicht nur <strong>die</strong> Ärzteschaft selber, sondern auch <strong>die</strong><br />

Politik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n beigetragen, was er folgendermassen beschreibt: „Wenn<br />

Sie das Vertrauen in den Arzt ansprechen, dann ist es gemäss<br />

meiner Wahrnehmung folgendermassen: Die Politik hat in<br />

den letzten fünfzehn Jahren den Beruf <strong>des</strong> Arztes systematisch<br />

angegriffen <strong>und</strong> beschädigt.“ Von einer regelrechten Demontage<br />

spricht er im selben Zusammenhang: „Man hat systematisch<br />

schwarze Schafe ausgegraben <strong>und</strong> gezeigt, welche Gauner sich<br />

dahinter verbergen. Ich denke schon, dass <strong>die</strong> politische<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> massenmediale Demontage zu einem Vertrauensverlust<br />

geführt haben.“ Die Politik hat mit Massnahmen wie den Ärztestopps, der<br />

Senkung der Labortarife, der Einführung neuer Abrechnungssysteme oder der<br />

50-St<strong>und</strong>en-Woche für Assistenzärzte massgeblich Einfluss auf den Berufsalltag<br />

<strong>des</strong> Arztes genommen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s sowohl auf denjenigen <strong>des</strong> Krankenhausarztes<br />

als auch auf denjenigen <strong>des</strong> Hausarztes. In zweifacher Hinsicht wurde der Arzt<br />

in den letzten Jahren einem Wandel ausgesetzt, <strong>des</strong>sen Ende nicht in Sicht ist<br />

<strong>und</strong> der sich selber kontinuierlich reproduziert, bis sich vermutlich ein neuer<br />

ärztlicher Habitus herauskristallisieren wird. Der beschriebene, objektive <strong>und</strong><br />

strukturelle Wandel, der kontinuierlich das Ges<strong>und</strong>heitswesen, <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitsinstitutionen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Ärzteschaft <strong>und</strong> Pflege erfasst <strong>und</strong> den Akteuren<br />

neue, mehrheitlich vom Management getriebene Rahmenbedingungen aufoktroyiert,<br />

bewirkt eine Transformation <strong>des</strong> Habitus <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> der von ihm<br />

verinnerlichten Strukturen. Dadurch werden praktische <strong>und</strong> moralische Gewohnheiten,<br />

Handlungsprozesse <strong>und</strong> ethische Handlungsparadigmen neuen<br />

Spielregeln ausgesetzt, wodurch eine Angleichung <strong>des</strong> radikalen, asketischen<br />

<strong>und</strong> überwiegend humanitär philanthropischen Habitus <strong>des</strong> Arztes an den<br />

190


Habitus <strong>des</strong> homo oeconomicus geschieht. Dieser beschriebene Prozess wird<br />

sowohl von oben, von der Verwaltungsebene <strong>und</strong> den darin vertretenen Öko-<br />

nomen, als auch von unten, von den jungen Ärzten, vorangetrieben. Diese neue<br />

Generation auferlegt gleichzeitig neue Spielregeln, <strong>die</strong> sich aus Sicht der Gesell-<br />

schaftsdiagnostik an einer Gesellschaft ausrichten, für <strong>die</strong> Freizeit, Konsum,<br />

Work-Life-Balance, Individualismus <strong>und</strong> Unternehmertum zentrale Orientie-<br />

rungen darstellen, wodurch <strong>die</strong> Berufung zur Erlangung <strong>und</strong> Ausübung <strong>des</strong><br />

Arztberufs an Bedeutung verliert <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Beruf zusehends zum gewöhnli-<br />

chen Job verkommt. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang ist auch der Genderaspekt von<br />

Bedeutung, da sich, wie man der Feldöffnung entnehmen konnte, verstärkt<br />

Frauen für den Arztberuf entscheiden, was zu neuen Anforderungen in Bezug<br />

auf Doppelkarriere, Kinderbetreuung, Teilzeitarbeit <strong>und</strong> Gleichstellung führt,<br />

wodurch <strong>die</strong> bislang teils stark verankerten, patriarchalischen <strong>und</strong> steilen hierarchischen<br />

Strukturen langsam ero<strong>die</strong>ren. Diese Aufweichung <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Berufsethos von unten führt zu einer Veralltäglichung <strong>des</strong> Charismas <strong>des</strong> Arztberufs,<br />

wodurch es zu einem Verlust <strong>des</strong> ausseralltäglichen Charakters <strong>des</strong> dem<br />

Arzt der alten Schule zugesprochenen Charismas kommt, was einem Verlust an<br />

symbolischem Kapital entspricht.<br />

Hinsichtlich der Arzt-Patienten-Beziehung hat sich gemäss Beat U. einiges<br />

verändert, bezüglich der Empathie jedoch, <strong>die</strong> dem Patienten entgegengebracht<br />

werden sollte, ist keine grosse Veränderung festzustellen, da man entweder <strong>die</strong><br />

nötige Sozialkompetenz <strong>und</strong> das Gespür für den kranken Menschen hat oder<br />

eben nicht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s würden auch <strong>die</strong> Patienten bemerken. Er erwähnt aber,<br />

dass der Zeitdruck, dem <strong>die</strong> Ärzte heute ausgesetzt seien, sich vom früheren<br />

unterscheide <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung Einfluss haben könne.<br />

Früher entstand <strong>die</strong> knappe Zeit dadurch, dass <strong>die</strong> Ärzte h<strong>und</strong>ert St<strong>und</strong>en<br />

arbeiteten, wodurch auch wenig Raum für Freizeit blieb, heute entstehe Zeitknappheit<br />

aufgr<strong>und</strong> von strukturellen Bedingungen in Bezug auf <strong>die</strong> Krankenhauskultur.<br />

Die Zeit für den Patienten sei wesentlich regulierter, was er folgendermassen<br />

beschreibt: „Heute ist es so, dass kaum hat der Patient<br />

einen Fuss in <strong>die</strong> Notfallstation gesetzt, sollte schon<br />

alles diagnostiziert <strong>und</strong> behandelt sein. Man hat viel, viel<br />

weniger Zeit. Es ist ein enormer Zeitdruck da. Es ist ein<br />

enormer Druck hier etwas zu verpassen.“ Diese Zeitknappheit <strong>und</strong><br />

der dadurch entstehende Druck, der sich massgeblich auf <strong>die</strong> Ärzteschaft <strong>und</strong><br />

Pflege auswirkt, wird sich mit der Einführung der DRG nicht wesentlich ver-<br />

191


ändern. Um sich in Bezug auf Haftpflichtfälle rechtlich abzusichern, den struk-<br />

turell vorgegebenen Bedingungen nachzukommen <strong>und</strong> den Ansprüchen der<br />

Patienten gerecht zu werden, werde der instrumentalisierten Medizin zunehmend<br />

der Vorrang vor der Fachkompetenz <strong>des</strong> Arztes gegeben, da das Vertrauen<br />

<strong>die</strong>sem gegenüber sichtbar schwindet <strong>und</strong> das Misstrauen zunimmt. Dieses<br />

Misstrauen führt dazu, dass Patienten zunehmend Zweit- <strong>und</strong> Drittmeinungen<br />

bei Arztkollegen einholen, was Beat U. nicht als problematisch betrachtet, aber<br />

zur gegenwärtig stark diskutierten Kostensteigerung beiträgt. Zur instrumentalisierten<br />

Medizin <strong>und</strong> dem Vertrauensverlust äusserst sich Beat U. wie folgt:<br />

„Das zweite ist, dass der instrumentalisierten Medizin ein<br />

enorm hoher Glauben geschenkt wird, <strong>und</strong> der Arzt <strong>und</strong> seine<br />

Tätigkeit eher als quantité négligeable betrachtet werden.<br />

Die Tätigkeit <strong>des</strong> Arztes scheint etwas Obskures zu sein,<br />

welcher man nicht so vertraut.“ Diese Aussage zeugt von einem<br />

deutlichen Autoritätsverlust vor allem im Hinblick auf <strong>die</strong> Beweggründe, <strong>die</strong> in<br />

ihm vor über zwanzig Jahren <strong>die</strong> Faszination für <strong>die</strong> Medizin <strong>und</strong> den Arztberuf,<br />

in Form von Detektivarbeit, der Ausbildung <strong>und</strong> Förderung junger Ärzte<br />

<strong>und</strong> einer offensichtlichen Empathie für den Patienten, weckten. All <strong>die</strong>s trägt<br />

zu einem unverkennbaren Verlust berufsethischer Befriedigung bei. Nebst der<br />

zunehmenden Beweislast, welcher <strong>die</strong> Ärzte ausgesetzt sind, widerspiegelt<br />

sowohl das neue Verhältnis der Patienten gegenüber Krankheit bzw. Ges<strong>und</strong>heit<br />

als auch ihr Anspruch an eine vollends heilende Medizin, <strong>die</strong> durch den<br />

Arzt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Technik sichergestellt werden muss, einen weiteren deutlichen<br />

Transformationsprozess innerhalb <strong>des</strong> ärztlichen Alltags <strong>und</strong> <strong>des</strong> Arzt-<br />

Patienten-Verhältnisses. In Bezug auf <strong>die</strong> Struktur <strong>und</strong> <strong>die</strong> gelebte Spitalhierarchie,<br />

<strong>die</strong> weiter zur Erosion <strong>des</strong> Berufsethos <strong>und</strong> zur Entmachtung <strong>des</strong> Arztes<br />

beiträgt, nimmt Beat U. folgendermassen Stellung: „Sie werden heute als<br />

Chefarzt in multiple Gremien <strong>und</strong> langfädige Strategie-<br />

Sitzungen hinein geholt, wo sie aber quasi als Alibi <strong>die</strong>nen.“<br />

Und: „Die spitalpolitische Strategie oder Ausrichtung<br />

kann durch den Chefarzt nicht mehr mitbestimmt werden, sie<br />

wird dem Chefarzt vollkommen aus den Händen entfernt.“ Beat<br />

U. übt während <strong>des</strong> gesamten Interviews hindurch eine deutliche Zivilisationskritik<br />

aus <strong>und</strong> greift dabei Themen wie Individualismus, gesteigertes Anspruchsverhalten,<br />

Abbau autoritärer Hierarchien <strong>und</strong> prestigeträchtiger Arztposten<br />

sowie eine auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtete Effizienz <strong>und</strong> Effektivität<br />

auf, <strong>die</strong> nicht nur in Privatspitälern, sondern zunehmend auch in öffentlichen<br />

192


Spitälern von Bedeutung sein wird. Die Hierarchie in einem Spital spielt ge-<br />

mäss Beat U. nach eigens definierten Regeln, <strong>die</strong> dazu führen, dass entweder<br />

der Kompetenteste, der mit dem breitesten <strong>und</strong> tiefsten Wissensspektrum aus-<br />

gestattet ist, <strong>die</strong> höchste Hierarchiestufe bekleidet oder aber derjenige, der über<br />

<strong>die</strong> Generierung von Drittmitteln, hoher Patientenzahlen oder dem Durchfüh-<br />

ren innovativer Operationsmethoden dem Spital zu Erfolg verhilft. Inwiefern<br />

<strong>die</strong> hierarchischen Strukturen zur Entmachtung <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> dem steten<br />

Abbau <strong>des</strong> ärztlichen Berufsethos beitragen, wird im Zusammenhang mit der<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong> der immer stärkeren Vormachtstellung der Verwaltungsebenen<br />

ausführlicher thematisiert werden.<br />

Beat U. ist heute Chefarzt in einem Fachbereich der Inneren Medizin an einem<br />

Kantonsspital, an welchem er bereits als Assistenzarzt tätig war. Nach seinem<br />

Englandaufenthalt kehrte er an <strong>die</strong>ses Kantonsspital zurück, wo er als Oberarzt<br />

einstieg, nach fünf Jahren zum Leitenden Arzt <strong>und</strong> nach weiteren vier Jahren<br />

zum Chefarzt ernannt wurde. Nach seiner Ernennung habilitierte Beat U., was<br />

an gewissen Spitälern <strong>die</strong> Voraussetzung zur Chefarzternennung ist. Das Departement<br />

der Inneren Medizin am Kantonsspital, an welchem er seit insgesamt<br />

fünfzehn Jahren tätig ist, gehört schweizweit zu den grössten, was er ausserordentlich<br />

schätzt. Das Einzugsgebiet umfasst nahezu eine Million Menschen;<br />

hinzukommt, dass schwierige Fälle aus den kleineren, umliegenden Spitälern<br />

zu ihnen geschickt werden, was zu einem breiten <strong>und</strong> spannenden Patientengut<br />

führt. Beat U. betont ausdrücklich: „... wir machen keine Antiaging<br />

oder Wellness-Medizin“, zu ihnen kämen Menschen, <strong>die</strong> tatsächlich krank<br />

seien. Mit <strong>die</strong>ser Aussage, <strong>die</strong> im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zu<br />

den Unterschieden zwischen öffentlichem <strong>und</strong> privatem Spital gemacht wurde,<br />

grenzt er sich klar von der Medizin ab, <strong>die</strong> teilweise an privaten Spitälern praktiziert<br />

wird. Wobei angemerkt werden muss, dass eine der grössten Schweizer<br />

Privatklinikgruppen sehr wohl eine grosse Bandbreite an medizinischen Fachbereichen<br />

führt. Der Zugang zu ihrem Angebot variiert aber entsprechend der<br />

Versicherungsklasse, der man angehört, wodurch allgemeinversicherte Patienten<br />

deutlich benachteiligt werden, da <strong>die</strong> zusatzversicherten Patienten <strong>die</strong> zentrale<br />

K<strong>und</strong>engruppe darstellen, da sie wesentlich lukrativer sind. Es ist aber eine<br />

Tatsache, dass sich gewisse Privatkliniken auf Schönheitsoperationen <strong>und</strong> Eingriffe<br />

spezialisiert haben, <strong>die</strong> nicht der Heilung von Krankheiten, sondern hedonistischen<br />

<strong>und</strong> ästhetischen Bedürfnissen <strong>des</strong> Individuums <strong>die</strong>nen, was dazu<br />

193


führt, dass sich <strong>die</strong> Breite ihres Angebotes stark von demjenigen eines Kan-<br />

tonsspitals unterscheidet.<br />

Zur Frage, weshalb Ärzte seiner Meinung nach ihre Arbeit am öffentlichen<br />

Spital gegen eine Stelle in einer Privatklinik eintauschen, vertritt Beat U. eine<br />

klare Meinung <strong>und</strong> betont dabei, dass seine Aussage nicht auf eine bestimmte<br />

Person abziele. Für Beat U. stellen der Ver<strong>die</strong>nst, der an einem privaten Spital<br />

generiert werden kann, <strong>und</strong> <strong>die</strong> fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten in den öffentlichen<br />

Spitälern, <strong>die</strong> durch eine bis anhin traditionell gelebte <strong>und</strong> steile<br />

Hierarchie gekennzeichnet sind, <strong>die</strong> beiden Hauptgründe für den Wechsel dar.<br />

Er zeigt in <strong>die</strong>sem Zusammenhang <strong>die</strong> starke Abhängigkeit auf, <strong>die</strong> zwischen<br />

dem Assistenz- <strong>und</strong> dem Oberarzt, teilweise aber auch dem Leitenden Arzt <strong>und</strong><br />

seinem Vorgesetzten besteht. Dieses Abhängigkeitsverhältnis bestimmt im<br />

Wesentlichen darüber, wer <strong>die</strong> nächste Karrierestufe erreichen wird oder nicht<br />

<strong>und</strong>, ob andere Aufstiegsmöglichkeiten bestehen. Sei das Arbeitsverhältnis an<br />

einem öffentlichen Spital gestört, so öffneten sich mit dem Wechsel in eine Privatklinik<br />

neue Chancen für jenen Arzt, dem im öffentlichen Spital kein Aufstieg<br />

ermöglicht wird. Dazu äussert sich Beat U. folgendermassen: „Es gibt nun<br />

mal Leute, <strong>die</strong> passen dem Chef besser in den Kram als andere,<br />

<strong>die</strong> fachlich besser wären, aber dem Chef nicht passen.<br />

Diese Ärzte stehen dann einfach an. Das ist bestimmt auch<br />

mit ein Gr<strong>und</strong>, weshalb gewisse Ärzte das Spital verlassen<br />

<strong>und</strong> zu einer Privatklinik abwandern. Geld oder Karriereschritt<br />

sind folglich <strong>die</strong> zwei Hauptfaktoren.“ Beat U. beschreibt<br />

<strong>die</strong> Willkür <strong>die</strong>ses hierarchischen <strong>und</strong> teils auch autoritären Systems<br />

mit folgenden Worten: „Das Spital hier hat schon seine eigene<br />

Form von Hierarchie, wie das alle sozialen Institutionen<br />

haben. Und ich denke, dass es schon möglich ist, dass es<br />

hier Leute gibt, <strong>die</strong> einfach hier nicht weiterkommen, <strong>die</strong><br />

einen Chef haben, welchen ich eigentlich schon längst überholt<br />

habe, der mich aber nicht aufsteigen lässt. Ich denke,<br />

es sind <strong>die</strong> ganz üblichen Karriereschritte, <strong>die</strong> dann so<br />

möglich werden.“ Durch einen Wechsel erhält der Arzt <strong>die</strong> Chance, eine<br />

leitende Position einzunehmen <strong>und</strong> kann bzw. muss dadurch Verantwortung<br />

übernehmen, was Beat U. folgendermassen schildert: „Was ich aber so<br />

kenne <strong>und</strong> weiss, so werden <strong>die</strong> Leiter der Abteilung wesentlich<br />

mehr mit einbezogen <strong>und</strong> können sagen, was sie wollen.<br />

Müssen aber höchstwahrscheinlich auch Verantwortung über-<br />

194


nehmen, wenn es nicht so herauskommt, wie man gehofft hat.“<br />

Beat U. ist der festen Überzeugung, dass nicht <strong>die</strong>jenigen Ärzte abwandern, <strong>die</strong><br />

in ihrem Fachgebiet zu den Experten gehören oder sich an der Spitze der Hierarchie<br />

befinden, <strong>die</strong> er als „Tops“ bezeichnet, sondern <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> karrieretechnisch<br />

im öffentlichen Haus anstehen – „Einer der Hauptgründe ist<br />

bestimmt das Geld. Eines muss man sehen, <strong>die</strong>jenigen, welche<br />

wechseln, sind ja nicht <strong>die</strong> Tops, es sind nicht <strong>die</strong>jenigen,<br />

welche an der Spitze der Hierarchie sind. Es sind sicherlich<br />

sehr gute Leute, <strong>die</strong> eine Herausforderung suchen, <strong>die</strong><br />

hier aber anstehen <strong>und</strong> nicht weiterkommen.“ Beat U. zweifelt <strong>die</strong><br />

fachliche Kompetenz <strong>die</strong>ser abgewanderten Kollegen jedoch nicht an, er zeigt<br />

sogar in gewissem Sinne Verständnis, da er sich im Klaren darüber ist, dass <strong>die</strong><br />

hierarchische Konstitution eines öffentlichen Spitals <strong>die</strong> Karrieremöglichkeiten<br />

eines Arztes stark beeinflussen kann. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang muss angemerkt<br />

werden, dass <strong>die</strong> Abwanderung gewisser Spezialisten <strong>und</strong> Experten, <strong>die</strong><br />

in der Öffentlichkeit als Tops gehandelt wurden, grosses Aufsehen bewirkte.<br />

Auch konnte anhand quantitativer Daten, <strong>die</strong> aus einem Vergleich dreier prominenter<br />

Schweizer Kantonsspitäler resultieren, gezeigt werden, dass in den<br />

letzten fünf Jahren zunehmend Leitende Ärzte <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong> das öffentliche<br />

Spital verlassen haben, was darauf hindeutet, dass zunehmend auch Kaderärzte<br />

abwandern, <strong>die</strong> eine prestigeträchtige Position im öffentlichen Spital erreicht<br />

haben. Das angesprochene Verständnis hängt jedoch auch damit zusammen,<br />

dass der Vergleich der heutigen <strong>Chefärzte</strong>generation mit derjenigen, bei der<br />

Beat U. als junger Arzt gelehrt hatte, einen flauen Beigeschmack bei ihm hinterlässt.<br />

Stellt er den Vergleich an, so lautet <strong>die</strong>ser wie folgt: „Wenn ich heute<br />

betrachte, wie viel ich arbeite <strong>und</strong> mich mit einem Chefarzt<br />

vergleiche, der vor zwanzig Jahren tätig war, so kann ich<br />

heute gut sagen, dass ich wesentlich mehr arbeite als derjenige<br />

vor zwanzig Jahren <strong>und</strong> mich mit wesentlich mehr Sachen<br />

auseinandersetzen muss <strong>und</strong> halb so viel ver<strong>die</strong>ne. Der<br />

monetäre Faktor kann in der Folge nicht so genial sein.<br />

Deshalb fällt einem der Schritt weg zu gehen auch leichter.“<br />

Und: „Diejenigen, welche sich auf das Geld ausrichten,<br />

werden <strong>die</strong>sen Schritt bestimmt tätigen. Folglich wird <strong>die</strong><br />

Schere immer mehr auseinandergehen.“ Hierbei kommt deutlich zum<br />

Ausdruck, dass das öffentliche Spital beginnen muss umzudenken, da gemäss<br />

Beat U.’s Welt- <strong>und</strong> Menschenbild Macht <strong>und</strong> Geld eine nicht unbedeutende<br />

195


Rolle bei der Wahl <strong>des</strong> Arbeitgebers darstellen. „Aber das ist doch normal,<br />

das ist doch in jeder Gesellschaft so, man wird entweder<br />

durch das Geld oder <strong>die</strong> Macht motiviert. Da gibt es<br />

noch ein paar, <strong>die</strong> etwas dazwischen sind. Und <strong>die</strong>s ist bei<br />

den Ärzten genau gleich wie bei allen anderen auch.“ Vergleicht<br />

man <strong>die</strong>se Aussage mit derjenigen, <strong>die</strong> er im Zusammenhang mit den<br />

leistungsorientierten Gehältern gemacht hat, so wird deutlich, dass <strong>die</strong> Gehaltsstrukturen<br />

<strong>und</strong> der flexible Lohnanteil im Besonderen, <strong>die</strong> früher eine wenig<br />

prominente Diskussionsgr<strong>und</strong>lage darstellten, heute eine offensichtliche Prominenz<br />

einnehmen, was mit der Entmachtung <strong>des</strong> Arztes, dem Ero<strong>die</strong>ren seines<br />

symbolischen Kapitals in Form seines ärztlichen Status <strong>und</strong> Prestiges <strong>und</strong><br />

der schleichenden Entkernung <strong>des</strong> Arztes von seiner ursprünglichen, medizinischen<br />

Kernkompetenz einhergeht. All <strong>die</strong>s führt zu einer Erosion der intrinsischen<br />

Gründe, <strong>die</strong> dem Arzt der alten Schule eine sinngebende Motivation für<br />

<strong>die</strong> langen, aufopfernden <strong>und</strong> leistungsorientierten Arbeitstage stiftete, denn je<br />

anspruchsvoller, komplexer, kreativer, innovativer, aber auch sinnvoller eine<br />

Tätigkeit ist, <strong>des</strong>to bedeutender ist <strong>die</strong> intrinsische Motivation (Osterloh & Frey,<br />

2002, zit. in Binswanger, 2010, S. 99). Mit dem extrinsischen Faktor Geld versuchen<br />

vornämlich marktwirtschaftlich orientierte Unternehmen ihre Mitarbeiter<br />

zu motivieren, wobei beim Arzt, <strong>des</strong>sen Berufsethos im Vergleich zu anderen<br />

Berufsgruppen durch ein ausseralltägliches Charisma geprägt ist, vermutet <strong>und</strong><br />

erhofft wird, dass <strong>die</strong> intrinsischen Motivatoren den extrinsischen Anreizen<br />

standhalten. Inwiefern leistungsorientierte Vergütungssysteme, in welchen<br />

Boni in Form von Belohnungen denjenigen Mitarbeitern zukommen, <strong>die</strong> nach<br />

quantitativen Kennzahlen bemessen einen im Vergleich zu ihren Arbeitskollegen<br />

grösseren Erfolg <strong>und</strong> eine höhere Effizienz erzielen, sich auf <strong>die</strong> intrinsische<br />

Motivation auswirken, wurde bereits geklärt. Die Aussagen von Beat U. verdeutlichen,<br />

dass <strong>die</strong> Abwanderung von denjenigen vollzogen wird, <strong>die</strong> sich als<br />

Anwärter auf <strong>die</strong> erste Reihe sehen, den Platz aber nicht erhalten, <strong>und</strong> für <strong>die</strong><br />

sowohl Macht als auch Geld eine relevante Rolle spielen. Wie anhand <strong>des</strong> vorhergehenden<br />

Zitats ersichtlich, spricht Beat U. nebst der strukturellen Komponente<br />

auch unverblümt <strong>und</strong> ohne Verbrämung ein weiteres Abwanderungsargument<br />

an, welches er als sehr zentral erachtet. Der Schritt in ein marktwirtschaftlich<br />

orientiertes Privatspital werden mit hoher Sicherheit auch <strong>die</strong>jenigen<br />

tätigen, <strong>die</strong> grossen Wert auf <strong>die</strong> Akkumulation von ökonomischem Kapital<br />

legen. Der ärztliche Habitus der alten Schule orientiert sich nicht nur an einem<br />

196


asketischen <strong>und</strong> humanitären Modell <strong>des</strong> Arztes, sondern fordert <strong>die</strong> ihm bis-<br />

lang zugestandene Macht in der jeweiligen Funktion, <strong>die</strong> er vertrat, auch zu-<br />

rück. Diese Forderung besteht vor allem auch im Hinblick auf <strong>die</strong> Transformationsprozesse,<br />

denen sich <strong>die</strong> Ärzteschaft seit geraumer Zeit ausgesetzt fühlt<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> zu einer Einforderung der inkarnierten, „totalen sozialen Rolle“ der<br />

Ärzte der alten Schule führen. Diese Macht war Bestandteil der Anerkennung,<br />

<strong>die</strong> ihm in seinem Krankenhaus, in welchem er eine prestigeträchtige <strong>und</strong> verantwortungsvolle<br />

Position einnahm, zukam.<br />

Beat U. nimmt zu den merklich sichtbaren <strong>Ökonomisierung</strong>stendenzen deutlich<br />

Stellung, da <strong>die</strong>se nur einige der wesentlichen Ursachen für den in seinem Berufsalltag<br />

<strong>und</strong> dem seiner Kollegen stattfindenden, erheblichen Wandel darstellen.<br />

In <strong>die</strong>sem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass <strong>die</strong> Ausführungen<br />

zu <strong>die</strong>sem für ihn merklich spürbaren <strong>und</strong> wahrnehmbaren Wandel erst in der<br />

zweiten Hälfte <strong>des</strong> Interviews folgten. Das Gespräch war bereits beendet, als<br />

Beat U. mich darauf hinwies, dass ich auf eine essentielle Thematik noch nicht<br />

ausführlich genug eingegangen wäre. Inwiefern <strong>die</strong> strukturellen Veränderungen<br />

in Form einer grösser <strong>und</strong> dadurch auch stärker werdenden Verwaltungsetage<br />

<strong>die</strong> geringere Integration <strong>des</strong> ärztlichen Fachwissens in strategische Entscheide<br />

<strong>und</strong> der stete Abbau <strong>des</strong> ärztlichen Mitspracherechts im Allgemeinen<br />

zu einem neuen berufsethischen Verständnis <strong>des</strong> Arztberufs beigetragen haben,<br />

zeigte er anhand <strong>des</strong> Vergleichs der heutigen, strukturellen Bedingungen mit<br />

den damaligen Voraussetzungen auf, als er selber Assistenz- bzw. Oberarzt<br />

war. Zum einen sei <strong>die</strong> Zahl der Personen <strong>und</strong> Parteien, <strong>die</strong> versuchen, ein<br />

Stück <strong>des</strong> „(…) monetären Kuchens <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens (…)“<br />

abzubekommen, bedeutend gestiegen, was sich dahingehend auswirkt, dass <strong>die</strong><br />

öffentlichen Spitäler sich zunehmend auf gewinnoptimierende Prozesse ausrichten.<br />

Für all <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> zu den nicht medizinischen Teilhabern <strong>des</strong> Kuchens<br />

gehören, sei eine solche Ausrichtung aus monetärer Sicht von Vorteil;<br />

Beat U. fügt aber hinzu, dass einer dafür <strong>die</strong> Zeche bezahlen werde, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

werde der Patient sein. Der Arzt wird zum machtlosen Akteur, der am Bett <strong>des</strong><br />

Patienten zurückbleibt <strong>und</strong> wenig bis gar keinen Einfluss mehr auf <strong>die</strong> Spitalplanung<br />

<strong>und</strong> Spitalausrichtung haben wird, wohingegen <strong>die</strong> Trittbrettfahrer,<br />

<strong>die</strong> Dritten, <strong>die</strong> nicht massgeblich an der Erbringung einer ärztlichen <strong>und</strong> pflegerischen<br />

Leistung beteiligt sind, <strong>die</strong> aber <strong>die</strong> strategischen <strong>und</strong> operativen<br />

Spielregeln festlegen, einen Gewinn erzielen werden. Eine gewinnoptimierte<br />

197


Führung eines Spitals ist gemäss Beat U. nicht möglich; kommt es dennoch<br />

dazu, so könnte <strong>die</strong>s, wie bereits erwähnt, <strong>die</strong> Folge sein: „(…) dann wird<br />

jemand <strong>die</strong> Zeche dafür bezahlen. Dann wird <strong>die</strong>s vielleicht<br />

der Patient sein, der nicht mehr in einem Zweierzimmer<br />

sterben kann, wo er alleine wäre, sondern muss <strong>die</strong>s in einem<br />

Viererzimmer tun.“<br />

In den DRG sieht er, nebst der immer stärkeren Ausrichtung eines Spitals auf<br />

gewinnoptimierende <strong>und</strong> effizienzsteigernde Prozesse, ein weiteres Instrument<br />

der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens. Dieses neue Abrechnungssystem<br />

führe gemäss Beat U. zu frühzeitigen Entlassungen mit der Folge einer Neueinlieferung<br />

<strong>des</strong>selben Patienten nach nur kurzer Zeit. Ein weiteres Risiko besteht<br />

in der Nichterfassung von Krankheiten, da <strong>die</strong> gestellte Diagnose keine weiteren<br />

Abklärungen zulässt <strong>und</strong> folglich alle weiteren Tests zu Kostenfaktoren<br />

werden, <strong>die</strong> das Spital selber tragen muss. Nebst <strong>die</strong>sen kostenverursachenden<br />

Vorgängen besteht eine weitere Gefahr in der nicht adäquaten Erfassung bzw.<br />

der Nichterfassung psychischer Zustände, in welchen sich ein Patient vor, während<br />

oder nach seiner Hospitalisierung befindet. Fehlt das familiäre oder<br />

fre<strong>und</strong>schaftliche Umfeld nach einer Spitalentlassung, so ist möglicherweise <strong>die</strong><br />

anschliessende Pflege nicht gewährleistet oder <strong>die</strong> Rehabilitation dauert länger,<br />

da der Patient auf Hilfe Dritter angewiesen ist. In solchen Fällen könnten insbesondere<br />

kleinere Krankenhäuser von Bedeutung sein, da dort gemäss Beat U.<br />

vernünftige Medizin getätigt wird <strong>und</strong> oft auch eine familiärere Atmosphäre<br />

herrscht. Beat U. gibt aufrichtig zu, dass sein Fachwissen über <strong>die</strong> DRG <strong>und</strong><br />

deren Intentionen <strong>und</strong> Folgen gering ist, dennoch vertritt er <strong>die</strong> sich auf langjährige<br />

Erfahrung in einer öffentlichen Institution stützende Meinung, dass<br />

neue Abrechnungsmethoden wie <strong>die</strong> DRG oder das Tarmed <strong>und</strong> andere gesetzliche<br />

Verankerungen auf zahlreichen ges<strong>und</strong>heitspolitischen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Absichten basieren <strong>und</strong> nicht der Kostenminimierung, sondern der Aufgaben-<br />

<strong>und</strong> Schnittstellenmaximierung <strong>die</strong>nen. Beat U. fügt folgende Aussage<br />

zynisch, aber treffend hinzu: „Es gibt ja anscheinend so viele Menschen,<br />

<strong>die</strong> genau wissen, wie Spitäler zu organisieren wären,<br />

<strong>die</strong> anscheinend wissen, wie es funktioniert. Es liegt<br />

doch im Interesse <strong>die</strong>ser Leute, dass es noch mehr zu tun<br />

gibt, dass noch mehr Ges<strong>und</strong>heitspolitiker integriert werden.<br />

Das geht für mich einfach nicht auf.“<br />

Ein weiteres Indiz für <strong>die</strong> zunehmende <strong>Ökonomisierung</strong> stelle der strukturelle,<br />

198


spitalinterne Wandel dar, der von Kompetenzentzug <strong>und</strong> der bereits angespro-<br />

chenen Degra<strong>die</strong>rung der medizinischen Kaderposten geprägt sei. Früher wa-<br />

ren gemäss Beat U. <strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong> noch Chefs <strong>und</strong> nahmen medizinische, unternehmerische,<br />

strategische <strong>und</strong> spitalpolitische Aufgaben wahr. Die Zeit, <strong>die</strong><br />

man als Kaderarzt in Sitzungen <strong>und</strong> Gremien verbringe, sei nicht weniger geworden,<br />

<strong>die</strong> Rolle, <strong>die</strong> man als Arzt jedoch darin einnehme, sei eine reine Alibirolle.<br />

In Wirklichkeit könne man als Arzt nicht mehr viel mitentscheiden <strong>und</strong><br />

hätte nur noch in seinem fachlichen Bereich eine tatsächliche Kaderrolle, nicht<br />

aber in der gesamten Spitalorganisation. Entscheidungen werden gemäss Beat<br />

U. im Kantonsspital, in welchem er tätig ist, durch den CEO oder den Spitalrat,<br />

der sich aus drei Ärzten, drei Unternehmern, zwei Politikern <strong>und</strong> einer Pflegefachperson<br />

zusammensetzt, gefällt. Früher war der Ges<strong>und</strong>heitsdirektor <strong>des</strong><br />

Kantons für einen Grossteil der Entscheidungen zuständig, eine Tatsache, <strong>die</strong><br />

Beat U. befürwortete, da <strong>die</strong>ser mehrheitlich <strong>die</strong> Entscheidungen der <strong>Chefärzte</strong>konferenz<br />

übernahm. Dass der Ges<strong>und</strong>heitsdirektor dadurch zu einem Sprecher<br />

der Ärzteschaft wird, darüber ist sich Beat U. bestimmt auch im Klaren,<br />

dennoch befürwortet er <strong>die</strong>ses Vorgehen, da er sich dadurch nicht lediglich als<br />

ausführender Dienstleister fühlt, sondern sowohl sein fachliches Wissen als<br />

Arzt als auch seine Position als einer der essentiellen Akteure in der Institution<br />

Krankenhaus <strong>und</strong> im Ges<strong>und</strong>heitswesen als Ganzem geschätzt <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihm<br />

zustehende Wichtigkeit zugesprochen werden. Welche Wichtigkeit der <strong>Chefärzte</strong>konferenz<br />

gemäss Beat U. heute zukommt, erkennt man anhand folgender<br />

Stellungnahme: „Was auch heute typisch ist, ist <strong>die</strong> Tatsache,<br />

dass <strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong>konferenz einem Plauderclub gleicht, der<br />

keine Entscheidungskompetenz mehr besitzt.“ Beat U. prangert an,<br />

dass <strong>die</strong> Ärzteschaft im Spitalrat ungenügend vertreten ist, was gemäss ob<br />

genannter Vertreterzahl der Realität entspricht, da lediglich ein Drittel <strong>des</strong><br />

Rates aus Ärzten besteht, <strong>und</strong> leider ist auch keiner <strong>die</strong>ser drei Ärzte im Kantonsspital<br />

aktiv tätig. Die Geschäftsleitung hingegen, <strong>die</strong> aus dem Spitaldirektor<br />

<strong>und</strong> der Departementsleitung besteht, entstammt nahezu vollständig aus der<br />

Ärzteschaft. Beat U. fühlt sich ausgegrenzt, da ihm in den ausschlaggebenden<br />

Gremien (Spitalrat, Spitaldirektor <strong>und</strong> Geschäftsleitung), in welchen strategisch<br />

relevante Entscheide gefällt werden, <strong>die</strong> sich direkt auf seinen operativen Arbeitsalltag<br />

auswirken, keine Entscheidungsfunktion zukommt.<br />

Beat U. prangert den Tunnelblick der Ökonomen an, der dazu führe, dass ledig-<br />

199


lich <strong>die</strong> rentablen Abteilungen ihre Berechtigung im Spital haben. Die Rentabili-<br />

tät einer Abteilung werde lediglich an quantitativen Daten festgemacht,<br />

wodurch <strong>die</strong> Geschäftsleitung <strong>die</strong> Querverbindungen zwischen den Abteilungen<br />

ausser Acht lässt <strong>und</strong> Schliessungen anordnet, <strong>die</strong> sich negativ auf <strong>die</strong><br />

Gesamtspitalrentabilität <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Gehälter einiger Kollegen auswirken. Beat<br />

U. ist selber in einem Fachgebiet tätig, welches Hintergr<strong>und</strong>arbeit voraussetzt,<br />

wobei <strong>die</strong> daraus resultierenden Informationen für <strong>die</strong> weitere Behandlung von<br />

eminenter Relevanz sein können. Im Gegensatz dazu sind <strong>die</strong> Chirurgen, <strong>die</strong><br />

Eingriffe vornehmen <strong>und</strong> wesentlich mehr Einnahmen für das Spital generieren<br />

als <strong>die</strong> Abteilung von Beat U., besser gestellt. Er äusserst sich dazu folgendermassen:<br />

„So denken gewisse Leute, ach der <strong>und</strong> der, das sind<br />

gute Chirurgen, um sie zu halten oder zu gewinnen bezahlen<br />

wir ihnen einfach ein höheres Salär <strong>und</strong> kürzen es bei denjenigen,<br />

welche lediglich Dienstleister sind.“ Die Rentabilitätsanalyse,<br />

<strong>die</strong> ausschliesslich anhand quantitativer Daten geschehe, <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

darauf basierenden, leistungsorientierten Gehälter führen bei Beat U. zu Missmut.<br />

Dies geschieht jedoch nicht, da seine flexible Lohnkomponente möglicherweise<br />

wesentlich geringer ausfällt als <strong>die</strong>jenige <strong>des</strong> chirurgischen Kollegen,<br />

sondern weil ein solches Lohnsystem beispielhaft für <strong>die</strong> fehlende Wertschätzung<br />

<strong>des</strong> Managements der Ärzteschaft gegenüber stehe, <strong>die</strong> dazu führe, dass<br />

<strong>die</strong> Identifikation je<strong>des</strong> Einzelnen, sowohl aus der Ärzteschaft als auch aus der<br />

Pflege, mit dem Spital kontinuierlich abnehme.<br />

Vergleicht man <strong>die</strong> Aussagen von Beat U. mit jenen seiner befragten Kollegen,<br />

so beklagt er sich nicht über den stetig zunehmenden Administrationsaufwand,<br />

<strong>die</strong> Anwesenheitspflicht an zahlreichen Sitzungen oder <strong>die</strong> Durchführung zahlreicher<br />

Projekte, <strong>die</strong> von einigen als Alibiübung, um gewissen Managementpraktiken<br />

gerecht zu werden, angeprangert werden. Es macht den Anschein,<br />

dass Beat U. <strong>die</strong>sen Mehraufwand in Kauf nehmen würde, wenn er dadurch<br />

mehr Mitspracherecht <strong>und</strong> Entscheidungsspielraum erhalten <strong>und</strong> nicht lediglich<br />

als ausführende Kraft innerhalb <strong>des</strong> gesamten Spitalkomplexes behandelt<br />

würde. Vergleicht man <strong>die</strong> Ansichten von Beat U. mit denjenigen seiner Kollegen,<br />

<strong>die</strong> in der Geschäftsleitung oder in wichtigen Entscheidungsgremien sitzen,<br />

dann ist bei letzteren ein deutliches Verständnis gegenüber der zunehmenden<br />

Spitalausrichtung an ökonomischen Messgrössen <strong>und</strong> der stetig steigenden<br />

Zahl an Ökonomen innerhalb von Entscheidungsgremien erkennbar.<br />

200


Beat U. möchte den Zauber, der den Ökonomen als Täter <strong>und</strong> den Arzt als<br />

Opfer verzaubert, nicht aufrechterhalten, da <strong>die</strong> geringe Anzahl an Ärzten in<br />

Entscheidungsgremien nicht nur mit der Zunahme von Ökonomen in <strong>die</strong>sen<br />

Gremien, sondern mit der stetig sinkenden Bereitschaft der Ärzte zusammenhänge,<br />

zusätzliche Führungsaufgaben übernehmen <strong>und</strong> den daraus entstehenden<br />

Mehraufwand tragen zu wollen.<br />

Die von Beat U. exemplarisch dargestellte Alibirolle, <strong>die</strong> ihm von der Verwaltungsebene<br />

zusehends zugesprochen wird <strong>und</strong> <strong>die</strong> zu einer deutlichen Entmachtung<br />

<strong>des</strong> Arztes führt, macht aus dem zuvor absoluten Herrscher, dem<br />

„Halbgott in Weiss“, einen Ausübenden. Obwohl ihm bis dato noch immer<br />

Einsitze in Gremien gewährt werden, führen <strong>die</strong>se sach-, funktions- <strong>und</strong> fachfremden<br />

Aufgaben, <strong>die</strong> den Arzt nicht massgeblich an strategischen Entscheiden<br />

teilnehmen lassen, sondern wiederum als Alibiprojekte wahrgenommen<br />

werden, zusehends zu einer Entkernung <strong>des</strong> Arztes von seiner medizinischen<br />

Fachtätigkeit. Die eigentliche Entscheidungsmacht liegt aber zusehends bei der<br />

Spitalpolitik, <strong>die</strong> mehrheitlich <strong>und</strong> verstärkt durch Ökonomen bestimmt wird,<br />

wodurch ein deutlich wahrnehmbares Ressentiment den Machtinhabern gegenüber<br />

zu spüren ist. Eine beunruhigende Tendenz, <strong>die</strong> gemäss Beat U. in<br />

Privatspitälern, in denen Verantwortung gegen Entscheidungsbefugnis <strong>und</strong><br />

Mitspracherecht eingetauscht wird, weniger anzutreffen ist. Eine besonders<br />

zentrale Aussage in <strong>die</strong>sem Zusammenhang ist Folgende: „Wenn strategische<br />

Entscheide gefällt werden, <strong>die</strong> man von der operativen<br />

<strong>und</strong> fachlichen Ebene aus nicht versteht, dann fragt man<br />

sich schon, ob <strong>die</strong>se Leute am liebsten ein Spital ohne Ärzte<br />

<strong>und</strong> Patienten haben möchten. Das ist ein grosser Wandel.<br />

Die <strong>Ökonomisierung</strong> auch innerhalb der Leitung ist etwas<br />

ganz Neues. Wenn alle <strong>Chefärzte</strong> so frustriert sind, dass<br />

sie beginnen Dienst nach Vorschrift zu tätigen, so laufen<br />

wir auf einen ähnlichen Zustand hin, wie er heute in England<br />

herrscht. Dahin werden wir gestossen.“<br />

Beat U. befürchtet, dass der Entzug von Kompetenzen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Degra<strong>die</strong>rung<br />

<strong>des</strong> Arztes als rein ausführende Fachkraft in mangelndem Engagement, Frustration<br />

<strong>und</strong> Resignation seitens der Ärzteschaft resultieren <strong>und</strong> ein Dienst nach<br />

Vorschrift das Endresultat darstellen wird. In derselben Form wird <strong>die</strong>ser<br />

Dienst nach Vorschrift bereits heute in England gelebt, wo <strong>die</strong> Gehälter jedoch<br />

massiv weniger attraktiv ausgestaltet sind als <strong>die</strong>s in der Schweiz der Fall ist.<br />

201


Wie bereits erwähnt wurde, könne man gemäss Beat U. den Arzt entweder mit<br />

Geld oder mit Macht am öffentlichen Spital halten. Er persönlich würde sich für<br />

<strong>die</strong> Macht in Form von Mitspracherecht entscheiden, was er mit dem Vergleich<br />

zwischen ihm <strong>und</strong> einem Chefarzt der vorhergehenden Ärztegeneration rechtfertigt,<br />

welcher zwar weniger gearbeitet <strong>und</strong> einen weniger stark diversifizierten<br />

Arbeitsbereich hatte, trotzdem aber min<strong>des</strong>tens <strong>die</strong> Hälfte mehr ver<strong>die</strong>nte<br />

als er. Die Tendenz, <strong>die</strong> Beat U. prophezeit, wird dazu führen, dass <strong>die</strong>jenigen<br />

Ärzte eine Abwanderung ins Privatspital aktiv <strong>und</strong> verstärkt ins Auge fassen,<br />

<strong>die</strong> dem ökonomischen Kapital eine höhere Bedeutung zumessen als dem Zugewinn<br />

von Entscheidungsfreiheit <strong>und</strong> Ausführungskompetenz. Beat U. äussert<br />

sich dazu wie folgt: „Diejenigen, welche sich auf das Geld<br />

ausrichten, werden <strong>die</strong>sen Schritt bestimmt tätigen. Folglich<br />

wird <strong>die</strong> Schere immer mehr auseinandergehen.“<br />

Beat U. liefert anhand seiner Aussagen <strong>und</strong> Stellungnahmen eine exemplarische<br />

Diagnose <strong>des</strong> Wandels, der sich in seinem Feld vollzieht, dem er sich seit Jahrzehnten<br />

zugehörig fühlt. Der objektive Strukturwandel, der <strong>die</strong> Krankenhäuser<br />

schonungslos erfasst, sowie der Wandel in Bezug auf <strong>die</strong> beruflichen Dispositionen<br />

<strong>des</strong> Arztes, der <strong>die</strong> subjektiven Strukturen erfasst, ergeben ein pessimistisches<br />

Zukunftsbild. Beat U. gibt dem Zuhörer sein deutliches Gefühl <strong>des</strong> Verlustes<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong> Niedergangs sowohl seiner Ärztegeneration, der spezifischen<br />

Kultur der Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge <strong>und</strong> -versorgung als auch seines berufsethischen<br />

Verständnisses, das den Arzt der alten Schule inkorporierte, unverblümt<br />

<strong>und</strong> entzaubert preis.<br />

Er stellt sich hier klar <strong>die</strong> Frage, ob sich das ärztliche Berufsethos <strong>und</strong> der Berufsstolz,<br />

der bereits eine unverkennbare Entzauberung durchlebt hat, einer<br />

verstärkten Ausrichtung an ökonomischen Kennzahlen beugen <strong>und</strong> der Arzt<br />

sich mit der Demontage seines traditionellen Status abfinden wird, wenn er im<br />

Gegenzug an monetärem Kapital oder Autorität <strong>und</strong> Einfluss hinzugewinnt.<br />

Die jungen Ärzte, <strong>die</strong> einerseits zum Transformationsprozess beigetragen haben,<br />

andererseits dem Strukturwandel <strong>und</strong> der verstärkt an ökonomischen<br />

Kennzahlen ausgerichteten Denk- <strong>und</strong> Handlungsweise ausgesetzt waren <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> „alte Schule“ nur noch aus Erzählungen der Vorgesetzten kennen, werden<br />

sich im traditionellen <strong>und</strong> antiökonomischen Ethos <strong>des</strong> Arztes nicht mehr<br />

wiedererkennen, wohingegen <strong>die</strong> heutigen Kaderärzte, <strong>die</strong> <strong>die</strong> alte Schule erlebt<br />

haben, darin gewissermassen aufwuchsen <strong>und</strong> ihre Sporen abver<strong>die</strong>nten, sich<br />

202


vermutlich mit einem Bruch ihres Habitus konfrontiert sehen.<br />

4.1.2 Im Gespräch mit Beat U. − Arzt am Kantonsspital<br />

„Aber das ist doch normal, das ist doch in jeder Gesellschaft<br />

so, man wird entweder durch das Geld oder <strong>die</strong> Macht<br />

motiviert.“<br />

– (…) Es geht in erster<br />

Linie darum zu erkennen,<br />

inwiefern sich das Berufsethos<br />

<strong>des</strong> Arztes über <strong>die</strong><br />

letzten Jahre verändert<br />

hat. Den Auftrag, <strong>die</strong> Untersuchung<br />

mit der Fragestellung,<br />

weshalb Kaderärzte<br />

das öffentliche Spital<br />

verlassen <strong>und</strong> zu privaten<br />

Spitälern abwandern, durchzuführen,<br />

haben wir von<br />

einer Ärztekollegin erhalten.<br />

Die Untersuchung wird<br />

an öffentlichen <strong>und</strong> privaten<br />

Schweizer Spitälern<br />

durchgeführt. Darf ich Sie<br />

um gewisse biographische<br />

Eckdaten, wie vollständiger<br />

Name, Funktion, Departement,<br />

Wohnsitz <strong>und</strong> Geburtsjahr<br />

bitten?<br />

Beat U. – Mein Name ist<br />

Beat U., geboren 1960, auf-<br />

gewachsen in einer Schweizer<br />

Bergregion, stu<strong>die</strong>rt in<br />

Fribourg <strong>und</strong> Bern <strong>und</strong> meine<br />

Ausbildung in Kantonsspitälern<br />

der Schweiz <strong>und</strong> England<br />

absolviert. Ich bin<br />

Ende der Neunzigerjahre<br />

wieder hierher zurückgekehrt,<br />

wo ich bereits als<br />

Assistent gearbeitet habe.<br />

Von 2000 an war ich Leitender<br />

Arzt, fünf Jahre später<br />

wurde ich Chefarzt (…). Ich<br />

habe vor drei Jahren (…)<br />

habilitiert. Ich habe hier<br />

primär <strong>die</strong> Aufgabe, <strong>die</strong><br />

ambulante Sprechst<strong>und</strong>e (…)<br />

mit einem kleinen Team zu<br />

managen <strong>und</strong> zweitens innerhalb<br />

meiner Spezialität <strong>und</strong><br />

meines Fachgebietes <strong>die</strong><br />

Bettenstationen zu betreuen,<br />

wobei <strong>die</strong>s im<br />

Schnitt 42-46 Betten sind,<br />

plus noch <strong>die</strong> Intensiv- <strong>und</strong><br />

203


Notfallstation, welche auch<br />

in <strong>die</strong>sem Bereich sind.<br />

– Zu Beginn würde ich gerne<br />

von Ihnen erfahren, wie Sie<br />

zum Beruf <strong>des</strong> Arztes gekommen<br />

sind? Ein Herzenswunsch?<br />

Waren Ihre Eltern<br />

bereits Ärzte?<br />

Beat U. – Nein, meine Eltern<br />

waren keine Ärzte.<br />

Mein Vater hat eine Autoelektrikerfirma<br />

aufgebaut,<br />

meine Mutter war Telefonistin.<br />

Ich ging aufs Kollegium.<br />

Ich war immer ein ziemlich<br />

guter Schüler <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

ohne grossen Aufwand. Ich<br />

wollte eigentlich Chemie<br />

stu<strong>die</strong>ren, ging dann zum<br />

Besuchstag der ETH <strong>und</strong> habe<br />

erkannt, dass <strong>die</strong>ses Studium<br />

nicht gerade ermutigend<br />

für mich war. Ich habe dann<br />

realisiert, dass es was<br />

anderes sein muss <strong>und</strong> habe<br />

mich dann anschliessend für<br />

Medizin entschieden. Es war<br />

reiner Zufall, dass ich<br />

Medizin stu<strong>die</strong>rt habe. Mir<br />

war klar, dass es etwas<br />

sein musste, das eine Herausforderung<br />

für mich darstellte.<br />

Dies entspricht<br />

204<br />

meinem Naturell. Wir haben<br />

in unserer fernen bzw. näheren<br />

Verwandtschaft keine<br />

Ärzte. Ich habe auch Ärzteromane<br />

nie als besonders<br />

sexy empf<strong>und</strong>en. Das Studium<br />

war hart aber spannend. Ich<br />

habe an zwei unterschiedlichen<br />

Universitäten der<br />

Schweiz stu<strong>die</strong>rt. Man wurde<br />

so zugeteilt.<br />

– Diese Zuteilung war also<br />

damals üblich?<br />

Beat U. – Ja.<br />

– Gab es auch damals schon<br />

einen Numerus clausus?<br />

Beat U. – Nein. Dafür hatten<br />

wir nach dem ersten <strong>und</strong><br />

zweiten Jahr das erste <strong>und</strong><br />

zweite „Prope“ (Propädeutikum),<br />

bei dem zwischen 60<br />

<strong>und</strong> 80 Prozent der Studenten<br />

eliminiert wurden. Im<br />

Laufe der Assistenzzeit,<br />

mit dem Einleben in den<br />

Beruf selber, muss ich sagen,<br />

ist der Job etwas Geniales.<br />

Er ist sehr, sehr<br />

spannend, wahrscheinlich<br />

der spannendste Job.<br />

– Die Faszination für den


Beruf entstand mit dem Akt<br />

<strong>des</strong> Ausübens Ihres Berufes?<br />

Beat U. – Mit dem Studium<br />

<strong>und</strong> der Assistenzarztzeit.<br />

– Wie haben Sie sich während<br />

der ersten Jahre im<br />

aktiven Berufsleben gefühlt?<br />

Ich spreche hier<br />

auch Ihr Privatleben an.<br />

Mussten Sie <strong>die</strong>ses sehr<br />

stark umstellen oder haben<br />

Sie damit gerechnet?<br />

Beat U. – Prinzipiell war<br />

vieles wesentlich anders<br />

als heute. Man organisierte<br />

sein Privatleben <strong>und</strong> seine<br />

Freizeit um den Beruf, <strong>die</strong><br />

Arbeitszeit <strong>und</strong> den Dienstplan<br />

herum. Dies war wie<br />

selbstverständlich. Während<br />

meiner ersten Jahre als<br />

Assistenzarzt in einem Spital<br />

einer Bergregion war es<br />

selbstverständlich <strong>und</strong><br />

nicht aussergewöhnlich eine<br />

100 St<strong>und</strong>en Woche zu absolvieren.<br />

Es gab Wochenenden,<br />

an welchen man drei Tage<br />

nicht schlief. Da kamen<br />

eben stetig Helikopter mit<br />

Patienten. Nichts <strong>des</strong>to<br />

trotz habe ich, bis ich 30<br />

Jahre alt wurde, in der<br />

ersten Liga Fussball gespielt.<br />

Ich gründete eine<br />

Familie, hatte eine Familie<br />

oder wie man dem eben sagen<br />

möchte. Ich ging in <strong>die</strong><br />

Berge. Ich hatte nicht das<br />

Gefühl auf vieles verzichten<br />

zu müssen.<br />

– Haben Sie das Gefühl,<br />

dass <strong>die</strong> heutigen Assistenzärzte<br />

eine andere Einstellung<br />

besitzen als <strong>die</strong>,<br />

welche Sie mir gerade geschildert<br />

haben?<br />

Beat U. – Ja, das ist heute<br />

schon anders. Wenn man<br />

schaut wie lange es dauert,<br />

bis heute ein Dienstplan<br />

steht <strong>und</strong> <strong>die</strong>s, da jeder<br />

seine Spezialwünsche berücksichtigt<br />

haben möchte.<br />

Wenn man sieht, wie <strong>die</strong><br />

heutigen Studenten während<br />

dem Studium leben. Welche<br />

Ansprüche sie heute haben.<br />

Das ist schon komplett anders.<br />

– Welche Faktoren haben<br />

eine solche Entwicklung<br />

Ihrer Meinung nach beeinflusst?<br />

205


Beat U. – Es gibt mehr Mög-<br />

lichkeiten heute, man hat<br />

mehr Geld. Es ist einfach<br />

mehr Geld vorhanden. Man<br />

hat <strong>die</strong> Möglichkeit neben<br />

dem Studium einen höheren<br />

Lebensstil zu pflegen.<br />

– Dies war damals folglich<br />

anders (Beide lachen. Beat<br />

U. scheint das „damals“<br />

unpassend zu finden, es<br />

scheint in ihm das Gefühl<br />

zu geben älter zu sein, als<br />

er in Realität ist.) Bitte<br />

entschuldigen Sie das „damals“,<br />

ich habe <strong>die</strong>s als<br />

Synonym für Ihre Zeit, in<br />

welcher Sie Student <strong>und</strong><br />

Assistenzarzt<br />

nutzt.<br />

waren, be-<br />

Beat U. – Sie sprechen immer<br />

von „damals“ (Beat U.<br />

lacht).<br />

– Betrachten Sie <strong>die</strong> Zeit,<br />

welche Sie in Ihren jungen<br />

Jahren mehrheitlich in Spitälern<br />

verbracht haben, als<br />

Opfer?<br />

Beat U. – Ich glaube nicht,<br />

dass man <strong>die</strong>s so sehen<br />

kann. Wenn man auf etwas<br />

verzichtet, so stellt sich<br />

206<br />

doch <strong>die</strong> Frage; ist man<br />

unzufrieden, wenn man etwas<br />

nicht hat oder ist man zufrieden<br />

mit demjenigen, was<br />

man hat. Es tönt vielleicht<br />

etwas pathetisch. Aber es<br />

war für uns damals eine<br />

Befriedigung, ein Lohn für<br />

unsere Zeit, wenn wir nach<br />

zwölf oder dreizehn St<strong>und</strong>en<br />

Arbeit was lernen oder machen<br />

durften. Wir haben<br />

dann <strong>die</strong>s so gesehen <strong>und</strong><br />

nicht, dass andere um fünf<br />

Uhr bereits in der happy<br />

hour waren. Entweder man<br />

baut sich an dem auf, was<br />

man innerhalb <strong>des</strong> Berufes<br />

lernen kann oder man macht<br />

sich kaputt, indem man all<br />

<strong>die</strong>s anschaut, was man<br />

nicht hat. Es gibt immer<br />

Sachen, <strong>die</strong> man gern hätte,<br />

welche der Andere hat. Das<br />

Medizinstudium war hart,<br />

darüber lässt es sich nicht<br />

streiten. Ich habe fünf<br />

Tage voll gearbeitet. Das<br />

Wochenende aber habe ich<br />

mir für meine Fre<strong>und</strong>in,<br />

meine Beziehung, für Sport<br />

freigehalten. Während der<br />

Woche war ich an der Uni,<br />

Freitagabend aber trat ich


den Heimweg an, fuhr durch<br />

den Tunnel, <strong>und</strong> dann war<br />

man wieder zuhause.<br />

– Was hat Sie im Lauf der<br />

Zeit an Ihrem Beruf, an der<br />

Medizin an sich fasziniert?<br />

Beat U. – Das Spannende an<br />

der Medizin ist das Erkennen,<br />

was dem Patienten<br />

fehlt, sein Leiden. Dies<br />

herauszufinden fand ich<br />

spannend. Es ist wie ein<br />

Kriminalroman. Man hat ein<br />

paar Symptome, Hercule<br />

Poirot hat ein paar Indizien,<br />

welche man dann richtig<br />

zusammenstellen muss,<br />

damit man zu einer Diagnose<br />

kommt oder eben den Täter<br />

findet. Sich <strong>die</strong>ses Wissen<br />

aneignen zu können, das ist<br />

genial. Und dass dann <strong>die</strong>s<br />

auch noch <strong>die</strong> richtige Konsequenz<br />

hat, dass man eine<br />

Krankheit, dann nicht lediglich<br />

diagnostizieren,<br />

sondern auch behandeln<br />

kann, das ist genial. Das<br />

Arbeiten mit Leuten, mit<br />

jungen Assistenten, in welchen<br />

man teilweise auch das<br />

Feu sacré erkennt oder aber<br />

<strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> sich damit<br />

anstecken lassen, das ist<br />

enorm befriedigend. Das<br />

Weitergeben an Erfahrungen,<br />

das Weitergeben <strong>des</strong>sen, was<br />

man gesehen hat, ist enorm<br />

befriedigend, vor allem<br />

auch wenn man sieht, dass<br />

<strong>die</strong>s aufgenommen wird. Ich<br />

bin nun bald seit zwanzig<br />

Jahren als Arzt tätig.<br />

– Haben sich <strong>die</strong> Patienten<br />

geändert?<br />

Beat U. – Nein, das ist<br />

immer gleich.<br />

– Haben sich <strong>die</strong> Ansprüche<br />

der Patienten geändert?<br />

Beat U. – Ja, das schon,<br />

<strong>die</strong>s ist aber nicht dominierend.<br />

So wie Sie auf den<br />

Patienten zugehen, so kommt<br />

es auch wieder auf Sie zurück.<br />

Das ändert sich<br />

nicht. Die Empathie, den<br />

Patient ernst zu nehmen,<br />

ihn ausreden zu lassen,<br />

nicht alles besser zu wissen,<br />

ihn nicht zu bevorm<strong>und</strong>en,<br />

all <strong>die</strong>s hat man oder<br />

nicht. In der Zusammenarbeit<br />

mit den Patienten gab<br />

es keine grossen Unterschiede.<br />

207


– Geht man als Arzt nicht<br />

einige Einbussen hinsichtlich<br />

<strong>des</strong> Privatlebens ein?<br />

Vielleicht als Assistenzarzt<br />

noch mehr als <strong>die</strong>s bei<br />

Leitenden Ärzten der Fall<br />

ist oder liege ich da<br />

falsch?<br />

Beat U. – Sie meinen damals<br />

(Beat U. lächelt). Ich war<br />

zu Beginn der 90-er Jahre<br />

Assistenzarzt. Man musste<br />

schon Einbussen in der<br />

Freizeit hinnehmen. Mit<br />

einer 100-120 St<strong>und</strong>en Woche,<br />

alle drei Wochen Wochenend<strong>die</strong>nst,<br />

ein Mal im<br />

Monat 24-St<strong>und</strong>en-Dienst,<br />

all <strong>die</strong>s trägt dazu bei.<br />

Das war eine enorme zeitliche<br />

Belastung. Unsere <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> vorhergehenden Generationen<br />

haben sich vollständig<br />

mit dem Beruf identifiziert,<br />

vielleicht auch zu<br />

viel identifiziert. Jeder<br />

bezahlt etwas für einen<br />

solchen Einsatz, <strong>die</strong>s musste<br />

ich auch bezahlen. Das<br />

ist heute anders. Die Assistenten<br />

haben eine 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche. Sie können<br />

sich viel besser abgrenzen.<br />

Ein Mittelweg wäre wahr-<br />

208<br />

scheinlichsung.<br />

<strong>die</strong> beste Lö-<br />

– Glauben Sie, dass <strong>die</strong><br />

heutigen Assistenzärzte<br />

<strong>die</strong>se Arbeitszeitregelung<br />

stark zu ihren Gunsten auslegen?<br />

Beat U. – Das ist sehr individuell.<br />

Mit der 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche <strong>und</strong> dem GAV<br />

(General Arbeitsvertrag)<br />

haben sie eine Gr<strong>und</strong>lage,<br />

auf welche sie auch pochen<br />

können, damit sie nicht<br />

mehr arbeiten müssen. Das<br />

ging bei uns nicht. Hätte<br />

man darauf gepocht, wäre<br />

man weg gewesen. Zu unserer<br />

Zeit mussten wir uns auch<br />

auf <strong>die</strong> Stellen bewerben,<br />

es war nicht einfach eine<br />

Stelle zu kriegen, auch<br />

nicht mit einem sehr guten<br />

Abgangszeugnis. Und heute<br />

haben wir eher wenige Assistenten,<br />

<strong>die</strong> uns zur Verfügung<br />

stehen.<br />

– Sie waren hier am Spital<br />

Assistenzarzt, haben dann<br />

eine neue Stelle angenommen<br />

<strong>und</strong> sind zu einem späteren<br />

Zeitpunkt wieder hierhin


zurückgekehrt. Haben Sie<br />

sich bewusst für <strong>die</strong>sen<br />

Schritt entschieden?<br />

Beat U. – Meine letzte Arbeitsstelle<br />

war in England,<br />

wo ich mit der Familie war.<br />

Als Schweizer kriegt man ja<br />

in England keinen Lohn.<br />

Also musste man <strong>die</strong>se anderthalb<br />

Jahre investieren.<br />

Als ich zurückkam, musste<br />

ich also eine Stelle annehmen,<br />

mit deren Hilfe ich<br />

auch meine Schulden begleichen<br />

konnte. Ich habe <strong>die</strong>jenigen<br />

Ärzte, welche dann<br />

Chefs wurden, als Leitende<br />

Ärzte gekannt <strong>und</strong> in der<br />

Folge auch kontaktiert. Es<br />

gab eine offene Stelle,<br />

welche ich dann auch wahrnehmen<br />

konnte.<br />

– Wie darf ich <strong>die</strong>ses Vorgehen<br />

in England verstehen<br />

– Sie haben in <strong>die</strong>ser Zeit<br />

keinen Lohn erhalten?<br />

Beat U. – Als Schweizer<br />

Arzt kriegen sie innerhalb<br />

<strong>des</strong> NHS, <strong>des</strong> National<br />

Health Care Systems, keine<br />

bezahlte Stelle. Sie kriegen<br />

eine Stelle aber keinen<br />

Lohn. Sie müssen den Lohn<br />

selber mitbringen.<br />

– Dies bedeutet?<br />

Beat U. – Dies bedeutet,<br />

dass Sie sich <strong>die</strong>se Zeit<br />

selber finanzieren mussten.<br />

Dies hat wohl einen kleinen<br />

Ferrari gekostet. Das ist<br />

schon so.<br />

– Weshalb ist das so?<br />

Beat U. – Um klinisch arbeiten<br />

zu können, um Patienten<br />

sehen zu können, was<br />

mein Ziel war. Ich wollte<br />

ja Patienten meines Fachgebietes<br />

sehen. In <strong>die</strong>sem<br />

Bereich gibt es eine begrenzte<br />

Anzahl an Stellen,<br />

welche zuerst an Engländer,<br />

dann an <strong>die</strong> EU verteilt<br />

werden. Zu meiner Zeit war<br />

Schengen noch in weiter<br />

Ferne. Als Schweizer stand<br />

man am Zoll noch neben den<br />

Ukrainern, Chinesen <strong>und</strong><br />

Mongolen. Die EU-Bürger<br />

dagegen liefen einfach an<br />

einem vorbei. Sie hatten<br />

keine Chance als Schweizer,<br />

als nicht Engländer oder<br />

nicht EU-Bürger eine bezahlte<br />

Stelle am NHS zu<br />

209


kriegen.<br />

– Ist das heute noch immer<br />

so?<br />

Beat U. – Ja, schon. Sie<br />

müssen als Mediziner in der<br />

Regel alles selber organisieren:<br />

den Umzug, Haus<strong>und</strong><br />

Wohnungssuche, Lohnfinanzierung.<br />

Wenn sie in<br />

einer Bank arbeiten, können<br />

sie sagen, morgen gehe ich,<br />

<strong>und</strong> alles wird für sie organisiert.<br />

– Wo liegt der Anreiz nach<br />

England arbeiten zu gehen?<br />

Beat U. – Das Lehren. Wenn<br />

man in der Medizin <strong>die</strong> Basis<br />

gelernt hat, so existieren<br />

magische Orte, <strong>die</strong><br />

so genannten Top-Kliniken,<br />

welche einem anziehen. Wie<br />

beispielweise <strong>die</strong> Mayo Clinic<br />

oder Yale University,<br />

in England gehört das St.<br />

Marys Hospital zu den Top-<br />

Kliniken Londons, welches<br />

zum Imperial College<br />

Helthcare der NHS von London<br />

gehört. Das Imperial<br />

College ist ein Verb<strong>und</strong> vom<br />

St. Marys, St. Bartholomew's<br />

Hospital weiter zählt<br />

210<br />

zu den Top-Kliniken, auch<br />

das Hammersmith Hospital,<br />

das sind alles klingende<br />

Namen. Wenn man <strong>die</strong> Gelegenheit<br />

erhält, dahin zu<br />

gehen, dann ist <strong>die</strong>s schon<br />

eine Möglichkeit neues Wissen<br />

zu akquirieren. Für<br />

mich als Assistenzarzt<br />

stand das Einsaugen von<br />

neuem Wissen im Zentrum.<br />

Dies hatte absolute Priorität.<br />

– Wie war es für Ihre Familie<br />

Sie zu begleiten?<br />

Beat U. – Sie kamen gerne<br />

mit. Ich hatte dazumal zwei<br />

Kinder. Ich habe dann geschaut,<br />

dass wir ein kleines<br />

Häuschen haben konnten.<br />

Wir waren etwas ausserhalb<br />

<strong>und</strong> hatten ein Häuschen<br />

zwischen zwei kleinen<br />

Parks, wo Monty Python ihre<br />

Sketchs gedreht haben. Ich<br />

hatte es sehr gut. Es war<br />

eine geniale Erfahrung. Es<br />

war streng. Am Morgen raus<br />

mit dem Rucksack, am Abend<br />

auf dem Heimweg Einkäufe<br />

tätigen <strong>und</strong> wieder mit dem<br />

Rucksack nach Hause.


– Ein anderer Lebensstil<br />

als hier folglich.<br />

Beat U. – Ja, ein ganz anderer.<br />

– Sie würden es nochmals<br />

machen?<br />

Beat U. – Ja, jederzeit.<br />

Ich habe in der Folge fünf<br />

oder sechs meiner jungen<br />

Kollegen <strong>die</strong>se Möglichkeit<br />

auch geboten. Einer von<br />

ihnen hat nun sogar am St.<br />

Bartholomew's Hospital eine<br />

führende Stelle inne. Dies<br />

waren Assistenten <strong>und</strong> Unterassistenten,<br />

welche dann<br />

auch ans selbe Spital gingen.<br />

– Wie lange sind Sie nun<br />

wieder hier am öffentlichen<br />

Spital? Wenn Sie <strong>die</strong>se Arbeitsstelle<br />

mit einer Ihrer<br />

bisherigen vergleichen, was<br />

fasziniert Sie an <strong>die</strong>ser<br />

Stelle hier?<br />

Beat U. – Unsere Patienten<br />

sind krank. Wir machen keine<br />

Antiaging- oder Wellness-Medizin.<br />

Unsere Patienten<br />

sind krank. Wir sind<br />

<strong>die</strong> grösste Innere Medi-<br />

zin/Chirurgie unter einem<br />

Dach. Sie werden nirgends<br />

in der Schweiz im Bereich<br />

Medizin/Chirurgie, zur Medizin<br />

gehört Herzkreislauf,<br />

Lungenentzündungen, Diabetes,<br />

Krebskrankheiten etc.,<br />

eine solche Grösse wiederfinden.<br />

Wir haben ein sehr<br />

grosses Einzugsgebiet, <strong>die</strong><br />

gesamte Region hier eben,<br />

<strong>die</strong>s sind fast eine Million,<br />

für welche wir das Referenzzentrum<br />

sind. Diejenigen<br />

Patienten, bei welchen<br />

<strong>die</strong> kleinen Spitäler<br />

nicht mehr weiterkommen,<br />

kommen zu uns. Dies hat zur<br />

Folge, dass wir ein breites<br />

Patientengut haben <strong>und</strong> ein<br />

sehr, sehr spannen<strong>des</strong> zugleich.<br />

Das ist für unser<br />

Spital ziemlich einmalig.<br />

In allen anderen grösseren<br />

Spitälern sind <strong>die</strong> Kliniken<br />

aufgeteilt in Unter-<br />

Kliniken A, B, C. Hier<br />

kommt wirklich alles zusammen.<br />

„Einer der Hauptgründe ist<br />

bestimmt das Geld. Eines<br />

muss man sehen, <strong>die</strong>jenigen,<br />

211


welche wechseln, sind ja<br />

nicht <strong>die</strong> Tops, es sind<br />

nicht <strong>die</strong>jenigen, welche an<br />

der Spitze der Hierarchie<br />

sind.“<br />

– Es gibt ja Ärzte, <strong>die</strong> von<br />

<strong>die</strong>sem öffentlichen Spital<br />

zur angrenzenden Privatklinik<br />

gewechselt haben; welches<br />

könnten ihrer Meinung<br />

nach <strong>die</strong> Gründe für einen<br />

solchen Wechsel sein?<br />

Beat U. – Ich denke nun an<br />

niemanden, der gewechselt<br />

hat. Einer der Hauptgründe<br />

ist bestimmt das Geld. Eines<br />

muss man sehen, <strong>die</strong>jenigen,<br />

welche wechseln,<br />

sind ja nicht <strong>die</strong> Tops, es<br />

sind nicht <strong>die</strong>jenigen, welche<br />

an der Spitze der Hierarchie<br />

sind. Es sind sicherlich<br />

sehr gute Leute,<br />

<strong>die</strong> eine Herausforderung<br />

suchen, <strong>die</strong> hier aber anstehen<br />

<strong>und</strong> nicht weiterkommen.<br />

Ärzte sind relativ<br />

karrierebewusst, auch wenn<br />

man es gegen aussen nicht<br />

so zeigt. Es gibt verschiedene<br />

Arten seine Karriere<br />

212<br />

zu definieren. Die Hierarchie<br />

zu definieren, dafür<br />

gibt es verschiedene Arten:<br />

zum einen durch das Wissen,<br />

das Können, der beste Chirurg<br />

ist zuoberst. Der beste<br />

Mediziner, derjenige,<br />

der am meisten weiss, ist<br />

zuoberst. Und dann gibt es<br />

eine Abstufung. Dies ist<br />

eine Möglichkeit sich zu<br />

definieren. Eine andere<br />

Möglichkeit sich zu definieren<br />

ist vielleicht mehr<br />

über das organisatorische,<br />

administrative Talent,<br />

vielleicht auch mit den<br />

Drittmitteln, welche man<br />

hereinholt. Wenn man<br />

Sponsorengelder hereinholt<br />

oder mit den Patientenzahlen,<br />

welche man hat. Oder<br />

mit den neuen Operationen,<br />

welche man macht. Dies sind<br />

alles Definitionen, wie man<br />

seine Hierarchie definiert.<br />

Das Spital hier hat schon<br />

seine eigene Form von Hierarchie,<br />

wie das alle sozialen<br />

Institutionen haben.<br />

Und ich denke, dass es<br />

schon möglich ist, dass es<br />

hier Leute gibt, <strong>die</strong> einfach<br />

hier nicht weiterkom-


men, <strong>die</strong> einen Chef haben,<br />

welchen ich eigentlich<br />

schon längst überholt habe,<br />

der mich aber nicht aufsteigen<br />

lässt. Ich denke,<br />

es sind <strong>die</strong> ganz üblichen<br />

Karriereschritte, <strong>die</strong> dann<br />

so möglich werden.<br />

– Sie sind der Meinung,<br />

dass es eher persönliche<br />

Gründe sind, <strong>die</strong> dazu führen,<br />

dass gewisse Ärzte<br />

nicht eine Stufe weiter<br />

aufsteigen. Dass es folglich<br />

nicht derjenige mit<br />

dem grössten Wissen <strong>und</strong> der<br />

Beste ist, der aufsteigt,<br />

sondern andere Faktoren wie<br />

Sympathie beispielsweise<br />

dazu beitragen.<br />

Beat U. – Ja, absolut. So<br />

wie es nun mal in jeder<br />

Hierarchie ist. Es gibt nun<br />

mal Leute, <strong>die</strong> passen dem<br />

Chef besser in den Kram als<br />

andere, <strong>die</strong> fachlich besser<br />

wären, aber dem Chef nicht<br />

passen. Diese Ärzte stehen<br />

dann einfach an. Das ist<br />

bestimmt auch mit ein<br />

Gr<strong>und</strong>, weshalb gewisse Ärzte<br />

das Spital verlassen <strong>und</strong><br />

zu einer Privatklinik ab-<br />

wandern. Geld oder Karriereschritt<br />

sind folglich <strong>die</strong><br />

zwei Hauptfaktoren.<br />

– Wie plant ein Arzt eigentlich<br />

seine Karriere?<br />

Beat U. – Es gibt eine ganz<br />

kleine Minderheit von Ärzten,<br />

<strong>die</strong> schon vor dem ersten<br />

Staatsexamen wissen,<br />

was sie werden wollen, in<br />

welcher Position, in welchem<br />

Spital <strong>und</strong> in welchem<br />

Jahr.<br />

– Sie waren aber keiner<br />

davon oder?<br />

Beat U. – Nein, nie im Leben.<br />

Ich glaube, dass es<br />

bei den Meisten eher Zufall<br />

ist, wohin sie kommen. Bei<br />

der ersten Stelle habe ich<br />

gedacht Chirurgie, super,<br />

ich mache Chirurgie. Bei<br />

der zweiten Stelle im Bereich<br />

Medizin habe ich gedacht,<br />

super, ich mache<br />

Nephrologie. Dann wollte<br />

ich eigentlich Nierenspezialist<br />

machen. Dann hat ein<br />

Kollege gesagt, der schon<br />

Nephrologe war, mach nicht<br />

Nephrologie, mach irgendwas<br />

anderes, <strong>und</strong> anschliessend<br />

213


gehen wir zusammen <strong>die</strong>ses<br />

Spital übernehmen. Dann<br />

habe ich eben meine heutige<br />

Spezialität gemacht. (Beide<br />

lachen.)<br />

– Ich wollte gerade fragen,<br />

wie Sie auf <strong>die</strong>ses Spezialgebiet<br />

kamen?<br />

Beat U. – Ja, so. Es gibt<br />

Leute, <strong>die</strong> extrem spezialisiert<br />

sind, das ist eine<br />

kleine Minderheit. Und dann<br />

gibt es andere, <strong>die</strong> wahrscheinlich<br />

alles gut machen<br />

würden, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se müssen<br />

sich dann irgendwann für<br />

irgendetwas entscheiden.<br />

– Was für Menschen sind<br />

<strong>die</strong>jenigen, welche genau<br />

wissen, was sie wollen?<br />

Können Sie mir drei Charakterzüge<br />

nennen?<br />

Beat U. – Was soll ich nun<br />

sagen? Soll ich es eher<br />

positiv oder negativ ausdrücken?<br />

Es sind sicherlich<br />

sehr disziplinierte Leute,<br />

schon teilweise fast zwanghaft.<br />

Es sind nicht <strong>die</strong><br />

lockeren Leute, <strong>die</strong> relaxten,<br />

da sie schon einen<br />

genauen Plan vor Augen ha-<br />

214<br />

ben. Es sind Leute, <strong>die</strong><br />

sehr ins Detail gehen können,<br />

<strong>die</strong> sehr genau sind<br />

<strong>und</strong> wollen alles à fond bis<br />

aufs Letzte aufklären. Sie<br />

sind sehr genau. Präzis.<br />

Medizin ist keine genaue<br />

Naturwissenschaft. Wenn Sie<br />

98% einer Diagnose haben,<br />

dann können Sie sich sagen,<br />

das ist es nun. Es gibt<br />

aber teilweise Ärzte, <strong>die</strong><br />

wollen 100% haben. Das ist<br />

auch gut, da sie gewisse<br />

Fehldiagnosen aufdecken<br />

können. Es sind häufig sehr<br />

akribisch denkende Menschen.<br />

Aber <strong>die</strong>s ist nun,<br />

sehr allgemein definiert.<br />

– Ich würde gerne nochmals<br />

auf Ihre Arbeit in England<br />

zurückgreifen. Was hat Sie<br />

an Ihrem damaligen Alltag,<br />

an Ihrer Tätigkeit vor Ort<br />

<strong>und</strong> an der Arbeitsweise,<br />

<strong>die</strong> vor Ort gepflegt wird,<br />

so fasziniert?<br />

Beat U. – Die Arbeitsweise<br />

ist im offiziellen, staatlichen<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />

dem NHS, folgendermassen:<br />

man kommt um 9.00 Uhr <strong>und</strong><br />

hat bis um 14.00 Uhr


Sprechst<strong>und</strong>e, dann ein Pause<br />

<strong>und</strong> danach wieder bis um<br />

17.00 Uhr Sprechst<strong>und</strong>e, <strong>und</strong><br />

das war es dann. Dann hat<br />

man einen auf neun oder<br />

einen auf sieben Tage Notfall<strong>die</strong>nst,<br />

<strong>die</strong>s kommt auf<br />

<strong>die</strong> Anzahl Spezialisierungen<br />

an, <strong>die</strong> es gibt. In<br />

<strong>die</strong>ser Zeit ist man 24<br />

St<strong>und</strong>en zuständig. Der<br />

grosse Unterschied ist,<br />

dass <strong>die</strong> Patienten sehr<br />

viel geduldiger sind. Wir<br />

hatten einen Saal mit 18<br />

oder 20 Patienten, Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen durcheinander.<br />

Man hat <strong>die</strong> Sprechst<strong>und</strong>e<br />

angefangen <strong>und</strong> nach einer<br />

halben St<strong>und</strong>e kam <strong>die</strong> Krankenschwester<br />

<strong>und</strong> schrieb an<br />

<strong>die</strong> Tafel „Sorry one hour<br />

delay“. Nach einer St<strong>und</strong>e<br />

schrieb sie dann, „Sorry<br />

two hours delay“. Und <strong>die</strong><br />

Leute haben geduldig gewartet.<br />

Innerhalb <strong>die</strong>ser anderthalb<br />

Jahre habe ich nur<br />

einmal gehört, dass sich<br />

eine Person beschwert hat,<br />

da sie warten musste. Das<br />

ist dort einfach so. Man<br />

ist nicht so verwöhnt. Wenn<br />

es irgendwo sticht oder <strong>die</strong><br />

Hüfte schmerzt, hat man<br />

nicht nach zwei Tagen schon<br />

eine Hüftprothese, sondern<br />

man wartet ein Jahr oder<br />

so. Das Warten auf eine<br />

Behandlung, auf eine Diagnose,<br />

das kann man sich<br />

hier gar nicht vorstellen.<br />

– Welche Gründe führen dazu,<br />

dass <strong>die</strong> Patienten so<br />

lange warten müssen?<br />

Beat U. – Die Ressourcen.<br />

Sie haben viel, viel weniger<br />

Ärzte. Viel weniger<br />

Ressourcen. Die Anzahl Computertomographen<br />

oder MRI-<br />

Geräte in England beträgt<br />

vielleicht 20% der Anzahl<br />

<strong>die</strong>ser Geräte in der<br />

Schweiz. Oder nicht einmal.<br />

Auf alle Fälle deutlich<br />

weniger als bei uns. Sie<br />

haben weniger Operationssäle<br />

<strong>und</strong> weniger Operationskapazität.<br />

Entsprechend ist<br />

auch <strong>die</strong> Warteliste lang.<br />

Das staatliche Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

hat so <strong>und</strong> so viele<br />

Stelle <strong>und</strong> das wär’s dann.<br />

– Die Arbeitszeit war folglich<br />

sehr geregelt?<br />

Beat U. – Offiziell war<br />

215


<strong>die</strong>s schon der Fall. Sie<br />

hatten daneben natürlich<br />

noch viele administrative<br />

Tätigkeiten, <strong>und</strong> falls sie<br />

noch was Wissenschaftliches<br />

nebenbei machen wollten,<br />

dann gehörte <strong>die</strong>s natürlich<br />

zur „Extra-Time".<br />

– War der administrative<br />

Aufwand, den Sie damals zu<br />

erledigen hatten, geringer<br />

als derjenige, den Sie heute<br />

zu erledigen haben?<br />

Beat U. – Ja, ja wesentlich<br />

geringer. Der erste Bericht,<br />

den ich zu verfassen<br />

<strong>und</strong> an <strong>die</strong> Sekretärin auszuhändigen<br />

hatte, wurde<br />

durch sie an mich zurückgegeben.<br />

Sie hat dann zu mir<br />

gesagt: „Listen Beat, I<br />

only type one page.“ (Beide<br />

lachen).<br />

– Hat der administrative<br />

Aufwand seit der Umstrukturierung<br />

<strong>und</strong> der rechtlichen<br />

Zusammenlegung der Spitäler<br />

zugenommen?<br />

Beat U. – Nein. Es kommt<br />

auf <strong>die</strong> Stufe an, <strong>die</strong> Sie<br />

ansprechen. Für <strong>die</strong> Assistenzärzte<br />

sicherlich nicht,<br />

216<br />

der administrative Aufwand<br />

ist sowieso schon sehr<br />

hoch, was aber auch gut so<br />

ist <strong>und</strong> einen Vorteil darstellt.<br />

Das Spital, in welchem<br />

ich in England gearbeitet<br />

habe, war „the hospital<br />

of the lost files“.<br />

Häufig gingen <strong>die</strong> Hälfte<br />

der Krankengeschichten verloren,<br />

sie sind einfach<br />

untergegangen. Verloren,<br />

nicht auffindbar. So etwas<br />

geschieht hier nicht.<br />

– Hat sich kein Patient<br />

beklagt, wenn gerade seine<br />

Krankengeschichte<br />

ging?<br />

verloren<br />

Beat U. – Das hat man ihnen<br />

dann natürlich nicht sogleich<br />

mitgeteilt. Also <strong>die</strong><br />

Patienten dort sind schon<br />

viel weniger anspruchsvoll<br />

als hier.<br />

– Wie muss ich mir einen<br />

Wartesaal beispielsweise<br />

vorstellen. Kamen <strong>die</strong> Patienten<br />

einfach oder hatten<br />

sie einen Termin?<br />

Beat U. – Sie hatten einen<br />

Termin, das schon. Wenn<br />

Sprechst<strong>und</strong>e im ambulanten


Bereich ist, dann sitzen<br />

fünf, sechs, sieben Ärzte<br />

in Kojen <strong>und</strong> <strong>die</strong> sechs Patienten<br />

werden in den kommenden<br />

fünf St<strong>und</strong>en auf <strong>die</strong><br />

anwesenden Ärzte verteilt.<br />

Wenn ein oder zwei Ärzte<br />

fehlen, dann gibt es natürlich<br />

für <strong>die</strong> anwesenden<br />

Ärzte mehr zu tun. Dann<br />

geriet man gleich ins Hintertreffen.<br />

– Konnte ein Patient auch<br />

einfach kommen <strong>und</strong> wünschen,<br />

von wem er behandelt<br />

werden möchte?<br />

Beat U. – Ja, das ging<br />

schon auch. Dann musste er<br />

sich einfach in einer anderen<br />

Reihe anstellen. Aber<br />

das war eine sich stetig<br />

wechselnde Anzahl der Mannschaft<br />

bzw. <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Teams, da war es nicht möglich<br />

den Überblick zu behalten.<br />

Ausser dem Chef <strong>und</strong><br />

seinem Vertreter hatte da<br />

niemand wirklich <strong>die</strong> Übersicht.<br />

– Die Vertrauensbeziehung<br />

war in London um einiges<br />

schwächer als hier?<br />

Beat U. – Auf Stufe Assis-<br />

tenzarzt ganz bestimmt.<br />

Gehörte man aber zum Kader,<br />

dann war <strong>die</strong>s ganz anders.<br />

Sie haben <strong>die</strong> Leute mit<br />

ihren Vornamen angesprochen,<br />

haben sich auf deren<br />

Bett gesetzt <strong>und</strong> haben sie<br />

in <strong>die</strong> Arme genommen. So<br />

etwas wäre hier in unserer<br />

Gesellschaft <strong>und</strong>enkbar.<br />

„Ich habe noch nie in einem<br />

Schweizer Spital gesehen,<br />

dass ein Patient vom Arzt<br />

in den Arm genommen wird.“<br />

– Weshalb<br />

<strong>und</strong>enkbar?<br />

ist <strong>die</strong>s hier<br />

Beat U. – Man setzt sich<br />

nicht auf das Bett <strong>des</strong> Patienten.<br />

Man baut keine<br />

solch emotionale, persönliche<br />

Kommunikationsebene<br />

auf. Man hat Empathie, ist<br />

für den Patienten da. Ich<br />

habe noch nie in einem<br />

Schweizer Spital gesehen,<br />

dass ein Patient vom Arzt<br />

in den Arm genommen wurde.<br />

– Ich würde dazu gerne et-<br />

217


was mehr wissen. Welches<br />

sind <strong>die</strong> Gründe dafür, dass<br />

wir eine solche Handlung<br />

nicht vornehmen? Gehört es<br />

nicht zu unserer alltäglichen<br />

Art, zu unserem Verhalten?<br />

Sind <strong>die</strong> Engländer<br />

einfach viel offener?<br />

Beat U. – Wir sind mehr dem<br />

germanischen, hierarchischen<br />

Modell verpflichtet.<br />

In der Schweiz wohl noch um<br />

einiges weniger als in<br />

Deutschland. In England ist<br />

<strong>die</strong> Hierarchie viel flacher.<br />

Der Chef boxt einen,<br />

man lacht gemeinsam. Das<br />

hat mich am meisten fasziniert.<br />

– Die Hierarchien sind flacher,<br />

auch in staatlichen<br />

Spitälern? Welche Gründe<br />

führen dazu?<br />

Beat U. – Weiss ich nicht.<br />

Die Engländer sind überhaupt<br />

nicht so steif. Die<br />

Vorstellung entspricht da<br />

nicht der Realität.<br />

– Würden Sie gerne nochmals<br />

einen solchen Aufenthalt im<br />

Ausland tätigen?<br />

218<br />

Beat U. – Ja, jederzeit<br />

wieder. Man lernt nirgends<br />

so viel, wie wenn man ein<br />

Underdoc ist. Man kommt<br />

irgendwohin, muss sich anpassen,<br />

schaut, wie es <strong>die</strong><br />

Anderen machen <strong>und</strong> wie ich<br />

es machen muss. Das ist<br />

eine gewisse Herausforderung.<br />

Darf ich <strong>die</strong>s noch<br />

anfügen? Das vermisse ich<br />

ein wenig bei unseren Assistenten.<br />

Wenn man sie auf<br />

der Chefvisite fragt, probiert<br />

sie zu stupsen, zu<br />

motivieren, dann scheinen<br />

sie immer zu erschrecken<br />

anstatt entgegenzuhalten.<br />

Ich spreche hier rein <strong>die</strong><br />

fachliche Diskussion an.<br />

– Womit hat <strong>die</strong>ses Verhalten<br />

zu tun? Mit Respekt?<br />

Beat U. – Nein. Man will<br />

sich einfach nicht exponieren.<br />

Sich mal hinzustellen<br />

<strong>und</strong> etwas zu sagen oder<br />

einen kleinen Vortrag zu<br />

halten, das benötigt das<br />

Überwinden einer sehr grossen<br />

Hemmschwelle der jungen<br />

Leute.<br />

– War <strong>die</strong>s auch früher


schon so?<br />

Beat U. – Schon weniger. Zu<br />

unserer Zeit mussten wir<br />

als Assistenten im grossen<br />

Hörsaal auch Vorträge halten.<br />

Das gibt es heute<br />

nicht mehr. Das ist heute<br />

unvorstellbar.<br />

– Was hat sich in Ihrem<br />

Beruf als Arzt geändert?<br />

Das Image <strong>des</strong> Arztes? Können<br />

Sie mir vier, fünf Faktoren<br />

nennen?<br />

Beat U. – Das ist eine<br />

schwierige Frage. Das interessiert<br />

mich überhaupt<br />

nicht. Mein erster Chef hat<br />

gesagt, nun schauen wir mal<br />

wie <strong>und</strong> was. So haben wir<br />

dann ein, zwei Tage geschaut,<br />

was überhaupt ist.<br />

Heute ist es so, dass kaum<br />

hat der Patient einen Fuss<br />

in <strong>die</strong> Notfallstation gesetzt,<br />

sollte schon alles<br />

diagnostiziert <strong>und</strong> behandelt<br />

sein. Man hat viel,<br />

viel weniger Zeit. Es ist<br />

ein enormer Zeitdruck da.<br />

Es ist ein enormer Druck<br />

hier etwas zu verpassen.<br />

Dies stellt für mich in der<br />

Alltagsarbeit <strong>des</strong> Spitals<br />

den<br />

dar.<br />

grössten Unterschied<br />

– Mit verpassen meinen Sie<br />

ein Symptom verpassen?<br />

Beat U. – Ja, irgendeine<br />

Diagnose verpasst, irgendwas<br />

nicht behandelt zu haben.<br />

Und der Zeitdruck, der<br />

war früher ganz bestimmt<br />

nicht so. Auch <strong>die</strong> Ansprüche<br />

der Patienten, der Zuweiser<br />

sind ganz wesentlich<br />

höher. Früher konnte man<br />

den Patienten untersuchen<br />

<strong>und</strong> sagen es ist <strong>die</strong>s <strong>und</strong><br />

das. Heute muss man Computertomographien<br />

<strong>und</strong> alle<br />

wilden Sachen machen, um<br />

sich zu beweisen.<br />

„Die Tätigkeit <strong>des</strong> Arztes<br />

scheint etwas Obskures zu<br />

sein, welcher man nicht so<br />

vertraut.“<br />

– Um dem Patient folglich<br />

zu zeigen, dass Sie als<br />

Arzt <strong>die</strong> Krankheit richtig<br />

erkannt haben?<br />

219


Beat U. – Ja, genau. Das<br />

zweite ist, dass der instrumentalisierten<br />

Medizin<br />

ein enorm hoher Glauben<br />

geschenkt wird, <strong>und</strong> der<br />

Arzt <strong>und</strong> seine Tätigkeit<br />

eher als quantité négligeable<br />

betrachtet werden. Die<br />

Tätigkeit <strong>des</strong> Arztes<br />

scheint etwas Obskures zu<br />

sein, welcher man nicht so<br />

vertraut.<br />

– Dem Wort <strong>des</strong> Arztes wird<br />

weniger vertraut als den<br />

Werten,<br />

hergibt?<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Maschine<br />

Beat U. – Wenn ein Patient<br />

mit Kopfschmerzen kommt <strong>und</strong><br />

man ihm sagt, es sei eine<br />

Migräne, glaubt <strong>die</strong>ser es<br />

einem nicht. Macht man dann<br />

aber ein CT <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses verdeutlicht,<br />

dass alles in<br />

Ordnung ist, <strong>und</strong> es tatsächlich<br />

lediglich eine<br />

Migräne war, dann wird er<br />

es akzeptieren,<br />

dann.<br />

aber erst<br />

– Hat man vor zwanzig Jahren<br />

mehr vertraut? Der Arzt<br />

stellt nebst dem Lehrer <strong>und</strong><br />

dem Pfarrer eine wichtige<br />

220<br />

Vertrauensperson dar, oder?<br />

Beat U. – Das glaube ich<br />

schon.<br />

„ ...<strong>die</strong> Politik hat in den<br />

letzten fünfzehn Jahren den<br />

Beruf <strong>des</strong> Arztes systematisch<br />

angegriffen <strong>und</strong> beschädigt.“<br />

– Weshalb zweifeln <strong>die</strong> Patienten<br />

heute mehr als früher<br />

Diagnosen an?<br />

Beat U. – Wenn Sie das Vertrauen<br />

in den Arzt ansprechen,<br />

dann ist es gemäss<br />

meiner Wahrnehmung folgendermassen:<br />

Die Politik hat<br />

in den letzten fünfzehn<br />

Jahren den Beruf <strong>des</strong> Arztes<br />

systematisch angegriffen<br />

<strong>und</strong> beschädigt. Man hat<br />

alles gemacht, damit <strong>die</strong><br />

Stu<strong>die</strong>nplätze an den Universitäten<br />

klein gehalten<br />

werden. Mit dem Resultat,<br />

dass wir heute einem grossen<br />

Arztmangel gegenüberstehen.<br />

Man hat <strong>die</strong> Ärzte<br />

mit Privatpraxen angegriffen.<br />

Man hat systematisch


schwarze Schafe ausgegraben<br />

<strong>und</strong> gezeigt, welche Gauner<br />

sich dahinter verbergen.<br />

Ich denke schon, dass <strong>die</strong><br />

politische <strong>und</strong> <strong>die</strong> massenmediale<br />

Demontage zu einem<br />

Vertrauensverlust geführt<br />

haben.<br />

– Die Politik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n<br />

folglich?<br />

Beat U. – Ja, ich denke<br />

schon. Ich sage nicht, dass<br />

<strong>die</strong>s gut oder schlecht ist.<br />

Aber ich glaube, dass <strong>die</strong>s<br />

der Gr<strong>und</strong> ist, weshalb man<br />

dem Arzt als Person kritischer<br />

begegnet. Das ist ja<br />

auch gut. Ich sage nicht,<br />

dass <strong>die</strong>s schlecht ist.<br />

– Erschwert <strong>die</strong>s Ihre tägliche<br />

Arbeit?<br />

Beat U. – Ja, am Rand. Bis<br />

vor zwei, drei Jahren habe<br />

ich noch nie eine schriftliche<br />

Beschwerde gesehen.<br />

Die Anzahl <strong>die</strong>ser schriftlichen<br />

Beschwerden hat<br />

schon zugenommen. Beschwerden,<br />

da der Nachbar in der<br />

Nacht gehustet hat, oder<br />

<strong>die</strong> Schwester nach drei Mal<br />

Klingeln nicht gekommen ist<br />

oder ... Die Bereitschaft<br />

sofort auszurufen <strong>und</strong> sich<br />

zu beschweren, ist schon<br />

etwas Neues. Und so wie es<br />

der Manor oder der Globus<br />

auch tun, muss man sich<br />

<strong>die</strong>ser Beschwerden annehmen,<br />

<strong>die</strong>se mit den Leuten<br />

besprechen, was gelegentlich<br />

etwas Zeit <strong>und</strong> Nerven<br />

kostet. Haben wir <strong>die</strong> Hälfte<br />

der Fragen? (Beide lachen)<br />

„Wenn Sie beginnen ein Spital<br />

gewinnoptimierend auszurichten,<br />

dann wird jemand<br />

<strong>die</strong> Zeche dafür bezahlen.<br />

Dann wird <strong>die</strong>s vielleicht<br />

der Patient sein, der nicht<br />

mehr in einem Zweierzimmer<br />

sterben kann ...“<br />

– Wir haben noch zehn Minuten.<br />

Ich habe noch zwei<br />

Fragen. Heute wird oft von<br />

Tendenzen der <strong>Ökonomisierung</strong><br />

im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

gesprochen? Die Ökonomie<br />

wurde früher selten mit dem<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen in Verbindung<br />

gebracht? Dies hat<br />

221


sich heute verändert, würden<br />

Sie dem zustimmen?<br />

Beat U. – Das hat sich<br />

schon geändert. Für mich<br />

ist der springende Punkt,<br />

dass es immer Leute gibt,<br />

<strong>die</strong> im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

mitreden, <strong>die</strong> am monetären<br />

Kuchen <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

partizipieren wollen.<br />

Die gesamte Ausrichtung<br />

eines Spitals <strong>und</strong> Spitalverb<strong>und</strong>es<br />

auf Gewinnoptimierung<br />

kann in meinen Augen<br />

nie funktionieren. Den<br />

nicht medizinischen Teilhabern<br />

am Kuchen bringt <strong>die</strong>s<br />

wohl was, aber <strong>die</strong>s alles<br />

generiert Probleme. Wenn<br />

Sie beginnen ein Spital<br />

gewinnoptimierend auszurichten,<br />

dann wird jemand<br />

<strong>die</strong> Zeche dafür bezahlen.<br />

Dann wird <strong>die</strong>s vielleicht<br />

der Patient sein, der nicht<br />

mehr in einem Zweierzimmer<br />

sterben kann, wo er alleine<br />

wäre, sondern muss <strong>die</strong>s in<br />

einem Viererzimmer tun.<br />

Aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> DRG werden<br />

Patienten vielleicht früher<br />

nach Hause geschickt, da<br />

für ihre Krankheit eine<br />

gewisse Anzahl Tage bezahlt<br />

222<br />

wird, was darüber hinaus<br />

ist aber nicht. Dies hat<br />

zur Folge, dass der Patient<br />

nach Hause geschickt wird,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s obwohl er noch<br />

etwas bleiben sollte. Zuhause<br />

fällt er <strong>die</strong> Treppe<br />

hinunter, bricht sich den<br />

Schenkelhals, da er zu früh<br />

nach Hause gehen musste<br />

ohne Physiotherapie gehabt<br />

zu haben, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>.<br />

Das kann nicht funktionieren,<br />

wenn man beginnt <strong>die</strong><br />

Spitalpolitik auf elektive<br />

Sachen auszurichten. Wenn<br />

Sie hier durch <strong>die</strong> Bettenabteilung<br />

der Inneren Medizin<br />

spazieren, (…) dann<br />

werden Sie sehen, dass min<strong>des</strong>tens<br />

20 Patienten, min<strong>des</strong>tens<br />

<strong>die</strong> Hälfte der Patienten,<br />

<strong>die</strong> hier liegen,<br />

neben ihrer Krankheit noch<br />

wesentlich mehr haben. Sie<br />

haben vielleicht eine Familie,<br />

zu der sie nicht heim<br />

gehen können oder haben<br />

vielleicht gar keine Familie,<br />

vielleicht leiden sie<br />

an weiteren Krankheiten,<br />

<strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> DRG nicht<br />

erfasst wurden, da <strong>die</strong><br />

ersterfasste Krankheit kei-


ne weiteren Behandlungsmöglichkeiten<br />

mehr zulässt.<br />

Alle <strong>die</strong>se Patienten kommen<br />

unter <strong>die</strong> Räder bzw. ihre<br />

Angehörigen bzw. <strong>die</strong> Institutionen,<br />

welche sie dann<br />

übernehmen müssen. Meiner<br />

Meinung nach ist <strong>die</strong>s alles<br />

eine Spiegelfechterei. Die<br />

Leute, <strong>die</strong> scheinbar genau<br />

wissen, wie es geht, <strong>die</strong>se<br />

sollten mal mitkommen <strong>und</strong><br />

zuschauen wie es auf einer<br />

Visite zu <strong>und</strong> her geht.<br />

Welch arme Menschen man da<br />

zu Gesicht kriegt. Beispielsweise<br />

schreibt einem<br />

das DRG bei einer Lungenentzündung<br />

<strong>die</strong> Entlassung<br />

nach fünf Tagen vor. Wenn<br />

eine 80-jährige Person, <strong>die</strong><br />

alleine zuhause lebt, mit<br />

einer Lungenentzündung<br />

kommt, so kann man <strong>die</strong>se<br />

Person nicht einfach nach<br />

fünf Tagen nach Hause schicken.<br />

In <strong>die</strong>sem Falle würde<br />

sie nach ein paar wenigen<br />

Tagen mit einer anderen<br />

Krankheit wiederkehren.<br />

Dies wird nie funktionieren,<br />

<strong>die</strong>s wird das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

nur noch teurer<br />

machen <strong>und</strong> nicht billiger.<br />

Die Idee alle kleinen Krankenhäuser<br />

zu schliessen, es<br />

wird doch nirgends solch<br />

vernünftige Medizin getätigt<br />

wie in einem kleinen<br />

Spital. Ich habe einfach<br />

den Verdacht, <strong>die</strong>s ist aber<br />

rein emotional, ich habe<br />

kein Fachwissen darüber,<br />

dass das Ganze auf zahlreichen<br />

ges<strong>und</strong>heitspolitischen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Absichten<br />

basiert. Es gibt ja anscheinend<br />

so viele Menschen,<br />

<strong>die</strong> genau wissen,<br />

wie Spitäler zu organisieren<br />

wären, <strong>die</strong> anscheinend<br />

wissen, wie es funktioniert.<br />

Es liegt doch im<br />

Interesse <strong>die</strong>ser Leute,<br />

dass es noch mehr zu tun<br />

gibt, dass noch mehr Ges<strong>und</strong>heitspolitikerintegriert<br />

werden. Das geht für<br />

mich einfach nicht auf.<br />

– Wer sind Ihrer Meinung<br />

nach <strong>die</strong> Leidtragenden? Die<br />

Patienten?<br />

Beat U. – Unter dem Strich<br />

sind es <strong>die</strong> Patienten. Ja.<br />

Natürlich haben auch wir<br />

mehr Arbeit, wir müssen uns<br />

mit den DRG auseinanderset-<br />

223


zen, wir müssen Patienten<br />

aus dem Spital hinauskicken.<br />

Aber derjenige, welcher<br />

am Schluss wirklich<br />

<strong>die</strong> Zeche bezahlt, ist der<br />

Patient.<br />

– Haben Sie das Gefühl,<br />

dass sich <strong>die</strong> Politik <strong>des</strong>sen<br />

nicht bewusst ist?<br />

Beat U. – Natürlich sind<br />

sie sich <strong>des</strong>sen bewusst.<br />

Aber sie wollen doch wiedergewählt<br />

werden. Keiner<br />

<strong>die</strong>ser Politiker würde doch<br />

zu einem Patienten hingehen<br />

<strong>und</strong> ihm sagen: „Hey, es<br />

wird nicht besser, es wird<br />

schlechter.“ Dann würden<br />

sie doch nicht wiedergewählt,<br />

oder?<br />

– Das ist wohl so. (Stille)<br />

Letzte Frage: Würden Sie<br />

<strong>die</strong>sen<br />

wählen?<br />

Beruf noch einmal<br />

Beat U. – (Stille) Nein.<br />

– Dann liegt <strong>die</strong> nächste<br />

Frage auf der Hand. Was ist<br />

der Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong>ses Nein?<br />

Beat U. – Einfach, von 1981<br />

bis vor zwei Jahren, habe<br />

ich nur für <strong>die</strong> Medizin<br />

224<br />

gelebt. Gut, ich habe alles<br />

für meine Familie gemacht,<br />

ich habe vier Kinder. Aber<br />

ich habe nichts für mich<br />

gemacht. Ich würde was anderes<br />

machen, was komplett<br />

anderes machen, ich würde<br />

aufs Konservatorium gehen.<br />

– Musiker?<br />

Beat U. – Ja.<br />

– Pianist?<br />

Beat U. – Nein, nein, Gitarrist.<br />

Ich spiele Gitarre<br />

zum Leidwesen meiner Mitbewohner.<br />

– Das kann ich mir aber nun<br />

nicht vorstellen ...<br />

Beat U. – Nein, ich würde<br />

so etwas probieren. Heute<br />

nach 25 Jahren ist mir <strong>die</strong>s<br />

nun klar.<br />

– Weil Sie keine Zeit für<br />

sich hatten. Eigentlich hat<br />

es also nichts mit der Faszination<br />

für den Beruf an<br />

sich zu tun?<br />

Beat U. – Das ist nicht der<br />

Punkt. Aber es gibt da einfach<br />

noch was anderes.


– So sind wir eigentlich am<br />

Ende unseres Interviews<br />

angelangt. Ich bedanke mich<br />

recht<br />

Zeit.<br />

herzlich für Ihre<br />

Beat U. – Das ist gerne<br />

geschehen.<br />

(Aufnahme wird beendet, an<br />

der Haltung von Beat U.<br />

wird deutlich, dass ihm<br />

noch etwas auf der Zunge<br />

brennt, das Aufnahmegerät<br />

wird erneut eingestellt.<br />

Beat U. weist daraufhin,<br />

dass eine wichtige Thematik<br />

noch nicht angesprochen<br />

wurde.)<br />

– Ich lasse mich sehr gerne<br />

belehren ...<br />

Beat U. – Nein, nein, ich<br />

möchte Sie nicht belehren.<br />

„Heute haben <strong>die</strong> Ärzte in<br />

ihrem fachlichem Bereich<br />

Kompetenz <strong>und</strong> Autonomie, in<br />

allen anderen Bereichen,<br />

<strong>die</strong> zum operativen Tätigkeitsfeld<br />

beitragen <strong>und</strong><br />

auch wichtig sind, nehmen<br />

sie im besten Falle eine<br />

Alibi-Rolle ein.“<br />

– bzw. darauf hinweisen.<br />

Beat U. – Als ich Assistent<br />

war, waren meine Chefs noch<br />

<strong>die</strong> Chefs. Ihr Wort hat<br />

gegolten, hatte Gewicht.<br />

Sie hatten nicht nur operativ<br />

also am Patienten was<br />

zu sagen, auch bei der<br />

strategischen Ausrichtung<br />

hatten sie das gewichtigste<br />

Wort. Sie waren auch Unternehmer<br />

<strong>und</strong> haben <strong>die</strong> Spitalpolitik<br />

wesentlich beeinflusst.<br />

Heute haben <strong>die</strong><br />

Ärzte in ihrem fachlichen<br />

Bereich Kompetenz <strong>und</strong> Autonomie,<br />

in alle anderen Bereichen,<br />

<strong>die</strong> zum operativen<br />

Tätigkeitsfeld beitragen<br />

<strong>und</strong> auch wichtig sind, nehmen<br />

sie im besten Falle<br />

eine Alibi-Rolle ein. Bezugnehmend<br />

auf ihre Frage<br />

hinsichtlich der Mehrarbeit<br />

nach dem Zusammenschluss.<br />

Sie werden heute als Chefarzt<br />

in multiple Gremien<br />

<strong>und</strong> langfädige Strategie-<br />

Sitzungen hinein geholt, wo<br />

sie aber quasi als Alibi<br />

<strong>die</strong>nen. Sie haben aber keine<br />

Chance <strong>die</strong> Strategie in<br />

225


eine Richtung mitzubestimmen,<br />

welche für <strong>die</strong> fachliche<br />

Ausrichtung von Bedeutung<br />

wäre. Die spitalpolitische<br />

Strategie oder Ausrichtung<br />

kann durch den<br />

Chefarzt nicht mehr mitbestimmt<br />

werden, sie wird dem<br />

Chefarzt vollkommen aus den<br />

Händen entfernt.<br />

– Wer entscheidet heute<br />

über solche strategischen<br />

Fragen?<br />

Beat U. – Teilweise der<br />

CEO. Bei uns ist es der<br />

Spitalrat.<br />

– Dazu gehören aber mehrheitlich<br />

keine Ärzte, oder<br />

wie ist das?<br />

Beat U. – Genau. Früher war<br />

es der Ges<strong>und</strong>heitsdirektor<br />

<strong>des</strong> Kantons, der meistens<br />

auch kein Arzt war. Dieser<br />

hat aber zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt<br />

oft <strong>die</strong> Entscheidungen<br />

bestätigt, <strong>die</strong> an ihn<br />

nach der <strong>Chefärzte</strong>konferenz<br />

herangetragen wurden. Was<br />

auch heute typisch ist, ist<br />

<strong>die</strong> Tatsache, dass <strong>die</strong><br />

<strong>Chefärzte</strong>konferenz einem<br />

Plauderclub gleicht, der<br />

226<br />

keine Entscheidungskompetenz<br />

mehr besitzt.<br />

„Als Arzt besteht mein Ziel<br />

darin, den Patienten gut<br />

<strong>und</strong> effektiv zu behandeln.“<br />

– Welche Gefahren bestehen,<br />

wenn Personen entscheiden,<br />

<strong>die</strong> keine medizinische<br />

Fachkompetenz besitzen?<br />

Beat U. – Bei den Ärzten<br />

führt <strong>die</strong>s zu Frust. Als<br />

Arzt besteht mein Ziel darin,<br />

den Patienten gut <strong>und</strong><br />

effektiv zu behandeln. Die<br />

Patientenströme sollen effektiv<br />

behandelt werden.<br />

Viele der strategischen<br />

Entscheide, <strong>die</strong> unter anderem<br />

auch auf Gewinnoptimierung<br />

ausgerichtet sind,<br />

tragen unserem Handeln keine<br />

Rechnung. Wenn ein Patient<br />

zu mir kommt, dann<br />

überlege ich <strong>und</strong> stelle<br />

eine Diagnose. Dies bringt<br />

dem Spital keine grossen<br />

Einnahmen ein. Vielleicht<br />

CHF 150.-. Aber sie realisieren<br />

nicht, dass ich


eventuell eine Diagnose<br />

stelle, Dank der, der Chirurg<br />

im gleichen Haus einen<br />

Eingriff vornehmen kann.<br />

Alle <strong>die</strong>se Vernetzungen<br />

begreifen sie nicht. Die<br />

fachlichen Aspekte werden<br />

nicht berücksichtigt. Wenn<br />

eine Abteilung beispielsweise<br />

nicht rentiert, dann<br />

schliesst man sie. Vielleicht<br />

ist <strong>die</strong>s aber genau<br />

<strong>die</strong>jenige Abteilung, <strong>die</strong><br />

für alle anderen eine<br />

Dienstleistung erbringt.<br />

Eine Intensivstation<br />

schreibt grosse Defizite<br />

<strong>und</strong> ist nicht attraktiv für<br />

ein Spital. Dennoch benötigt<br />

je<strong>des</strong> Spital eine Intensivstation,<br />

da ohne <strong>die</strong>se<br />

keine grössere Operation<br />

möglich ist. Ohne eine solche<br />

Station sterben <strong>die</strong><br />

Patienten. Dies sind ein<br />

paar einfache Beispiele,<br />

welche einfach nicht berücksichtigt<br />

werden. So<br />

denken gewisse Leute, ach<br />

der <strong>und</strong> der, das sind gute<br />

Chirurgen, um sie zu halten<br />

oder zu gewinnen bezahlen<br />

wir ihnen einfach ein höheres<br />

Salär <strong>und</strong> kürzen es bei<br />

denjenigen, welche lediglich<br />

Dienstleister sind. So<br />

wird vom leistungsorientierten<br />

Lohn gesprochen.<br />

Der Arzt wird mit Bonus <strong>und</strong><br />

Malus folglich wie ein Banker<br />

behandelt. Wir sprechen<br />

hier von wenig Geld. Der<br />

Betrag macht 5-10% vom Lohn<br />

aus. Man macht aber vieles<br />

damit kaputt, also <strong>die</strong> Zusammenarbeit,<br />

<strong>die</strong> Teammitarbeit<br />

<strong>und</strong> natürlich auch<br />

<strong>die</strong> eigene Identifizierung<br />

mit dem Spital. Die Herren<br />

machen sich darüber keine<br />

Gedanken.<br />

– Trifft man ein solches<br />

Vorgehen vor allem in einem<br />

öffentlichen Spital an oder<br />

trifft man <strong>die</strong>s auch in<br />

Privatspitälern an?<br />

Beat U. – Ich glaube schon,<br />

dass man <strong>die</strong>s auch in Privatspitälern<br />

antrifft. Was<br />

ich aber so kenne <strong>und</strong><br />

weiss, so werden <strong>die</strong> Leiter<br />

der Abteilung wesentlich<br />

mehr mit einbezogen <strong>und</strong><br />

können sagen, was sie wollen.<br />

Müssen aber höchstwahrscheinlich<br />

auch Verantwortung<br />

übernehmen, wenn es<br />

227


nicht so herauskommt, wie<br />

man gehofft hat.<br />

– Würden Sie eine solche<br />

Verantwortung übernehmen,<br />

wenn Sie mehr Mitspracherecht<br />

hätten?<br />

Beat U. – Ja, klar. Ich<br />

weiss ja, was funktioniert.<br />

Wenn Sie so lange im Geschäft<br />

sind, so wissen Sie<br />

doch, wohin der Patient<br />

geht, wohin gehen <strong>die</strong> Ströme,<br />

wie viele Taxpunkte<br />

<strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes bringt. Das<br />

weiss man ja.<br />

– Weshalb sitzen heute Ökonomen<br />

an der Entscheidungsspitze<br />

<strong>und</strong> nicht Ärzte?<br />

Beat U. – Wir stellen uns<br />

auch stetig <strong>die</strong> gleiche<br />

Frage. Ein Gr<strong>und</strong> mag schon<br />

sein, dass sich relativ<br />

wenig Ärzte darum gekümmert<br />

haben. Die Patrons, <strong>die</strong><br />

alles selber machten, gibt<br />

es nicht mehr.<br />

„Das würde bedeuten: im<br />

Spital leben, für das Spital<br />

leben. L’hôpital c’est<br />

moi.“<br />

228<br />

– Weshalb<br />

nicht mehr?<br />

gibt es <strong>die</strong>se<br />

Beat U. – Das würde bedeuten:<br />

im Spital leben, für<br />

das Spital leben. L’hôpital<br />

c’est moi. Diese Ärzte sind<br />

dann das Spital. Diese<br />

Macht <strong>und</strong> Kompetenzfülle<br />

gibt es heute nicht mehr.<br />

„... ob <strong>die</strong>se Leute am<br />

liebsten ein Spital ohne<br />

Ärzte <strong>und</strong> Patienten haben<br />

möchten.“<br />

– Höchstwahrscheinlich ist<br />

<strong>die</strong>s auch ein gewisser<br />

Schutzmechanismus.<br />

Beat U. – Das ist bestimmt<br />

richtig. Das ist ja auch<br />

gut. Ich sage ja lediglich,<br />

dass es heute schon ganz<br />

anders ist. Wenn strategische<br />

Entscheide gefällt<br />

werden, <strong>die</strong> man von der<br />

operativen <strong>und</strong> fachlichen<br />

Ebene aus nicht versteht,<br />

dann fragt man sich schon,<br />

ob <strong>die</strong>se Leute am liebsten<br />

ein Spital ohne Ärzte <strong>und</strong><br />

Patienten haben möchten.<br />

Das ist ein grosser Wandel.


Die <strong>Ökonomisierung</strong> auch<br />

innerhalb der Leitung ist<br />

etwas ganz Neues. Wenn alle<br />

<strong>Chefärzte</strong> so frustriert<br />

sind, dass sie beginnen<br />

Dienst nach Vorschrift zu<br />

tätigen, so laufen wir auf<br />

einen ähnlichen Zustand<br />

hin, wie er heute in England<br />

herrscht. Dahin werden<br />

wir gestossen.<br />

– In England ist eine solche<br />

Tendenz zu erkennen?<br />

Beat U. – Im NHS haben Sie<br />

Ihre Stelle <strong>und</strong> einen Lohn,<br />

der relativ gering ist. Als<br />

Assistent ver<strong>die</strong>nen Sie<br />

etwa einen Viertel <strong>des</strong> Lohnes<br />

unserer Assistenten.<br />

Dann sagen Sie sich doch,<br />

ich arbeite so viel, wie<br />

ich muss and that’s it.<br />

Weshalb mehr? Weshalb am<br />

Wochenende vorbeischauen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes vorbereiten<br />

<strong>und</strong> machen?<br />

– Wenn ich nicht mehr ver<strong>die</strong>ne<br />

für meine Mehrarbeit<br />

...<br />

Beat U. – Genau in eine<br />

solche Richtung gehen wir.<br />

– Mehr Mitspracherecht zu<br />

erhalten, stellt einen Anreiz<br />

dar, ist <strong>die</strong>s richtig<br />

so?<br />

Beat U. – Absolut.<br />

„Aber das ist doch normal,<br />

das ist doch in jeder Gesellschaft<br />

so, man wird<br />

entweder durch das Geld<br />

oder <strong>die</strong> Macht motiviert.“<br />

– So würden Sie sich beispielsweise<br />

folgendermassen<br />

äussern: <strong>die</strong> Ärzte in der<br />

Privatklinik ver<strong>die</strong>nen wohl<br />

mehr, aber ich wäre hier<br />

wesentlich mehr motiviert,<br />

wenn ich mehr Mitspracherecht<br />

erhalten würde?<br />

Beat U. – Da könnte ich<br />

Ihnen einige Namen nennen.<br />

Aber das ist doch normal,<br />

das ist doch in jeder Gesellschaft<br />

so, man wird<br />

entweder durch das Geld<br />

oder <strong>die</strong> Macht motiviert.<br />

Da gibt es noch ein paar,<br />

<strong>die</strong> etwas dazwischen sind.<br />

Und <strong>die</strong>s ist bei den Ärzten<br />

genau gleich wie bei allen<br />

229


anderen auch.<br />

– Legt man heute auf den<br />

monetären Faktor mehr Wert?<br />

Beat U. – Was soll ich nun<br />

sagen. Wenn ich heute betrachte,<br />

wie viel ich arbeite<br />

<strong>und</strong> mich mit einem<br />

Chefarzt vergleiche, der<br />

vor zwanzig Jahren tätig<br />

war, so kann ich heute gut<br />

sagen, dass ich wesentlich<br />

mehr arbeite als derjenige<br />

vor zwanzig Jahren <strong>und</strong> mich<br />

mit wesentlich mehr Sachen<br />

auseinandersetzen muss <strong>und</strong><br />

halb so viel ver<strong>die</strong>ne. Der<br />

monetäre Faktor kann in der<br />

Folge nicht so genial sein.<br />

Deshalb fällt einem der<br />

Schritt weg zu gehen auch<br />

leichter.<br />

230<br />

– Sie meinen, wenn man mit<br />

der Situation konfrontiert<br />

werden würde, an einem Privatspital<br />

besser ver<strong>die</strong>nen<br />

zu können?<br />

Beat U. – Diejenigen, welche<br />

sich auf das Geld ausrichten,<br />

werden <strong>die</strong>sen<br />

Schritt bestimmt tätigen.<br />

Folglich wird <strong>die</strong> Schere<br />

immer<br />

hen.<br />

mehr auseinanderge-<br />

– Das war ein sehr interessanter<br />

Faktor.<br />

Beat U. – Und Sie schreiben<br />

nun eine Dissertation darüber?<br />

– Genau.<br />

4.2 Bernard S. − „Möglichst schnell <strong>und</strong> möglichst viel ...“<br />

4.2.1 Der Rückkehrer − Porträt eines Leitenden Arztes<br />

Das nachfolgend protokollierte <strong>und</strong> analysierte Gespräch mit Bernard S. nimmt<br />

im Rahmen <strong>die</strong>ser Stu<strong>die</strong> eine hervorragende Stellung ein. In allen anderen<br />

Interviews kamen Gesprächspartner zu Wort, <strong>die</strong> entweder den Lockrufen der<br />

privaten Ges<strong>und</strong>heitsanbieter trotzten <strong>und</strong> dem öffentlichen Krankenhauswesen<br />

treu blieben (<strong>die</strong> sogenannten Stayer) oder aber <strong>die</strong>sem den Rücken kehrten<br />

<strong>und</strong> den Rufen folgten (<strong>die</strong> sogenannten Leaver). Im letzten Falle war aber <strong>die</strong><br />

Mobilität immer eine Einbahnstrasse, <strong>die</strong> vom öffentlichen in den privaten<br />

Sektor führte, was zunächst <strong>die</strong> Idee einer irreversiblen Verlaufslogik zeitge-


nössischer, berufsbiographischer Flugbahnen bei hochqualifizierten Kranken-<br />

hausärzten nahelegen könnte. Umgekehrt schien eine solche Mobilität ja auch<br />

kaum denkbar, denn <strong>die</strong> privaten Spitäler bilden kaum Assistenzärzte aus,<br />

sondern überlassen <strong>die</strong> Reproduktion den öffentlichen Krankenhäusern <strong>und</strong><br />

deren Kosten der öffentlichen Hand. Nun wird eine Person betrachtet, <strong>die</strong> zwar<br />

den Weg hin zum marktbestimmten Sektor ging, nach kurzer Zeit aber wieder<br />

den Rückweg in den öffentlichen Bereich antrat.<br />

Bernard S. gehört folglich zu den wenigen Ärzten, <strong>die</strong> den Weg auch in umge-<br />

kehrter Richtung vollzogen haben. Er kann somit als Ausnahmefigur bezeich-<br />

net werden, da er den Schritt aus der öffentlich reglementierten, für jedermann<br />

zugänglichen Ges<strong>und</strong>heitsversorgungsinstitution in einen neuen, marktwirtschaftlich<br />

orientierten <strong>und</strong> selektiv zugänglichen Betrieb wagte, <strong>die</strong>sen aber<br />

nach wenigen Monaten bereute <strong>und</strong> <strong>des</strong>illusioniert ins öffentliche Krankenhaus<br />

zurückkehrte. Die Gründe, <strong>die</strong> der Entscheidung für den Weggang aus dem<br />

öffentlichen Spital ins Privatspital <strong>und</strong> anschliessend wieder zurück vorangingen,<br />

schienen nicht monetärer Natur gewesen zu sein, sondern rührten aus<br />

einer Frustration, <strong>die</strong> massgeblich durch eine Degra<strong>die</strong>rung seiner hierarchischen<br />

Position innerhalb der öffentlichen Institution hervorgerufen wurde. Die<br />

Spitalhierarchie, der Umgang, der innerhalb <strong>des</strong> Ärzteteams <strong>und</strong> zwischen dem<br />

Team <strong>und</strong> der Geschäftsleitung gepflegt wurde, sowie <strong>die</strong> qualitativen Unterschiede<br />

in Bezug auf <strong>die</strong> Behandlungsmethoden führten bei Bernard S. offensichtlich<br />

zu Frustrationen, welchen er mit einem Wechsel in eine Privatklinik zu<br />

entkommen erhoffte <strong>und</strong> versuchte. Am Privatspital traf er auf ein erhöhtes<br />

<strong>und</strong> den Alltag massiv beeinträchtigen<strong>des</strong> Konkurrenzverhalten, das zwischen<br />

den unterschiedlichen Fachzentren, aber auch innerhalb der Zentren herrschte,<br />

auf einen ärztlichen Habitus, der sich zusehends demjenigen <strong>des</strong> homo oeconomicus<br />

anglich, <strong>und</strong> auf eine gegen aussen propagierte, aber nicht gelebte<br />

Spitalstruktur. Alle <strong>die</strong>se Faktoren führten dazu, dass er nach wenigen Monaten<br />

das Privatspital wieder verliess. Bernard S. durchlief einen Prozess der<br />

Desillusionierung <strong>und</strong> der Entzauberung, der ihn sowohl im öffentlichen als<br />

auch im privaten Krankenhaus vom Insider zum Outsider werden liess. Die<br />

Entscheidungen, <strong>die</strong> bewirkten, dass er <strong>die</strong> beiden Spitäler wieder verliess, traf<br />

er bewusst <strong>und</strong> überlegt, <strong>und</strong> dennoch musste er sie wieder rückgängig machen,<br />

wodurch sich kein logisches Muster hinsichtlich seiner beruflichen Laufbahn<br />

ergibt. Er blickt heute entzaubert auf beide Welten <strong>und</strong> scheint sichtlich<br />

231


froh darüber zu sein, dass er den Schritt zurück ins öffentliche Spital geschafft<br />

hat.<br />

Bevor er den Schritt ins Privatspital vollzog, hatte Bernard S. im öffentlichen<br />

Spital <strong>die</strong> Position <strong>des</strong> Leitenden Arztes inne. Mit dem Wechsel billigte er <strong>die</strong><br />

vertraglich vereinbarte Position <strong>des</strong> Assistenzarztes im Privatspital. Diese hierarchische<br />

Degra<strong>die</strong>rung musste er akzeptieren, da er keine Praxisbewilligung<br />

für den Kanton, in welchem sich <strong>die</strong> Privatklinik befand, erhielt. Dieser Laufbahnbruch<br />

bewirkte, dass er seine Position als Leitender Arzt verlor, wobei<br />

hinzugefügt werden muss, dass ihm im öffentlichen Spital kurz vor seinem<br />

Weggang ein Chefarztposten angeboten worden war, den er aber ablehnte. Auf<br />

<strong>die</strong> hierarchische Degra<strong>die</strong>rung auf einen Assistenzarztposten im Privatspital<br />

folgte <strong>die</strong> heutige Teilzeitstelle als Leitender Arzt, <strong>die</strong> er gerne als Vollzeitstelle<br />

angetreten hätte. Hierarchisch betrachtet, spielt er heute wieder in derselben<br />

Liga wie damals am ersten Kantonsspital, wo er zehn Jahre tätig war, wobei er<br />

vermutlich nicht mehr so rasch in den Genuss eines weiteren Chefarztpostens<br />

kommen wird, was auch mit seinem bewussten Feldwechsel zusammenhängt.<br />

Bernard S. scheint aber einen solchen Posten auch nicht anzustreben, was in<br />

einem der folgenden Abschnitte ausführlicher erläutert wird. Von den Institutionen<br />

<strong>und</strong> ihrer Trägerschaft her betrachtet, sind <strong>die</strong> beiden angesprochenen<br />

Ligen aber sehr verschieden. Dass <strong>die</strong>s zu Ausgrenzung <strong>und</strong> Stigmatisierung<br />

<strong>des</strong> Leavers führt, <strong>des</strong>jenigen also, der <strong>die</strong> öffentliche Institution für eine private<br />

<strong>und</strong> viceversa verlässt, hat Bernard S. am eigenen Leibe erfahren müssen.<br />

Bernard S. ist kein Erbe einer Ärztedynastie, sein Vater war Handwerker, <strong>und</strong><br />

er selber entdeckte sein Interesse für <strong>die</strong> Medizin erst später. Wirtschaftsgeschichte<br />

<strong>und</strong> Islamwissenschaften stellten während zwei Jahren seine ersten<br />

Stu<strong>die</strong>nrichtungen dar. Die Materie war ihm jedoch nach eigenen Aussagen zu<br />

trocken, weshalb er sich nach einer „Initialzündung“ für das Medizinstudium<br />

entschied. Die Zündung entfachte sich während eines Spitalpraktikums,<br />

das er im Laufe seines Militär<strong>die</strong>nstes in der Sanitätsrekrutenschule absolvierte.<br />

Die Medizinstudenten, <strong>die</strong> er während seines Dienstes kennenlernte, hinterliessen<br />

bei ihm das Bild eines stolzen, fast schon elitären Studenten, mit welchem<br />

er sich messen wollte, wodurch er gleichzeitig nach einer Legitimation für sein<br />

Handeln <strong>und</strong> nach einer Selbstbestätigung suchte: „... bei <strong>die</strong>sen Kollegen,<br />

<strong>die</strong> ich dort kennengelernt habe, habe ich mir gesagt,<br />

doch das würde ich auch schaffen.“ Er betont, dass er ein<br />

232


mittelmässiger Schüler war, dass er sich der durch das Medizinstudium von<br />

ihm geforderten Leistung voll <strong>und</strong> ganz bewusst war <strong>und</strong> dass er sich <strong>die</strong>ser<br />

Herausforderung gewachsen fühlte. Die ersten zwei Stu<strong>die</strong>njahre empfand er<br />

als sehr streng <strong>und</strong> als ein klares Auswahlverfahren, dem sich damals jeder<br />

stellen musste, was auch heute nicht anders zu sein scheint. Die Faszination, <strong>die</strong><br />

ihn bewog, Medizin zu stu<strong>die</strong>ren, bestand aus dem Glauben <strong>und</strong> der Hoffnung,<br />

dass man als Arzt ein greifbares Resultat erzielen <strong>und</strong> erkennbare Verbesserun-<br />

gen herbeiführen könne. So wie bei Beat U. stellten auch bei Bernard S. <strong>die</strong><br />

Leistungsorientierung <strong>und</strong> das der ärztlichen Berufsethik zugr<strong>und</strong>eliegende<br />

Bestreben, Genesung für jedermann zu erzielen, <strong>die</strong> beiden treibenden Motive<br />

dar, <strong>die</strong> bei beiden Personen deutlich intrinsisch hervorgerufen wurden. Für<br />

sein Spezialgebiet entschied er sich aus einem gewissen Pragmatismus heraus;<br />

er legte sich auf ein Fachgebiet innerhalb der Chirurgie fest, da er handwerklich<br />

begabt war. Nach seinem Studium wurde er an verschiedenen Spitälern stark<br />

gefördert, was er explizit als Bereicherung empfand. Der leistungsorientierte<br />

Habitus von Bernard S. lässt sich ansatzweise in folgender Aussage erkennen:<br />

„Diese Stelle war eine sehr gute Stelle, ich wurde auch<br />

dort gefördert <strong>und</strong> es war sehr streng.“ Das Erbringen einer medizinisch<br />

<strong>und</strong> qualitativ hochstehenden Leistung stand im Zentrum seines<br />

Bestrebens. Natürlich wollte er auch eine gewisse Position innerhalb der Spitalhierarchie<br />

erreichen, in erster Linie aber war er am Wissen, das er sich aneignen<br />

konnte <strong>und</strong> wollte, interessiert. Er war sich im Klaren darüber, dass er für seine<br />

Bestrebungen auch zeitliche Opfer leisten musste, weshalb massgeblich seine<br />

Freizeit, <strong>die</strong> er gerne mit seiner Familie verbrachte hätte, darunter litt. Einen<br />

kurzen Einblick in <strong>die</strong> allzeitige <strong>und</strong> allörtliche Erreichbarkeit kommentiert<br />

Bernard S. wie folgt: „Ich war es mir gewohnt, dass ich r<strong>und</strong> um<br />

<strong>die</strong> Uhr erreichbar bin oder auch einen Einsatz aus der<br />

Freizeit, aus den Ferien haben kann, ich war mir <strong>die</strong>s aus<br />

meiner früheren Tätigkeit gewohnt gewesen.“ Bernard S. zieht<br />

immer wieder Vergleiche zwischen seiner Studentenzeit <strong>und</strong> dem heutigen<br />

Medizinstudium, wobei nicht nur <strong>die</strong> Tatsache, dass er als Leitender Arzt in<br />

einem öffentlichen Spital auch Assistenzärzte ausbildete, sondern auch der<br />

Umstand, dass seine Tochter das Medizinstudium absolviert, ihn dazu befähigen<br />

<strong>und</strong> berechtigen. Durch den Gedankenaustausch mit ihr erfährt er eine<br />

zusätzliche Einsicht in <strong>die</strong> Ausbildung der heutigen, jungen Ärztegeneration.<br />

Im Gegensatz zu ihrem Vater wird sie eine Erbin sein, <strong>die</strong> das inkorporierte<br />

233


ärztliche Berufsethos seit Kin<strong>des</strong>beinen an in der Figur ihres Vaters erfahren<br />

konnte.<br />

In Bezug auf <strong>die</strong> Aufstiegsmöglichkeiten bestätigt Bernard S., dass eine deutli-<br />

che Abhängigkeit <strong>des</strong> Assistenzarztes bzw. Oberarztes vom Leitenden Arzt<br />

bzw. Chefarzt besteht, was sich beispielsweise anhand der Möglichkeiten in<br />

Bezug auf Weiterbildung oder Aufstiegschancen, <strong>die</strong> einem vom Vorgesetzten<br />

geboten werden oder eben nicht, erkennen lässt. Heute seien <strong>die</strong> Ärzte aber<br />

wesentlich flexibler <strong>und</strong> mobiler als früher, was dazu führe, dass <strong>die</strong>jenigen<br />

Ärzte, <strong>die</strong> in einer gewissen Position nicht weiterkommen bzw. nicht aufsteigen<br />

oder sich nicht weiterbilden können, entweder im Inland das Spital wechseln<br />

oder ins Ausland gehen. Für <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en-Woche hegt Bernard S. kein Verständnis<br />

<strong>und</strong> bezeichnet <strong>die</strong>se gesetzliche Regelung der Arbeitszeit der Assistenzärzte<br />

als „(…) absolute Katastrophe“. Er selber würde sich lieber von<br />

einem übermüdeten als von einem unerfahrenen Arzt operieren lassen. Seine<br />

Aussage steht beispielhaft für zahlreiche seiner Kollegen, <strong>die</strong> im selben Fachgebiet<br />

wie er tätig <strong>und</strong> <strong>die</strong> wie Bernard S. der Überzeugung sind, dass ein junger<br />

Arzt mit einem gesetzlich regulierten Zeitlimit keine Chance hat, in einem vernünftigen,<br />

zeitlichen Rahmen sein Studium zu absolvieren <strong>und</strong> <strong>die</strong> von ihm<br />

geforderte Erfahrung zu erlangen. Gleichzeitig spricht er als Vertreter der vorhergehenden<br />

Ärztegeneration, der „alten Schule“, für <strong>die</strong> <strong>die</strong> 100-St<strong>und</strong>en-<br />

Woche keine Ausnahme darstellte <strong>und</strong> <strong>die</strong> in Strukturen zu Medizinern heranwuchs,<br />

in welchen Begriffe wie Work-Life-Balance, Jobsharing oder Burnout<br />

noch nicht zum Vokabular gehörte <strong>und</strong> folglich <strong>die</strong> Konsequenzen <strong>die</strong>ser Tendenzen<br />

nicht eingefordert wurde. Hätte man sie ansatzweise eingefordert, indem<br />

beispielsweise Teilzeitstellen geschaffen worden wären, hätte man mit der<br />

Gefahr der Untergrabung eigener Chancen auf Aufstiegs- oder Weiterbildungsmöglichkeiten<br />

rechnen müssen. Die 50-St<strong>und</strong>en-Regelung scheint in<br />

Bernard S. das ungute Gefühl einer Fremdbestimmung <strong>und</strong> Entmachtung hervorzurufen,<br />

was folgende Aussage zum Ausdruck bringt: „Es gibt keinen<br />

Bauingenieur oder Elektroingenieur, der sich einer 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche unterwirft, wenn er eine Brücke oder irgendein<br />

Gebäude oder etwas anderes planen muss, dann arbeitet<br />

er Tag <strong>und</strong> Nacht. Der Mediziner scheint der einzige Akademiker<br />

zu sein, dem man irgendwie sagen muss, wie viele<br />

St<strong>und</strong>en er zu arbeiten hat. Das ist ein absoluter Nonsens.“<br />

Entmachtung meint er in dem Sinne, dass dem Arzt durch gesetzlich angeord-<br />

234


nete Arbeitshöchstzeiten <strong>die</strong> Fähigkeit abgesprochen wird, auch ohne solche<br />

extern oktroyierten Regelungen selbstständig seriöse, fachlich kompetente <strong>und</strong><br />

qualitativ herausragende Ges<strong>und</strong>heitsversorgung anzubieten. Die zeitliche<br />

Restriktion bewirkt aber auch, dass derjenige, der intrinsisch motiviert den<br />

Arztberuf gewählt hat <strong>und</strong> ihn auch als Berufung, ganz im Sinne einer inkorpo-<br />

rierten Tätigkeit, <strong>die</strong> in Körper <strong>und</strong> Geist übergeht, ausführen möchte, durch<br />

strukturelle Rahmenbedingungen fremdbestimmt <strong>und</strong> fremdgesteuert wird.<br />

Die biographische Flugbahn von Bernhard S. war eigentlich von Beginn an kein<br />

langer, ruhiger <strong>und</strong> geradliniger Fluss. Ende der Neunzigerjahre entschied er<br />

sich, <strong>die</strong> Stelle <strong>des</strong> Leitenden Arztes in einem kleineren Kantonsspital anzutreten,<br />

wobei sich rasch ein ungutes Gefühl in ihm bemerkbar machte, welches<br />

damit zusammenhing, dass er seinen Platz im neuen Team nicht fand <strong>und</strong> er<br />

sich folglich schlecht integrieren konnte <strong>und</strong> möglicherweise auch wollte. Solche<br />

„Integrationsprobleme“ scheinen seine gesamte Laufbahn zu begleiten.<br />

Bernard S. fühlte sich seinen Kollegen fachlich überlegen, was er auch unverbrämt<br />

betont <strong>und</strong> was auch den mangelnden Respekt ihnen gegenüber erklärt.<br />

Seinem Chef gegenüber verspürte er aber keine solchen Gefühle. Sein Unbehagen<br />

führte dazu, dass er sich bald nach dem Antritt <strong>die</strong>ser neuen Stelle nach<br />

einer Anstellung in einem Privatspital umsah. Mit einem ehemaligen Kollegen,<br />

den er als Übervater <strong>und</strong> Lehrmeister bezeichnet, hoffte er, eine Praxis in einem<br />

Privatspital eröffnen zu können. Dieser Schritt wurde einerseits durch sein<br />

Unbehagen in seinem damaligen Arbeitsumfeld hervorgerufen <strong>und</strong> andererseits<br />

durch <strong>die</strong> ihm gegenüber fehlende, entgegengebrachte Wertschätzung<br />

beispielsweise hinsichtlich der hohen zeitlichen Arbeitsbelastung. Die Pläne<br />

einer Praxis in einem Privatspital scheiterten jedoch, was Bernard S. irritierte<br />

<strong>und</strong> wofür er von Seiten <strong>des</strong> Privatspitals auch nie einen plausiblen Gr<strong>und</strong><br />

erhielt. Sein Lehrmeister liess sich daraufhin im öffentlichen Spital frühpensionieren,<br />

in welchem er eine prestigeträchtige Position innehatte, <strong>und</strong> das Privatspital<br />

entschied sich für einen anderen Kollegen. Bernard S. blieb insgesamt<br />

zehn Jahre in <strong>die</strong>sem damaligen Arbeitsumfeld am Kantonsspital tätig <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s, obwohl ihm das Umfeld von Anfang an sichtlich nicht behagte. Die Situation<br />

spitzte sich aber zu, als sich sein damaliger Vorgesetzter pensionieren liess<br />

<strong>und</strong> ihm seine Nachfolge als Chefarzt anbot. Der Chefarztposten ist nicht nur<br />

durch hohes Prestige gekennzeichnet, sondern stellt auch sehr oft eine Stelle auf<br />

Lebenszeit dar. Bernard S. nahm sich <strong>die</strong> Zeit, <strong>die</strong> er benötigte, um eine klare<br />

235


Abwägung zwischen dem Antreten oder Ablehnen der Stelle vornehmen zu<br />

können. Um einen Eindruck eines solch neuen <strong>und</strong> erweiterten Arbeitsfel<strong>des</strong><br />

gewinnen zu können, nahm er an Führungskursen <strong>und</strong> Seminaren teil, <strong>die</strong> mit<br />

seiner medizinischen Fachrichtung nichts gemein hatten. Die Angleichung<br />

seines ärztlichen Habitus an <strong>die</strong> Denk- <strong>und</strong> Handlungsweisen eines homo<br />

oeconomicus stand offensichtlich im Vordergr<strong>und</strong>. Schliesslich verzichtete er<br />

auf <strong>die</strong> ihm gebotene Chefarztstelle <strong>und</strong> teilte seinen Entscheid dem abtretenden<br />

Chefarzt per Brief mit. Sein Hauptargument beschrieb er folgendermassen:<br />

„Mein Hauptmotiv war, dass ich Arzt <strong>und</strong> Spezialist bleiben<br />

<strong>und</strong> nicht Management <strong>und</strong> Führung machen wollte <strong>und</strong> mich<br />

nicht mit <strong>die</strong>sen Leuten zusammentun mochte, <strong>die</strong> vernetzt<br />

<strong>und</strong> verbandelt waren <strong>und</strong> <strong>die</strong> Hierarchie unterminieren würden,<br />

einfach dadurch, da sie in <strong>die</strong>sem Spital persönlich<br />

vernetzt waren, was zu Seilschaften führte, innerhalb welcher<br />

man als Chef keine Chance hatte, <strong>die</strong>s irgendwie zu<br />

unterbinden.“ Mit seinem Entscheid <strong>und</strong> dem Brief an seinen damaligen<br />

Vorgesetzten wurde er zum Outsider stigmatisiert, da er <strong>die</strong> ihm von seinem<br />

Kollegen bzw. Vorgesetzten gebotene Möglichkeit der mit hohem Prestige <strong>und</strong><br />

angesehenem Status verb<strong>und</strong>enen Arbeitsstelle auf Lebenszeit ablehnte. Daraufhin<br />

war seine Meinung bei strategischen <strong>und</strong> vor allem auch operativen,<br />

spitalinternen Entscheiden, wie beispielsweise Personalentscheiden, nicht mehr<br />

gefragt <strong>und</strong> <strong>die</strong>s, obwohl er der stellvertretende Chefarzt bzw. Co-Chefarzt<br />

war. Diese Ausgrenzung bekam er deutlich zu spüren, als es darum ging, den<br />

frei werdenden Chefarztposten zu besetzen. Nicht nur er betrachtete seine<br />

offensichtliche Ausgrenzung, <strong>die</strong> massgeblich der Geschäftsleitung zuzuschreiben<br />

zu sein schien, als Affront, sondern auch <strong>die</strong> externen Kollegen, <strong>die</strong> er dank<br />

seines grossen Netzwerkes um Rat fragen konnte, waren empört über ein solches<br />

Vorgehen. Die Zusammenarbeit mit dem neuen Chefarzt gestaltete sich<br />

schwierig <strong>und</strong> veränderte sich auch im Laufe der Zusammenarbeit nicht, was<br />

unter anderem auf <strong>die</strong> fehlende Involvierung beim Auswahlprozess zurückzuführen<br />

war. Zusammenfassend führten <strong>die</strong> mangelnde Kollegialität im Team,<br />

<strong>die</strong> schwache Wertschätzung seiner Arbeit seitens der Direktion, <strong>die</strong> mindere<br />

Achtung, <strong>die</strong> er den Kollegen auf derselben Hierarchiestufe entgegenbrachte,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> fehlende Involvierung bei der Wahl eines neuen Vorgesetzten dazu,<br />

dass er sich nach einer neuen Arbeitsstelle umschaute <strong>und</strong> <strong>die</strong> Offerte eines<br />

Kollegen annahm, der ihm angeboten hatte, in <strong>des</strong>sen in einem Privatspital<br />

betriebenen Praxis einzusteigen. Nach zehnjähriger Tätigkeit im Kantonsspital<br />

236


<strong>und</strong> in einer Kaderfunktion als Leitender Arzt entschied sich Bernard S., das<br />

Angebot seines Kollegen anzunehmen.<br />

Da Bernard S. im entsprechenden Kanton keine Praxisbewilligung erhielt, wur-<br />

de er als Assistenzarzt eingestellt, was zur Folge hatte, dass sein Kollege kein<br />

gleichberechtigter Partner war, sondern zu seinem Vorgesetzten wurde.<br />

Dadurch dass sein Kollege ihm eine neue Herausforderung angeboten hatte<br />

<strong>und</strong> ihn in seine Praxisstruktur integrierte, übernahm <strong>die</strong>ser eine Bürgschaft für<br />

Bernard S. Diese verursachte vermutlich, dass sich der Kollege von ihm verraten<br />

fühlte, als Bernard S. das Privatspital wieder verliess. Zur Tatsache der<br />

hierarchischen Degra<strong>die</strong>rung äussert sich Bernard S. nur am Rande, was möglicherweise<br />

damit zusammenhängt, dass ihn <strong>die</strong>se positionsbezogene Entwertung<br />

seines Status als Leitender Arzt weniger belastete als angenommen. Im<br />

Arbeitsvertrag, den er mit seinem Kollegen abschloss, wurden <strong>die</strong> Höhe seiner<br />

Einnahmen <strong>und</strong> <strong>die</strong> von ihm zu generierenden Umsätze klar geregelt. An <strong>die</strong><br />

genauen Zahlen konnte sich Bernard S. nicht erinnern, das Erreichen <strong>die</strong>ser<br />

Zahlen stellte für ihn aber kein Problem dar. Bernard S. ver<strong>die</strong>nte ein Gehalt<br />

von brutto CHF 350‘000, was seines Erachtens ein Spitzengehalt darstelle. Vergleiche<br />

man sein Einkommen mit demjenigen eines Topbankers, so entspreche<br />

es möglicherweise nicht mehr einem Spitzengehalt. Diese Gegenüberstellung ist<br />

aber seines Erachtens auch nicht sinnvoll, weshalb auf einen Vergleich verzichtet<br />

werden sollte. Die Gehälter der Belegärzte seien vollständig leistungsabhängig,<br />

dementsprechend habe sich das Gehalt am generierten Umsatz orientiert:<br />

„Je mehr man umsetzt, umso höher ist der Profit.“<br />

Die romantische Vorstellung, <strong>die</strong> Bernard S. vom Alltag im Privatspital hatte,<br />

war nur von kurzer Dauer, wobei er zu Beginn seiner Tätigkeit vom neuen<br />

Berufsumfeld sehr angetan war, insbesondere von <strong>des</strong>sen internen Strukturen,<br />

den Kompetenzzentren <strong>und</strong> dem nach aussen hin gut funktionierenden, effizienten<br />

<strong>und</strong> loyalen Team. Seine Vorstellungen musste er jedoch nach kurzer<br />

Zeit revi<strong>die</strong>ren, da <strong>die</strong> Realität nach <strong>und</strong> nach ein ganz anderes Bild zum Vorschein<br />

brachte. Die Kollegen, <strong>die</strong> sich in unterschiedlichen, medizinischen Zentren<br />

gruppierten, wobei je<strong>des</strong> Zentrum ein klar definiertes, medizinisches Spezialgebiet<br />

vertrat, kommunizierten erst gar nicht mehr von Angesicht zu Angesicht,<br />

sondern zogen, in Anbetracht einer sehr konfliktgeladenen Beziehung, <strong>die</strong><br />

Kommunikation über Rechtsanwälte vor. Dieses Verhalten zeugte von einer<br />

237


geringen bis inexistenten Kollegialität, <strong>die</strong> das Berufsleben bestimmte, aber<br />

auch massiv beeinträchtigte, da der Dienst am Patienten immer stärker in den<br />

Hintergr<strong>und</strong> verbannt <strong>und</strong> den Konflikten eine übermässige Wichtigkeit zuge-<br />

standen wurde. Die Gründe, <strong>die</strong> sich hinter <strong>die</strong>ser scheinbar markanten Verhär-<br />

tung zwischen den einzelnen Zentren verbarg, waren gemäss Bernard S. sehr<br />

materialistischer bzw. ökonomischer Natur. Ein sogenannter Schlüssel, der<br />

bestimmte, welcher Arzt wie viel an <strong>die</strong> Fixkosten, <strong>die</strong> unter anderem Perso-<br />

nalkosten, Mietaufwände für <strong>die</strong> Büroräumlichkeiten <strong>und</strong> Werbekosten bein-<br />

halteten, beizutragen hatte, rief bei gewissen Arztkollegen Unmut hervor, da sie<br />

sich finanziell benachteiligt <strong>und</strong> demzufolge ungerecht behandelt fühlten. Ber-<br />

nard S. gibt unmissverständlich zum Ausdruck, dass das Geld der Ursprung<br />

der internen Streitereien darstellte. Der Kollege, der ihn aufforderte, ins Privat-<br />

spital zu kommen, kümmerte sich nach erfolgter Operation nicht um das Wohl<br />

<strong>des</strong> Patienten, sondern setzte sich sogleich an <strong>die</strong> Leistungserfassung. Dies<br />

entsprach einem Verhalten, das Bernard S. als äusserst befremdend empfand,<br />

<strong>und</strong> auch das medizinische Niveau der ärztlichen Tätigkeiten hatte ihn erschreckt.<br />

Obwohl <strong>die</strong> Qualität medizinischer Eingriffe einer stark subjektiven<br />

Beurteilung unterliegt, konnte <strong>und</strong> wollte er sich nicht mit dem Umstand arrangieren,<br />

dass <strong>die</strong> Generierung <strong>des</strong> eigenen Profits über dem Wohle <strong>des</strong> Patienten<br />

stand. Bernard S. verleiht seinem Unverständnis gegenüber <strong>die</strong>ser Art<br />

<strong>des</strong> beruflichen Selbstverständnisses mit folgenden Worten Ausdruck: „Es<br />

ist eine schöne Adresse, ein schönes Label, ein schönes<br />

Logo, aber in Tat <strong>und</strong> Wahrheit sind alle Einzelkämpfer <strong>und</strong><br />

versuchen für sich das Ganze zu optimieren <strong>und</strong> sorgen nicht<br />

für eine effiziente <strong>und</strong> optimale Behandlung der Patienten.“<br />

Die angesprochene Profitgenerierung korreliere gemäss Bernard S. mit der<br />

Gehaltsstruktur für Belegärzte am Privatspital, <strong>die</strong> auf einer fast ausschliesslichen<br />

leistungsabhängigen Besoldung basiert. Demzufolge besteht ein direkter<br />

Zusammenhang zwischen der Qualität <strong>und</strong> der Lohnstruktur, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s nach<br />

dem Prinzip: Umso höher <strong>die</strong> Anzahl an Behandlungen <strong>und</strong> umso kürzer <strong>die</strong><br />

Behandlungsdauer, <strong>des</strong>to mehr leidet <strong>die</strong> Qualität. Bernard S. war von der<br />

Qualität sichtlich enttäuscht, <strong>und</strong> das scheinbar herrschende Motto hörte sich<br />

folgendermassen an: „Möglichst schnell <strong>und</strong> möglichst viel ...“,<br />

wodurch der Qualitätsanspruch seitens der Ärzte auffallend an Bedeutung<br />

verlor.<br />

Bernard S. fühlte sich während der Tonbandaufnahme sichtlich unwohl, wes-<br />

238


halb das Gerät auf das Gesprächsende hin abgestellt wurde. Nachdem das<br />

Tonband ausgeschaltet war, sprach Bernard S. für einen kurzen Moment weiter,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s wesentlich freier als zuvor. Er schilderte, inwiefern heute <strong>die</strong>se klare<br />

Zuordnung der Ärzteschaft in zwei Gruppen vorgenommen werde, wobei <strong>die</strong><br />

Trägerschaft <strong>des</strong> Spitals das entscheidende Unterscheidungsmerkmal darstelle.<br />

Trete man demzufolge aus dem Kreis der an öffentlichen Spitälern tätigen Ärzteschaft<br />

aus <strong>und</strong> entscheide sich für eine berufliche Neuorientierung in einem<br />

Privatspital, so gehöre man nicht mehr demselben Kreis an, was einem von den<br />

im öffentlichen Spital tätigen Ärzten auch klar verdeutlicht werde. Dies könnte<br />

einem In-group-out-group-Prinzip entsprechen, welches sich auf beide Spitäler<br />

gleichermassen anwenden lässt. Verlässt man das eine, wird man im neuen<br />

Arbeitsumfeld zum Insider <strong>und</strong> im Rahmen der verlassenen Arbeitsumgebung<br />

zum Outsider. Diese Ausgrenzung erlebte Bernard S. am eigenen Leibe in zweifacher<br />

Hinsicht. Zum einen, als <strong>die</strong> Geschäftsleitung <strong>des</strong> Kantonsspitals von<br />

seiner Kündigung <strong>und</strong> Neuorientierung erfuhr <strong>und</strong> sein Entscheid, eine neue<br />

Stelle in einem Privatspital anzutreten, dem Team mitgeteilt wurde. Zum andern<br />

wurde ihm <strong>die</strong> Outsider-Rolle aber bereits vor seinem Austrittsentscheid<br />

zugeschrieben, wobei der Auslöser seine Absage bezüglich <strong>des</strong> ihm angebotenen<br />

Chefarztpostens darstellte. Bernard S. hatte sich, wie bereits erläutert, nach<br />

längerer Prüfung gegen <strong>die</strong>se Kaderstelle entschieden, da er Aufgaben hätte<br />

übernehmen müssen, <strong>die</strong> ihn zu stark von seiner eigentlichen ärztlichen Kerntätigkeit<br />

entfernt hätten <strong>und</strong> <strong>die</strong> in ihm ein spürbares Gefühl der Entkernung <strong>und</strong><br />

Entfremdung hervorriefen. Vor allem den „Seilschaften“, wie Bernard S. <strong>die</strong><br />

spitalinternen Netzwerke, <strong>die</strong> mehrheitlich aus den in der Verwaltungsebene<br />

tätigen Ökonomen <strong>und</strong> vermutlich auch vereinzelt aus <strong>Chefärzte</strong>n bestehen,<br />

wollte er nicht angehören. Der Missmut, den man dem Leaver entgegenbringt,<br />

entspringt nicht nur rein ethisch-moralischen Motiven <strong>und</strong> kann zweierlei<br />

Gründe haben, wobei vor allem <strong>die</strong> Vertreter der alten Schule, <strong>die</strong> oft auch Stu<strong>die</strong>nkollegen<br />

der abgewanderten <strong>und</strong> teils auch abgewandten Ärzte waren, in<br />

der Abwanderung einen klaren Verstoss gegen <strong>die</strong> berufsethischen Regeln<br />

sehen. Einerseits treten <strong>die</strong>jenigen Ärzte, <strong>die</strong> selber den Versuch der Abwanderung<br />

ins Auge gefasst haben, wegen fehlenden Mutes oder mangelnder Überzeugung<br />

aber den Schritt vom öffentlichen ans Privatspital noch nicht vollzogen<br />

haben, in eine Abwehrhaltung dem Leaver gegenüber. Diese Haltung legitimieren<br />

sie dadurch, dass sie denjenigen verurteilen, der weggeht. Andererseits<br />

werden Stimmen laut, <strong>die</strong> dem Abgewanderten Korrumpierbarkeit durch<br />

239


monetäre Anreize unterstellen, <strong>die</strong> den Vorwurf <strong>des</strong> Vollzugs einer an ökono-<br />

mischem Kapital orientierten Medizin an ihn richten oder <strong>die</strong> ihm ein Nichtstandhalten<br />

den hierarchischen Begebenheiten <strong>und</strong> Strukturen gegenüber<br />

vorwerfen, wobei <strong>die</strong>sen Vorwürfen ein Festhalten an der „alten Schule“ <strong>und</strong><br />

am inkorporierten ärztlichen Habitus zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />

Zum zweiten Mal erlebte Bernard S. <strong>die</strong> angesprochene Ausgrenzung, als er<br />

das Privatspital nach wenigen Monaten wieder verliess. Dass der Kontakt mit<br />

seinem Kollegen, mit welchem er <strong>die</strong> Praxis im Privatspital führte, gänzlich<br />

abbrach, bereitet ihm auch heute noch sichtlich Mühe. Bernard S. erkannte, dass<br />

<strong>die</strong> öffentliche <strong>und</strong> <strong>die</strong> private Krankenhauswelt inkompatibel sind <strong>und</strong> dass<br />

sich <strong>die</strong> jeweiligen Akteure nicht frequentieren, sondern meiden <strong>und</strong> sogar<br />

misstrauisch beäugen. Bernard S. ist sowohl ein doppelter Insider als auch ein<br />

doppelter Outsider, der in beiden Feldern eine Brandmarkung erfuhr, <strong>die</strong> ihn<br />

zu einem Abgewanderten, einem Ligafremden <strong>und</strong> möglicherweise auch einem<br />

Denunzianten stigmatisierte.<br />

Im Laufe <strong>des</strong> Interviews <strong>und</strong> im Anschluss daran wurde ersichtlich, wie sehr<br />

Bernard S. unter <strong>die</strong>sen „Seilschaften“ <strong>und</strong> Netzwerken litt <strong>und</strong> wie gross sein<br />

Unverständnis für das konkurrenzierende Verhalten seiner Arbeitskollegen<br />

war. Seine Aussagen verdeutlichen auch sein grosses Unverständnis für <strong>die</strong><br />

zunehmende Ausrichtung <strong>des</strong> ärztlichen Handelns an monetären Kennzahlen<br />

<strong>und</strong> Budgets, was den Arzt von seinem berufsethischen Habitus immer stärker<br />

entfernt. Auch das Monieren seiner Kollegen, <strong>die</strong> sich über ein schlechtes Gehalt<br />

beklagen <strong>und</strong> sich zu stark an denjenigen messen, <strong>die</strong> ein horrend hohes,<br />

wenn nicht sogar grotesk hohes Salär beziehen, bereitet ihm sichtlich Mühe. Für<br />

Bernard S. gehören <strong>die</strong> Ärzte auch heute noch zu den „Spitzenver<strong>die</strong>nern“ innerhalb<br />

der Gesellschaft, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s trotz den Unterschieden, <strong>die</strong> zwischen den öffentlichen<br />

Spitälern <strong>und</strong> den Privatspitälern bestünden. Als frustrierend empfindet<br />

er teilweise <strong>die</strong> Tatsache, dass weniger gut qualifizierte Ärzte in einem<br />

Regionalspital teilweise mehr ver<strong>die</strong>nen als ein auf derselben Hierarchiestufe<br />

praktizierender Arzt in einem Kantonsspital. Aber auch in Bezug auf <strong>die</strong>sen<br />

Umstand würden er <strong>und</strong> seine Kollegen, vor allem auch im internationalen<br />

Vergleich, sehr gut ver<strong>die</strong>nen. Bei Bernard S. erhält <strong>die</strong> Relevanz eines wertschätzenden<br />

<strong>und</strong> fördernden Arbeitsumfel<strong>des</strong> eine neue Bedeutung, da beide<br />

Abwanderungen vornehmlich aufgr<strong>und</strong> der massiven Auslebung der Konkur-<br />

240


enz unter den Kollegen gleicher <strong>und</strong> unterschiedlicher Fachrichtungen <strong>und</strong><br />

aufgr<strong>und</strong> der mangelnden Kommunikation im Team selber <strong>und</strong> zwischen den<br />

Kaderärzten <strong>und</strong> der Spitaldirektion stattfanden. Die Identifikation mit der<br />

Institution nahm stark ab, da Bernard S. sich nicht mehr als Teil <strong>die</strong>ser Institution,<br />

als Teil eines Teams <strong>und</strong> als Teil <strong>des</strong> Kaders fühlte, das an den strategischen<br />

<strong>und</strong> operativen Spitalentscheiden mitbestimmen darf <strong>und</strong> nicht lediglich orientiert<br />

wird. Seine mangelnde Arbeitszufriedenheit <strong>und</strong> das mangelnde Interesse<br />

seiner Arbeitskollegen an Rahmenbedingungen, <strong>die</strong> zu einer berufsethisch<br />

getreuen Erfüllung seines Arztberufs beitragen, haben dazu geführt, dass sich<br />

Bernard S. sowohl im öffentlichen Spital als auch im Privatspital als Fremder<br />

fühlte. Der langsamen, aber steten Entkernung entging er dadurch, dass er<br />

seiner medizinischen Kerntätigkeit treu blieb, Brüche in seiner Laufbahn in<br />

Kauf nahm <strong>und</strong> zum mehrmaligen Outsider wurde, wodurch er auch Kollegen<br />

verlor. Dass ihn <strong>die</strong>s noch heute berührt, lässt sich nicht mit dem frustrierten<br />

Verlangen nach sozialem Prestige oder symbolischem Kapital erklären, sondern<br />

widerspiegelt sein ganz persönliches Bedürfnis, nicht als zweifacher Aussenseiter,<br />

sondern als Teil <strong>des</strong> Ganzen, der Ärzteschaft <strong>und</strong> ihrem Kollegialitätsprinzip<br />

wahr- <strong>und</strong> ernstgenommen zu werden.<br />

4.2.2 Im Gespräch mit Bernard S. − Arzt am Kantonsspital<br />

„Möglichst schnell <strong>und</strong> möglichst viel ...“<br />

− Ich untersuche, weshalb<br />

Ärzte das öffentliche Spital<br />

verlassen <strong>und</strong> zu privaten<br />

Kliniken abwandern.<br />

Zahlreiche Interviews mit<br />

Ärzten aus öffentlichen <strong>und</strong><br />

privaten Spitälern wurden<br />

durchgeführt <strong>und</strong> Sie sind<br />

nun eigentlich mein letzter<br />

Interviewpartner.<br />

Bernard S. – Also solche<br />

<strong>die</strong> in eine Privatklinik<br />

gingen <strong>und</strong> solche, <strong>die</strong> geblieben<br />

sind?<br />

− Genau. Und fast nur auf<br />

Stufe Chefarzt <strong>und</strong> Leitender<br />

Arzt, da man bemerkt<br />

241


hat, dass früher eher Oberärzte<br />

abgewandert sind,<br />

heute dagegen eher <strong>die</strong> Leitenden<br />

Ärzte <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong><br />

(…). Die ersten Fragen sind<br />

eher persönlicher Natur,<br />

gerne würde ich von Ihnen<br />

erfahren, weshalb Sie <strong>die</strong>sen<br />

Job ausgewählt haben<br />

<strong>und</strong> ob vielleicht Ihre Eltern<br />

bereits Ärzte waren.<br />

Bernard S. – Also dann geht<br />

es relativ strukturiert vor<br />

sich. Sie fragen mich etwas<br />

<strong>und</strong> ich antworte.<br />

− (Beide lachen) Sie dürfen<br />

mich natürlich auch etwas<br />

fragen, falls Sie möchten.<br />

Bernard S. − Nein, kein<br />

Problem, im Gegenteil, ich<br />

bin eher froh, da einfach<br />

so aus dem Stegreif etwas<br />

zu sagen, ist relativ<br />

schwierig.<br />

− Nein, keine Angst, ich<br />

stelle Ihnen Fragen. Wie<br />

wurde der Entscheid Medizin<br />

zu stu<strong>die</strong>ren getroffen?<br />

Bernard S. – Initial wollte<br />

ich eigentlich in eine ganz<br />

andere Richtung gehen, ich<br />

242<br />

wollte Journalist werden.<br />

Ich war während der Mittelschulenaturwissenschaftlich<br />

nicht wirklich begabt<br />

<strong>und</strong> auch nicht wirklich<br />

interessiert gewesen. Politik<br />

<strong>und</strong> Wirtschaft haben<br />

mich eigentlich mehr interessiert.<br />

Dann habe ich das<br />

Studium begonnen <strong>und</strong> war<br />

dann aber davon enttäuscht,<br />

da man sich damals selber<br />

etwas zusammenschustern<br />

musste; das war noch nicht<br />

so strukturiert gewesen wie<br />

jetzt. Ich habe zwei Jahre<br />

gemacht <strong>und</strong> in Genf Wirtschaftsgeschichte<br />

<strong>und</strong> Islamwissenschaften<br />

stu<strong>die</strong>rt.<br />

Die Materie wurde dann immer<br />

trockener. Je mehr Semesterarbeiten<br />

man machen<br />

musste, umso einsamer wurde<br />

man dann auch. Ich musste<br />

dann natürlich auch noch<br />

den Militär<strong>die</strong>nst machen,<br />

das war klar dazumal, es<br />

war noch der kalte Krieg<br />

(Bernard S. lacht), <strong>die</strong>s<br />

war Ende der Siebzigerjahre,<br />

so um 77, 78. Damit Sie<br />

so ein wenig den Kontext<br />

sehen. Ich habe dann <strong>die</strong><br />

Rekrutenschule gemacht <strong>und</strong>


wurde bei der Sanitätsrekrutenschule<br />

eingeteilt. Ich<br />

habe dann eine Menge Medizinstudenten<br />

kennengelernt,<br />

mit welchen man sich dann<br />

natürlich ein wenig ausgetauscht<br />

hat, dann musste<br />

ich im Rahmen <strong>des</strong> Militär<strong>die</strong>nstes<br />

ein Praktikum in<br />

einem Spital machen. Das<br />

musste man damals als Praktikum<br />

im Rahmen der Sanitätsrekrutenschule<br />

machen,<br />

<strong>und</strong> das hat mich wahnsinnig<br />

beeindruckt, das war dann<br />

eigentlich der Initialzünder<br />

gewesen. Ich habe einfach<br />

auch bemerkt, dass <strong>die</strong><br />

Medizinstudenten auch etwas<br />

Stolzes an sich hatten, es<br />

hatte so etwas Elitäres an<br />

sich. Das Medizinstudium<br />

hat immer <strong>die</strong> Bedeutung<br />

gehabt, viel arbeiten, mehr<br />

Leistungsausweis beispielsweise<br />

unter den Stu<strong>die</strong>nleuten,<br />

das war zumin<strong>des</strong>t dazumal<br />

so, ich vermute aber,<br />

dass <strong>die</strong>s heute noch immer<br />

so ist. Ich habe auch eine<br />

Tochter, <strong>die</strong> jetzt Medizin<br />

stu<strong>die</strong>rt, <strong>und</strong> es ist schon<br />

extrem, was man da alles<br />

als Aufwand betreiben muss.<br />

Ich habe dann aber gesehen<br />

..., bei <strong>die</strong>sen Kollegen,<br />

<strong>die</strong> ich dort kennengelernt<br />

habe, habe ich mir gesagt,<br />

doch das würde ich auch<br />

schaffen. Ich war ein mittelmässiger<br />

Mittelschüler<br />

gewesen, <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb habe<br />

ich mir <strong>die</strong>se Zielsetzung<br />

auch gar nicht gestellt,<br />

aber dadurch, dass ich <strong>die</strong>se<br />

Medizinstudenten kennengelernt<br />

habe, ist es dann<br />

plötzlich auch greifbar<br />

geworden. Ausschlaggebend<br />

war bestimmt auch das Praktikum<br />

am Spital gewesen,<br />

<strong>die</strong>ses Spital gibt es aber<br />

schon längstens nicht mehr<br />

(…).<br />

– Darf ich fragen, was Ihre<br />

Eltern gemacht haben?<br />

Bernard S. – Mein Vater war<br />

Handwerker. Er hat gar<br />

nichts ... Ich bin an <strong>und</strong><br />

für sich einfach ein praktischer<br />

Mensch, ich bastle<br />

gerne, koche gerne, möglicherweise<br />

war auch <strong>die</strong>s<br />

der Gr<strong>und</strong> gewesen. Dazumal<br />

bei der Entscheidung Medizin<br />

zu stu<strong>die</strong>ren hatte man<br />

so den Eindruck, dass man<br />

243


etwas macht <strong>und</strong> dann auch<br />

das Resultat sieht. Man<br />

kann etwas verändern <strong>und</strong><br />

etwas verbessern. Es war<br />

auch interessant, da man<br />

während dem Studium auch<br />

gesehen hat, dass <strong>die</strong>s<br />

nicht immer der Fall ist.<br />

Es ist häufig so, dass man<br />

langfristig arbeiten <strong>und</strong><br />

denken muss, ausser in meinem<br />

Spezialbereich innerhalb<br />

der Chirurgie. (Ein<br />

Klopfen an der Türe erklingt,<br />

ein Arztkollege<br />

tritt ein. Bernard S. erklärt<br />

ihm, dass er soeben<br />

in einem Gespräch sei, <strong>und</strong><br />

er sich anschliessend bei<br />

ihm melden werde. Aufnahme<br />

wurde während<strong>des</strong>sen unterbrochen.)<br />

Deshalb habe ich<br />

mich höchstwahrscheinlich<br />

auch für <strong>die</strong>se Subspezialität<br />

entschieden, da ich<br />

einfach ein praktischer<br />

Mensch bin.<br />

− Sie haben folglich bereits<br />

von vornherein gewusst,<br />

bereits als Sie das<br />

Medizinstudium begonnen<br />

haben, dass Sie <strong>die</strong>se Spezialität<br />

auswählen werden?<br />

244<br />

Bernard S. − Nein, nein,<br />

das hat sich erst während<br />

dem Studium so herauskristallisiert,<br />

da eben dann<br />

noch deutlicher zum Ausdruck<br />

kam, dass man im Bereich<br />

der Chirurgie tatsächlich<br />

etwas machen kann,<br />

<strong>und</strong> man sofort das Resultat<br />

sieht. Dies ist schon etwas<br />

Faszinieren<strong>des</strong>.<br />

− Ihr Umfeld hat gut auf<br />

Ihren Entscheid in Richtung<br />

Medizin zu gehen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

zu stu<strong>die</strong>ren reagiert?<br />

Bernard S. – Ja, sehr. Meine<br />

Eltern ... ja, sehr positiv.<br />

Da eben Islamwissenschaften<br />

<strong>und</strong> so, Wirtschaftsgeschichte<br />

<strong>und</strong> so,<br />

für sie nichts Fassbares<br />

war. Wissen Sie, dazumal<br />

war der Islam kein Thema.<br />

– Nicht wie heute.<br />

Bernard S. – Heute ist das<br />

... Ich habe gerade gelesen,<br />

dass es sogar in St.<br />

Gallen einen Lehrstuhl für<br />

Islamwissenschaften gibt.<br />

– Ach, das wusste ich gar<br />

nicht. (…) Wie haben Sie


Ihre Stu<strong>die</strong>nzeit erlebt?<br />

Bernard S. – Der absolute<br />

Horror. Die ersten zwei<br />

Jahre war es eine absolute<br />

Katastrophe. Man muss dort<br />

einfach hindurch. Ich glaube,<br />

dass es heutzutage etwas<br />

besser ist, aber dazumal<br />

war es wirklich nur ein<br />

Selektionsverfahren. Es<br />

waren an sich, so retrospektiv,<br />

hoch interessante<br />

Fächer, interessanter<br />

Stoff, ich sehe es nun immer<br />

bei der Tochter.<br />

– Den Numerus Clausus hatten<br />

Sie damals noch nicht?<br />

Bernard S. – Den gab es<br />

dazumal noch nicht. Ich<br />

habe Anfang der Achtzigerjahre<br />

begonnen Medizin zu<br />

stu<strong>die</strong>ren. Die ersten zwei<br />

Jahre wurde man dann einfach<br />

brutal selektioniert,<br />

danach wurde es dann aber<br />

lockerer, dann wurde es<br />

wirklich sehr ... Man hat<br />

dann fast zu wenig Druck<br />

gehabt, damit man eben auch<br />

wirklich was gemacht hat.<br />

Das ist aber heute auch<br />

anders. Das Medizinstudium<br />

ist heute besser vorselektioniert.<br />

– Man hat natürlich heute<br />

durch den Numerus Clausus<br />

eine gewisse Vorselektion.<br />

Bernard S. – Es ist nach<br />

wie vor in den ersten zwei<br />

Jahren ... trotz <strong>des</strong> Numerus<br />

Clausus ... Aber nicht<br />

mehr so intensiv. (…)<br />

– Ihre Assistenzarztstelle<br />

war?<br />

Bernard S. – In einem öffentlichen<br />

Schweizer Spital<br />

auf der Chirurgie. Das war<br />

ein totaler Hit. Es war<br />

wirklich sehr angenehm. Ein<br />

kleines Spital, sehr persönlich,<br />

man wurde auch<br />

ernst genommen, obwohl sie<br />

als Frischdiplomierter eigentlich<br />

keine Ahnung davon<br />

hatten, wie der Laden<br />

läuft. Ich habe aber sehr<br />

positive Erinnerung daran.<br />

– Und <strong>die</strong> nächste Stelle?<br />

Bernard S. – Danach kam ich<br />

an ein Universitätsspital<br />

in eine Spezialität der<br />

Inneren Medizin, in <strong>die</strong><br />

Spezialität, <strong>die</strong> ich ur-<br />

245


sprünglich machen wollte<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> einen Bereich <strong>des</strong><br />

Fachbereichs der Chirurgie<br />

darstellt.<br />

– Dafür haben Sie sich dann<br />

aber dennoch nicht entschieden.<br />

Bernard S. – Gewisse Nebensächlichkeiten<br />

waren dann<br />

für den Um-Entscheid ausschlaggebend.<br />

Der Chefarzt<br />

<strong>die</strong>ser Spezialität war ein<br />

solch furchtbarer Typ gewesen,<br />

der war mir so etwas<br />

von unsympathisch, <strong>und</strong> sehr<br />

wahrscheinlich war ich ihm<br />

auch nicht sympathisch <strong>und</strong><br />

<strong>des</strong>halb ... Man hat einen<br />

Job eigentlich nur aufgr<strong>und</strong><br />

von Empathie erhalten.<br />

„Man ist heutzutage auch<br />

viel mobiler.“<br />

– Haben Sie das Gefühl,<br />

dass <strong>die</strong>s heute noch immer<br />

so ist.<br />

Bernard S. – Ich denke<br />

schon, da letztendlich der<br />

Chefarzt oder der Leiter<br />

246<br />

einer Abteilung darüber<br />

entscheidet, ob jemand eine<br />

Ausbildung machen kann oder<br />

nicht. Was heute anders<br />

ist, ist, dass falls es<br />

einem am Zielort nicht gelingt<br />

<strong>die</strong>se <strong>und</strong> jene Ausbildung<br />

zu machen, dann ist<br />

man heute viel, viel flexibler.<br />

Man ist heutzutage<br />

auch viel mobiler. Man kann<br />

an einen anderen Ort gehen.<br />

Wenn es in Zürich nicht<br />

geht, dann geht man nach<br />

Bern, <strong>und</strong> wenn es in Bern<br />

nicht geht, dann geht man<br />

nach Basel, oder aber man<br />

geht ins Ausland, was früher<br />

überhaupt noch kein<br />

Thema war. Auch kein Thema<br />

war, dass man beispielsweise<br />

nach Deutschland oder<br />

nach den USA gehen konnte,<br />

um dort eine Ausbildung zu<br />

machen. Das ist heute eigentlich<br />

gar kein Problem,<br />

auch dort <strong>die</strong> fachärztliche<br />

Ausbildung zu machen, all<br />

das war früher noch gar<br />

kein Thema.<br />

– Nach dem Unispital, wohin<br />

gingen Sie dann?<br />

Bernard S. – Danach ging


ich an ein anderes öffentliches<br />

Spital, welches auch<br />

ein sehr gutes Spital war.<br />

Nach <strong>die</strong>ser Stelle innerhalb<br />

der Inneren Medizin<br />

habe ich mich dann definitiv<br />

für meine heutige Spezialität<br />

im Fachbereich der<br />

Chirurgie entschieden. Dort<br />

gelangte ich zu einem Chefarzt,<br />

mit welchem ich mich<br />

sehr gut verstanden habe,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser hat mich dann<br />

auch gefördert. Er hat mir<br />

dann auch meinen Eintritt<br />

in ein weiteres Universitätsspital<br />

ermöglicht, wo<br />

ich dann auch <strong>die</strong>se Spezialarztausbildung<br />

konnte (…).<br />

machen<br />

„Ich habe dort wirklich<br />

vier Jahre lang durchgearbeitet.“<br />

– Gab es noch andere so<br />

genannte Förderer?<br />

Bernard S. – Ja, bei der<br />

nächsten Stelle, wo ich<br />

dann Oberarzt wurde, das<br />

war wieder an einem anderen<br />

öffentlichen Spital. (…)<br />

Diese Stelle war eine sehr<br />

gute Stelle, ich wurde auch<br />

dort gefördert <strong>und</strong> es war<br />

sehr streng. Wir hatten<br />

dort noch keine 50-St<strong>und</strong>en-<br />

Woche. Es war eine ausserordentlich<br />

intensive Zeit,<br />

aber auch eine sehr fruchtbare<br />

Zeit. Dort war ich<br />

dann vier Jahre Oberarzt,<br />

<strong>und</strong> in <strong>die</strong>ser Zeit habe ich<br />

den gesamten Fachbereich<br />

kennengelernt. Ich habe<br />

wahrscheinlich innerhalb<br />

<strong>die</strong>ser Zeit genau so viel<br />

gemacht, wozu ein Oberarzt<br />

heute zehn Jahre benötigt.<br />

Ich habe dort wirklich vier<br />

Jahre lang durchgearbeitet.<br />

– Das wäre heute höchstwahrscheinlich<br />

nur schon<br />

wegen der 50-St<strong>und</strong>en-Woche<br />

nicht mehr möglich, oder?<br />

Bernard S. – Das wäre unmöglich,<br />

das ist nicht mehr<br />

erlaubt.<br />

„Diese 50-St<strong>und</strong>en-Woche ist<br />

eine absolute Katastrophe.“<br />

247


– Wie sehen Sie <strong>die</strong>se 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche?<br />

Bernard S. – Diese 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche ist eine absolute<br />

Katastrophe. Das ist<br />

der grösste Blödsinn, den<br />

man da eingeführt hat. Da<br />

einfach eine grosse Gefahr<br />

besteht, dass man operiert<br />

oder behandelt wird von<br />

Leuten, <strong>die</strong> keine Erfahrung<br />

haben <strong>und</strong> nicht mehr von<br />

irgendwelchen übermüdeten<br />

Ärzten. Die Übermüdung ist<br />

überhaupt kein Problem. Ich<br />

hatte noch nie bei mir oder<br />

anderen das Gefühl, dass<br />

eine Gefahr bestand, dass<br />

man übermüdet war. Man hat<br />

so viele interne Kontrollen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten, wenn man<br />

sieht, dass wenn man nun<br />

nicht mehr mag, dass man es<br />

anders oder selber organisiert.<br />

Die 50-St<strong>und</strong>en-Woche<br />

verhindert eine effiziente,<br />

praktische Ausbildung. Das<br />

ist meine persönliche Meinung.<br />

Es gibt keinen Bauingenieur<br />

oder Elektroingenieur,<br />

der sich einer 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche unterwirft,<br />

wenn er eine Brücke oder<br />

irgendein Gebäude oder et-<br />

248<br />

was anderes planen muss,<br />

dann arbeitet er Tag <strong>und</strong><br />

Nacht. Der Mediziner<br />

scheint der einzige Akademiker<br />

zu sein, dem man irgendwie<br />

sagen muss, wie<br />

viele St<strong>und</strong>en er zu arbeiten<br />

hat. Das ist ein absoluter<br />

Nonsens.<br />

– Wie ging es danach weiter?<br />

Bernard S. – Ich bin dann<br />

in ein anderes, öffentliches<br />

Spital gegangen, wo<br />

ich dann Leitender Arzt<br />

wurde. Also Leitender Arzt<br />

<strong>und</strong> stellvertretender Chefarzt.<br />

Das war dann eigentlich<br />

auch meine definitive<br />

Stelle, wo ich zehn Jahre<br />

lang blieb. Es war eine<br />

schwierige Zeit. Ich kam in<br />

ein Team, in welchem ich<br />

mich nicht sehr wohl gefühlt<br />

habe. Den Chefarzt<br />

habe ich eigentlich respektiert,<br />

aber meine Kollegen,<br />

<strong>die</strong> auf derselben Ebene<br />

waren, waren nach meiner<br />

Beurteilung weniger gut<br />

qualifiziert gewesen als<br />

ich. Der Respekt voreinander<br />

war schwierig <strong>und</strong> auch,


dass ich <strong>die</strong> anderen Kollegen<br />

respektiert habe. Den<br />

Chef habe ich schon respektiert,<br />

ich war immer loyal<br />

zu ihm, aber mit den<br />

gleichgestellten Kollegen<br />

habe ich Mühe gehabt. Ich<br />

habe es aber dennoch zehn<br />

Jahre lang ausgehalten. Ich<br />

bin irgendwie immer ... ich<br />

habe von Anfang an immer<br />

nach einer anderen Möglichkeit<br />

gesucht <strong>und</strong> habe dann<br />

bereits mit einer Privatklinik<br />

geliebäugelt, das<br />

war so Anfang 2000. (…)<br />

Dann hatte ich mal bereits<br />

mit einem Privatspital geliebäugelt.<br />

Dies geschah,<br />

da ein guter Fre<strong>und</strong> von<br />

mir, der mal mein Lehrmeister<br />

gewesen war <strong>und</strong> hier<br />

der Leiter meiner heutigen<br />

Spezialität war, der aber<br />

viel älter als ich war <strong>und</strong><br />

hier am Kantonsspital aufhören<br />

wollte, da er auch<br />

unglücklich war oder einfach<br />

zu viel arbeiten musste<br />

für das, was man ihm<br />

anbot ... Er fragte mich<br />

dann, ob wir nicht zusammen<br />

eine Praxis am Privatspital<br />

eröffnen wollten. Das war<br />

Anfang 2000. Da ich ihn<br />

sehr ... Er war für mich so<br />

ein Übervater, <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb<br />

dachte ich mir, doch mit<br />

ihm gemeinsam, das wäre<br />

eine gute Möglichkeit, ich<br />

könnte so während der paar<br />

Jahre, in welchen ich noch<br />

aktiv bin, von ihm profitieren<br />

<strong>und</strong> mich so am Privatspital<br />

fest etablieren.<br />

Es wurde dann aber nicht<br />

viel daraus. Ein anderer<br />

ist dann reingerutscht,<br />

wahrscheinlich ... ich<br />

weiss es bis heute nicht,<br />

weshalb <strong>die</strong>s nicht zustande<br />

kam.<br />

– Ist er dann hier geblieben?<br />

Bernard S. – Ja, er hat<br />

sich dann frühpensionieren<br />

lassen. Der Gr<strong>und</strong>, weshalb<br />

<strong>die</strong>s damals mit dem Privatspital<br />

nicht funktioniert<br />

hat, den weiss ich bis heute<br />

nicht. Plötzlich kam von<br />

Seiten <strong>des</strong> Privatspitals<br />

<strong>die</strong> Aussage, dass sie uns<br />

nicht wollen. Sie haben<br />

dann eigentlich jemanden<br />

genommen, der heute noch<br />

immer dort ist.<br />

249


„Mein Hauptmotiv war, dass<br />

ich Arzt <strong>und</strong> Spezialist<br />

bleiben möchte <strong>und</strong> nicht<br />

Management, Führung machen<br />

möchte ...“<br />

– Sie sind also danach doch<br />

noch eine Weile am öffentlichen<br />

Spital geblieben?<br />

Bernard S. – Genau, drei<br />

Jahre <strong>und</strong> dann wurde dann<br />

mein Chef pensioniert. Der<br />

Chef hat mir immer gesagt,<br />

dass ich sein Nachfolger<br />

werden solle. (Bernard S.<br />

lacht) Ich habe dann gesagt:<br />

ja, weshalb eigentlich<br />

nicht. Ich war dann<br />

damals fünfzig <strong>und</strong> musste<br />

noch ein paar Jahre arbeiten,<br />

also weshalb eigentlich<br />

nicht. Je mehr ich<br />

mich damit beschäftigt habe,<br />

habe ich bemerkt, dass<br />

ich mich dafür nicht eigne.<br />

Ich hatte ein Coaching gemacht,<br />

das mir vom Spital<br />

auch bezahlt wurde, wo ich<br />

dann aber selber zum<br />

Schluss kam, nein ... Ich<br />

habe so ein paar Führungs-<br />

250<br />

kurse gemacht, Seminare ...<br />

<strong>und</strong> so habe ich dann realisiert,<br />

dass ich mich nicht<br />

dazu eigne. Und auch <strong>die</strong><br />

Konstellation, <strong>die</strong> personelle<br />

Zusammensetzung dort<br />

am öffentlichen Spital war<br />

so, dass ich mir sagen<br />

musste, dass <strong>die</strong>se mich nie<br />

als Chef respektieren würden.<br />

Ich habe dann für ihn<br />

einen Brief aufgesetzt <strong>und</strong><br />

gesagt: hallo, ich möchte<br />

nicht Chef werden. Man hat<br />

dann <strong>die</strong>s zur Kenntnis genommen.<br />

Es war dann eben<br />

so, dass es dort am öffentlichen<br />

Spital auf Führungs<strong>und</strong><br />

Verwaltungsratsebene<br />

einen riesigen Knatsch gegeben<br />

hat, wo ich dann voll<br />

in den Hammer reingelaufen<br />

bin. Dadurch, dass ich mich<br />

geoutet habe <strong>und</strong> gesagt<br />

habe, dass ich nicht Chefarzt<br />

werden möchte. Das war<br />

dann irgendwie ein Zeichen<br />

von Schwäche, ich weiss es<br />

auch nicht ... Mein Hauptmotiv<br />

war, dass ich Arzt<br />

<strong>und</strong> Spezialist bleiben <strong>und</strong><br />

nicht Management <strong>und</strong> Führung<br />

machen wollte <strong>und</strong> mich<br />

nicht mit <strong>die</strong>sen Leuten


zusammentun mochte, <strong>die</strong><br />

vernetzt <strong>und</strong> verbandelt<br />

waren <strong>und</strong> <strong>die</strong> Hierarchie<br />

unterminieren würden, einfach<br />

dadurch, da sie in<br />

<strong>die</strong>sem Spital persönlich<br />

vernetzt waren, was zu<br />

Seilschaften führte, innerhalb<br />

welcher man als Chef<br />

keine Chance hatte, <strong>die</strong>s<br />

irgendwie zu unterbinden.<br />

– Wie haben Sie in <strong>die</strong>sen<br />

unterschiedlichen Spitälern<br />

<strong>die</strong> Hierarchie ganz allgemein<br />

erlebt?<br />

Bernard S. – Das ist ganz<br />

klar, als sehr negativ.<br />

Negative Hierarchie. Der<br />

Chefarzt, der eigentlich<br />

über alles mehr oder weniger<br />

entscheidet, der <strong>die</strong><br />

Daseinsberechtigung erteilt,<br />

der schaut, dass<br />

befriedigende Arbeit geleistet<br />

wird. Auf der anderen<br />

Seite schaut er nur für<br />

sich. Es ist so etwas von<br />

egomanisch, das ist unglaublich.<br />

Es ist nicht<br />

irgendwie ... ich hatte nun<br />

wirklich einen Chef ... der<br />

hat nur geschaut, dass es<br />

für ihn (Bernard S. zögert)<br />

... dass es einfach läuft,<br />

aber <strong>die</strong>s eigentlich auf<br />

eine nette <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>liche<br />

Art. Diejenigen Leute, <strong>die</strong><br />

ihn nicht kannten, hatten<br />

das Gefühl, dass er unheimlich<br />

menschlich sei. Er<br />

hatte auch Patienten, <strong>die</strong><br />

offensichtlich das Gefühl<br />

hatten, doch, das ist mein<br />

Arzt. In Tat <strong>und</strong> Wahrheit,<br />

ich habe <strong>die</strong>ses Bild auch<br />

retrospektiv durchanalysiert,<br />

dass viele <strong>Chefärzte</strong><br />

so sind, eigentlich alle<br />

bis auf einen, <strong>und</strong> eindeutig<br />

musste es ganz einfach<br />

für sie laufen. Der gesamte<br />

Laden, <strong>die</strong> gesamte Abteilung<br />

ihres Fachbereiches<br />

war auf sie ausgerichtet<br />

gewesen. Alle anderen, das<br />

gesamte Team musste schauen,<br />

dass ...<br />

„... nach meiner Beurteilung<br />

gehören wir sowieso<br />

alle zu den Spitzenver<strong>die</strong>nern.“<br />

– Auch gehaltsmässig?<br />

251


Bernard S. – Irgendwann<br />

spielt <strong>die</strong>s dann keine Rolle<br />

mehr. Es sind sowieso<br />

hohe Gehälter, nach meiner<br />

Beurteilung gehören wir<br />

sowieso alle zu den Spitzenver<strong>die</strong>nern.<br />

Wenn mir<br />

heute einer sagt, in <strong>die</strong>ser<br />

Preisklasse, in welcher wir<br />

heute noch immer sind, er<br />

ver<strong>die</strong>ne zu wenig, dann<br />

kann ich <strong>die</strong>s nicht nachvollziehen.<br />

– Sprechen Sie nun über<br />

Ihren Fachbereich oder ganz<br />

allgemein?<br />

Bernard S. – Ja, meinen<br />

Fachbereich. Wenn ich nun<br />

vergleiche, also der Werdegang,<br />

den <strong>die</strong> Spezialisten<br />

meines Fachbereiches hier<br />

in der Schweiz haben im<br />

internationalen Vergleich,<br />

also im Vergleich mit absoluten<br />

Spitzenleuten <strong>des</strong><br />

Auslan<strong>des</strong>, aus England oder<br />

aus Deutschland, dann ist<br />

der Ver<strong>die</strong>nst jenseits von<br />

gut <strong>und</strong> böse. Eine graue<br />

Maus in der Schweiz in einem<br />

Regionalspital, der<br />

wirklich schlecht qualifiziert<br />

ist, ver<strong>die</strong>nt nach<br />

252<br />

wie vor sehr viel. Auf der<br />

anderen Seite hier am Kantonsspital,<br />

das zu einem<br />

der grössten Spitäler der<br />

Schweiz gehört, hier sind<br />

<strong>die</strong> Gehälter relativ bescheiden,<br />

wenn ich <strong>die</strong>s nun<br />

mit den umliegenden Spitälern<br />

vergleiche (…). Das<br />

sind Welten <strong>und</strong> das ist das<br />

Problem, dass hier einfach<br />

<strong>die</strong> Spitzenleute ... man<br />

weiss ja innerhalb der<br />

Schweiz, was man kann, wer<br />

was macht. Dementsprechend<br />

muss ich sagen, dass ich es<br />

begreife, wenn ein Kaderarzt,<br />

der hier arbeitet,<br />

gehaltsmässig frustriert<br />

ist, wenn er sich mit einer<br />

grauen Maus zwanzig Kilometer<br />

von hier vergleicht.<br />

Aber es sind nach wie vor<br />

relativ gute Gehälter.<br />

– Worin hat sich denn <strong>die</strong>ser<br />

eine unterschieden von<br />

all den anderen? Sie haben<br />

von einem Chefarzt gesprochen,<br />

der nicht so ist.<br />

Bernard S. – Da er wirklich<br />

für <strong>die</strong> Abteilung (…), für<br />

den Betrieb geschaut hat.<br />

Ich habe vielleicht damals


als Anfänger auch nicht so<br />

stark hinter <strong>die</strong> Kulissen<br />

gesehen. Wenn Sie jetzt<br />

möglicherweise denjenigen<br />

fragen würden, der dazumal<br />

<strong>die</strong>jenige Position innehatte,<br />

<strong>die</strong> ich heute in <strong>die</strong>sem<br />

Betriebe habe, der würde<br />

vielleicht etwas anderes<br />

sagen. Als Anfänger, als<br />

Assistent musste ich tatsächlich<br />

sagen, dass <strong>die</strong>ser<br />

seine Interessen, also das<br />

Tätigen von schönen <strong>und</strong><br />

interessanten Operationen<br />

oder es gibt auch solche<br />

Traditionen, dass er <strong>die</strong><br />

Behandlung oder <strong>die</strong> Operation<br />

als erster durchführen<br />

darf <strong>und</strong> nicht bis in den<br />

Feierabend hinein zu arbeiten<br />

hatte <strong>und</strong> immer <strong>die</strong><br />

netteste <strong>und</strong> kompetenteste<br />

Schwester an seiner Seite<br />

... das sind Spiele, <strong>die</strong><br />

auch heute noch genauso<br />

laufen. Dass der Chef oder<br />

<strong>die</strong> Leitenden sagen können,<br />

dass es so <strong>und</strong> nicht anders<br />

zu sein hat, <strong>und</strong> es folglich<br />

nicht unbedingt um <strong>die</strong><br />

Sache geht.<br />

„Ich wurde dann einfach vor<br />

vollendete<br />

stellt.“<br />

Tatsachen ge-<br />

– Gewechselt ins Privatspital<br />

haben Sie?<br />

Bernard S. – (lacht) Anfang<br />

<strong>die</strong>ses Jahres habe ich am<br />

öffentlichen Spital aufgehört<br />

zu arbeiten <strong>und</strong> bin<br />

ans Privatspital gegangenen<br />

<strong>und</strong> war dort bis vor einem<br />

Monat. Ich war also neun<br />

Monate an der Privatklinik.<br />

(…) Der Gr<strong>und</strong> war, dass ich<br />

erstens ... (zögerlich) als<br />

ich mich entschieden habe<br />

nicht Chefarzt zu werden,<br />

habe ich eigentlich damit<br />

gerechnet, dass ich als<br />

Stellvertreter, als Co-Chef<br />

bei der Chefarztwahl auch<br />

mit einbezogen würde. Das<br />

war dann überhaupt nicht<br />

der Fall gewesen. Ich wurde<br />

dann einfach vor vollendete<br />

Tatsachen gestellt.<br />

– Sie hatten dann einfach<br />

einen<br />

oder?<br />

neuen Vorgesetzten,<br />

Bernard S. – Ein neuer Chef<br />

253


wurde von der Direktion<br />

gewählt <strong>und</strong> wir, weder als<br />

Team noch als Co-Chef,<br />

konnten dazu einen Beitrag<br />

leisten. Ich war sehr enttäuscht<br />

darüber, ausserordentlich<br />

enttäuscht. Es<br />

wurde zwar ein sehr guter<br />

gewählt, das muss ich sagen,<br />

ein sehr guter Nachfolger<br />

wurde Chef. Auf der<br />

anderen Seite wurde ihm<br />

aber natürlich auch vorgelebt,<br />

dadurch dass das gesamte<br />

Kollegium der anderen<br />

Leitenden Ärzte nichts dazu<br />

beitragen konnte, wurde ihm<br />

von der Spitalleitung signalisiert,<br />

dass er mit seinen<br />

Untergebenen machen<br />

kann was er will, da er der<br />

König ist. So habe ich es<br />

interpretiert. In anderen<br />

Spitälern ist das schon<br />

sehr anders. Ich habe auch<br />

mit vielen <strong>Chefärzte</strong>n gesprochen,<br />

ich kenne viele<br />

<strong>Chefärzte</strong> in der Schweiz<br />

<strong>und</strong> habe es auch mit ihnen<br />

diskutiert. Sie haben gesagt,<br />

dass <strong>die</strong>s untragbar<br />

sei, dass der bestehende,<br />

der jetzige Co-Chef, sein<br />

Stellvertreter, sein engs-<br />

254<br />

ter Mitarbeiter, sein engster<br />

künftiger Mitarbeiter<br />

an der Wahl nicht beteiligt<br />

werde, sei ein deutlicher<br />

Affront. Das war mein<br />

Hauptgr<strong>und</strong>, weshalb ich<br />

gekündigt habe.<br />

– Hätten Sie mit <strong>die</strong>sem<br />

neuen Chef arbeiten können?<br />

Bernard S. – Es waren<br />

schlechte Startbedingungen<br />

gewesen. Wir waren uns von<br />

Anfang an nicht sympathisch<br />

gewesen. Er wurde vorgestellt<br />

mit: Herr Meier, das<br />

ist jetzt ihr neuer Chef,<br />

ihr König. (…) (zögerlich)<br />

Entweder man akzeptiert ihn<br />

oder man geht. Ich habe<br />

dann eben von einem Kollegen,<br />

der in einer Privatklinik<br />

arbeitete, das Signal<br />

erhalten, dass ich doch<br />

zu ihm kommen solle. Er<br />

sagte: ich habe so viel zu<br />

tun, ich arbeite so unheimlich<br />

viel, ich weiss gar<br />

nicht, wie ich <strong>die</strong>s alles<br />

schaffen soll, <strong>und</strong> es wäre<br />

wirklich sehr lässig, wenn<br />

du zu mir kommen wür<strong>des</strong>t<br />

<strong>und</strong> wir zu zweit eine Praxis<br />

eröffnen könnten. Ich


habe dann natürlich gesagt:<br />

selbstverständlich, noch so<br />

gerne. Und habe dann gekündigt.<br />

– Und dann haben Sie dort<br />

begonnen.<br />

Bernard S. – Ich hatte eine<br />

halbjährige Kündigungsfrist<br />

gehabt ... Das war eigentlich<br />

der Gr<strong>und</strong> gewesen. Das<br />

war eine solche Ohrfeige<br />

gewesen.<br />

– Sie haben dann dort begonnen.<br />

Waren Sie dort als<br />

Belegarzt oder wurden Sie<br />

direkt angestellt?<br />

Bernard S. – Es war so,<br />

dass ich in <strong>die</strong>sem Kanton<br />

keine Praxisbewilligung<br />

hatte, da ich ja zehn Jahre<br />

lang in einem anderen Kanton<br />

gearbeitet hatte. Danach<br />

gab es dann zwei Möglichkeiten,<br />

entweder stellt<br />

mich <strong>die</strong> Privatklinik an<br />

oder der Kollege stellt<br />

mich an.<br />

„Ich war aber sein Angestellter,<br />

ich war sein Assistenzarzt.“<br />

– Er hatte also logischerweisegung.<br />

eine Praxisbewilli-<br />

Bernard S. – Er hatte eine.<br />

Er musste dann für mich den<br />

Assistentenstatus beim Kanton,<br />

in welchem sich <strong>die</strong><br />

Privatklinik befand, beantragen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s als Assistenzarzt.<br />

Wir haben dann<br />

einen Vertrag gemacht, in<br />

welchem stand, dass ich<br />

einen gewissen Umsatz in<br />

seinem Namen generieren<br />

musste, <strong>und</strong> ein Teil davon<br />

gehörte dann mir. Das war<br />

unser Vertrag. Ich war aber<br />

sein Angestellter, ich war<br />

sein Assistenzarzt. (Ruhe)<br />

Ich muss dazu ja sagen, da<br />

ich eben keine Praxisbewilligung<br />

hatte. Von der Privatklinik<br />

<strong>und</strong> deren Direktion<br />

bin ich sehr wohlwollend<br />

empfangen worden. Der<br />

Direktor war sehr nett,<br />

<strong>die</strong>s im Gegensatz zum Direktor<br />

<strong>des</strong> öffentlichen<br />

Spitals, der mich als letzten<br />

Dreck behandelt <strong>und</strong><br />

meine Emails nicht beantwortet<br />

hatte, <strong>und</strong> wenn ich<br />

255


ein Gespräch mit ihm suchte,<br />

dann fand das nicht bei<br />

ihm sondern irgendwie im<br />

Gang draussen statt.<br />

– In einem solchen Fall<br />

fühlt man sich nicht wirklich<br />

geschätzt.<br />

Bernard S. – Beim Direktor<br />

der Privatklinik habe ich<br />

gesehen, dass <strong>die</strong>se an mir<br />

interessiert sind.<br />

– Wie hat sich <strong>die</strong>s dann<br />

weiterentwickelt?<br />

Bernard S. – (lacht) Es war<br />

eben ein kurzes Gastspiel<br />

gewesen. Erstens einmal ...<br />

(…) Ich habe den Umsatz<br />

problemlos erreicht. Diese<br />

Tarife sind ja jenseits von<br />

gut <strong>und</strong> böse. Ein Belegarzt<br />

eines Privatspitals (…)<br />

ver<strong>die</strong>nt viel. Einfach ...<br />

– Was ist für Sie viel?<br />

Damit ich mir einfach mal<br />

ein Bild davon machen kann.<br />

Bernard S. – Für <strong>die</strong>se Arbeit,<br />

<strong>die</strong> er leistete, für<br />

den wöchentlichen Einsatz<br />

... Ich war es mir gewohnt,<br />

dass ich r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Uhr<br />

erreichbar bin oder auch<br />

256<br />

einen Einsatz aus der Freizeit,<br />

aus den Ferien haben<br />

kann, ich war mir <strong>die</strong>s aus<br />

meiner früheren Tätigkeit<br />

gewohnt gewesen. Ich hatte<br />

dort brutto 350‘000 Franken<br />

gehabt.<br />

– Mit allen Honoraren.<br />

Bernard S. – Ja, also sagen<br />

wir mal 350‘000, am Schluss<br />

waren wir sowieso festangestellt<br />

gewesen. Gerade im<br />

Laufe der Diskussionen um<br />

<strong>die</strong> Steuerharmonisierung<br />

<strong>und</strong> so habe ich gesehen,<br />

dass <strong>die</strong>s zu den Spitzeneinkommen<br />

gehört, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

auch wenn ich mich mit einem<br />

Ingenieur oder einem<br />

Ökonomen vergleiche. Ich<br />

muss mich ja nicht mit einem<br />

Banker vergleichen. Das<br />

ist ein falsches Bild, das<br />

man hat. Aber sagen wir<br />

mal, wenn wir uns mit einem<br />

Ingenieur, der ein sehr<br />

anspruchsvolles Projekt<br />

machen muss oder mit meiner<br />

Frau, <strong>die</strong> im pädagogischen<br />

Bereich, also Lehrertätigkeit<br />

<strong>und</strong> so, tätig ist,<br />

dann ist <strong>die</strong>s ein sehr hohes<br />

Einkommen. Aber es gibt


eine Menge Leute, <strong>die</strong> ...<br />

<strong>und</strong> nun in der Privatklinik<br />

ist es wirklich problemlos<br />

<strong>die</strong>s als Assistent zu generieren.<br />

Und nicht irgendwie<br />

mit ... es ist rein durch<br />

Assistieren, also Sprechst<strong>und</strong>e,<br />

Visite, gelangt man<br />

in <strong>die</strong>se Preisklasse, in<br />

<strong>die</strong>se Lohnklasse hinein,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s ist einfach zu<br />

viel.<br />

– Haben Sie eine Ahnung,<br />

wie viel ihr Kollege am<br />

Privatspital ver<strong>die</strong>nt hat?<br />

Bernard S. – Der hat bestimmt<br />

doppelt so viel, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s ist für mich zu viel.<br />

Natürlich ist es so, dass<br />

wenn einer alleine eine<br />

Praxis hat <strong>und</strong> eben nicht<br />

einen Assistenten wie mich<br />

hat, dann ist er 365 Tage<br />

immer erreichbar.<br />

„Wochenenden hat man eigentlich<br />

keine ...“<br />

– Die Erreichbarkeit muss<br />

also gewährleistet sein?<br />

Bernard S. – Die Erreichbarkeit<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes<br />

... es ist unheimlich viel,<br />

was man schliesslich schon<br />

leistet. Wochenenden hat<br />

man eigentlich keine, ausser<br />

... er hat immer einen<br />

Monat pro Jahr frei gemacht,<br />

hat dann einen Kollegen<br />

eines anderen Spitals<br />

geholt, <strong>und</strong> der war dann<br />

während <strong>die</strong>ser Zeit einfach<br />

dafür zuständig gewesen. So<br />

hat er überhaupt überlebt.<br />

Er war dann seit zwei Jahren<br />

an der Privatklinik <strong>und</strong><br />

hat gearbeitet, gearbeitet<br />

<strong>und</strong> gearbeitet. Für <strong>die</strong>se<br />

700‘000 arbeitete er unheimlich<br />

viel. Aber eben,<br />

man kann <strong>die</strong> 300‘000 oder<br />

350‘000 relativ schnell<br />

generieren. Es war nicht<br />

der materielle Aspekt, der<br />

mich dazu bewogen hat, <strong>die</strong>ses<br />

Experiment so rasch als<br />

möglich wieder abzubrechen,<br />

sondern erstens bin ich in<br />

einen ganz schweren Konflikt<br />

zwischen ihm <strong>und</strong> einer<br />

Ärztegruppe geraten. Er<br />

war noch für weitere Subspezialitäten<br />

zuständig <strong>und</strong><br />

war in einer Gruppe, <strong>die</strong><br />

257


vor zehn Jahren ein Zentrum<br />

für <strong>die</strong> eine Subspezialität<br />

gegründet hatte. Die Stärke<br />

<strong>die</strong>ser Privatklinik ist,<br />

dass sie Ärztegruppen hat,<br />

<strong>die</strong> sehr hochstehende Medizin<br />

machen. Dies steht im<br />

Gegensatz zu früher, wo <strong>die</strong><br />

öffentlichen Spitäler nach<br />

einer hierarchischen Struktur<br />

mit Medizin, Chirurgie<br />

<strong>und</strong> so weiter aufgebaut<br />

waren <strong>und</strong> eben nicht <strong>die</strong><br />

Fachspezialisten untereinander<br />

gearbeitet haben.<br />

Heute ist <strong>die</strong>s in den öffentlichen<br />

Spitälern auch<br />

nicht mehr so wie früher,<br />

das hat sich gewaltig verändert.<br />

Ich diskutiere<br />

nicht über den Chef meines<br />

Fachbereiches mit den Chefs<br />

der Inneren Medizin <strong>und</strong><br />

arbeite auch nicht nach<br />

<strong>die</strong>sem Schema mit ihnen<br />

zusammen. Mein jetziger<br />

Chef ist in einer anderen<br />

Subspezialität tätig, <strong>und</strong><br />

der spricht mir natürlich<br />

gar nicht rein. Deshalb<br />

sind <strong>die</strong> Hierarchien, möglicherweise<br />

eben als Reaktion<br />

darauf, viel, viel<br />

besser geworden, auch am<br />

258<br />

öffentlichen Spital. Die<br />

Stärke der Privatklinik<br />

war, dass man unterschiedliche<br />

Spezialisten <strong>des</strong>selben<br />

Fachgebietes oder derselben<br />

Spezialität, Subspezialität<br />

unter demselben<br />

Dach oder unter demselben<br />

Namen zusammenfassen konnte,<br />

was wirklich sehr gut<br />

funktioniert hat. Als Aussenstehender<br />

hatte ich das<br />

Gefühl, dass <strong>die</strong>s super<br />

sei, dass es dabei tatsächlich<br />

nur um <strong>die</strong> Sache, um<br />

ein spezifisches Leiden<br />

ging. Als ich dann hineinkam,<br />

habe ich realisiert,<br />

dass sie einen riesigen<br />

Krach hatten, <strong>und</strong> man nur<br />

über Anwälte <strong>und</strong> Juristen<br />

miteinander stritt <strong>und</strong><br />

sprach. (…) In der ersten<br />

Woche sass ich mit ihnen im<br />

Sitzungsraum <strong>und</strong> da wurde<br />

klar gesagt, dass sie mit<br />

ihm nichts mehr zu tun haben<br />

wollen. Das ist natürlich<br />

eine absolute Katastrophe.<br />

Man arbeitet Türe<br />

an Türe, aber man sagt einem<br />

von Angesicht zu Angesicht,<br />

dass man mit <strong>die</strong>sem<br />

nichts mehr zu tun haben


will. Wenn ich einen Arzt<br />

benötige, der <strong>die</strong>ses <strong>und</strong><br />

jenes Leiden <strong>des</strong> Patienten<br />

betrachtet, ein Leiden für<br />

welches er der Spezialist<br />

wäre, dann schicke ich <strong>die</strong>sen<br />

nicht mehr zu dir, sondern<br />

ich suche mir jemand<br />

anders. Das ist eine Katastrophe.<br />

– Wissen Sie weshalb <strong>die</strong>ser<br />

Streit<br />

wurde?<br />

überhaupt entfacht<br />

Bernard S. – Nur Geld, nur<br />

Geld, nur Geld. Es ist sicherlich<br />

so. Das hat natürlich<br />

niemand ehrlich zugegeben.<br />

Aber es ging wirklich<br />

nur ums Geld. Die haben<br />

ja einen Schlüssel ...<br />

Ich bin ja als Angestellter<br />

nicht darin, <strong>des</strong>halb weiss<br />

ich auch nicht, wie <strong>die</strong><br />

Verhältnisse waren. Ich<br />

weiss auch nicht, wer mehr<br />

Schuld ist oder weniger ...<br />

Sicherlich tragen beide<br />

Seiten eine gewisse Verantwortung.<br />

Aber es ging sicherlich<br />

nur ums Geld. Die<br />

hatten irgendeinen Schlüssel,<br />

<strong>die</strong> gesamte Infrastruktur,<br />

wer trägt wie<br />

viel zu den Kosten, also<br />

Fixkosten wie Praxis, Sekretariat,<br />

Werbung <strong>und</strong> all<br />

<strong>die</strong>ses Zeugs bei. Irgendjemand<br />

hat dann einfach gesagt,<br />

er bezahle zu viel.<br />

So läuft das. Es ist effektiv<br />

so, dass es nicht nur<br />

in <strong>die</strong>sem einen Zentrum zu<br />

einem solchen Knatsch kam,<br />

sondern auch in anderen so<br />

genannten Zentren war es<br />

dasselbe. (…) Dies ist lediglich<br />

eine schöne Etikette<br />

<strong>und</strong> stimmt überhaupt<br />

nicht. Die arbeiten überhaupt<br />

nicht miteinander.<br />

Deshalb bin ich aus allen<br />

Wolken gefallen, als ich<br />

<strong>die</strong>s realisiert habe. Das<br />

stimmt eben gar nicht. Es<br />

ist eine schöne Adresse,<br />

ein schönes Label, ein<br />

schönes Logo, aber in Tat<br />

<strong>und</strong> Wahrheit sind alle Einzelkämpfer<br />

<strong>und</strong> versuchen<br />

für sich das Ganze zu optimieren<br />

<strong>und</strong> sorgen nicht für<br />

eine effiziente <strong>und</strong> optimale<br />

Behandlung der Patienten.<br />

– Sind <strong>die</strong> Gehälter sehr<br />

leistungsabhängig?<br />

259


Bernard S. – Ja, sie sind<br />

nur leistungsabhängig.<br />

– Man hat bestimmt aber<br />

auch ein Fixum oder?<br />

Bernard S. – Nein, nein,<br />

nein. Ich spreche nun für<br />

<strong>die</strong>se, <strong>die</strong> eine eigene Praxis<br />

haben, <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong><br />

Belegärzte sind. Das Gehalt<br />

ist eins zu eins vom Umsatz<br />

abhängig, den man generiert.<br />

Je mehr man umsetzt,<br />

umso höher ist der Profit.<br />

– Einen Teil davon muss man<br />

einfach<br />

abgeben.<br />

noch ans Spital<br />

Bernard S. – Ja, natürlich.<br />

Aber man hat keinen Basislohn<br />

oder so. Wenn man viel<br />

arbeitet, wenn man viele<br />

Patienten betreut, viel<br />

Leistung erbringt, in Form<br />

von Sprechst<strong>und</strong>en, Kontrolle,<br />

Untersuchungen oder<br />

einer Operation, umso mehr<br />

Benefit hat man dann auch<br />

am Schluss.<br />

„Bei meinem Kollegen bin<br />

ich von der Qualität<br />

konsterniert gewesen, ich<br />

260<br />

war sehr enttäuscht.“<br />

– Von der Qualität her.<br />

Bernard S. – (zögerlich)<br />

Die ist sehr unterschiedlich<br />

natürlich, <strong>und</strong> es ist<br />

auch sehr subjektiv, was<br />

ich nun sage. Die Qualität<br />

in der Medizin, obwohl eigentlich<br />

alle noch von der<br />

Qualität sprechen, <strong>die</strong>se<br />

ist sehr subjektiv. Man<br />

wird nie sehr eindeutige<br />

Parameter definieren können,<br />

um Qualität der medizinischen<br />

Behandlungen definieren<br />

<strong>und</strong> messen zu können.<br />

Bei meinem Kollegen<br />

bin ich von der Qualität<br />

konsterniert gewesen, ich<br />

war sehr enttäuscht. Das<br />

war dann auch ein weiterer<br />

Gr<strong>und</strong>, weshalb ich gesagt<br />

habe, dass ich nicht dahinter<br />

stehen kann.<br />

„Möglichst schnell <strong>und</strong> möglichst<br />

viel ...“<br />

– Inwiefern waren Sie von


der Qualität enttäuscht?<br />

Bernard S. – Möglichst<br />

schnell <strong>und</strong> möglichst viel<br />

...<br />

(Bernard S. wird immer zögerlicher,<br />

wir entscheiden<br />

uns <strong>die</strong> Aufnahme zu beenden.<br />

Die in der Folge geäusserten<br />

Aussagen wurden<br />

anschliessend in einem Gedächtnisprotokollhalten.)festge-<br />

4.3 Xavier R. − „... es spielt eine dominante Rolle, Geld <strong>und</strong><br />

Macht.“<br />

4.3.1 Der Leaver − Porträt eines ehemaligen Chefarztes<br />

Mit Beat U. kam ein zeitkritischer <strong>und</strong> dem öffentlichen Krankenhaus loyal<br />

gebliebener Zeitzeuge zu Worte der unverbrämt <strong>und</strong> entzaubert seinen heutigen<br />

Status, den Prestige- <strong>und</strong> Machtverlust seines Berufsstan<strong>des</strong> sowie <strong>die</strong><br />

Verdrängung der intrinsischen Motivatoren, <strong>die</strong> den Beruf <strong>des</strong> Arztes exemplarisch<br />

kennzeichnen, reflektiert. Mit Xavier R. stand ein erfahrener <strong>und</strong> angesehener<br />

Arzt Rede <strong>und</strong> Antwort, <strong>des</strong>sen Weggang aus dem öffentlichen Spital,<br />

wo er über fünf<strong>und</strong>zwanzig Jahre tätig war, grosses Aufsehen erregte. Xavier R.<br />

ist von grosser <strong>und</strong> sportlicher Statur, geschätzte sechzig Jahre alt <strong>und</strong> war zu<br />

Beginn <strong>des</strong> Gesprächs reserviert, unnahbar <strong>und</strong> skeptisch. Seine eher verhaltenen<br />

Antworten wandelten sich im Laufe <strong>des</strong> Gesprächs, er wurde zunehmend<br />

redefreudiger, engagierter <strong>und</strong> sogar etwas zerstreut, was darauf zurückgeführt<br />

werden könnte, dass er sein Gegenüber vollständig an seinen Ansichten <strong>und</strong><br />

Erfahrungen teilhaben lassen möchte. Durch <strong>die</strong> zeitliche Restriktion, <strong>die</strong> einem<br />

Gespräch im Krankenhausalltag immer zugr<strong>und</strong>e liegt, wurden zwar zahlreiche<br />

Themen angesprochen, konnten aber häufig nicht völlig ausformuliert<br />

werden. Xavier R. vertrat klare Meinungen <strong>und</strong> legte ein vertrauenserwecken<strong>des</strong>,<br />

aber auch respekteinflössen<strong>des</strong> Auftreten an den Tag. Sein Büro befindet<br />

sich in einer Privatklinik, wobei seine Räumlichkeiten nicht im Spital selber<br />

angesiedelt sind, sondern im obersten Stockwerk eines Bürohauses, das auf der<br />

gegenüberliegenden Strassenseite liegt. Das Büro ist sehr hell, mit wenigen<br />

Kunstobjekten bestückt, überschaubar <strong>und</strong> nahezu heimelig, was mit den<br />

Dachschrägen <strong>und</strong> dem lichtdurchfluteten Raum zusammenhängen könnte.<br />

261


Eine nicht unbedeutende Rolle spielt aber bestimmt auch <strong>die</strong> Atmosphäre vor<br />

seinem Arbeitsraum, <strong>die</strong> nicht von Patientenbetten oder medizinischen Instru-<br />

menten übersät ist, wo der typische Krankenhausgeruch fehlt <strong>und</strong> auch sonst<br />

eine ausserordentlich ruhige <strong>und</strong> beschauliche Stimmung herrscht.<br />

Xavier R. gehört zu den wenigen interviewten Ärzten, <strong>die</strong> aus einer Ärztedy-<br />

nastie stammen. Er konnte das Erbe seines Vaters, der bereits Mediziner war,<br />

antreten <strong>und</strong> tat <strong>die</strong>s gemeinsam mit seinem älteren Bruder, der das Studium<br />

abschloss, als Xavier R. damit begann. Sein Berufsethos basiert folglich nicht<br />

nur auf seiner eigenen Berufung <strong>und</strong> seinen persönlichen Überzeugungen,<br />

sondern ist intergenerationell gewachsen, wodurch er nicht nur auf seine persönlichen<br />

Erfahrungen, sondern auch auf <strong>die</strong>, <strong>die</strong> ihm sein Vater <strong>und</strong> sein Bruder<br />

mit auf den Weg gaben, zurückgreifen kann. Vermutlich konnte Xavier R.<br />

vom Prestige, von der Anerkennung <strong>und</strong> der Ehre, also vom symbolischen<br />

Kapital, das seinem Vater als Arzt einer älteren Generation zukam, profitieren,<br />

da er durch ihn bereits in den Kreis der Mediziner eingeführt <strong>und</strong> von Kin<strong>des</strong>beinen<br />

an mit dem Gedankengut, der Ideologie <strong>und</strong> der ethischen Gr<strong>und</strong>haltung<br />

seines Vaters <strong>und</strong> seiner Kollegen konfrontiert worden war. Von Interesse<br />

ist auch, dass <strong>die</strong> Tochter von Xavier R. gegenwärtig Medizin stu<strong>die</strong>rt, was ihn<br />

sichtlich mit Stolz erfüllt <strong>und</strong> ihm eine weitere Insider-Perspektive ermöglicht,<br />

<strong>die</strong> er selber folgendermassen formuliert: „... meine Tochter stu<strong>die</strong>rt<br />

Medizin, von daher habe ich auch über <strong>die</strong> aktuellen Verhältnisse<br />

ein wenig Informationen (…)“. Xavier R. nannte drei Faktoren,<br />

<strong>die</strong> ihn dazu bewegt haben, den Beruf <strong>des</strong> Arztes auszuwählen: Einerseits<br />

faszinierten ihn <strong>die</strong> Breite <strong>und</strong> Tiefe der medizinischen Wissenschaft <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> damit verb<strong>und</strong>enen beruflichen Ausrichtungen, gleichzeitig war es für ihn<br />

von Bedeutung, einen Beruf im sozialen Bereich zu wählen, <strong>und</strong> drittens spielte<br />

<strong>die</strong> Tatsache, dass sein Vater bereits Mediziner war, eine nicht unwesentliche<br />

Rolle. Xavier R. stammt nicht aus der Schweiz, weshalb er sowohl in seinem<br />

Heimatland als auch in der Schweiz stu<strong>die</strong>rte <strong>und</strong> nicht von Beginn an frei<br />

wählen konnte, in welcher Spezialität er inskünftig tätig sein möchte. Im Unterschied<br />

zu heute musste man früher nicht mit unzähligen anderen Kollegen um<br />

eine Stelle konkurrenzieren, sondern wurde angefragt <strong>und</strong> hatte üblicherweise<br />

auch mehr als eine Stelle zur Auswahl. Heute sei <strong>die</strong> Situation unter den jungen<br />

Ärzten sehr viel kompetitiver, was kennzeichnend für <strong>die</strong> fortschreitende<br />

Marktvergesellschaftung ist, es werde auch viel stärker auf Beziehungsnetz-<br />

262


werke abgestützt. Xavier R. schien das Vorgehen, das zu seiner Zeit herrschte,<br />

dem heutigen Prozedere vorzuziehen. Er selber strebte eine akademische Karri-<br />

ere an, weshalb er auch von Beginn seiner Laufbahn an seine Ausbildung in<br />

Universitätskliniken absolvierte <strong>und</strong> später auch dort praktizierte, wodurch er<br />

insgesamt etwa zehn Jahre im universitären Spitalalltag tätig war. Nach seiner<br />

Habilitation trat er seine vermutlich angedachte Lebensstelle an einem öffentlichen<br />

Stadtkrankenhaus an, wo er als Chefarzt <strong>die</strong> gesamte Abteilung seiner<br />

Spezialität, ein Fachgebiet der Inneren Medizin, während vier<strong>und</strong>zwanzig<br />

Jahren leitete. Die Position, <strong>die</strong> er als Chefarzt im öffentlichen Spital inne hat,<br />

verhalf ihm zu einem Charisma, an welches ein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit,<br />

wo ihm auch ein grosses Mass an Glaubwürdigkeit <strong>und</strong> Expertise zugesprochen<br />

wird, <strong>und</strong> ein privilegierter Status sowohl im Spital, innerhalb<br />

seiner Spezialität <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen Fachverbänden sowie in der<br />

Öffentlichkeit gekoppelt waren. Xavier R. engagiert sich nebst seinem beruflichen<br />

Alltag in zahlreichen Komitees <strong>und</strong> Verbänden. Durch <strong>die</strong> Abwanderung<br />

kam ihm der Chefarzttitel gewissermassen abhanden, da an Privatspitälern eine<br />

flache Hierarchie propagiert wird, wo Titel wie Chefarzt oder Leitender Arzt<br />

nicht ersichtlich getragen werden (Namensschild am weissen Kittel oder Anschrift<br />

<strong>des</strong> Büros), wodurch auch <strong>die</strong> Annahme einer Entwertung <strong>des</strong> Titels<br />

getroffen werden könnte51 . Auch wenn ihre Verwendung im Privatspital <strong>und</strong><br />

im Rahmen der externen Kommunikation nicht im selben Masse für <strong>die</strong> Patienten<br />

ersichtlich ist wie in öffentlichen Spitälern, so können aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Werdegangs<br />

<strong>des</strong> Arztes, der auf der Homepage der Privatklinikgruppe ersichtlich ist,<br />

oder der Tatsache, dass eine klare Abwerbungspolitik seitens der Privatkliniken<br />

vollzogen wird, wo gerne <strong>und</strong> oft kompetente, bekannte <strong>und</strong> angesehene Kaderärzte<br />

abgeworben werden, <strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Kriterien <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

Position innerhalb der Spitalhierarchie eine hohe Zahl an Privatpatienten betreuen,<br />

Rückschlüsse auf <strong>die</strong> Position im öffentlichen Spital gezogen werden.<br />

Dies lässt <strong>die</strong> Schlussfolgerung zu, dass, auch wenn keine offenk<strong>und</strong>ig gelebte<br />

Hierarchisierung anhand von Positionsbezeichnungen ersichtlich ist, <strong>die</strong> ancienneté<br />

im System, <strong>die</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Insiderposition <strong>und</strong> das Erlangen eines<br />

Renommees, <strong>des</strong>sen Erhalt auf <strong>die</strong> Zeit, in welcher der Arzt den Posten <strong>des</strong><br />

Leitenden Arztes oder Chefarztes in einem öffentlichen Spital inne hatte, zu-<br />

51 Diese Tatsache hat den Titel <strong>des</strong> folgenden Kapitels „Der Leaver – Porträt eines ehemaligen Chefarztes“ geprägt.<br />

263


ückgeht, eine deutliche Abgrenzung gegenüber jüngeren oder weniger stark<br />

arrivierten Kollegen im Privatspital zulässt. An eine solche Position, welche<br />

Xavier R. inne hatte, zu gelangen, ist eine Rarität <strong>und</strong> zeugt von einer hohen,<br />

fachlichen Kompetenz, weshalb seine Kündigung <strong>und</strong> seine Abwanderung in<br />

ein Privatspital für Aufruhr sorgte, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s nicht nur innerhalb <strong>des</strong> Kranken-<br />

haussektors. Zahlreiche Zeitungen berichteten vom Weggang Xavier R.s <strong>und</strong><br />

drei weiterer Kaderärzte seines Teams, <strong>die</strong> gemeinsam ans Privatspital wechselten<br />

<strong>und</strong> dort ein Zentrum für ihr Fachgebiet eröffneten. Die Zeitungsberichte<br />

kommentierten jedoch nicht lediglich den Weggang eines erfahrenen <strong>und</strong> angesehenen<br />

Spezialisten <strong>und</strong> seines Teams, sondern <strong>die</strong> rechtlichen Schritte, <strong>die</strong><br />

seitens der Direktion <strong>des</strong> öffentlichen Spitals gegen <strong>die</strong> vier ausgetretenen Kaderärzte<br />

eingeleitet wurden. Dem Team wurde vorgeworfen, vertrauliche K<strong>und</strong>endaten<br />

von Patienten, <strong>die</strong> nicht ausschliesslich durch sie selber behandelt<br />

worden waren, dem Spital entnommen zu haben. Gemäss Me<strong>die</strong>nberichten<br />

zeigte der Direktor zwar Verständnis für das Informieren jener Patienten, <strong>die</strong><br />

direkt von einem der vier Kaderärzte behandelt worden waren; Verständnis, da<br />

teilweise enge Bindungen mit den Patienten bestünden, wodurch auch langjährige<br />

Vertrauensbeziehungen aufgebaut werden konnten. Für das Anschreiben<br />

weiterer Patienten, <strong>die</strong> nie in direktem Kontakt mit einem <strong>die</strong>ser Ärzte standen,<br />

konnte er jedoch kein Verständnis aufbringen, da zentrale, im Besitze <strong>des</strong> Spitals<br />

stehende Daten entwendet <strong>und</strong> dadurch Datenschutzbestimmungen verletzt<br />

wurden, weshalb das Spital den Vorgang nicht als Lappalie behandeln<br />

konnte. Dieser Fall weist gewisse Parallelitäten beispielsweise mit dem Beruf<br />

eines K<strong>und</strong>enberaters auf. Die K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> deren monetäres Portfolio, welches<br />

für den Umsatz der Bank bzw. <strong>des</strong> Unternehmens sorgt, sind das Kapital <strong>des</strong><br />

K<strong>und</strong>enberaters, das auch oft als Anstellungskriterium oder als Basis für <strong>die</strong><br />

Lohnverhandlungen <strong>die</strong>nt <strong>und</strong> das bei einem Arbeitsplatzwechsel öfters mitgenommen<br />

wird. Bei einem Privatspital, das hauptsächlich privatversicherte Patienten<br />

behandelt, stellen <strong>die</strong> Patienten <strong>die</strong> K<strong>und</strong>en dar, <strong>die</strong> der Privatklinik<br />

durch ihre Zusatzversicherungen Umsätze bescheren. In der Privatwirtschaft<br />

macht es den Anschein, dass das beschriebene Prozedere goutiert wird, obwohl<br />

es auch hier nicht wirklich zum guten Ton gehört, im Krankenhausalltag jedoch<br />

scheint <strong>die</strong>s eher einen seltenen Sachverhalt darzustellen. Die Abwanderung<br />

von vier Kaderärzten führte folglich nicht nur zu erheblichen Reputationseinbussen<br />

seitens <strong>des</strong> öffentlichen Spitals, sondern durch einen solchen Weggang<br />

gingen dem Spital auch <strong>die</strong> lukrativsten Patienten verloren, da Kaderärzte <strong>und</strong><br />

264


vor allem der Chefarzt vornehmlich halbprivat- <strong>und</strong> privatversicherte Patienten<br />

betreuen. Von Bedeutung ist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang <strong>die</strong> Tatsache, dass dem<br />

Wortlaut, der dem Informationsschreiben von Xavier R. <strong>und</strong> seinem Team<br />

entnommen werden konnte, „... wo wir für alle Patienten erreichbar sein wer-<br />

den“, leider nicht mit der Realität übereinstimmt. Urs Stoffel zeigt zu Recht auf,<br />

dass sehr wohl jeder Patient im Ambulatorium der Privatklinik behandelt wer-<br />

de; folge jedoch eine stationäre Behandlung, stünde <strong>die</strong> Klinik nicht mehr für<br />

jedermann offen (Nussbaum, 2007). In den Privatkliniken würden <strong>die</strong> Privatpatienten<br />

<strong>und</strong> ein geringer Anteil an allgemeinversicherten Patienten behandelt,<br />

<strong>die</strong> Mehrheit der Allgemeinversicherten würden anschliessend aber auf <strong>die</strong><br />

öffentlichen Spitäler verteilt, wobei das öffentliche Spital, welches Xavier R. <strong>und</strong><br />

sein Team verlassen hatten, wieder ins Spiel kommt. Dass das angesprochene<br />

<strong>und</strong> von den abgewanderten Ärzten verfasste Informationsschreiben <strong>die</strong>se<br />

Tatsache verschweigt, ist gemäss Urs Stoffel äusserst heikel. Ab 01.01.2012 werden<br />

auch jene Privatspitäler, <strong>die</strong> als Listenspital aufgeführt sind, in den Genuss<br />

von öffentlichen Geldern für <strong>die</strong> erbrachten Leistungen der Gr<strong>und</strong>versicherung<br />

kommen, gleichzeitig werden sich <strong>die</strong> öffentlichen Spitäler nicht mehr auf <strong>die</strong><br />

Defizitgarantie <strong>des</strong> Kantons abstützen können. Dem Solidaritätsprinzip entsprechend,<br />

sollte das Privatspital für <strong>die</strong>se Zusatzvergütung, wenn nicht dem<br />

Staate, dann zumin<strong>des</strong>t der Allgemeinheit, also der Gesamtheit aller möglichen<br />

Patienten, ein faires Entgegenkommen anbieten. Bis dato konnten sich <strong>die</strong> Privatspitäler<br />

hinsichtlich ihrer selektiven Zugangsbestimmungen darauf berufen,<br />

dass ihre Spitäler nur schwarze Zahlen schreiben könnten, wenn sie kostendeckend<br />

behandeln würden, was zwar bei der Behandlung von Zusatzversicherten,<br />

nicht aber bei Allgemeinversicherten möglich sei. Mit der DRG-Einführung<br />

werden aber auch <strong>die</strong> Privatklinken staatliche Zuschüsse erhalten, wodurch <strong>die</strong><br />

Behandlung von Allgemeinversicherten nicht mehr im selben Masse unrentabel<br />

sein sollte <strong>und</strong> folglich auch Gr<strong>und</strong>versicherte vermehrt zugelassen werden<br />

sollten. Xavier R. vertritt eine gespaltene Meinung zu den DRG, <strong>die</strong> ihn gemäss<br />

eigenen Aussagen aufgr<strong>und</strong> seines Alters nicht mehr betreffen würden. Gleichzeitig<br />

betont er, dass er heute in einem Privatspital <strong>und</strong> mehrheitlich ambulant<br />

tätig sei <strong>und</strong> dass dort <strong>die</strong> DRG eine unbedeutende Rolle spielen werden, was<br />

aber, wie im vorhergehenden Abschnitt kurz erläutert, nicht der Realität entsprechen<br />

wird. Eine klare Meinung zur Einführung der Fallpauschalen scheint<br />

er aber nicht zu vertreten, gleichzeitig setzt er sich für ein breites Verständnis<br />

bezüglich <strong>die</strong>ses neuen Finanzierungssystems ein, indem er eine Tagung orga-<br />

265


nisiert, an der unterschiedlichste Vertreter aus dem Ges<strong>und</strong>heitswesen darüber<br />

debattieren können. Von Interesse sei <strong>die</strong>ses System vor allem für ihn als Pati-<br />

ent <strong>und</strong> − obwohl er eingangs betont: „Also, das DRG betrifft mich<br />

überhaupt nicht“ − er als langjähriger <strong>und</strong> erfahrener Arzt, der seinen Beruf<br />

als Berufung auf Lebzeiten zu verstehen scheint, betrachtet es als Pflicht seinem<br />

Berufsethos gegenüber, ein Verständnis dafür zu entwickeln: „... ich finde,<br />

dass <strong>die</strong>s auch Teil <strong>des</strong> Berufes ist, ein Arzt muss sich<br />

auch für das zu einem gewissen Teil interessieren. Wenn ich<br />

mich nur noch dafür interessiere, wie viel ich ver<strong>die</strong>ne,<br />

wie viele Eingriffe ich mache, dann muss ich sagen, das ist<br />

nicht gut.“ Xavier R. wünscht sich ein hybri<strong>des</strong> Modell, da er <strong>die</strong> momentane<br />

Trennung von öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spitälern als nicht zukunftsorientiert<br />

erachtet, was er auch damit begründet, dass er <strong>und</strong> seine Kollegen im Privatspital<br />

auch gerne Allgemeinversicherte behandeln würden: „Wenn ich<br />

hierhin einen Patienten von weiss ich woher bringe, dann<br />

heisst es, wenn es nicht ein grosser Verlust ist, dann machen<br />

wir es. Im Gegenteil, ich kann sogar, wenn ich es im<br />

Rahmen halte Allgemeinversicherte behandeln, bei welchen<br />

<strong>die</strong> Klinik sogar draufzahlt <strong>und</strong> <strong>die</strong>s einfach um gewisse<br />

Sachen zu ermöglichen. Und dort gab es eine Schikane nach<br />

der anderen. Und <strong>des</strong>halb sage ich patientenfreies Spital,<br />

<strong>die</strong>ser <strong>und</strong> jener Patient stört.“ Xavier R. beschönigt <strong>die</strong> Bereitschaft,<br />

<strong>die</strong> an Privatspitälern hinsichtlich der Behandlung von allgemeinversicherten<br />

Patienten herrscht, da aus unterschiedlichen Interviews bekannt ist,<br />

dass ein Privatspital einerseits kostendeckend zu funktionieren hat, was anscheinend<br />

nur mit einer deutlichen Mehrheit an Zusatzversicherten erreicht<br />

werden kann, <strong>und</strong> andererseits <strong>die</strong> Gehälter der Belegärzte stark leistungsorientiert<br />

ausgestaltet sind, wodurch auch bei den Ärzten ein klarer Anreiz geschaffen<br />

wurde, möglichst hohe Einnahmen zu generieren, was sich wiederum<br />

positiv auf ihr Gehalt auswirkt. Es ist nicht abwegig, von einem Anstieg der<br />

extrinsischen Motivatoren zu Lasten der intrinsischen Motivationsfaktoren zu<br />

sprechen, obwohl der Arztberuf gerade zu denjenigen Berufen gehört, <strong>die</strong> stark<br />

intrinsisch orientiert sind.<br />

Spricht Xavier R. über <strong>die</strong> Zukunft im Allgemeinen <strong>und</strong> über <strong>die</strong>jenige seines<br />

Berufsstan<strong>des</strong>, so ist unschwer ein gewisser Pessimismus hörbar, da er <strong>die</strong><br />

wachsende Orientierung an <strong>und</strong> <strong>die</strong> Bedeutung von materiellen Interessen der<br />

heranwachsenden <strong>und</strong> gegenwärtigen Generation wahrnimmt. Es scheint, dass<br />

266


ein reger Austausch zwischen ihm, seinen beiden Kindern <strong>und</strong> ihren Fre<strong>und</strong>en<br />

stattfindet, was auch folgende Aussage zeigt: „Nur ein Beispiel, ich<br />

weiss von (…) meinen Kindern, dass <strong>die</strong> Berufswahl ihrer<br />

Kollegen sehr unter dem angesprochenen Einfluss steht, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s egal ob im Bereich Recht oder Ökonomie, es spielt in<br />

beiden eine Rolle. Bei den Juristen existiert das interessante<br />

Phänomen, das kann ich jetzt auch gerade per Zufall<br />

sagen, wer wird Strafverteidiger <strong>und</strong> wer geht in den Wirtschaftsbereich.<br />

Also, das ist auch interessant <strong>und</strong> da muss<br />

man sagen, gut, das ist offensichtlich ein breiteres Phänomen.<br />

(…) Das Erste ist, dass man tatsächlich ... ich habe<br />

das kürzlich in einem Gespräch mit Kollegen zu 100 Prozent<br />

bestätigt erhalten, als mir ein Kollege gesagt hat: ,Wir<br />

haben uns doch zur damaligen Zeit überhaupt nicht darüber<br />

unterhalten, in welche Richtung wir beispielsweise bezüglich<br />

Ver<strong>die</strong>nst gehen; heute spielt das eine ganz vordergründige<br />

Rolle.‘ Gut, das spielt heute schon bei der Wahl<br />

<strong>des</strong> Studiums oder <strong>des</strong> Berufs eine Rolle, also, wer geht in<br />

<strong>die</strong> Ökonomie, wer geht in <strong>die</strong> Juristerei <strong>und</strong> so weiter.<br />

Oder wer wird Gynäkologe, wer wird Urologe, wer wird Kinderpsychiater,<br />

das hat sich geändert, das sprechen Sie ja<br />

auch damit an, oder? Also <strong>die</strong>ses Bewusstsein für Machtpositionen,<br />

das hat es natürlich immer gegeben, aber das hat<br />

sich sicherlich auch akzentuiert.“ Der Ver<strong>die</strong>nst spielt bei der Berufswahl<br />

eine vordergründige Rolle, was Xavier R. im Gespräch auch mehrmals<br />

betont. Die Tatsache, dass offen <strong>und</strong> frei darüber gesprochen wird, stellt ein<br />

klares Indiz für das Aufgeben der kollektiven Heuchelei dar. Die peinlichen<br />

Dinge werden sagbar, <strong>die</strong> Orientierung am ökonomischen Kapital muss nicht<br />

mehr hinter vorgehaltener Hand oder im engsten Kollegenkreis diskutiert werden,<br />

sondern wird zum enttabuisierten Thema, das schliesslich auch zur Banalisierung<br />

<strong>des</strong> Arztberufs führt. Die folgende Äusserung greift <strong>die</strong> Thematik der<br />

verstärkten monetären Orientierung der jüngeren Ärztegeneration nochmals<br />

deutlich auf <strong>und</strong> erklärt gewissermassen auch, weshalb <strong>die</strong> Anzahl Abwanderungen<br />

von öffentlichen Spitälern hin zu Privatklinken zunimmt: „Das kann<br />

ich jetzt für <strong>die</strong> Mediziner sagen, dass sie ihre Subberufswahl,<br />

also sie haben Medizin stu<strong>die</strong>rt <strong>und</strong> dann eine weitere<br />

Richtungsentscheidung bezüglich Spezialisierung, Hausarztmedizin,<br />

was auch immer zu treffen gehabt, dass <strong>die</strong>ser Faktor<br />

früher möglicherweise einen weniger bedeutsameren Platz<br />

einnahm ... Es wäre natürlich vollkommen falsch zu sagen,<br />

267


dass es damals keine Rolle gespielt hat, <strong>und</strong> heute entscheiden<br />

sie nur noch nach dem, das wäre Blödsinn, sondern<br />

es ist eine Gauss-Verteilung, es hat auch damals Leute gegeben,<br />

<strong>die</strong> sich sehr wohl nach einem solchen Kriterium <strong>und</strong><br />

möglicherweise dominant nach einem solchen Kriterium entschieden<br />

haben, das ist aber so eine Art Gauss-Verteilung.<br />

Aber, dass das heute eine Rolle spielt, eine grössere Rolle<br />

spielt, ja, das glaube ich. Und das glaube ich eben auch<br />

aufgr<strong>und</strong> von Gesprächen mit der jüngeren Generation.“ Die<br />

künftige Tendenz deutet sich anhand <strong>die</strong>ser Aussage an; das ökonomische<br />

Kapital scheint bereits bei der Stu<strong>die</strong>nwahl, bei der Wahl der medizinischen<br />

Fachrichtung <strong>und</strong> anschliessend vermutlich auch bei der Wahl der ersten Arbeitgeber<br />

eine bedeutende Rolle zu spielen, bedeutender, als <strong>die</strong>s früher scheinbar<br />

der Fall war. Xavier R. macht sich sichtlich Sorgen um <strong>die</strong> gegenwärtige<br />

<strong>und</strong> künftige Ärztegeneration <strong>und</strong> demzufolge auch um <strong>die</strong> Auswahlmechanismen,<br />

<strong>die</strong> bestimmen, wer gefördert wird <strong>und</strong> wer nicht. Zum heutigen Ausleseprozess<br />

der angehenden Mediziner <strong>und</strong> zu den Problematiken, <strong>die</strong> er in<br />

<strong>die</strong>sem Prozess sieht, vertritt er eine klare Meinung <strong>und</strong> fügt einige wenige<br />

Lösungsvorschläge hinzu. Ansetzen müsse man gemäss ihm bereits bei der<br />

Auswahl der Vorgesetzten, der <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> den Ordinarien, <strong>die</strong> eine bedeutende<br />

Vorbildfunktion einnehmen <strong>und</strong> weitgehend bestimmen, wer an Weiterbildungen<br />

teilnehmen darf, wem Aufenthalte im Ausland <strong>und</strong> Teilnahmen an<br />

Tagungen ermöglicht wird <strong>und</strong> wer als befähigt erklärt wird, um eine Kaderfunktion<br />

zu übernehmen. Ein hervorragender Arzt, der das Potenzial für eine<br />

Kaderarztstelle besitzt, zeichnet sich nicht nur durch fachliches Wissen <strong>und</strong><br />

soziales Kapital in Form von Renommee aus, sondern auch durch seine soziale<br />

Kompetenz, <strong>die</strong> ihn befähigt, ein empathischer Arzt im Bereich <strong>des</strong> „Patient<br />

Care“ zu sein. Heutzutage seien <strong>die</strong> Kriterien für den Arzt, der eine akademische<br />

Karriere, <strong>und</strong> für jenen, der eine klinische Karriere, beispielsweise als Spitalarzt,<br />

anstrebt, noch immer zu ähnlich, was sich inskünftig ändern müsse. Ein<br />

guter medizinscher Forscher, der von seiner Kompetenz her eher akademisch<br />

orientiert <strong>und</strong> geprägt ist, ist nicht immer auch ein guter Arzt im Sinne eines<br />

guten Zuhörers, Beraters <strong>und</strong> Vertrauten, der sich den Umgang mit einem breiten<br />

<strong>und</strong> kulturell geprägten Patientengut gewohnt ist <strong>und</strong> sich der täglichen<br />

Herausforderung der Patientenbetreuung auch mit Freude stellt, was Xavier R.<br />

mit folgenden Worten treffend beschreibt: „Mit Medizinern, <strong>die</strong> dann<br />

eben vorwiegend auf eine persönliche Karriere hin orien-<br />

268


tiert sind, was ein sehr kompetitives Geschäft darstellt,<br />

<strong>die</strong> publizieren müssen, <strong>die</strong> forschen müssen, <strong>die</strong> ihre Zeit<br />

dort hinein investieren, von denen kann man dann eben auf<br />

der anderen Seite nicht verlangen, dass sie mit links gute<br />

Ärzte, gute Patient Care, gute Dienstleistungserbringer,<br />

gute Weiterbildner sind.“ Es kristallisieren sich folglich zwei unterschiedliche<br />

Karrieremuster heraus, wobei am einen Pol der wissenschaftlich<br />

orientierte Mediziner situiert ist <strong>und</strong> am anderen der Arzt, der sich auf den<br />

Patienten konzentriert. Daraus ergeben sich auch zwei unterschiedliche Habitus,<br />

welchen man bereits im Rahmen <strong>des</strong> Studiums, spätestens aber auf Stufe<br />

Assistenzarzt gerecht werden müsse. Xavier R. scheint zwischen beiden hin<br />

<strong>und</strong> her gerissen zu sein, da er selber zu Beginn eine akademische Karriere<br />

anstrebte, seine Laufbahn sich aber zusehends zu einem klinisch tätigen Mediziner<br />

herausbildete. Er appelliert stark an <strong>die</strong> Vorbildfunktion, <strong>die</strong> seine Kollegen,<br />

<strong>die</strong> er prägende Figuren der Medizin nennt, verantwortungsvoll einzunehmen<br />

haben, da sie massgeblich an der Werteausrichtung der angehenden<br />

Ärzte beteiligt sind. Xavier R. äussert sich zur Wertevermittlung <strong>und</strong> zur verantwortungsvollen<br />

Pflicht der Vorgesetzten, der jungen Generation vorbildhaft<br />

<strong>und</strong> unterstützend zur Seite zu stehen, folgendermassen: „Das hat im weitesten<br />

Sinne mit der gesellschaftlichen Prägung <strong>und</strong> Wertevermittlung<br />

zu tun <strong>und</strong> natürlich jetzt auch wiederum, wenn<br />

wir uns nun auf den Bereich der Medizin beschränken <strong>und</strong> uns<br />

nicht im Allgemeinen, gesellschaftlichen Bereich bewegen,<br />

dann hat das sicher auch damit zu tun, dass eben <strong>die</strong> Jungen<br />

auch sehen <strong>und</strong> erkennen, wonach sich ihre Vorbilder richten.<br />

Also wenn das wirklich <strong>die</strong> Währung ist, <strong>die</strong> gilt <strong>und</strong><br />

keine andere ... Gut, keine andere ist jetzt wiederum, das<br />

muss man richtig verstehen, ich will das nie h<strong>und</strong>ert <strong>und</strong><br />

null Prozent verstanden wissen ... dann hat das Auswirkungen.<br />

Wenn <strong>die</strong> Zuwendung, also das, was einen Arzt ausmacht,<br />

wenn ich das erlebe, dass das nicht geachtet wird in meiner<br />

beruflichen Umgebung oder zu wenig geachtet oder beachtet<br />

wird <strong>und</strong> <strong>die</strong>s von meinen Vorgesetzten, <strong>die</strong> mich in meinem<br />

Werdegang prägenden Vorgesetzten, ja wen w<strong>und</strong>ert es dann,<br />

dass sich das dann so zu sagen vererbt.“ Und er fügt zusätzlich<br />

hinzu: „Also, das ist jetzt für mich evident, das Rollenvorbild<br />

hat in der Medizin in meinen Augen eine grosse Bedeutung.“<br />

Xavier R. betont, dass <strong>die</strong>ses Rollenvorbild nicht nur im medizinischen<br />

Feld, sondern auch in anderen Branchen von Bedeutung ist, da der jungen<br />

269


Generation dadurch eine Faszination für einen Beruf vermittelt werden kann<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s zur Minderung ihres teils zunehmend monetär gesteuerten Interesses<br />

an einem Arbeitsfeld beiträgt. Der Prestigeverlust stellt nicht nur das Resultat<br />

einer zunehmenden Vormachtstellung der Verwaltungsebene dar, sondern<br />

scheint im starken Zusammenhang mit der Identifizierung der heutigen Ärztegeneration<br />

<strong>und</strong> ihrem Bedürfnis zu stehen, eine neue <strong>und</strong> künftige Generation<br />

an Ärzten zu etablieren, <strong>die</strong>se aus- <strong>und</strong> weiterzubilden <strong>und</strong> ihnen <strong>die</strong> berufsethischen<br />

Normen <strong>und</strong> Werte als Vorbilder zu vermitteln. Die jungen Ärzte<br />

benötigen gemäss Xavier R. einen richtungsweisenden, beratenden <strong>und</strong> erfahrenen<br />

Arzt, der ihnen zur Planung ihrer Laufbahn zur Seite steht <strong>und</strong> der auch<br />

eine Triage zwischen den Ärzten vornehmen sollte, <strong>die</strong> offenk<strong>und</strong>ig akademisch<br />

tätig sein sollten, <strong>und</strong> denjenigen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> klinische Tätigkeit am Patienten<br />

berufen sind. Es bestünde eine reale Gefahr, dass sogenannte, aus dem<br />

wissenschaftlichen Feld „herausgefaulte“ Mediziner einen Platz im Spital<br />

fänden, denen aber <strong>die</strong> soziale Kompetenz <strong>und</strong> <strong>die</strong> Empathie, also das Einfühlungsvermögen,<br />

das ihn zur Patientenbehandlung befähigt, fehlen. Die persönliche<br />

Betroffenheit von Xavier R. wird anhand folgender Worte deutlich erkennbar:<br />

„Also wenn man <strong>die</strong>sen Abschnitt zusammenfasst, <strong>die</strong><br />

Selektionsmechanismen für <strong>die</strong> führenden, also auch <strong>die</strong> für<br />

<strong>die</strong> Ausbildung, Weiterbildung <strong>und</strong> Fortbildung prägenden<br />

Figuren in der Medizin, <strong>die</strong> sind in meinen Augen fragwürdig,<br />

das heisst wörtlich zu hinterfragen, <strong>und</strong> sie sind<br />

hochproblematisch. Das hat sicher mit der Bewertung von<br />

bestimmten Teilen der Berufstätigkeit zu tun, der Gewichtung<br />

<strong>und</strong> dem Kriterienkatalog, der zum Entscheid, wer gefördert,<br />

wer ausgesucht <strong>und</strong> wer in <strong>die</strong>se Stelle hinein lanciert<br />

wird, führt.“ Die Rekrutierungslogik in Krankenhäusern ist in den<br />

Augen von Xavier R. intransparent <strong>und</strong> orientiere sich zu stark an Kriterien<br />

(beispielsweise Anzahl Publikationen oder Forschungsrenommee), <strong>die</strong> teilweise<br />

inadäquat oder sogar falsch seien, wodurch ein Ausschuss produziert werde,<br />

der entweder zu gross oder zu klein oder aber für das Feld (akademisch bzw.<br />

klinisch) ungeeignet sei. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang stellt Xavier R. eine äusserst<br />

interessante Diagnose, wonach Frauen viel weniger in Kaderpositionen gewählt<br />

würden, was einerseits mit dem Entscheid Familie oder Karriere zusammenhänge,<br />

gleichzeitig trage aber auch der deutlich nach männlichen Attributen<br />

ausgerichtete Kriterienkatalog, dem <strong>die</strong> Frauen gerecht werden müssen <strong>und</strong> der<br />

<strong>die</strong> für sie valide Bewertungsgr<strong>und</strong>lage darstellt, massgeblich zu <strong>die</strong>ser un-<br />

270


gleichmässigen Stellenverteilung bei. Die pragmatische Handlungsweise der<br />

Frau wird als Vorhut zahlreicher, diffiziler Entwicklungen insbesondere derjenigen<br />

gesehen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>legende berufsethische Prägung <strong>des</strong> Berufsstan<strong>des</strong><br />

<strong>des</strong> Mediziners gefährdet.<br />

Xavier R. wurde von den Journalisten nach den Gründen für seinen damaligen<br />

Weggang gefragt; seine Antworten waren knapp, hinterliessen beim Leser ein<br />

<strong>und</strong>eutliches Bild <strong>und</strong> liessen viel Raum für allerlei Interpretationsansätze. Er<br />

nannte Prozessprobleme <strong>und</strong> weitere schwerwiegende Gründe, <strong>die</strong> hierarchischer<br />

<strong>und</strong> folglich spitalpolitischer Natur gewesen zu sein schienen. Sowohl aus<br />

den Zeitungsartikeln als auch aus Aussagen von Kollegen von Xavier R. ist zu<br />

entnehmen, dass Xavier R. mit der Spitalstruktur seit geraumer Zeit unzufrieden<br />

war. Zahlreiche Spitäler hatten sich im Laufe der Jahre entschieden, <strong>die</strong><br />

Abteilung der Inneren Medizin in Unterabteilungen entsprechend den Fachgebieten<br />

aufzuteilen, um der erhöhten Komplexität der Medizin gerecht zu werden.<br />

Das öffentliche Spital, in welchem Xavier R. über fünf<strong>und</strong>zwanzig Jahre<br />

tätig war, wollte eine solche Aufteilung nicht vornehmen; hinzukam, dass ein<br />

neuer Chefarzt an <strong>die</strong> Spitze der Inneren Medizin gewählt wurde, wodurch<br />

Xavier R. einen neuen Vorgesetzten erhielt. Sein bisheriger Vorgesetzter, der<br />

über zehn Jahre am öffentlichen Spital tätig war <strong>und</strong> kurz vor dem Weggang<br />

von Xavier R. in den Ruhestand ging, machte sich für das Generalistentum<br />

stark, da er der Meinung war, dass der Mensch in seiner Ganzheit betrachtet<br />

werden müsse <strong>und</strong> nicht als Summe seiner Organe (NZZ, 2007). Xavier R.<br />

schien mit dem damaligen Entscheid seines Vorgesetzten, der nur wenige Jahre<br />

älter war als er, leben zu können. Als <strong>die</strong>ser jedoch das Spital verliess <strong>und</strong> ein<br />

neuer Vorgesetzter, der wesentlich jünger war als Xavier R., <strong>die</strong>se Stelle antrat,<br />

fühlte er sich von der Direktion offenbar nicht mehr genügend ernst genommen.<br />

Welche Gründe aber abschliessend zu seinem Weggang beitrugen, bleiben<br />

unklar. Im Interview nimmt Xavier R. unverblümt dazu Stellung: „(…) für<br />

mich war es nicht mehr möglich, <strong>die</strong> berufliche Tätigkeit<br />

nach meinen Wertvorstellungen an der Stelle, in welcher ich<br />

war so weiterzuführen. Ich konnte das nicht mehr verantworten.<br />

Für mich war es primär ein Gewissensentscheid. Das war<br />

ganz im Vordergr<strong>und</strong>. Also konkret, ich konnte als Verantwortlicher<br />

für den von mir betreuten Fachbereich <strong>die</strong>se Verantwortung<br />

nicht mehr übernehmen, wenn Patienten mir bzw.<br />

dem Spital zur Behandlung zugewiesen wurden <strong>und</strong> da einen<br />

Verlauf genommen haben, der nicht mehr zu verantworten war,<br />

271


<strong>und</strong> für den ich ja letztendlich nach aussen <strong>und</strong> in der<br />

Funktion doch zuständig war. Und jetzt konkret ging es da<br />

um To<strong>des</strong>fälle, es ging um schwere, ges<strong>und</strong>heitliche Folgen<br />

für <strong>die</strong> Patienten, verpasste Symptome mit weitreichenden<br />

Auswirkungen, falsche Behandlungen <strong>und</strong> so weiter. Gut.<br />

Jetzt war ich ja lange dort, <strong>und</strong> es war ja selbstverständlich,<br />

muss ich dazu sagen, dass man alles unternimmt, um<br />

Veränderungen von Mängeln herbeizuführen, das System zu<br />

verbessern, überall passieren Fehler, überall gibt es Mängel,<br />

selbstverständlich ist das der erste Schritt <strong>und</strong> immer<br />

wieder eine Notwendigkeit. Ich habe das versucht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se<br />

Versuche für krasse, wirklich krasse Sachverhalte haben<br />

sich dann für mich als zunehmend gefährlich herausgestellt.“<br />

Die Äusserungen, <strong>die</strong> Xavier R. im Zusammenhang mit seinem<br />

Weggang verlauten lässt, stellen einen massiven Vorwurf an <strong>die</strong> Qualität <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Führungsstrukturen <strong>des</strong> öffentlichen Spitals dar. Seinem Wortlaut entsprechend,<br />

ging es folglich nicht nur um strukturelle Unzulänglichkeit, sondern<br />

auch um medizinische Fehlgriffe <strong>und</strong> berufsethisches Fehlverhalten. Gleichzeitig<br />

macht er auf seine eigene Position im Spitalalltag aufmerksam <strong>und</strong> nimmt in<br />

Ansätzen eine Selbstviktimisierung vor, <strong>die</strong> sowohl für ihn als auch für all jene,<br />

<strong>die</strong> nach seinen Beweggründen fragen, <strong>und</strong> das werden nicht wenige sein, als<br />

Erklärungsmuster <strong>und</strong> Legitimationsversuch <strong>die</strong>nen kann, was folgende Worte<br />

aufzeigen: „Das heisst, es ist nicht übertrieben, wenn ich<br />

dann sage, dass es dazu geführt hat, dass ich dann gemobbt<br />

wurde, wie man das so schön sagt. (…) Aber trotzdem durch<br />

<strong>die</strong>ses, in <strong>die</strong>sem Apparat eines solchen Spitals, letztendlich<br />

unangenehm empf<strong>und</strong>ene Verhalten der Kritik, <strong>des</strong> Ändernwollens,<br />

wurde dann zunehmend sanktioniert <strong>und</strong> <strong>die</strong>s zum<br />

Teil auf ganz lächerliche Art <strong>und</strong> Weise, also dass man einen<br />

defekten EKG-Apparat nicht ersetzt hat, einfach nicht<br />

ersetzt.“ Gleichzeitig merkt er im selben Atemzug an: „Man muss <strong>die</strong>s<br />

immer vor dem Hintergr<strong>und</strong> sehen, es hat nie jemand bezweifelt,<br />

dass der Job, den das Team am öffentlichen Spital<br />

gemacht hat vom fachlichen, inhaltlichen, das war nie zur<br />

Diskussion, das war immer von allen Seiten, im Spital, ausserhalb<br />

<strong>des</strong> Spitals, der Zuweiserspitäler, der grossen Spitäler<br />

<strong>und</strong> gesamtschweizerisch, von den Fachkollegen eigentlich,<br />

was <strong>die</strong> Qualität anging, relativ hoch angesiedelt,<br />

also da waren keine Kritikpunkte.“ Infolge <strong>des</strong>sen scheint <strong>die</strong> Fachkompetenz<br />

doch nicht dermassen an Qualität eingebüsst zu haben. Im Versuch<br />

272


von Xavier R., seine Tat zu rechtfertigen, redet er auch Klartext, was sich fol-<br />

gendermassen anhört: „Ich hatte ja auch schon x Angebote, schon<br />

Jahre zuvor in <strong>die</strong> Privatklinikgruppe zu gehen <strong>und</strong> so weiter.<br />

Also, ich hätte schon lange gehen können, wenn es mir<br />

ums Geld gegangen wäre. (Kurze Pause) Es waren Fre<strong>und</strong>e von<br />

mir überall dort, <strong>die</strong> gesagt haben: komm, komm doch zu uns,<br />

mach es dir leichter <strong>und</strong> so weiter, ver<strong>die</strong>nst das (Kurze<br />

Pause) Mehrfache.“ In <strong>die</strong>sem Zusammenhang fügt er hinzu, dass ein<br />

öffentliches Spital um seine besten Fachkräfte kämpfen, Wertschätzung zeigen<br />

<strong>und</strong> das Angebot dementsprechend ausgestalten müsse, was beispielsweise mit<br />

einem hierarchischen Aufstieg anhand der Vergabe eines Titels geschehen könne:<br />

„Also, da ging es jetzt primär mal in <strong>die</strong>ser Vorgeschichte<br />

nicht um mich, sondern es ging darum, wie kann man<br />

im Kader <strong>die</strong>se Leute halten. Und da kann natürlich <strong>die</strong> Administration<br />

auch alles blockieren <strong>und</strong> schikanieren, nichts<br />

gibt es, es gibt also auch keine Beförderung zu einem Leitenden<br />

Arzt, ein reiner Titel, völlig blödsinnig, kostet<br />

nichts oder. Wieso kann man nicht einen Leitenden Arzt ...<br />

Es war wirklich nicht ... nicht verb<strong>und</strong>en mit Lohnaufstockungen<br />

oder sonst was. Ich habe gesagt, den muss man zum<br />

Leitenden Arzt befördern, das motiviert ihn, er steht nach<br />

aussen für <strong>die</strong> Zuweiser mit einem Streifen da.“ Für Xavier R.<br />

stellt folglich der hierarchische Aufstieg ein Mittel zur Steigerung der Loyalität<br />

dar, was aber anscheinend <strong>die</strong> Direktion nicht gleichermassen gesehen hat:<br />

„Wir hatten eine Direktion, <strong>die</strong> schikaniert hat, unglaublich<br />

schikaniert hat, auch zentrale <strong>und</strong> generelle Fragen<br />

wie beispielsweise, ich hatte ja dort, das ist ein Zentrumsspital<br />

einen Fachbereich auf hohem Niveau, wie hält man<br />

<strong>die</strong>ses Niveau, wie hält man <strong>die</strong> Leute, wie hält man sie,<br />

<strong>die</strong> man dringend braucht, dass sie eben nicht ins Privatspital<br />

gehen, <strong>und</strong> wie kann man das machen?“ Seine Aussage zeigt<br />

aber auch, dass für ihn das Halten der kompetenten Fachkräfte am öffentlichen<br />

Spital <strong>und</strong> <strong>die</strong> Stärkung ihrer Loyalität zwei seiner grossen Anliegen darstellte,<br />

wobei er selber schliesslich zu denjenigen gehörte, <strong>die</strong> abwanderten. Die Direktion<br />

scheint in den Augen von Xavier R. für <strong>die</strong> rigiden <strong>und</strong> ineffizienten Strukturen,<br />

<strong>die</strong> das öffentliche Spital noch immer massgeblich charakterisieren <strong>und</strong><br />

prägen, verantwortlich zu sein, wobei in seinem Falle beachtet werden muss,<br />

dass sein direkter Vorgesetzter am öffentlichen Spital ein Arzt <strong>und</strong> der Spitaldirektor<br />

ein Ökonom waren <strong>und</strong> <strong>die</strong> Spitalleitung mehrheitlich durch Ärzte be-<br />

273


setzt war. Seine Kritik richtet sich nicht in erster Linie an <strong>die</strong> zunehmende<br />

Vormachtstellung der Ökonomen innerhalb der Spitalleitung, was, wie gesagt,<br />

im Falle <strong>des</strong> öffentlichen Spitals, an welchem Xavier R. tätig war, nicht zutraf,<br />

sondern an <strong>die</strong> Spitalhierarchie <strong>und</strong> den Administrationsaufwand, der den<br />

Ärzten zusehends aufgebürdet wurde, was Xavier R. folgendermassen formuliert:<br />

„Es ist etwas pointiert formuliert, ich hatte auch immer<br />

wieder den Eindruck, dass das Betriebsziel das patientenfreie<br />

Spital ist.“ Die Administration möchte er nicht pauschalisierend<br />

als den Bösewicht darstellen, was er betont, <strong>und</strong> dennoch kehrt in seinen<br />

Ausführungen das Feindbild, das er in der Gestalt der Verwaltung sieht, immer<br />

wieder zurück. Dass er <strong>die</strong> Verwaltung aber nicht als durchweg schikanös <strong>und</strong><br />

unnötig betrachtet, kann auch mit dem historischen Wandel der Machtverhältnisse<br />

zusammenhängen, der sich langsam, aber sicher dahingehend entwickelt<br />

hat, dass Spitäler, egal ob private oder öffentliche Krankenhäuser, zusehends<br />

von Ökonomen geführt werden. Für Xavier R. trägt der gesamte administrative<br />

Apparat zur misslichen Lage der Ärzte in öffentlichen Spitälern bei, was sich<br />

folgendermassen anhört: „(…) unglaubliche Sitzungen zu Budgetplanung<br />

<strong>und</strong> Personaleinsatz <strong>und</strong> was weiss ich alles, da<br />

hockt man wirklich auf fruchtlosen <strong>und</strong> vielen solchen Sitzungen<br />

herum, <strong>und</strong> man kann dann natürlich an solchen Sitzungen<br />

von der Administration unglaublich schikaniert werden,<br />

unglaublich.“ Der Arzt nimmt auch in <strong>die</strong>sem Beispiel <strong>die</strong> klare Opferrolle<br />

ein, indem er darstellt, wie schwierig <strong>und</strong> müssig sich das Ankämpfen<br />

gegen eine autoritäre <strong>und</strong> inkompetente Administration gestaltet.<br />

Xavier R. versucht seinen Weggang auch anhand schwerer Kritik an den öffentlichen<br />

Krankenhäusern <strong>und</strong> ihrer Struktur sowie an der Finanzierung zu legitimieren.<br />

Für seinen Vergleich nimmt er Bezug auf <strong>die</strong> Zeiten der ersten Hälfte<br />

<strong>des</strong> zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts, als Ferdinand Sauerbruch der Durchbruch im<br />

Bereich der Thoraxchirurgie gelang. Sauerbruch war einer der bedeutendsten<br />

<strong>und</strong> einflussreichsten Chirurgen der ersten Hälfte <strong>des</strong> zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

der einige Jahre am Universitätsspital <strong>und</strong> Kantonsspital in Zürich <strong>und</strong><br />

über zwanzig Jahre an der Charité in Berlin tätig war. Aufgr<strong>und</strong> seiner Kooperationsbereitschaft<br />

mit den Nationalsozialisten im Laufe <strong>des</strong> Zweiten Weltkrieges<br />

wurde er stark kritisiert <strong>und</strong> in Folge <strong>des</strong>sen nach dem Krieg aus dem Amt<br />

<strong>des</strong> Berliner Ges<strong>und</strong>heitsstadtrats entlassen. Dieser Bezug, den Xavier R. mit<br />

dem Ausdruck „... wie zu Sauerbruchszeiten ...“ machte, sollte<br />

274


lediglich sein Bild der öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsorganisationen wiedergeben,<br />

das er auch nicht scheute, seinem Gegenüber zu offenbaren. Das öffentliche<br />

Spital würde gemäss ihm unwirtschaftlich <strong>und</strong> ineffizient geführt, es wäre<br />

unrentabel <strong>und</strong> von der Verantwortungsstruktur her nicht mehr zeitgemäss.<br />

Mit Xavier R.s Worten ausgedrückt, hört sich <strong>die</strong>s folgendermassen an: „Die<br />

Spitäler sind unterschiedlich ausgeprägt aber in einem katastrophalen<br />

Zustand. Eben weil sie Sauerbruchs Strukturen<br />

haben. Das ist ja nur <strong>die</strong> Spitze <strong>des</strong> Eisberges, aber, was<br />

ich an Fällen aus dem Universitätsspital, <strong>und</strong> ich hatte da<br />

nie irgendwelche Konflikte, ich muss nichts Schlechtes sagen,<br />

aber was ich dort an persönlichen Katastrophen miterlebt<br />

habe, wo Leute kaputt gemacht wurden <strong>und</strong> so weiter.<br />

Das System ist in einem katastrophalen Zustand. Katastrophalen<br />

Zustand <strong>und</strong> es wird noch schlimmer werden <strong>und</strong> sie<br />

sind extrem unwirtschaftlich, extrem unwirtschaftlich. Wie<br />

da Geld problemlos verlocht wird, das ist unfassbar. Da es<br />

eben am Schluss gedeckt wird, <strong>und</strong> es wird auch so bleiben,<br />

auch mit Einführung der DRG wird es sich nicht ändern, da<br />

bin ich mir sicher.“ Das Geld werde regelrecht „verlocht“, was aber,<br />

von Xavier R. zynisch ausgedrückt, nicht schlimm sei, da ja am Ende <strong>des</strong> Jahres<br />

der Kanton sowieso das Defizit decke <strong>und</strong> folglich seiner Pflicht der Deckungsgarantie<br />

nachkäme: „... am Schluss bezahlt das Defizit immer<br />

der Staat, es ist vollständig egal, ob <strong>die</strong> ein paar Millionen<br />

mehr haben oder nicht. Aber es wird zum Teil als Führungsinstrument,<br />

als Knute lässt es sich sehr gut benutzen.<br />

Also, ich habe dann von der Direktion einen Anschiss bekommen,<br />

da wir wieder einen Patienten aus einem anderen Kanton<br />

behandelt haben, das war ein mühsamer Weg. Es gab dann,<br />

nachdem wir weggegangen sind, plötzlich grosse Reklamen,<br />

wir behandeln auch <strong>die</strong>sen <strong>und</strong> jenen Kanton, <strong>und</strong> überall<br />

kamen <strong>die</strong> Patienten her, das war aber ein extremer Prozess<br />

gegen riesige Widerstände gewesen.“ Einerseits ist er der Meinung,<br />

dass auch <strong>die</strong> Einführung der DRG nicht viel an der Defizitdeckung verändern<br />

werden, <strong>und</strong> gleichzeitig propagiert er, dass mehr als genügend Geld dem<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen zur Verfügung stünden, weshalb <strong>die</strong>se Deckung auch weiterhin<br />

vorgenommen werden könne. Dazu äussert sich Xavier R. wie folgt:<br />

„Aber, Geld hat es im Ges<strong>und</strong>heitsbereich <strong>und</strong> in der Medizin<br />

absolut genügend. So, dass ich mir gar keine Sorgen mache,<br />

auch nicht um <strong>die</strong> Frage, ob es zu teuer ist <strong>und</strong> so weiter.<br />

Das ist für mich überhaupt keine dominante Problematik. Die<br />

275


USA leben offensichtlich auch mit 17 Prozent Ausgaben im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen vom Bruttonationalprodukt, <strong>und</strong> wir haben<br />

11 Prozent stagnierend jetzt in den letzten Jahren. Von dem<br />

her gesehen ist <strong>die</strong> Frage nicht, ob <strong>die</strong>s zu teuer ist, sondern,<br />

ob <strong>die</strong> Prämien zu teuer sind <strong>und</strong> wird das Geld am<br />

richtigen Ort, richtig eingesetzt.“ Mit dem Schweizer Obligatorium,<br />

wonach jeder Bürger, der in der Schweiz wohnhaft ist, eine Krankenversicherung<br />

abschliessen muss, ist <strong>die</strong> Schweiz dem System der Vereinigten Staaten<br />

weit voraus, weshalb der Vergleich mit den USA etwas unpassend erscheint. In<br />

den USA sind über fünfzehn Prozent der Einwohner weder bei einer privaten<br />

Krankenversicherung versichert, noch haben sie Anspruch auf staatliche Unterstützung.<br />

Dass <strong>die</strong>s im Falle einer Krankheit den Tod bedeuten kann, der durch<br />

mangelnde finanzielle Mittel <strong>und</strong> nicht durch mangelnde medizinische Kenntnisse<br />

hervorgeht, ist leider Realität.<br />

Xavier R. übt massive Kritik an den öffentlichen Spitälern, wobei er deutlich<br />

betont, dass <strong>die</strong> Krise, in welcher sich öffentliche Häuser gemäss eigenen Aussagen<br />

befinden, hausgemacht sei <strong>und</strong> Überregulierung, ineffizientes Zeitmanagement<br />

<strong>und</strong> schwache Prozessplanung dazu beigetragen hätten. Dies drückt<br />

er folgendermassen aus: „Die Explosion von Stellen in Spitälern<br />

in den letzten Jahren, das ist unglaublich, das sind unzählige<br />

Millionen, <strong>die</strong> dort an Kosten auflaufen, <strong>und</strong> worauf<br />

geht das zurück? Das geht auf eine absolut idiotische <strong>und</strong><br />

rigi<strong>des</strong>te Arbeitszeitregelung, rigi<strong>des</strong>te, das führt dann<br />

dazu, dass sie <strong>die</strong> dümmsten Schichtwechsel haben, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Kommunikation extrem erschweren, aufwändiger machen <strong>und</strong> so<br />

weiter. Der Patient kennt schon niemanden mehr. Also es ist<br />

verheerend. Kontraproduktiv. Und sie haben plötzlich drei,<br />

vier Stellen, wo früher nur eine war. (…) Aber <strong>die</strong> Pläne<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Regelungen, auch dort gibt es eine Überregulation,<br />

sind derart rigid, dass das zu einer Explosion an Stellen<br />

führt. Jetzt hat das auch unter anderem zur Folge, dass <strong>die</strong><br />

Leute, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong>sen explo<strong>die</strong>rten Stellenzahlen beispielsweise<br />

als Mediziner sind, innerhalb ihrer Zeit gar keine<br />

Weiterbildung mehr richtig bekommen können. Die rotieren ja<br />

nur noch, um sich abzulösen <strong>und</strong> so weiter (…). Jedenfalls<br />

kann man sagen, dass <strong>die</strong> Personalkostenexplosion prominent<br />

ist <strong>und</strong> <strong>die</strong>s in jedem Spital, selbst an den gut geführten.<br />

Das führt uns zurück auf <strong>die</strong> Regulationsdichte <strong>und</strong> es führt<br />

uns zurück auf <strong>die</strong> Sauerbruch Strukturen, <strong>die</strong> auch am ob<br />

276


genannten Kantonsspital existieren, dort sind sie auch noch<br />

Sauerbruch, <strong>die</strong> kann der CEO gar nicht so einfach ändern.“<br />

Seine Aussagen lassen verlauten, dass sich <strong>die</strong> Spitäler dahingehend bewegen,<br />

dass das Kerngeschäft zusehends an Autonomie verliert, dass <strong>die</strong> Aussenlenkung<br />

aufgr<strong>und</strong> von Arbeitszeitreglement <strong>die</strong> internen Spitalstrukturen massgeblich<br />

beeinträchtigt <strong>und</strong> dass eine künstliche Komplexitätssteigerung betrieben<br />

wird. Einen klaren Änderungsvorschlag hat er nicht, massgeblich für ihn sei<br />

aber <strong>die</strong> verstärkte Orientierung am Leitsatz „Der K<strong>und</strong>e ist König“, was in<br />

seinem Wortlaut „patients first“ genannt wird <strong>und</strong> als regelrechtes Credo<br />

der berufsständischen Ethik betrachtet werden kann. Er akzentuiert seine Aussagen,<br />

indem er das Beispiel eines Arztkollegen veranschaulicht, der ihn regelrecht<br />

angefleht hatte, damit er nicht auf <strong>die</strong> Notfallstation gehen müsse. Worum<br />

er genau gebeten hatte, ist unklar, seinen Worten zufolge wollte der Hausarzt<br />

nicht in <strong>die</strong> Notfallstation eines öffentlichen Krankenhauses gehen, was Xavier<br />

R. damit begründet, dass sein Kollege scheinbar nicht in den unüberblickbaren<br />

Apparat <strong>des</strong> öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitswesens hineinrutschen wollte, aus dem er<br />

sich vermeintlich nur schwer wieder befreien könnte. Für Xavier R. ist <strong>die</strong>s<br />

natürlich ein exemplarisches Ereignis, anhand <strong>des</strong>sen er seine Sicht <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Krankenhauses bestätigt sieht. Er fügt der Geschichte hinzu, dass er noch<br />

zahlreiche weitere Beispiele anführen könnte. Gleichzeitig erzählt er auch, wie<br />

er selber zu seiner Zeit als Chefarzt eines öffentlichen Spitals Patienten aus<br />

Nachbarskantonen behandelt hatte <strong>und</strong> welche Rüge daraufhin folgte.<br />

Verstösst man mit patients first gegen <strong>die</strong> administrativ auferlegten Regeln <strong>und</strong><br />

etablierten Normen, handelt man sich anscheinend unweigerlich Ärger ein.<br />

Dieser Verlust an Macht <strong>und</strong> Selbstbestimmung hat sicherlich auch zu seinem<br />

Weggang beigetragen. Als erfahrener Mediziner, der bereits damals einen kritischen<br />

Blick auf <strong>die</strong> Institution, der er Jahrzehnte angehört hatte, warf, hat er <strong>die</strong><br />

Machtübernahme der Ges<strong>und</strong>heitsinstitutionen durch zahlreiche Ökonomen<br />

miterlebt <strong>und</strong> dementsprechend auch <strong>die</strong> von ihnen oktroyierten Regeln <strong>und</strong><br />

Normen, <strong>die</strong> er heute anprangert, <strong>die</strong> sich aber im Privatspitalalltag bestimmt<br />

nicht vermindert haben. Dass <strong>die</strong> hierarchischen Strukturen Xavier R. zusehends<br />

Mühe bereiteten, zeigt auch folgende Aussage: „Aber es hat dann<br />

mit eine Rolle gespielt, da ich durch den keine Rückendeckung<br />

hatte, <strong>und</strong> natürlich wollte ich gewisse Missstände<br />

ändern, dann ging es ja auch darum, jetzt kommen wir in <strong>die</strong><br />

sachliche Diskussion, dann ging es darum <strong>die</strong> Verantwortung<br />

einerseits <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kriterien nach denen Patientenbehandlun-<br />

277


gen stattfinden andererseits zu klären.“ Der administrative Auf-<br />

wand, den auch zahlreiche andere, interviewte Ärzte beklagen, stellt für Xavier<br />

R. eine reine Schikane dar, <strong>die</strong> vornehmlich seitens der Krankenkassen geför-<br />

dert wird, was auch folgende Aussage zeigt: „Administrative Tätigkeit<br />

setzt sich ja unter anderem aus völlig unnützem Papierkram<br />

für <strong>die</strong> Krankenkassen zusammen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser hat enorm zugenommen.<br />

Nachfragen, einfach schikanöse Nachfragen, nur um<br />

einen gewissen abschreckenden Effekt zu erzielen. Also,<br />

wenn ich jetzt beispielsweise ein bestimmtes Medikament<br />

verordne, dann muss ich zuerst ein Zeugnis schreiben, Antrag<br />

stellen <strong>und</strong> so weiter. Also, das ist eine administrative<br />

Hürde, belastet mit Papierkram, der dann irgendwo<br />

,verlocht‘ wird, was <strong>die</strong> Qualität für <strong>die</strong> Medizin <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Patienten überhaupt nicht erhöht, aber enorme Kosten <strong>und</strong> so<br />

weiter verursacht.“ Für Xavier R. stellen <strong>die</strong> unzähligen Papiere <strong>und</strong><br />

administrativen Tätigkeiten das Resultat eines Überregulierungswahns dar, der<br />

zur Komplexitätssteigerung beiträgt <strong>und</strong> einen weiteren Faktor darstellt, der zu<br />

erhöhten Abwanderungszahlen führt.<br />

Für ihn scheint der Weggang ein Gewinn auf der gesamten Linie zu sein, selten<br />

ist ein Wort <strong>des</strong> Wehmutes zu hören, was natürlich einerseits seinen Legitimationsdiskurs<br />

unterstreicht, gleichzeitig aber beim Zuhörer auch <strong>die</strong> Frage aufwirft,<br />

falls das öffentliche Krankenhaus tatsächlich der Darstellung von Xavier<br />

R. entspricht, weshalb blieb er selber dann über fünf<strong>und</strong>dreissig Jahre <strong>die</strong>sem<br />

öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitssystem <strong>und</strong> seinen Institutionen treu? Selten ist Wehmut<br />

zu hören, aber zwischen den Zeilen ist der Preis, den Xavier R. für den<br />

Weggang bezahlte, offensichtlich erkennbar, was folgende Aussagen zeigen:<br />

„Ich möchte auch meinetwegen den, was weiss ich, Asylanten<br />

behandeln können, also <strong>die</strong>ser Mix <strong>und</strong> <strong>die</strong> Notfallmedizin,<br />

<strong>die</strong> hat hier einen kleineren Stellenwert. Wir machen es<br />

hier auch, aber es hat einen kleineren Stellenwert. Ja, das<br />

vermisse ich. Was ich auch ein bisschen vermisse, aber das<br />

ist verschmerzbar, <strong>und</strong> das ist auch nicht unbedingt ...,<br />

das ist der ganze Bereich der Weiterbildung also <strong>die</strong> Assistenten,<br />

<strong>die</strong> Lehre für <strong>die</strong>sen Bereich in dem Sinne.“ Den zu<br />

bezahlenden Preis stellen <strong>die</strong> fehlende soziale Komponente in der Form eines<br />

bunten <strong>und</strong> breiten Patientengutes dar, <strong>die</strong> nahezu nicht mehr vorhandene<br />

Möglichkeit der Ausbildung der Assistenten <strong>und</strong> das Weiterbetreiben der eigenen<br />

stetigen Weiterbildung <strong>und</strong> Forschung, <strong>die</strong> gerade für einen ehemals aka-<br />

278


demisch geprägten <strong>und</strong> versierten Arzt von hoher Bedeutung ist. Hinsichtlich<br />

der Administration ist jene im Privatspital nicht schikanös, sondern sachlich,<br />

ergebnis- <strong>und</strong> betriebsorientiert. Xavier R. fühlt sich von jeglichen Regulierungszwängen<br />

befreit, <strong>die</strong> er im öffentlichen Spital als willkürliche Macht ansah.<br />

Die Verwaltung sei auf das Produkt hin orientiert, wobei das Produkt, das<br />

er anspricht, der Patient ist, gleichzeitig prangert er <strong>die</strong> teils schlechte Qualität<br />

der produzierten Ges<strong>und</strong>heit an <strong>und</strong> fragt nach, wie überhaupt Ges<strong>und</strong>heit<br />

effizient produziert werden könne. Diese Überlegungen hören sich bei Xavier<br />

R. folgendermassen an: „Letztendlich eine Administration, <strong>die</strong><br />

auf den Patienten orientiert ist, auf das Produkt. Das war<br />

ein Standardargument von mir im öffentlichen Spital, immer<br />

<strong>die</strong> Fragen, das ist ein Betrieb mit einer Produktion, mit<br />

einem Betriebsziel <strong>und</strong> so weiter. (…) Wenn ich eine Löffelfabrik<br />

habe, dann produziere ich Löffel <strong>und</strong> muss schauen,<br />

dass <strong>die</strong> Löffel auch dem Markt entsprechen, <strong>und</strong> sie gekauft<br />

werden, <strong>und</strong> dann muss ich doch fragen, wie kann ich <strong>die</strong>se<br />

Löffel, <strong>die</strong> dann auch gekauft werden, wie kann ich <strong>die</strong> entsprechend<br />

auch wirtschaftlich produzieren. Für mich war das<br />

erschlagend, dass man zum Teil schlechte Löffel, <strong>die</strong> gar<br />

nicht verlangt waren, zu einer miesen Qualität, mit einem<br />

ungeheuren Leerlauf <strong>und</strong> Aufwand produziert hat <strong>und</strong> sich nie<br />

gefragt hat, was ist das eigentlich, was wir da produzieren<br />

wollen?“ Interessant wäre es gewesen, wenn derselbe Diskurs mit ihm geführt<br />

worden wäre, als er noch am öffentlichen Spital tätig war, da bei <strong>die</strong>ser<br />

Argumentation der ökonomische Jargon, den er sich angeeignet hat, exemplarisch<br />

zum Ausdruck kommt, wobei <strong>die</strong> Wortwahl mit seiner Tätigkeit am Privatspital<br />

<strong>und</strong> dem dort stattfinden, Austausch mit seinen Kollegen <strong>und</strong> den<br />

Vorgesetzten der Direktion korrelieren könnte.<br />

Wie bereits erwähnt wurde, ist Xavier R. ein durchaus kritischer Mediziner, der<br />

<strong>die</strong> Zeichen <strong>des</strong> Wandels sehr wohl erkennt, <strong>die</strong> Ursachen jedoch teilweise<br />

verschönert darstellt oder versucht, durch eine zu starke Verviktimisierung<br />

seiner selbst <strong>und</strong> Legitimierung seines Abwanderungsentschei<strong>des</strong> den öffentlichen<br />

Krankenhäusern <strong>und</strong> ihren Direktionsmitgliedern <strong>die</strong> Täterrolle zuzuschreiben.<br />

Er spricht aber unverbrämt zahlreiche heikle Themen an, wie das<br />

Folgende zeigt: „Also beispielsweise ist es so, dass meinetwegen<br />

ein privatversicherter Patient gewisse Gefahren läuft,<br />

das heisst, dass der nach dem Gesichtspunkt <strong>des</strong> Geldver<strong>die</strong>nens<br />

in einen Prozess gesteuert wird <strong>und</strong> nicht nach den<br />

279


medizinischen Belangen geschaut wird. Also, der landet dann<br />

auf einer Abteilung, kriegt einen ges<strong>und</strong>heitlichen Prozess,<br />

der aber nicht den medizinischen Erfordernissen entspricht.<br />

Jetzt kann man natürlich sagen, ja, gut, das Geld spielt ja<br />

in allen Bereichen eben eine dominante Rolle, auch in privatärztlichen<br />

Bereichen oder im Privatklinikbereich. Aber<br />

das ist jetzt meine Erfahrung aus den beiden Gebieten, es<br />

ist keineswegs so, dass das Geld im Privatbereich eine Rolle<br />

spielt <strong>und</strong> im öffentlichen keine, sondern es spielt eine<br />

dominante Rolle, Geld <strong>und</strong> Macht <strong>und</strong> ... ja, <strong>die</strong> Macht<br />

spielt speziell am öffentlichen Spital eine Rolle <strong>und</strong> weniger<br />

im Privatspitalbereich. Das ist eine völlig andere<br />

Struktur, es ist keine Chefarztstruktur.“ Xavier R. verdeutlicht<br />

hiermit <strong>die</strong> weit verbreitete Annahme, dass gewisse Eingriffe aus reinem Profitdenken<br />

vorgenommen werden. Es macht den Anschein, dass er durch den<br />

Vergleich zwischen den Privatkliniken <strong>und</strong> den öffentlichen Institutionen <strong>die</strong>ses<br />

profitorientierte Handeln herunterzuspielen versucht, da <strong>die</strong> Rechtfertigung<br />

seines Entschei<strong>des</strong> mit einem gewissen Dekreditieren seines vorhergehenden<br />

Arbeitsumfel<strong>des</strong> einhergeht. Er macht <strong>die</strong> Chefarztstrukturen, <strong>die</strong> für ihn einen<br />

deutlichen Auslöser für seinen Weggang darstellen, verantwortlich für <strong>die</strong><br />

Sauerbruch-Strukturen an öffentlichen Spitälern, woran auch wieder erkennbar<br />

wird, wie stark ihn <strong>die</strong> vermeintliche Entmachtung <strong>und</strong> der Deal „Geld oder<br />

Macht“ beschäftigte, der von Beat U. exemplarisch angesprochen wurde <strong>und</strong><br />

dem auch Xavier R. vor seinem Entscheid ausgesetzt war. Xavier R. hält mit<br />

Vorwürfen den öffentlichen Kliniken gegenüber nicht zurück, was auch folgende<br />

Aussagen wieder zeigen: „So genannte schwierige Patienten, <strong>die</strong><br />

ich da erlebt habe <strong>und</strong> <strong>die</strong> ich im öffentlichen Spital erlebt<br />

habe, das sind Welten im Umgang. Teilweise gab es<br />

ekelhafte Patienten. Ich bin mir sicher, dass wir im öffentlichen<br />

Spital eine Sitzung gehabt hätten, gesagt worden<br />

wäre, <strong>die</strong>ser Patient geht nicht mehr <strong>und</strong> so weiter, <strong>und</strong><br />

wenn sie dann schwerkrank sind, dann wird <strong>die</strong>s dann lebensgefährlich<br />

für <strong>die</strong> Patienten, dass man ihnen Therapie reduziert,<br />

abstellt, was auch immer. Hier ist das kein Thema,<br />

hier ist das kein Thema, <strong>die</strong> sind genauso ekelhaft, genauso<br />

schwierig, genauso problematisch, aber es ist hier kein<br />

Thema, da es hier wirklich darum geht ... das ist klar, das<br />

ist der K<strong>und</strong>e, das ist der ...“ Einerseits lässt Xavier R. wieder eine<br />

massive Kritik an den öffentlichen Häusern verlauten, <strong>und</strong> andererseits zeigt er<br />

280


unmissverständlich auf, dass der Versicherungsstatus <strong>und</strong> damit einhergehend<br />

das monetäre Kapital, das zum Erlangen <strong>die</strong>ses Status beiträgt, Berechtigung<br />

auf eine Behandlung am Privatspital geben <strong>und</strong> folglich aus dem Patienten<br />

einen K<strong>und</strong>en machen sowie bestimmende Faktoren hinsichtlich der Behand-<br />

lung darstellen (möglicherweise bezüglich Dauer, Qualität <strong>und</strong> Nachhaltigkeit<br />

der Behandlung). Die Kernaussage, <strong>die</strong> aus <strong>die</strong>sem Wortlaut entnommen werden<br />

kann, ist, dass alles für den Patienten bzw. K<strong>und</strong>en getan wird, da er den<br />

zahlenden <strong>und</strong> folglich profitgenerierenden Produktionsfaktor darstellt. Folgende<br />

Prädikate stehen exemplarisch für das Bild, das Xavier R. von den Privatklinken<br />

zeichnet: ein überaus zuvorkommender <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>licher Umgang<br />

unter den Arztkollegen, der Pflege <strong>und</strong> Direktion, eine k<strong>und</strong>enzentrierte Arbeitsweise<br />

<strong>und</strong> ein Entrepreneurship gesteuertes Handeln, das anhand von<br />

leistungsorientierten Gehältern zusätzlich gefördert wird.<br />

4.3.2 Im Gespräch mit Xavier R. − Arzt am Privatspital<br />

„... es ist keineswegs so, dass das Geld im Privatbereich<br />

eine Rolle spielt <strong>und</strong> im öffentlichen keine, sondern es<br />

spielt eine dominante Rolle, Geld <strong>und</strong> Macht <strong>und</strong> ... ja, <strong>die</strong><br />

Macht spielt speziell am öffentlichen Spital eine Rolle <strong>und</strong><br />

weniger im Privatspitalbereich.“<br />

- Die ersten Fragen beziehen<br />

sich auf Ihren Werdegang,<br />

<strong>und</strong> so möchte ich<br />

gerne von Ihnen erfahren,<br />

weshalb Sie <strong>die</strong>sen Beruf<br />

ausgewählt haben?<br />

Xavier R. - Ja, <strong>die</strong> Berufswahl<br />

hat sehr wahrscheinlich<br />

wie bei sehr vielen<br />

anderen auch am Ende <strong>des</strong><br />

Gymnasiums stattgef<strong>und</strong>en,<br />

<strong>und</strong> da sind mehrere Berufe<br />

zur Auswahl gestanden. Das<br />

war einerseits Physik <strong>und</strong><br />

andererseits war auch Medizin<br />

immer mit in den Überlegungen<br />

dabei. Mein Vater<br />

war auch Arzt, das war ein<br />

Gr<strong>und</strong>. Mein älterer Bruder<br />

281


hat auch schon zu <strong>die</strong>sem<br />

Zeitpunkt Medizin stu<strong>die</strong>rt<br />

<strong>und</strong> war am Abschliessen.<br />

Ausschlaggebend dann für<br />

<strong>die</strong> Berufswahl waren <strong>die</strong><br />

relativ weit gespannten<br />

Wahlmöglichkeiten für <strong>die</strong><br />

definitive Berufstätigkeit,<br />

zwischen sozusagen der kurativen<br />

Medizin bis hin zu<br />

theoretischen Fächern <strong>und</strong><br />

so weiter. Und sicher hat<br />

das Umfeld, dass eben der<br />

Vater Arzt war <strong>und</strong> so weiter<br />

mit eine Rolle gespielt.<br />

In dritter Linie<br />

war es <strong>die</strong> Überlegung in<br />

einem Bereich einen Beruf<br />

zu wählen, der mit Menschen<br />

zu tun hat, der im weitesten<br />

Sinne im sozialen Bereich<br />

anzusiedeln ist. Ja,<br />

das waren <strong>die</strong> wesentlichen<br />

Überlegungen.<br />

- Sie haben ja in Österreich<br />

stu<strong>die</strong>rt?<br />

Xavier R. - Ich habe in<br />

Österreich <strong>und</strong> der Schweiz<br />

stu<strong>die</strong>rt.<br />

- Danach waren Sie lange<br />

Zeit an einem Schweizer<br />

Universitätsspital, eigent-<br />

282<br />

lich sehr lange. Hatten Sie<br />

eine klinische Karriere<br />

oder eine akademische Karriere<br />

im Fokus?<br />

Xavier R. - Damals war eine<br />

etwas andere Zeit als heute.<br />

Es war damals nicht<br />

ganz so einfach für Ausländer<br />

in <strong>die</strong> Schweiz zu kommen<br />

beziehungsweise Stellen<br />

im Bereich der Medizin zu<br />

bekommen, <strong>und</strong> das ist unter<br />

anderem auch ein Gr<strong>und</strong> für<br />

<strong>die</strong>se Ortsfestigkeit. Weil<br />

mit jedem Ortswechsel <strong>die</strong><br />

ganze Problematik der Arbeitsbewilligung<br />

<strong>und</strong> so<br />

weiter verb<strong>und</strong>en war. Also<br />

das war der Gr<strong>und</strong>. Dann war<br />

es auch eine andere Zeit,<br />

man musste weniger als heute<br />

seine Karriere auf eigene<br />

Initiative <strong>und</strong> auch mit<br />

Ellbogen <strong>und</strong> so weiter gestalten,<br />

sondern es war<br />

üblich, dass man so zusagen<br />

angefragt wurde. Man hat<br />

gearbeitet auf einem ...<br />

ich habe innerhalb einer<br />

Spezialität begonnen, das<br />

war ein Bereich, in welchem<br />

man eben einfacher als Ausländer<br />

eine Stelle finden<br />

konnte <strong>und</strong> <strong>die</strong>s stellte


auch eine der Nischenmöglichkeiten<br />

dar, damit man<br />

überhaupt in <strong>die</strong> Schweiz<br />

kommen konnte. Dort gab es<br />

dann eben genau <strong>die</strong> Situation,<br />

dass man sozusagen<br />

angefragt wurde: „Es besteht<br />

<strong>die</strong>se <strong>und</strong> <strong>die</strong>se Möglichkeit,<br />

bist du interessiert<br />

daran?“ Und das ist<br />

dann so weitergegangen, so<br />

bin ich dann eigentlich<br />

auch in meine heutige Spezialität<br />

hinein gekommen.<br />

Das ist dann auch in <strong>die</strong>sem<br />

Bereich so gewesen, da ich<br />

eigentlich ums Haar ein<br />

anderer Spezialist geworden<br />

wäre, da mich jene auch<br />

angefragt hatten, ob ich<br />

nicht zu ihnen kommen möchte.<br />

Man ist sozusagen rekrutiert<br />

worden <strong>und</strong> musste<br />

nicht irgendwohin gehen <strong>und</strong><br />

sagen: „Hättet ihr nicht<br />

eine Stelle <strong>und</strong> so weiter“,<br />

sondern man hatte, wenn man<br />

<strong>die</strong> entsprechende Qualifikation<br />

mitbrachte, fast<br />

eine Wahlmöglichkeit. Man<br />

bekam verschiedene Angebote.<br />

Und das war an sich<br />

angenehm, es war auch eine<br />

andere Atmosphäre als <strong>die</strong>-<br />

jenige, <strong>die</strong> im Moment<br />

herrscht, <strong>die</strong> sehr viel<br />

kompetitiver ist <strong>und</strong> auf<br />

Beziehungen abstellt, etc.<br />

Dieses Auswahlverfahren war<br />

sicherlich ein etwas anderes.<br />

Aber bon, das ist Nebensache.<br />

Akademische Karriere,<br />

ja. Ich war ja von<br />

Anfang an, an einer Universitätsklinik,<br />

<strong>und</strong> dementsprechend<br />

war für mich dann<br />

auch <strong>die</strong> Möglichkeit gegeben<br />

eine akademische Karriere<br />

anzustreben, mich zu<br />

habilitieren auf Deutsch<br />

gesagt. Und das habe ich<br />

dann auch gemacht.<br />

- Weshalb fiel überhaupt<br />

der Entscheid, in <strong>die</strong><br />

Schweiz zu gehen?<br />

Xavier R. - Ich habe ja,<br />

wie gesagt, auch in der<br />

Schweiz stu<strong>die</strong>rt, das war<br />

das eine. Und ich hatte<br />

auch vom Studium her, von<br />

den verschiedenen Berührungspunkten<br />

mit der<br />

Schweizer Medizin damals<br />

den Eindruck, dass da extreme<br />

Medizin gemacht wird,<br />

extreme Lehrer sind. Das<br />

war eigentlich der Gr<strong>und</strong>.<br />

283


- Dieses Auswahlverfahren,<br />

das Sie angesprochen haben,<br />

innerhalb welchem man ausgewählt<br />

<strong>und</strong> gefragt wird,<br />

benötigt aber <strong>die</strong> Voraussetzung,<br />

dass man gut ist,<br />

da man ja ansonsten nicht<br />

angefragt wird, ob man an<br />

einer gewissen Stelle interessiert<br />

ist oder interpretiere<br />

ich <strong>die</strong>s nun falsch?<br />

Braucht es dazu auch gewisse<br />

Förderer, <strong>die</strong> an einen<br />

glauben <strong>und</strong> einen weiterziehen?<br />

Xavier R. - Genau, genau,<br />

<strong>die</strong>se Förderung, wenn ich<br />

<strong>die</strong>s mit den Zeiten vergleiche,<br />

in welchen ich<br />

auch selber Assistenten,<br />

wenn man so sagen möchte,<br />

rekrutiert habe, dann war<br />

das schon etwas weniger<br />

ausgeprägt, aber auch dort<br />

hat es Personen gegeben,<br />

<strong>die</strong> man angefragt hat:<br />

„Würde dich das denn nicht<br />

interessieren? Das wäre<br />

doch eine Möglichkeit, also<br />

wir wären interessiert.“<br />

Und so hat man versucht,<br />

gute Leute ins Team zu bekommen.<br />

284<br />

- Sogenannte Förderer,<br />

gibt es <strong>die</strong>se Ihrer Meinung<br />

nach auch heute noch? Sie<br />

waren nun einer <strong>die</strong>ser Förderer.<br />

Sie haben aber auch<br />

gleichzeitig gesagt, dass<br />

heute mehr mit Ellbogen<br />

umgegangen wird.<br />

Xavier R. - Ja, das ist<br />

sicher nicht durchwegs so,<br />

das wär dann wahrscheinlich<br />

zu kurz charakterisiert.<br />

Aber das gibt es weniger.<br />

„... <strong>die</strong> Selektionsmechanismen<br />

für <strong>die</strong> führenden<br />

also auch für <strong>die</strong> Ausbildung,<br />

Weiterbildung <strong>und</strong><br />

Fortbildung prägenden Figuren<br />

in der Medizin, <strong>die</strong><br />

sind in meinen Augen fragwürdig,<br />

das heisst wörtlich<br />

zu hinterfragen <strong>und</strong> sie<br />

sind hochproblematisch.“<br />

- Weshalb?<br />

Xavier R. - Das hat ...,<br />

das ist ein f<strong>und</strong>amentales<br />

Problem, das hat mit den<br />

Auswahlmechanismen der führenden<br />

Mediziner, eigent-


lich mit den führenden<br />

<strong>Chefärzte</strong>n aber auch akademisch<br />

führenden Medizinern<br />

zu tun. Die Leute, <strong>die</strong> Personalverantwortung,Ausbildungsverantwortung<br />

<strong>und</strong> Weiterbildungsverantwortung<br />

tragen, <strong>die</strong> meine ich jetzt<br />

als Führungspersonen der<br />

Medizin, <strong>die</strong> unterliegen ja<br />

bestimmten Auswahlmechanismen.<br />

Das heisst, dass bis<br />

sie als Chefarzt in einer<br />

Position sind, als Ordinarius,<br />

als Abteilungsleiter,<br />

spielen verschiedene Mechanismen,<br />

das sind einerseits<br />

fachliche Qualifikationen,<br />

das sind aber auch formale<br />

Kriterien, <strong>die</strong> erfüllt sein<br />

müssen. Das sind dann natürlich<br />

im akademischen<br />

Bereich Publikationen,<br />

Lehrtätigkeit, Auslandsaufenthalte,<br />

what ever. Das<br />

ist also eine ganz Reihe<br />

von Mechanismen <strong>und</strong> Kriterien,<br />

<strong>die</strong> da eine Rolle<br />

spielen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Auswahlmechanismen<br />

für <strong>die</strong>se Führungspersonen,<br />

<strong>die</strong> sind, so<br />

glaube ich, dafür entscheidend,<br />

dass sich das System<br />

der Medizin, wenn man mal<br />

alleine von der Schweiz<br />

spricht, erheblich verändert<br />

hat. Also, das ist<br />

sehr komplex, aber man kann<br />

ein paar Punkte auch sehr<br />

einfach darstellen. Wenn<br />

heute ein Ordinariat am<br />

Universitätsspital ausgeschrieben<br />

wird, (…) dann<br />

ist <strong>die</strong> Qualifikation aufgr<strong>und</strong><br />

meinetwegen der Publikationslistehochentscheidend,<br />

aber auch aufgr<strong>und</strong><br />

einer gewissen Repräsentationstätigkeit.<br />

Das<br />

heisst, das sind soziale<br />

Funktionen, ein gewisses<br />

internationales Renommee,<br />

wie es so schön heisst, (…)<br />

das setzt sich aber keineswegs<br />

nur daraus zusammen,<br />

dass man fachlich sehr gut<br />

ist. Ich habe den Vergleich<br />

bereits angestellt, <strong>und</strong> es<br />

ist eine Tendenz in <strong>die</strong>se<br />

Richtung im Gange, dass<br />

sehr viel Aufwand auch in<br />

<strong>die</strong>ses Rating hineingeht,<br />

sei es Rating von Universitäten,<br />

Rating von Instituten,<br />

Rating von <strong>und</strong> so weiter.<br />

Dort spielen alle <strong>die</strong>se<br />

Dinge eine enorme oder<br />

sagen wir dominante Rolle.<br />

285


Das ist das eine, das zweite<br />

ist, dass <strong>die</strong> Medizin<br />

natürlich eine spezielle<br />

Situation in den grossen<br />

Spitälern beziehungsweise<br />

in den Universitäten hat,<br />

da es dort nicht nur um<br />

Forschungstätigkeit, um<br />

wissenschaftliche Tätigkeit<br />

geht, <strong>die</strong> ebenso hoch bemessen<br />

wird, sondern es<br />

geht dort auch um <strong>die</strong> sogenannten<br />

Dienstleistungen<br />

also Patient Care, <strong>und</strong> das<br />

ist natürlich ein Spagat,<br />

der häufig zu Konflikten<br />

führt. Diese Konflikte sind<br />

in keinster Weise gelöst,<br />

also Stichwort Tracks für<br />

<strong>die</strong> akademische Medizin <strong>und</strong><br />

Track zum „in Anführungszeichen“<br />

guten Arzt, <strong>die</strong><br />

sind nicht kompatibel, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Konflikte sind auch<br />

nicht gelöst. Eine einfache<br />

Frage wäre, ich glaube<br />

nicht, dass es aber so einfach<br />

liegt, aber nur um das<br />

Problem etwas deutlicher zu<br />

machen, möglicherweise<br />

müsste es verschiedene<br />

Tracks im Bereich <strong>die</strong>ser<br />

grossen Spitäler geben, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s sollte insbesondere<br />

286<br />

auch in der akademischen<br />

Medizin berücksichtigt werden.<br />

Mit Medizinern, <strong>die</strong><br />

dann eben vorwiegend auf<br />

eine persönliche Karriere<br />

hin orientiert sind, was<br />

ein sehr kompetitives Geschäft<br />

darstellt, <strong>die</strong> publizieren<br />

müssen, <strong>die</strong> forschen<br />

müssen, <strong>die</strong> ihre Zeit<br />

dort hinein investieren,<br />

von denen kann man dann<br />

eben auf der anderen Seite<br />

nicht verlangen, dass sie<br />

mit links gute Ärzte, gute<br />

Patient Care, gute Dienstleistungserbringer,<br />

gute<br />

Weiterbildner sind. Diesen<br />

Konflikt erlebt man bereits<br />

im Studium, meine Tochter<br />

stu<strong>die</strong>rt Medizin, von daher<br />

habe ich auch über <strong>die</strong> aktuellen<br />

Verhältnisse ein<br />

wenig Informationen, auch<br />

dort muss man sagen, dass<br />

<strong>die</strong>se enorm wichtige Aufgabe<br />

in meinen Augen, also<br />

<strong>die</strong> Prägung der jungen Leute,<br />

wenn man so will, <strong>die</strong><br />

in <strong>die</strong>sen Beruf hineinkommen,<br />

dass <strong>die</strong> auf eine Art<br />

<strong>und</strong> Weise stattfindet, wo<br />

man schon von vornherein,<br />

vorsichtig ausgedrückt,


sagen muss, dass <strong>die</strong> Lehre,<br />

also <strong>die</strong> Führung von <strong>die</strong>sen<br />

Personen, Education, eher<br />

nachrangig behandelt wird.<br />

Also das ist nicht zuvorderst<br />

als Hauptaufgabe, als<br />

unglaublich wichtig in der<br />

Hierarchie der verschiedenen<br />

Aufgaben, <strong>die</strong> man hat,<br />

angesiedelt. Das hat natürlich<br />

mit vielen Dingen zu<br />

tun, das hat mit der Relation<br />

von Lehrenden <strong>und</strong> Lernenden,<br />

das hat mit den<br />

Mitteln, <strong>die</strong> dafür eingesetzt<br />

werden, zu tun. In<br />

einer amerikanischen Eliteuniversität,<br />

in welcher man<br />

sich <strong>die</strong> besten, motiviertesten<br />

Leute aussuchen kann<br />

<strong>und</strong> eine unglaublich günstige<br />

Relation von Tutoren<br />

<strong>und</strong> Stu<strong>die</strong>renden hat, da<br />

sind <strong>die</strong> Voraussetzungen<br />

natürlich ganz anders, das<br />

ist schon so. Aber selbst<br />

wenn man jetzt <strong>die</strong>se Einschränkungen<br />

macht, dass<br />

viel mit Mitteln zusammenhängt<br />

<strong>und</strong> so fort, dann<br />

muss man doch sagen, dass<br />

es doch auch ein Einstellungsproblem<br />

<strong>und</strong> ein mentales<br />

Problem darstellt be-<br />

züglich der Rangordnung.<br />

Also wenn man <strong>die</strong>sen Abschnitt<br />

zusammenfasst, <strong>die</strong><br />

Selektionsmechanismen für<br />

<strong>die</strong> führenden, also auch<br />

<strong>die</strong> für <strong>die</strong> Ausbildung,<br />

Weiterbildung <strong>und</strong> Fortbildung<br />

prägenden Figuren in<br />

der Medizin, <strong>die</strong> sind in<br />

meinen Augen fragwürdig,<br />

das heisst wörtlich zu hinterfragen,<br />

<strong>und</strong> sie sind<br />

hochproblematisch. Das hat<br />

sicher mit der Bewertung<br />

von bestimmten Teilen der<br />

Berufstätigkeit zu tun, der<br />

Gewichtung <strong>und</strong> dem Kriterienkatalog,<br />

der zum Entscheid,<br />

wer gefördert, wer<br />

ausgesucht <strong>und</strong> wer in <strong>die</strong>se<br />

Stelle hinein lanciert<br />

wird, führt. Ich denke da<br />

unter anderem auch an ein<br />

kleines, marginales aber<br />

symptomatisches Problem,<br />

das ja dasjenige der Frauen<br />

ist, wo man hard facts sagen<br />

kann: „Gut, es hat also<br />

sehr wenig Frauen in <strong>die</strong>sen<br />

Positionen, immer noch.“<br />

Das hat nicht nur, aber<br />

schon gravierend, mit der<br />

Doppelrolle Familie <strong>und</strong> so<br />

weiter zu tun, aber nicht<br />

287


nur, überhaupt nicht nur,<br />

sondern, es hat eben auch<br />

damit zu tun, dass Frauen<br />

weniger in <strong>die</strong>sem Kriterienkatalog<br />

vorne rangieren,<br />

dass sie weniger <strong>die</strong>se Kompetition<br />

im Publizieren<br />

haben, sich weniger um <strong>die</strong><br />

Patienten kümmern, da sie<br />

im Zweifelsfall <strong>die</strong> eigene<br />

Karriere, <strong>die</strong> eigene Positionsbehauptung<br />

<strong>und</strong> so weiter<br />

in den Vordergr<strong>und</strong><br />

stellen, dass sie weniger<br />

<strong>die</strong>ses Networking, das ich<br />

vorhin angesprochen habe,<br />

haben <strong>und</strong>, dass sie weniger<br />

das Renommee <strong>und</strong> so weiter<br />

in den Vordergr<strong>und</strong> stellen.<br />

„Ich meine <strong>die</strong> Auswahlmechanismen<br />

sind ja unterschiedlich<br />

für einen Ordinarius<br />

oder für einen Chefarzt<br />

eines, sagen wir, Bezirksspitals,<br />

aber sie<br />

sind, was sie gleichermassen<br />

kennzeichnet, manchmal<br />

crazy.“<br />

- Sie haben oft von Karriere<br />

gesprochen, darf man<br />

288<br />

sagen, dass <strong>die</strong> Karriere<br />

eines Arztes heute bewusst<br />

bzw. <strong>die</strong> Eckpunkte für eine<br />

solche Karriere deutlicher<br />

festgelegt werden können<br />

als <strong>die</strong>s früher der Fall<br />

war. Sie haben ja beschrieben,<br />

dass man früher auf<br />

eine Stelle berufen wurde,<br />

dass man sich nicht oder<br />

selten selber bewerben<br />

musste, oder dass man angefragt<br />

wurde, ob man <strong>die</strong>se<br />

oder jene Stelle möchte.<br />

Hat <strong>die</strong>ser Kriterienkatalog<br />

auch dazu geführt, dass man<br />

heute seine Karriere gut<br />

planen kann (…)? (…)<br />

Xavier R. - Da sind mehrere<br />

Punkte drin. Das Erste ist,<br />

dass man tatsächlich ...<br />

ich habe das kürzlich in<br />

einem Gespräch mit Kollegen<br />

zu h<strong>und</strong>ert Prozent bestätigt<br />

erhalten, als mir ein<br />

Kollege gesagt hat: „Wir<br />

haben uns doch zur damaligen<br />

Zeit überhaupt nicht<br />

darüber unterhalten, in<br />

welche Richtung wir beispielsweise<br />

bezüglich Ver<strong>die</strong>nst<br />

gehen; heute spielt<br />

das eine ganz vordergründige<br />

Rolle.“ Gut, das spielt


heute schon bei der Wahl<br />

<strong>des</strong> Studiums oder <strong>des</strong> Berufs<br />

eine Rolle, also, wer<br />

geht in <strong>die</strong> Ökonomie, wer<br />

geht in <strong>die</strong> Juristerei <strong>und</strong><br />

so weiter. Oder wer wird<br />

Gynäkologe, wer wird Urologe,<br />

wer wird Kinderpsychiater,<br />

das hat sich geändert,<br />

das sprechen sie ja auch<br />

damit an, oder? Also <strong>die</strong>ses<br />

Bewusstsein für Machtpositionen,<br />

das hat es natürlich<br />

immer gegeben, aber<br />

das hat sich sicherlich<br />

auch akzentuiert. Wenn sie<br />

sagen, dass man heute sozusagen,<br />

wenn ich sie richtig<br />

verstanden habe, mit Eckpunkten<br />

bereits eine Karriere<br />

planen kann, dann muss<br />

man dazu sagen, dass das,<br />

was sicherlich einen Mangel<br />

darstellt, <strong>und</strong> das kann ich<br />

auch generell sagen, weil<br />

ich mich ja auch von der<br />

Schweizerischen Gesellschaft<br />

für meinen Spezialbereich<br />

mit Weiterbildungsfragen<br />

befasst habe, <strong>und</strong><br />

ich auch gerade Weiterbildungsprogramme<br />

begutachte,<br />

dann muss ich schon sagen,<br />

dass <strong>die</strong> Beratung, <strong>die</strong><br />

Laufbahnberatung, würde ich<br />

mal sagen, zu kurz kommt,<br />

nicht aber <strong>die</strong> Karriereberatung,<br />

also <strong>die</strong> Laufbahnberatung<br />

für angehende Ärzte.<br />

Ich habe auch gesehen,<br />

dass in den Jahren, in denen<br />

ich Assistenten eingestellt<br />

habe, es <strong>die</strong> absolute<br />

Ausnahme war, dass man<br />

mit jungen Medizinern darüber<br />

gesprochen hat, wohin<br />

sie ten<strong>die</strong>ren, welches ihre<br />

Stärken sind, wie sie <strong>die</strong>s<br />

angehen müssen. Bei <strong>die</strong>sen<br />

Bewerbungsgesprächen zum<br />

Beispiel hätte man ihnen<br />

sagen können: „Gut, Sie<br />

wollen mal in <strong>die</strong> Praxis,<br />

in ein grosses Spital, akademisch,<br />

was auch immer“,<br />

dass man dann sagt, dass<br />

wenn sie das wollen, dann<br />

wäre es am sinnvollsten,<br />

dass sie jetzt als nächste<br />

Stelle <strong>die</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Tätigkeit<br />

machen sollten, <strong>und</strong><br />

für <strong>die</strong>ses oder jenes müssten<br />

sie sich dort <strong>und</strong> dort<br />

bewerben - das war aber <strong>die</strong><br />

absolute Ausnahme. Sondern<br />

man hat den Leuten das<br />

praktisch zu neunzig Prozent<br />

überlassen, wie sie<br />

289


eispielsweise auch irgendwelche,<br />

teilweise zufällige<br />

Berufsangebote auswählten,<br />

<strong>und</strong> so gehen sie mal als<br />

Assistenten in <strong>die</strong>ses <strong>und</strong><br />

jenes Spital, was nicht<br />

schlecht ist, <strong>und</strong> teilweise<br />

ist auch das Spital an sich<br />

nicht schlecht, aber es ist<br />

nicht unbedingt das Richtige<br />

für eine bestimmte Laufbahn<br />

<strong>und</strong> einen bestimmten<br />

Menschen. Und genau <strong>die</strong>se<br />

Beratung findet viel zu<br />

wenig für <strong>die</strong> Studenten<br />

statt, für <strong>die</strong> Assistenten<br />

erst recht zu wenig <strong>und</strong><br />

dann weiter ebenfalls auch<br />

nicht, also auf den höheren<br />

Niveaus, <strong>die</strong>se Postdocs,<br />

angehenden Habilitanden <strong>und</strong><br />

so weiter. Das findet nicht<br />

statt. Und dann faulen aus<br />

dem System Leute raus, <strong>die</strong><br />

dann plötzlich verirrt in<br />

der Gegend stehen. Dann<br />

haben sie plötzlich aus dem<br />

akademischen Prozess heraus<br />

gefaulte, <strong>die</strong> auf eine Art<br />

völlig unfähig sind <strong>und</strong><br />

nachdem was ich gesagt habe,<br />

ist <strong>die</strong>s auch völlig<br />

verständlich. Sie landen<br />

dann plötzlich irgendwo in<br />

290<br />

der Patient Care <strong>und</strong> waren<br />

vorher mit heraushängender<br />

Zunge wie <strong>die</strong> Windh<strong>und</strong>e<br />

unterwegs, um eine akademische<br />

Karriere mit Publikation<br />

über irgendwelche<br />

Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaft zu<br />

machen. Ich meine <strong>die</strong> Auswahlmechanismen<br />

sind ja<br />

unterschiedlich für einen<br />

Ordinarius oder für einen<br />

Chefarzt eines, sagen wir,<br />

Bezirksspitals, aber sie<br />

sind, was sie gleichermassen<br />

kennzeichnet, manchmal<br />

crazy. Und es kann also<br />

durchaus passieren, das ist<br />

kein untypischer Fall, dass<br />

ein herausgefaulter Akademiker,<br />

akademisch Karrieremachender,<br />

sich plötzlich<br />

als Chef in einem Bezirksspital<br />

findet, <strong>und</strong> dann ist<br />

natürlich auch <strong>die</strong> Konsequenz<br />

dort, dass <strong>die</strong> Assistenten,<br />

<strong>die</strong> dort arbeiten,<br />

genau <strong>die</strong>se Anleitung, Prägung,<br />

Führung nicht haben.<br />

Das findet in dem Sinne auf<br />

allen Niveaus statt.<br />

- Sie haben vorhin <strong>die</strong><br />

höhere Sensibilität zum<br />

monetären Faktor erwähnt,<br />

dass heute <strong>die</strong> Studenten


ewusst gewisse Stu<strong>die</strong>nrichtungen<br />

wählen, da sie<br />

wissen, dass sie später mal<br />

zu einer gewissen Gehaltsklasse<br />

gehören werden. Was,<br />

wenn ich Sie nicht falsch<br />

interpretiere, früher weniger<br />

der Fall war. Ist <strong>die</strong>s<br />

richtig so?<br />

Xavier R. - Das kann ich<br />

jetzt für <strong>die</strong> Mediziner<br />

sagen, dass sie ihre Subberufswahl,<br />

also sie haben<br />

Medizin stu<strong>die</strong>rt <strong>und</strong> dann<br />

eine weitere Richtungsentscheidung<br />

bezüglich Spezialisierung,<br />

Hausarztmedizin,<br />

was auch immer zu treffen<br />

gehabt, dass <strong>die</strong>ser Faktor<br />

früher möglicherweise einen<br />

weniger bedeutsameren Platz<br />

einnahm ... Es wäre natürlich<br />

vollkommen falsch zu<br />

sagen, dass es damals keine<br />

Rolle gespielt hat, <strong>und</strong><br />

heute entscheiden sie nur<br />

noch nach dem, das wäre<br />

Blödsinn, sondern es ist<br />

eine Gauss-Verteilung, es<br />

hat auch damals Leute gegeben,<br />

<strong>die</strong> sich sehr wohl<br />

nach einem solchen Kriterium<br />

<strong>und</strong> möglicherweise dominant<br />

nach einem solchen<br />

Kriterium entschieden haben,<br />

das ist aber so eine<br />

Art Gauss-Verteilung. Aber,<br />

dass das heute eine Rolle<br />

spielt, eine grössere Rolle<br />

spielt, ja, das glaube ich.<br />

Und das glaube ich eben<br />

auch aufgr<strong>und</strong> von Gesprächen<br />

mit der jüngeren Generation.<br />

Also mit den Kollegen<br />

von meinen Kindern <strong>und</strong><br />

so weiter, aus den verschiedenenBerufswahlgruppen<br />

<strong>und</strong> auch aus dem Bekanntenkreis,Verwandtenkreis,<br />

wo es eben sehr viele<br />

Studenten gibt, <strong>die</strong> Juristen,<br />

Ökonomen <strong>und</strong> so<br />

weiter <strong>und</strong> so fort sind.<br />

Also ich glaube schon, dass<br />

das mehr eine Rolle spielt<br />

<strong>und</strong> eben auch in der Medizin,<br />

auch bezüglich <strong>die</strong>ser<br />

Spezialisation.<br />

- Weshalb ist <strong>die</strong>s Ihrer<br />

Meinung nach heute so? Es<br />

muss ja Gründe für eine<br />

solche Tendenz geben.<br />

Xavier R. - Das hat im weitesten<br />

Sinne mit der gesellschaftlichen<br />

Prägung<br />

<strong>und</strong> Wertevermittlung zu tun<br />

<strong>und</strong> natürlich jetzt auch<br />

291


wiederum, wenn wir uns nun<br />

auf den Bereich der Medizin<br />

beschränken <strong>und</strong> uns nicht<br />

im allgemeinen, gesellschaftlichen<br />

Bereich bewegen,<br />

dann hat das sicher<br />

auch damit zu tun, dass<br />

eben <strong>die</strong> Jungen auch sehen<br />

<strong>und</strong> erkennen, wonach sich<br />

ihre Vorbilder richten.<br />

Also wenn das wirklich <strong>die</strong><br />

Währung ist, <strong>die</strong> gilt <strong>und</strong><br />

keine andere ... Gut, keine<br />

andere ist jetzt wiederum,<br />

das muss man richtig verstehen,<br />

ich will das nie<br />

h<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> null Prozent<br />

verstanden wissen ... dann<br />

hat das Auswirkungen. Wenn<br />

<strong>die</strong> Zuwendung, also das,<br />

was einen Arzt ausmacht,<br />

wenn ich das erlebe, dass<br />

das nicht geachtet wird in<br />

meiner beruflichen Umgebung<br />

oder zu wenig geachtet oder<br />

beachtet wird <strong>und</strong> <strong>die</strong>s von<br />

meinen Vorgesetzten, <strong>die</strong><br />

mich in meinem Werdegang<br />

prägenden Vorgesetzten, ja<br />

wen w<strong>und</strong>ert es dann, dass<br />

sich das dann so zu sagen<br />

vererbt.<br />

292<br />

„... das Rollenvorbild hat<br />

in der Medizin in meinen<br />

Augen<br />

tung.“<br />

eine grosse Bedeu-<br />

- Niemand eigentlich.<br />

Xavier R. - Also, das ist<br />

jetzt für mich evident, das<br />

Rollenvorbild hat in der<br />

Medizin in meinen Augen<br />

eine grosse Bedeutung. Aber<br />

natürlich muss man sagen,<br />

dass <strong>die</strong>s wahrscheinlich<br />

ein gesamtgesellschaftlicher<br />

Vorgang ist. Nur ein<br />

Beispiel, ich weiss von<br />

meinen (…) meinen Kindern,<br />

dass <strong>die</strong> Berufswahl ihrer<br />

Kollegen sehr unter dem<br />

angesprochenen Einfluss<br />

steht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s egal ob im<br />

Bereich Recht oder Ökonomie,<br />

es spielt in beiden<br />

eine Rolle. Bei den Juristen<br />

existiert das interessante<br />

Phänomen, das kann<br />

ich jetzt auch gerade per<br />

Zufall sagen, wer wird<br />

Strafverteidiger <strong>und</strong> wer<br />

geht in den Wirtschaftsbereich.<br />

Also, das ist auch<br />

interessant <strong>und</strong> da muss man


sagen, gut, das ist offensichtlich<br />

Phänomen.<br />

ein breiteres<br />

- Darf ich fragen, was<br />

ihre Kinder stu<strong>die</strong>ren? Die<br />

Tochter stu<strong>die</strong>rt Medizin.<br />

Xavier R. - Der Sohn macht<br />

jetzt eine Berufsmittelschule.<br />

- Es wird von den heutigen<br />

Ärzten auch stärker eine<br />

gewisse Führungskompetenz<br />

verlangt, vor allem wenn<br />

man Leitender Arzt oder<br />

Chefarzt werden möchte.<br />

Auch ein gewisses betriebswirtschaftliches<br />

Know How<br />

<strong>und</strong> Wissen ist von Bedeutung.<br />

Ist <strong>die</strong>s so? Wird<br />

<strong>die</strong>s heute mehr verlangt?<br />

Xavier R. - Ja. (lange Pause)<br />

Also erstens verlangen<br />

<strong>die</strong> Umstände das. (lange<br />

Pause)<br />

- Auch <strong>die</strong> administrative<br />

Tätigkeit hat zugenommen,<br />

das ist auch ein Fact oder?<br />

Xavier R. - Wobei, das ist<br />

ein eigener Problemkreis,<br />

man kann natürlich <strong>die</strong> administrative<br />

Tätigkeit ge-<br />

nauso wie <strong>die</strong> Führungstätigkeiten<br />

oder Funktionen,<br />

<strong>die</strong> sie vorhin angesprochen<br />

haben ... Was heisst denn<br />

das konkret? Administrative<br />

Tätigkeit setzt sich ja<br />

unter anderem aus völlig<br />

unnützem Papierkram für <strong>die</strong><br />

Krankenkassen zusammen, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>ser hat enorm zugenommen.<br />

Nachfragen, einfach<br />

schikanöse Nachfragen, nur<br />

um einen gewissen abschreckenden<br />

Effekt zu erzielen.<br />

Also, wenn ich jetzt beispielsweise<br />

ein bestimmtes<br />

Medikament verordne, dann<br />

muss ich zuerst ein Zeugnis<br />

schreiben, Antrag stellen<br />

<strong>und</strong> so weiter. Also, das<br />

ist eine administrative<br />

Hürde, belastet mit Papierkram,<br />

der dann irgendwo<br />

„verlocht“ wird, was <strong>die</strong><br />

Qualität für <strong>die</strong> Medizin<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Patienten überhaupt<br />

nicht erhöht, aber enorme<br />

Kosten <strong>und</strong> so weiter verursacht.<br />

Das geht nicht nur<br />

mir so, meine Frau ist auch<br />

Ärztin, aber innerhalb einer<br />

anderen Spezialisierung,<br />

es ist enorm, was sie<br />

in ihrem Fachbereich an<br />

293


administrativer Tätigkeit<br />

mehr machen muss. Ein IV-<br />

Gutachten früher war eine<br />

überschaubare administrative<br />

Tätigkeit, heutzutage<br />

ist ein IV-Prozess, also<br />

der Vorgang, extrem. Natürlich<br />

ist es klar, dass Administration<br />

in dem Sinne<br />

zugenommen hat, dass <strong>die</strong><br />

Anforderungen an <strong>die</strong> Dokumentation,<br />

an <strong>die</strong> Sicherheit<br />

<strong>und</strong> so weiter zugenommen<br />

haben <strong>und</strong> auch Qualitätssicherung<br />

<strong>und</strong> so weiter,<br />

das ist auch Administration.<br />

Da muss man aber<br />

scharf unterscheiden, worum<br />

es geht. Geht es um ...<br />

Aber was extrem zugenommen<br />

hat, ist <strong>die</strong> Regulierungsdichte<br />

in Bereichen, <strong>die</strong><br />

also wie gesagt ... für <strong>die</strong><br />

Qualität höchstens nachteilig<br />

ist <strong>und</strong> das macht einen<br />

riesen Kostenfaktor aus, wo<br />

auch eine grosse Fehlentwicklung<br />

im Gang ist.<br />

„... Geld hat es im Ges<strong>und</strong>heitsbereich<br />

<strong>und</strong> in der<br />

Medizin absolut genügend.“<br />

294<br />

- Gut, <strong>die</strong> Qualität ist<br />

der eine Faktor <strong>und</strong> ...<br />

Xavier R. - ... <strong>die</strong> Wirtschaftlichkeit.<br />

Ja, ja,<br />

klar, das ist auch ein<br />

wichtiger Faktor, aber auch<br />

dort muss man sagen, da<br />

kommen wir nun vom H<strong>und</strong>ertsten<br />

ins Tausendste.<br />

Aber, Geld hat es im Ges<strong>und</strong>heitsbereich<br />

<strong>und</strong> in der<br />

Medizin absolut genügend.<br />

So, dass ich mir gar keine<br />

Sorgen mache, auch nicht um<br />

<strong>die</strong> Frage, ob es zu teuer<br />

ist <strong>und</strong> so weiter. Das ist<br />

für mich überhaupt keine<br />

dominante Problematik. Die<br />

USA leben offensichtlich<br />

auch mit 17 Prozent Ausgaben<br />

im Ges<strong>und</strong>heitswesen vom<br />

Bruttonationalprodukt, <strong>und</strong><br />

wir haben 11 Prozent stagnierend<br />

jetzt in den letzten<br />

Jahren. Von dem her<br />

gesehen ist <strong>die</strong> Frage<br />

nicht, ob <strong>die</strong>s zu teuer<br />

ist, sondern, ob <strong>die</strong> Prämien<br />

zu teuer sind <strong>und</strong> wird<br />

das Geld am richtigen Ort,<br />

richtig eingesetzt. Aber<br />

gut, das sind andere Fra-


gen.<br />

„Ich <strong>und</strong> auch meine Kollegen<br />

haben gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

persönlich grosses Interesse<br />

auch allgemeinversicherte<br />

Patienten zu behandeln,<br />

auch wenn wir damit gar<br />

nichts ver<strong>die</strong>nen.“<br />

- 2012 kommt das DRG auf<br />

Sie zu, inwiefern wird Sie<br />

<strong>die</strong>s betreffen <strong>und</strong> wie blicken<br />

Sie auf <strong>des</strong>sen Einführung?<br />

Xavier R. - Also, das DRG<br />

betrifft mich überhaupt<br />

nicht. Erstens vom Alter<br />

her nicht, <strong>die</strong> Auswirkungen<br />

<strong>des</strong> DRG werden mich nicht<br />

mehr gross betreffen. Zweitens<br />

bin ich jetzt zum Teil<br />

im Privatspital tätig <strong>und</strong><br />

zum Teil ambulant. In beiden<br />

Bereichen spielt das<br />

DRG im Moment noch keine<br />

grosse Rolle. DRG ist für<br />

mich aber trotzdem enorm<br />

wichtig, da mich solche<br />

Fragen interessieren <strong>und</strong> es<br />

trifft sich gerade per Zu-<br />

fall, dass ich in den letzten<br />

Tagen einige St<strong>und</strong>en<br />

aufgewendet habe, um (…)<br />

eine Veranstaltung mit<br />

sozusagen führenden Vertretern<br />

(…) zu organisieren<br />

(…), dann eine etwas kontroverse<br />

... (…). Also, das<br />

müsste mich an sich nicht<br />

interessieren, aber es interessiert<br />

mich dennoch, da<br />

es mich als Patient interessiert.<br />

Und es interessiert<br />

mich unter dem Aspekt,<br />

dass ich im Prinzip<br />

der Meinung bin, dass vom<br />

Ges<strong>und</strong>heitssystem her eine<br />

sehr einschneidende Systemänderung<br />

auf uns zukommt.<br />

Das ist es auf jeden Fall,<br />

ob zum Guten oder zum<br />

Schlechten, das wird sich<br />

dann herausstellen <strong>und</strong> auch<br />

wo zum Guten <strong>und</strong> wo zum<br />

Schlechten. Es ist eine<br />

einschneidende Systemveränderung.<br />

Ich glaube, dass<br />

das momentane System, das<br />

zur Trennung in öffentliche<br />

<strong>und</strong> private Spitäler führt,<br />

dass <strong>die</strong>s nicht gut ist, in<br />

dem Sinne, dass weder das<br />

eine noch das andere System<br />

eine optimale Lösung dar-<br />

295


stellt. Ich <strong>und</strong> auch meine<br />

Kollegen haben gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

persönlich grosses<br />

Interesse auch allgemeinversicherte<br />

Patienten zu<br />

behandeln, auch wenn wir<br />

damit gar nichts ver<strong>die</strong>nen.<br />

(lange Pause)<br />

„Wenn ich mich nur noch<br />

dafür interessiere, wie<br />

viel ich ver<strong>die</strong>ne, wie viele<br />

Eingriffe ich mache,<br />

dann muss ich sagen, das<br />

ist nicht gut.“<br />

- Weshalb ist <strong>die</strong>ses Interesse<br />

vorhanden?<br />

Xavier R. - Ja, ich war<br />

eigentlich während der gesamten<br />

Berufstätigkeit,<br />

eigentlich immer für solche<br />

Fragen, <strong>die</strong> mich persönlich<br />

jetzt nicht unbedingt ganz<br />

prominent betroffen haben,<br />

interessiert. Ansonsten<br />

hätte ich nicht ... ich war<br />

stan<strong>des</strong>politisch im Vorstand<br />

der Gesellschaft meines<br />

Spezialbereiches tätig,<br />

ich bin in einer Stiftung,<br />

296<br />

das ist alles Gratisarbeit,<br />

<strong>die</strong> man leistet, da kriegt<br />

man nicht einen Franken<br />

dafür. Es interessieren<br />

mich Fragen der Qualitätssicherung,<br />

ich war Delegierter<br />

für Qualitätssicherung<br />

innerhalb ob genannter<br />

Gesellschaft, ich bin jetzt<br />

in unserem Bereich zuständig<br />

für <strong>die</strong> Qualitätssicherung,<br />

da kriege ich nichts<br />

dafür, aber es interessiert<br />

mich, <strong>und</strong> ich finde auch,<br />

dass ein solches Engagement<br />

wichtig ist. Und wie gesagt,<br />

gewisse Sachen interessieren<br />

mich auch als<br />

potenziellen Patienten,<br />

also wie <strong>die</strong> Entwicklungen<br />

der Medizin in der Schweiz<br />

vorangehen. Ich könnte sagen,<br />

das ist mir Wurst,<br />

solange ich <strong>die</strong> Krankenkassenprämien<br />

selber bezahlen<br />

kann, interessiert mich<br />

doch nicht, was <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitspolitiker,<br />

KVG, ich<br />

weiss gar nicht, was das<br />

ist, tun. Ja, nein, ich<br />

glaube, dass <strong>die</strong>s schon an<br />

sich zur ... ich finde,<br />

dass <strong>die</strong>s auch Teil <strong>des</strong><br />

Berufes ist, ein Arzt muss


sich auch für das zu einem<br />

gewissen Teil interessieren.<br />

Wenn ich mich nur noch<br />

dafür interessiere, wie<br />

viel ich ver<strong>die</strong>ne, wie viele<br />

Eingriffe ich mache,<br />

dann muss ich sagen, das<br />

ist nicht gut.<br />

„... für mich war es nicht<br />

mehr möglich, <strong>die</strong> berufliche<br />

Tätigkeit nach meinen<br />

Wertvorstellungen an der<br />

Stelle, in welcher ich war<br />

so weiterzuführen. Ich<br />

konnte das nicht mehr verantworten.“<br />

- Es ist nun vielleicht<br />

nicht gerade der beste<br />

Zeitpunkt, <strong>und</strong> dennoch<br />

möchte ich <strong>die</strong> Frage stellen,<br />

weshalb sie das öffentliche<br />

Spital verlassen<br />

haben. (…)<br />

Xavier R. - Also, ich hab<br />

etwa zwanzig Jahre im öffentlichen<br />

Bereich eines<br />

öffentlichen Schweizer Spitals<br />

(…) gearbeitet <strong>und</strong><br />

davor, wie gesagt, in einem<br />

anderen öffentlichen Spital<br />

der Schweiz <strong>und</strong> bin nun<br />

seit ziemlich genau drei<br />

Jahren im privatärztlichen<br />

Bereich einer Privatklinik<br />

tätig <strong>und</strong> kenne da natürlich<br />

auch <strong>die</strong> verschiedensten<br />

Berufskarrieren von<br />

Kollegen <strong>und</strong> kenne sie auch<br />

im öffentlichen Spital. Von<br />

dem her gesehen muss man<br />

sagen, es gibt einen Bereich,<br />

in dem man <strong>die</strong>ses<br />

Phänomen etwas allgemeiner<br />

anschaut, also weshalb<br />

wechseln Ärzte in den privatärztlichen-<br />

<strong>und</strong> Privatklinikbereich,<br />

<strong>und</strong>, meine<br />

persönliche Situation.<br />

(Pause) Ich glaube nicht,<br />

dass <strong>die</strong>s das Gleiche ist,<br />

also, dass sich <strong>die</strong>s letztendlich<br />

deckt, dass man<br />

sozusagen aus einer reinen<br />

Addition zum Ergebnis<br />

kommt. Was mich angeht, <strong>und</strong><br />

wir sind ja zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt,<br />

als ich gewechselt<br />

habe, das war ein wichtiger<br />

Moment, vier Leitende Ärzte<br />

meiner Abteilung mit mir in<br />

<strong>die</strong>sen Privatklinikbereich<br />

gewechselt ... für mich war<br />

es nicht mehr möglich, <strong>die</strong><br />

297


erufliche Tätigkeit nach<br />

meinen Wertvorstellungen an<br />

der Stelle, in welcher ich<br />

war so weiterzuführen. Ich<br />

konnte das nicht mehr verantworten.<br />

Für mich war es<br />

primär ein Gewissensentscheid.<br />

Das war ganz im<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Also konkret,<br />

ich konnte als Verantwortlicher<br />

für den von mir betreuten<br />

Fachbereich <strong>die</strong>se<br />

Verantwortung nicht mehr<br />

übernehmen, wenn Patienten<br />

mir bzw. dem Spital zur<br />

Behandlung zugewiesen wurden<br />

<strong>und</strong> da einen Verlauf<br />

genommen haben, der nicht<br />

mehr zu verantworten war,<br />

<strong>und</strong> für den ich ja letztendlich<br />

nach aussen <strong>und</strong> in<br />

der Funktion doch zuständig<br />

war. Und jetzt konkret ging<br />

es da um To<strong>des</strong>fälle, es<br />

ging um schwere ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Folgen für <strong>die</strong> Patienten,<br />

verpasste Symptome<br />

mit weitreichenden Auswirkungen,<br />

falsche Behandlungen<br />

<strong>und</strong> so weiter. Gut.<br />

Jetzt war ich ja lange<br />

dort, <strong>und</strong> es war ja selbstverständlich,<br />

muss ich dazu<br />

sagen, dass man alles un-<br />

298<br />

ternimmt, um Veränderungen<br />

von Mängeln herbeizuführen,<br />

das System zu verbessern,<br />

überall passieren Fehler,<br />

überall gibt es Mängel,<br />

selbstverständlich ist das<br />

der erste Schritt <strong>und</strong> immer<br />

wieder eine Notwendigkeit.<br />

Ich habe das versucht, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>se Versuche für krasse,<br />

wirklich krasse Sachverhalte<br />

haben sich dann für mich<br />

als zunehmend gefährlich<br />

herausgestellt. Das heisst,<br />

es ist nicht übertrieben,<br />

wenn ich dann sage, dass es<br />

dazu geführt hat, dass ich<br />

dann gemobbt wurde, wie man<br />

das so schön sagt. Man muss<br />

<strong>die</strong>s immer vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

sehen, es hat nie<br />

jemand bezweifelt, dass der<br />

Job, den das Team am öffentlichen<br />

Spital gemacht<br />

hat vom fachlichen, inhaltlichen,<br />

das war nie zur<br />

Diskussion, das war immer<br />

von allen Seiten, im Spital,<br />

ausserhalb <strong>des</strong> Spitals,<br />

der Zuweiserspitäler,<br />

der grossen Spitäler <strong>und</strong><br />

gesamtschweizerisch, von<br />

den Fachkollegen eigentlich,<br />

was <strong>die</strong> Qualität an-


ging, relativ hoch angesiedelt,<br />

also da waren keine<br />

Kritikpunkte. Aber trotzdem<br />

durch <strong>die</strong>ses, in <strong>die</strong>sem<br />

Apparat eines solchen Spitals,<br />

letztendlich unangenehm<br />

empf<strong>und</strong>ene Verhalten<br />

der Kritik, <strong>des</strong> Ändernwollens,<br />

wurde dann zunehmend<br />

sanktioniert <strong>und</strong> <strong>die</strong>s zum<br />

Teil auf ganz lächerliche<br />

Art <strong>und</strong> Weise, also dass<br />

man einen defekten EKG-<br />

Apparat nicht ersetzt hat,<br />

einfach nicht ersetzt. Das<br />

hat dann dazu geführt,<br />

dass, das sind nur, also<br />

ich könnte dutzende so Beispiele<br />

anführen, das führt<br />

dann zu ganz lächerlichen<br />

Sachen, man muss dann einen<br />

Brief schreiben <strong>und</strong> darstellen,<br />

weshalb <strong>die</strong>ser<br />

EKG-Apparat so notwendig<br />

ist, wo <strong>die</strong>ser eingesetzt<br />

wird <strong>und</strong> zu was das führt,<br />

wenn man den nicht ersetzt.<br />

Und dann musste man darlegen,<br />

dass wenn <strong>die</strong>ser jetzt<br />

einfach nicht geht, <strong>und</strong> man<br />

dann <strong>die</strong>se EKGs nicht mehr<br />

durchführen kann, dass <strong>die</strong>s<br />

dann zu dem <strong>und</strong> jenem<br />

führt. Ich persönlich bin<br />

dadurch gar nicht geschädigt,<br />

aber ich muss den<br />

Brief schreiben, ich muss<br />

das eingeben ... natürlich<br />

melden sich dann irgendwann<br />

andere Betroffene <strong>und</strong><br />

sagen, dass <strong>die</strong>s so einfach<br />

nicht geht, da sie keine<br />

EKGs mehr kriegen ... Also<br />

wird er dann ersetzt. Aber<br />

<strong>die</strong>ser Hürdenlauf ist abenteuerlich<br />

oder meinetwegen<br />

... ich habe eine, also wie<br />

gesagt, ich könnte dutzende<br />

Beispiele, einen ganzen<br />

Blumenstrauss bringen ...<br />

eine Behandlung, eine Spezialbehandlung<br />

innerhalb<br />

meines Fachbereichs eines<br />

komplexen, relativ seltenen<br />

Problems, da hatten wir am<br />

öffentlichen Spital beispielsweise<br />

zu Recht nicht<br />

immer alles Material an<br />

Lager, weil <strong>die</strong>s einfach<br />

unwirtschaftlich gewesen<br />

wäre. Da hilft man sich in<br />

den grossen Spitälern aus,<br />

also wenn ich sowas gebraucht<br />

habe, habe ich das<br />

zum Teil vom Unispital bekommen<br />

oder von da <strong>und</strong> dort<br />

<strong>und</strong> habe das dann wieder<br />

ersetzt oder zurückerstat-<br />

299


tet, oder man hat von einem<br />

grossen Kantonsspital was<br />

kommen lassen oder hat möglicherweise<br />

zwei Dinge innerhalb<br />

von wenigen Tagen<br />

gebraucht, <strong>und</strong> da muss man<br />

sich so gegenseitig aushelfen.<br />

Und das war auch umgekehrt<br />

so, also, wir haben<br />

auch schon in ein anderes<br />

Kantonsspital bestimmte<br />

Instrumente ausgeliehen <strong>und</strong><br />

so weiter. Und dann passierte<br />

so etwas wieder am<br />

öffentlichen Spital, an<br />

welchem ich war, dass wir<br />

von <strong>die</strong>sem Kantonsspital<br />

wieder ein solches Instrument<br />

für eine Operation<br />

brauchten, um eine bestimmte<br />

Behandlung vornehmen zu<br />

können <strong>und</strong> dann wird wie<br />

üblich das sozusagen vom<br />

Spital verrechnet <strong>und</strong> zurückgestellt.<br />

Dann hat aber<br />

<strong>die</strong> Administration blockiert,<br />

geschrieben, der<br />

Xavier R. hat ein Instrument<br />

von einer Privatklinik,<br />

damals war es per Zufall<br />

<strong>die</strong>jenige Klinik, an<br />

welcher ich heute tätig<br />

bin, es hätte auch ein<br />

Unispital sein können, ge-<br />

300<br />

braucht <strong>und</strong> ich habe <strong>die</strong><br />

Rechnung bekommen <strong>und</strong> es<br />

wurde mir abgezogen. Einfach<br />

so, das sind zwei,<br />

drei tausend Franken Rechnung<br />

an mich, Instrument<br />

für <strong>die</strong>se <strong>und</strong> <strong>die</strong>se Patientin.<br />

Natürlich habe ich es<br />

jetzt am Schluss nicht bezahlt,<br />

aber es sind solche,<br />

solche kleinen Schikanen,<br />

bei denen man dann darstellen<br />

muss, dass <strong>die</strong> Patientin<br />

das <strong>und</strong> das hatte, das<br />

war so <strong>und</strong> so notwendig,<br />

das findet so <strong>und</strong> so statt,<br />

da gab es schon Präzedenzfälle<br />

so <strong>und</strong> so <strong>und</strong> wir<br />

machen das aus <strong>die</strong>sen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>sen Überlegungen <strong>und</strong> so<br />

weiter. Das meine ich beispielsweise,<br />

oder natürlich,<br />

das geht dann Hand in<br />

Hand, unglaubliche Sitzungen<br />

zu Budgetplanung <strong>und</strong><br />

Personaleinsatz <strong>und</strong> was<br />

weiss ich alles, da hockt<br />

man wirklich auf fruchtlosen<br />

<strong>und</strong> vielen solchen Sitzungen<br />

herum, <strong>und</strong> man kann<br />

dann natürlich an solchen<br />

Sitzungen von der Administration<br />

unglaublich schikaniert<br />

werden, unglaublich.


Also, ich kenne es von einem<br />

Kantonsspital, wo ein<br />

sehr guter Spitaldirektor<br />

ist (…), also ich habe nur<br />

marginal mit ihm zu tun,<br />

aber offensichtlich ein<br />

sehr vernünftiger, sehr auf<br />

<strong>die</strong> Unternehmensziele orientierter<br />

Mann, der <strong>die</strong><br />

Administration so versteht,<br />

dass sie vereinfacht, dass<br />

sie <strong>die</strong> Fazilitäten<br />

schafft. Das ist eine ganz<br />

andere Situation. Wir hatten<br />

eine Direktion, <strong>die</strong><br />

schikaniert hat, unglaublich<br />

schikaniert hat, auch<br />

zentrale <strong>und</strong> generelle Fragen<br />

wie beispielsweise, ich<br />

hatte ja dort, das ist ein<br />

Zentrumsspital ein Fachbereich<br />

auf hohem Niveau, wie<br />

hält man <strong>die</strong>ses Niveau, wie<br />

hält man <strong>die</strong> Leute, wie<br />

hält man sie, <strong>die</strong> man dringend<br />

braucht, dass sie eben<br />

nicht ins Privatspital gehen,<br />

<strong>und</strong> wie kann man das<br />

machen? Das ist natürlich<br />

... <strong>die</strong> öffentlichen Spitäler<br />

sind heutzutage strukturiert<br />

wie zu Sauerbruch<br />

Zeiten <strong>und</strong> das ist katastrophal.<br />

Ja, es ist so in<br />

jeder Beziehung. Also, wenn<br />

ich einen Leitenden Arzt<br />

dort hatte, der Schweiz<br />

weit, überall auch beispielsweise<br />

nach Basel hätte<br />

gehen können <strong>und</strong> so weiter,<br />

der x Angebote im Privatbereich<br />

hatte ... Ich<br />

hatte ja auch schon x Angebote,<br />

schon Jahre zuvor in<br />

<strong>die</strong> Privatklinikgruppe zu<br />

gehen <strong>und</strong> so weiter. Also,<br />

ich hätte schon lange gehen<br />

können, wenn es mir ums<br />

Geld gegangen wäre. (kurze<br />

Pause) Es waren Fre<strong>und</strong>e von<br />

mir überall dort, <strong>die</strong> gesagt<br />

haben: komm, komm doch<br />

zu uns, mach es dir leichter<br />

<strong>und</strong> so weiter, ver<strong>die</strong>nst<br />

das (kurze Pause)<br />

Mehrfache. Wie hält man<br />

also gute Leute in <strong>die</strong>sen<br />

Bereichen im öffentlichen<br />

Spital? Also, da ging es<br />

jetzt primär mal in <strong>die</strong>ser<br />

Vorgeschichte nicht um<br />

mich, sondern es ging darum,<br />

wie kann man im Kader<br />

<strong>die</strong>se Leute halten. Und da<br />

kann natürlich <strong>die</strong> Administration<br />

auch alles blockieren<br />

<strong>und</strong> schikanieren,<br />

nichts gibt es, es gibt<br />

301


also auch keine Beförderung<br />

zu einem Leitenden Arzt,<br />

ein reiner Titel, völlig<br />

blödsinnig, kostet nichts<br />

oder. Wieso kann man nicht<br />

einen Leitenden Arzt ... Es<br />

war wirklich nicht ...<br />

nicht verb<strong>und</strong>en mit Lohnaufstockungen<br />

oder sonst<br />

was. Ich habe gesagt, den<br />

muss man zum Leitenden Arzt<br />

befördern, das motiviert<br />

ihn, er steht nach aussen<br />

für <strong>die</strong> Zuweiser mit einem<br />

Streifen da. Das ist halt<br />

so, da kann man sagen,<br />

weiss ich nicht was, atheistisch<br />

oder sonst was,<br />

aber es ist so. Gebt ihm<br />

doch bitte <strong>die</strong>sen Titel?<br />

Nichts, nein, nein, nein.<br />

So kann man eben schikanieren,<br />

so verliert man dann<br />

auch Leute ... weil <strong>die</strong><br />

fühlen sich dann, das ist<br />

<strong>die</strong> Einschätzung, <strong>die</strong> man<br />

hat, wir werden wie <strong>die</strong><br />

Putzlumpen behandelt. Das<br />

steht ein bisschen dahinter,<br />

ich sage nur, dass<br />

<strong>die</strong>s <strong>die</strong> Schikanemöglichkeiten<br />

sind ... aber es<br />

ging dennoch, ich habe <strong>die</strong>s<br />

ja jahrelang so ausgehal-<br />

302<br />

ten, durchgehalten, entscheidend<br />

war, dass ich<br />

<strong>die</strong>se Situation so nicht<br />

mehr verantworten konnte.<br />

So konnte ich einfach nicht<br />

mehr arbeiten. Es war dann<br />

tatsächlich soweit, dass<br />

ich gefürchtet hatte ...<br />

es kann nicht ... Beispiele<br />

gibt es ja jetzt mehr <strong>und</strong><br />

mehr, dass man einen hinauswirft<br />

<strong>und</strong> ich habe <strong>die</strong>s<br />

spitalintern versucht zu<br />

ändern, ich war auf der<br />

Ges<strong>und</strong>heitsdirektion, auch<br />

zu Zeiten, in denen ich<br />

sagen konnte, mich betrifft<br />

es nicht mehr, mir kann es<br />

jetzt so zu sagen egal<br />

sein, aber mir liegt etwas<br />

daran, da ich lange genug<br />

Mann <strong>des</strong> öffentlichen Spitals<br />

<strong>und</strong> engagiert war ...<br />

schaut, da sind Missstände.<br />

Ich war bei allen zuständigen<br />

Personen <strong>und</strong> habe mich<br />

vorher auch von der Ombutsfrau<br />

der Stadt, in welcher<br />

sich das öffentliche Spital<br />

befand, beraten lassen <strong>und</strong>,<br />

<strong>und</strong> ... Es war ein langer<br />

Prozess. Es war nicht einfach<br />

nur ein Kurzschluss,<br />

aber am Schluss musste ich


sagen, so kann ich es nicht<br />

machen, jetzt gehe ich.<br />

„... es ist keineswegs so,<br />

dass das Geld im Privatbereich<br />

eine Rolle spielt <strong>und</strong><br />

im öffentlichen keine, sondern<br />

es spielt eine dominante<br />

Rolle, Geld <strong>und</strong> Macht<br />

<strong>und</strong> ..., ja <strong>die</strong> Macht<br />

spielt speziell am öffentlichen<br />

Spital eine Rolle<br />

<strong>und</strong> weniger im Privatspitalbereich.“<br />

- Hatte <strong>die</strong>s auch etwas<br />

damit zu tun, dass sie einen<br />

neuen Vorgesetzten erhalten<br />

haben? War das auch<br />

ein Gr<strong>und</strong>?<br />

Xavier R. - Mmh, nicht ganz<br />

im Vordergr<strong>und</strong>. Aber es hat<br />

dann mit eine Rolle gespielt,<br />

da ich durch den<br />

keine Rückendeckung hatte,<br />

<strong>und</strong> natürlich wollte ich<br />

gewisse Missstände ändern,<br />

dann ging es ja auch darum,<br />

jetzt kommen wir in <strong>die</strong><br />

sachliche Diskussion, dann<br />

ging es darum <strong>die</strong> Verant-<br />

wortung einerseits <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Kriterien nach denen Patientenbehandlungenstattfinden<br />

anderseits zu klären.<br />

Also beispielsweise ist es<br />

so, dass meinetwegen ein<br />

privatversicherter Patient<br />

gewisse Gefahren läuft, das<br />

heisst, dass der nach dem<br />

Gesichtspunkt <strong>des</strong> Geldver<strong>die</strong>nens<br />

in einen Prozess<br />

gesteuert wird <strong>und</strong> nicht<br />

nach den medizinischen Belangen<br />

geschaut wird. Also,<br />

der landet dann auf einer<br />

Abteilung, kriegt einen<br />

ges<strong>und</strong>heitlichen Prozess,<br />

der aber nicht den medizinischen<br />

Erfordernissen entspricht.<br />

Jetzt kann man<br />

natürlich sagen, ja, gut,<br />

das Geld spielt ja in allen<br />

Bereichen eben eine dominante<br />

Rolle, auch in privatärztlichen<br />

Bereichen<br />

oder im Privatklinikbereich.<br />

Aber das ist jetzt<br />

meine Erfahrung aus den<br />

beiden Gebieten, es ist<br />

keineswegs so, dass das<br />

Geld im Privatbereich eine<br />

Rolle spielt <strong>und</strong> im öffentlichen<br />

keine, sondern es<br />

spielt eine dominante Rol-<br />

303


le, Geld <strong>und</strong> Macht <strong>und</strong> ...,<br />

ja <strong>die</strong> Macht spielt speziell<br />

am öffentlichen Spital<br />

eine Rolle <strong>und</strong> weniger im<br />

Privatspitalbereich. Das<br />

ist eine völlig andere<br />

Struktur, es ist keine<br />

Chefarztstruktur. (Piepser<br />

von Xavier R. erklingt.)<br />

Zurück zu ihrer Frage, was<br />

hat <strong>die</strong>s für eine Rolle<br />

gespielt. Es hat in dem<br />

Sinne eine Rolle gespielt,<br />

als ich sehen musste, dass<br />

<strong>die</strong>ser Chefarztwechsel,<br />

<strong>die</strong>se Bemühungen, <strong>die</strong> ich<br />

da schon seit langem am<br />

Laufen hatte, eigentlich<br />

völlig aussichtslos erschienen,<br />

im Gegenteil weiterhin<br />

gefährlich waren.<br />

(Kurze Unterbrechung <strong>des</strong><br />

Gesprächs. Xavier R. checkt<br />

seinen Piepser.)<br />

- Was fehlt ihnen heute in<br />

<strong>die</strong>sem Betrieb <strong>und</strong> was haben<br />

sie ihrer Meinung nach<br />

dazugewonnen?<br />

Xavier R. - Was ich dazugewonnen<br />

habe, ist eine enorme<br />

Entlastung, was <strong>die</strong>se<br />

Schikanen angeht, <strong>die</strong> administrativen<br />

Schikanen, viel<br />

304<br />

weniger Administration. Ich<br />

erlebe <strong>die</strong> Administration<br />

<strong>und</strong> Verwaltung hier als<br />

sachlich, betriebsorientiert.<br />

Konflikte mit der<br />

Verwaltung habe ich in <strong>die</strong>sen<br />

drei Jahren keinen einzigen<br />

gehabt. Mit anderen<br />

Worten, das ist also enorm<br />

entlastend. Viel weniger<br />

Sitzungen, viel weniger<br />

Leerlauf, viel weniger Papier.<br />

Also, das ist eine<br />

extreme Entlastung. Letztendlich<br />

eine Administration,<br />

<strong>die</strong> auf den Patienten<br />

orientiert ist, auf das<br />

Produkt. Das war ein Standardargument<br />

von mir im<br />

öffentlichen Spital, immer<br />

<strong>die</strong> Fragen, das ist ein<br />

Betrieb mit einer Produktion,<br />

mit einem Betriebsziel<br />

<strong>und</strong> so weiter. Weshalb, um<br />

Gotteswillen, wird nicht im<br />

Kleinsten wenigstens ein<br />

wenig hinterfragt? Was müssen<br />

<strong>die</strong> richtigen Produktionsschritte<br />

sein, <strong>die</strong> richtigen<br />

Strukturen, <strong>die</strong> richtigen<br />

Einrichtungen, das<br />

richtige Personal, der<br />

richtige Personaleinsatz,<br />

um <strong>die</strong>ses Produkt zu errei-


chen? Wenn ich eine Löffelfabrik<br />

habe, dann produziere<br />

ich Löffel <strong>und</strong> muss<br />

schauen, dass <strong>die</strong> Löffel<br />

auch dem Markt entsprechen,<br />

<strong>und</strong> sie gekauft werden, <strong>und</strong><br />

dann muss ich doch fragen,<br />

wie kann ich <strong>die</strong>se Löffel,<br />

<strong>die</strong> dann auch gekauft werden,<br />

wie kann ich <strong>die</strong> entsprechend<br />

auch wirtschaftlich<br />

produzieren. Für mich<br />

war das erschlagend, dass<br />

man zum Teil schlechte Löffel,<br />

<strong>die</strong> gar nicht verlangt<br />

waren, zu einer miesen Qualität,<br />

mit einem ungeheuren<br />

Leerlauf <strong>und</strong> Aufwand produziert<br />

hat <strong>und</strong> sich nie gefragt<br />

hat, was ist das eigentlich,<br />

was wir da produzieren<br />

wollen? Und das ist<br />

da gr<strong>und</strong>sätzlich anders.<br />

Wenn ich am Morgen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

heute noch jeden Morgen,<br />

bin ich tiefst beeindruckt,<br />

wenn ich da in <strong>die</strong> Garage<br />

hineinfahre mit dem Auto,<br />

mit der Kollegin, wenn ich<br />

mitfahre, dann ist der Garagist<br />

von einer Fre<strong>und</strong>lichkeit,<br />

dass ich je<strong>des</strong><br />

Mal direkt erschrecke, dass<br />

es sowas gibt. Parallel<br />

dazu, wenn ich im öffentlichen<br />

Spital im Dienst das<br />

Auto in der Nacht auf einen<br />

freien Parkplatz gestellt<br />

habe, dann habe ich x-Mal,<br />

nicht nur ich, ein Strafmandat<br />

bekommen, dass ich<br />

auf <strong>die</strong>sem Parkplatz stehe,<br />

obwohl dort eine Dienstvignette<br />

<strong>und</strong> so weiter war.<br />

Dann musste ich wieder mit<br />

<strong>die</strong>sem Strafmandat zur Direktion<br />

gehen, also kein<br />

Polizeistrafmandat, sondern<br />

vom Spital, vom Securitaswächter,<br />

der den Auftrag<br />

hatte das zu machen. Musste<br />

man dort wieder vorsprechen,<br />

wieder Bitte-Bitte<br />

machen auf der Personaldirektion,<br />

extra hingehen <strong>und</strong><br />

sagen: bitte, ich war im<br />

Dienst, macht es doch<br />

nicht. Ich habe es dann<br />

auch schon bezahlt, weil es<br />

mir einfach zu blöd war.<br />

Die zwanzig, dreissig Franken,<br />

weiss ich was, wie<br />

viel das damals war. Also,<br />

das ist <strong>die</strong> Parallele. Wenn<br />

ich <strong>die</strong> Patienten hier anhöre,<br />

dann wird durchwegs,<br />

ist ja nie 100%, aber<br />

durchwegs sagen <strong>die</strong>, <strong>die</strong><br />

305


Schwester ist fre<strong>und</strong>lich<br />

hier, das ist ja unglaublich,<br />

oder? Und das muss<br />

ich auch sagen. Es ist unglaublich,<br />

wie fre<strong>und</strong>lich<br />

<strong>die</strong> sind. Es hat hervorragende<br />

Schwestern am öffentlichen<br />

Spital schon immer<br />

gehabt <strong>und</strong> wird es weiterhin<br />

auch geben. Aber <strong>die</strong><br />

Fre<strong>und</strong>lichkeit gegenüber<br />

uns Ärzten, aber vor allem<br />

auch gegenüber den Patienten,<br />

macht hier einen riesen<br />

Unterschied, das sagt<br />

jeder, jeder, der da gewechselt<br />

hat.<br />

„... ich hatte auch immer<br />

wieder den Eindruck, dass<br />

das Betriebsziel das patientenfreie<br />

Spital ist.“<br />

- Womit hängt <strong>die</strong>s ihrer<br />

Meinung nach zusammen?<br />

Xavier R. - Mit der Betriebskultur.<br />

Es ist etwas<br />

pointiert formuliert, ich<br />

hatte auch immer wieder den<br />

Eindruck, dass das Betriebsziel<br />

das patienten-<br />

306<br />

freie Spital ist. Auch das<br />

wiederrum, mein Hauptwiderpart,<br />

war ja letztendlich<br />

<strong>die</strong> Spitalhierarchie <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Administration, <strong>die</strong> man<br />

aber durchaus nicht als<br />

isolierten Bösewicht darstellen<br />

kann, sondern sie<br />

sind durchaus eingeb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> wie sich dann am<br />

Schluss gezeigt hat, durchaus<br />

auch politisch in der<br />

Befehlskette <strong>und</strong> Hierarchiekette<br />

drinnen. Aber<br />

wenn wir Zuweisungen am<br />

öffentlichen Spital von<br />

einem anderen Kanton erhalten<br />

haben, eigentlich eine<br />

Auszeichnung, dass wir von<br />

so weit Patienten erhalten,<br />

dass es geschätzt wird <strong>und</strong><br />

so weiter ... ökonomisch an<br />

sich kurzfristig oder längerfristig<br />

interessant, war<br />

es ja, da mit den allgemeinversicherten<br />

Patienten,<br />

<strong>die</strong> nicht wahnsinnig lukrativ<br />

waren, auch immer,<br />

wenn sie jetzt von einem<br />

anderen Kanton kamen, auch<br />

Zusatzversicherte kamen,<br />

<strong>die</strong> hochlukrativ waren für<br />

das Spital. Das war alles<br />

völlig egal, was <strong>die</strong> Wirt-


schaftlichkeit angeht, so<br />

war es letztendlich immer<br />

vollständig egal. Man hat<br />

<strong>die</strong> Wirtschaftlichkeit ...<br />

am Schluss bezahlt das Defizit<br />

immer der Staat, es<br />

ist vollständig egal, ob<br />

<strong>die</strong> ein paar Millionen mehr<br />

haben oder nicht. Aber es<br />

wird zum Teil als Führungsinstrument,<br />

als Knute lässt<br />

es sich sehr gut benutzen.<br />

Also, ich habe dann von der<br />

Direktion einen Anschiss<br />

bekommen, da wir wieder<br />

einen Patienten aus einem<br />

anderen Kanton behandelt<br />

haben, das war ein mühsamer<br />

Weg. Es gab dann, nachdem<br />

wir weggegangen sind,<br />

plötzlich grosse Reklamen,<br />

wir behandeln auch <strong>die</strong>sen<br />

<strong>und</strong> jenen Kanton, <strong>und</strong> überall<br />

kamen <strong>die</strong> Patienten<br />

her, das war aber ein extremer<br />

Prozess gegen riesige<br />

Widerstände gewesen. Man<br />

hat nie gesagt, gut, also,<br />

wie kann man das ermöglichen,<br />

wie schaut das finanziell<br />

aus? Wenn ich hierhin<br />

einen Patienten von weiss<br />

ich woher bringe, dann<br />

heisst es, wenn es nicht<br />

ein grosser Verlust ist,<br />

dann machen wir es. Im Gegenteil,<br />

ich kann sogar,<br />

wenn ich es im Rahmen halte<br />

Allgemeinversicherte behandeln,<br />

bei welchen <strong>die</strong> Klinik<br />

sogar draufzahlt <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s einfach um gewisse<br />

Sachen zu ermöglichen. Und<br />

dort gab es eine Schikane<br />

nach der anderen. Und <strong>des</strong>halb<br />

sage ich patientenfreies<br />

Spital, <strong>die</strong>ser <strong>und</strong><br />

jener Patient stört. So<br />

genannte schwierige Patienten,<br />

<strong>die</strong> ich da erlebt habe<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> ich im öffentlichen<br />

Spital erlebt habe, das<br />

sind Welten im Umgang.<br />

Teilweise gab es ekelhafte<br />

Patienten. Ich bin mir sicher,<br />

dass wir im öffentlichen<br />

Spital eine Sitzung<br />

gehabt hätten, gesagt worden<br />

wäre, <strong>die</strong>ser Patient<br />

geht nicht mehr <strong>und</strong> so weiter,<br />

<strong>und</strong> wenn sie dann<br />

schwerkrank sind, dann wird<br />

<strong>die</strong>s dann lebensgefährlich<br />

für <strong>die</strong> Patienten, dass man<br />

ihnen Therapie reduziert,<br />

abstellt, was auch immer.<br />

Hier ist das kein Thema,<br />

hier ist das kein Thema,<br />

307


<strong>die</strong> sind genauso ekelhaft,<br />

genauso schwierig, genauso<br />

problematisch, aber es ist<br />

hier kein Thema, da es hier<br />

wirklich darum geht ... das<br />

ist klar, das ist der K<strong>und</strong>e,<br />

das ist der ...<br />

- Ging es vielleicht auch<br />

darum, da es ein allgemeinversicherter<br />

Patient war<br />

<strong>und</strong> sie hier vorzüglich<br />

privatversicherte Patienten<br />

betreuen?<br />

Xavier R. - Ja, natürlich.<br />

Hier ist es sehr viel unmittelbarer,<br />

der Patient<br />

ist derjenige, der unser<br />

Arbeitgeber ist, der ist<br />

unser Arbeitgeber. Das ist<br />

aber auch der Allgemeinversicherte<br />

im öffentlichen<br />

Spital. Das ist da nicht<br />

anders. Das ist dann gar<br />

nicht anders. Die Schwestern<br />

bekommen auch hier<br />

nicht mehr von den Privatversicherten,<br />

weil sie irgendwie<br />

ein Trinkgeld oder<br />

sonst was kriegen, <strong>die</strong> haben<br />

einfach ihren Lohn, im<br />

öffentlichen Spital haben<br />

sie auch ihren Lohn.<br />

308<br />

- Ist der Lohn beim Pflegepersonal<br />

etwa vergleichbar?<br />

Xavier R. - Ja, ist er. Es<br />

gibt dann auch so freie<br />

Tage, <strong>die</strong>se Zusatzregelungen<br />

<strong>und</strong> so weiter. Dazu<br />

sind sie auch verpflichtet,<br />

dass sie nicht grob unterschiedlicheArbeitsbedingungen<br />

haben, ansonsten<br />

würden ja alle nur noch<br />

hier arbeiten wollen <strong>und</strong> so<br />

weiter. Ich glaube, dass es<br />

schon irgendein Agreement<br />

gibt, dass man keine unfairen<br />

Lohndifferenzen <strong>und</strong><br />

Arbeitsbedingungen im Kanton<br />

hat.<br />

- Defacto ist es so, dass<br />

viele Leitende Ärzte, <strong>Chefärzte</strong><br />

der öffentlichen Spitäler<br />

als Faktor <strong>des</strong> Weggangs<br />

den monetären Faktor<br />

nennen.<br />

Xavier R. - Zu wechseln?<br />

- Ja.<br />

Xavier R. - Das spielt sicherlich<br />

auch eine Rolle.<br />

- Ist es dann auch in der<br />

Realität so, dass man an


einer Privatklinik ein<br />

Vielfaches <strong>des</strong>sen ver<strong>die</strong>nt,<br />

was man an einem öffentlichen<br />

Spital ver<strong>die</strong>nt.<br />

Xavier R. - Nein, nein,<br />

nein, das stimmt so nicht,<br />

überhaupt nicht.<br />

- Kommt es denn auf <strong>die</strong><br />

Spezialisierung an?<br />

Xavier R. - Es kommt auf<br />

<strong>die</strong> Spezialisierung an, <strong>und</strong><br />

es kommt drauf an, von welcher<br />

Position man wechselt.<br />

Ich kann ihnen ja sagen,<br />

ich habe am öffentlichen<br />

Spital mit allen Zusatzhonoraren<br />

<strong>und</strong> so als Chef<br />

weiter knappe 300‘000 Franken<br />

ver<strong>die</strong>nt.<br />

- Mit allen privaten,<br />

halbprivaten Einnahmen?<br />

Xavier R. - Mit allem drum<br />

<strong>und</strong> dran, <strong>und</strong> das war für<br />

mich absolut kein Gr<strong>und</strong> zu<br />

wechseln. Es ist aber so,<br />

dass eben, eben mit <strong>die</strong>sem<br />

... Das ist ein absolutes<br />

Nebenproblem für mich persönlich,<br />

sie haben völlig<br />

recht bezüglich <strong>des</strong>sen, was<br />

sie vorher gesagt haben, da<br />

es ein deutlicher Unterschied<br />

zwischen dem, was<br />

generell gilt <strong>und</strong> dem was<br />

meine persönliche Situation<br />

war, gibt. Das kann man<br />

nicht gleichsetzen. Ich war<br />

allerdings in <strong>die</strong>ser Position<br />

im Vergleich zur gesamten<br />

Schweiz unter bestimmten<br />

Oberarztlöhnen in<br />

anderen Spitälern. Also ein<br />

Leitender Arzt in einem<br />

anderen Kanton beispielsweise<br />

ver<strong>die</strong>nt wesentlich<br />

mehr, als ich in meiner<br />

damaligen Position. Also<br />

wesentlich mehr, mit den<br />

Honoraren, mit den Diensten<br />

<strong>und</strong> so weiter, mit den<br />

Leistungen. Das ist sicher<br />

auch ein nicht zu vernachlässigender<br />

Gr<strong>und</strong>, wieso im<br />

Allgemeinen von bestimmten<br />

Positionen<br />

wechseln.<br />

weniger Leute<br />

- Ich habe das Gefühl,<br />

dass <strong>die</strong> Tendenz sich dahingehend<br />

entwickelt, dass<br />

früher auf Ebene Oberärzte<br />

<strong>und</strong> Leitende Ärzte Wechsel<br />

ins Privatspital vorgenommen<br />

wurden <strong>und</strong> heute einige<br />

Beispiele existieren, wo<br />

zusehends Leitende Ärzte<br />

309


<strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong> wechseln.<br />

Dies macht einen grossen<br />

Unterschied aus, vor allem<br />

was <strong>die</strong> Erfahrung, was das<br />

Teaching anbelangt. Ich<br />

habe das Gefühl, dass heute<br />

eher Ärzte, <strong>die</strong> auf der<br />

Karrierestufe, wenn man es<br />

so nennen möchte, viel weiter<br />

oben sind, <strong>die</strong>sen Wechsel<br />

vornehmen.<br />

Xavier R. - Ja, das mag<br />

schon sein. Das mag schon<br />

sein. Was sicher eine wesentliche<br />

Rolle spielt, das<br />

ist <strong>die</strong> Frustration im öffentlichen<br />

Spital. Sie haben<br />

mich gefragt, was ich<br />

hier als besser empfinde,<br />

was ich hier vermisse, <strong>und</strong><br />

das ist <strong>die</strong> Rolle, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Privatspitäler in unserem<br />

Setting hier in der Schweiz<br />

haben. Ich war engagiert<br />

für <strong>die</strong> vernetzte Betreuung<br />

von Patienten, <strong>die</strong> beispielsweise<br />

ein ähnliches<br />

Krankheitsbild gemeinsam<br />

haben <strong>und</strong> eben auch für<br />

allgemeine, ges<strong>und</strong>heitspolitische<br />

Themen; mich interessiert,<br />

wie es dem Patienten<br />

geht ... Ich möchte<br />

auch meinetwegen den, was<br />

310<br />

weiss ich, Asylanten behandeln<br />

können, also <strong>die</strong>ser<br />

Mix <strong>und</strong> <strong>die</strong> Notfallmedizin,<br />

<strong>die</strong> hat hier einen kleineren<br />

Stellenwert. Wir machen<br />

es hier auch, aber es hat<br />

einen kleineren Stellenwert.<br />

Ja, das vermisse ich.<br />

Was ich auch ein bisschen<br />

vermisse, aber das ist verschmerzbar,<br />

<strong>und</strong> das ist<br />

auch nicht unbedingt ...,<br />

das ist der ganze Bereich<br />

der Weiterbildung also <strong>die</strong><br />

Assistenten, <strong>die</strong> Lehre für<br />

<strong>die</strong>sen Bereich in dem Sinne.<br />

Vorlesungen kann man<br />

trotzdem halten. Das ist<br />

<strong>die</strong>ser Bereich, den haben<br />

wir min<strong>des</strong>tens so gut, <strong>und</strong><br />

was ich überhaupt nicht<br />

vermisse, das sind alle<br />

Chefarztaufgaben sozusagen,<br />

<strong>die</strong> ich da nicht habe.<br />

„Die Spitäler sind unterschiedlich<br />

ausgeprägt, aber<br />

in einem katastrophalen<br />

Zustand.“<br />

- Ich würde gerne noch<br />

länger mit ihnen sprechen,


ich glaube aber, dass wir<br />

hier zu einem Ende kommen<br />

sollten. Ich möchte aber<br />

noch gerne von ihnen erfahren,<br />

ob sie <strong>die</strong>sen Beruf<br />

nochmals wählen würden.<br />

Xavier R. - Puh, nach dem<br />

damaligen Setup, ja. Ob ich<br />

es heute nochmals machen<br />

würde, also unter der Situation<br />

meiner Tochter, mich<br />

für <strong>die</strong>sen Beruf zu entscheiden,<br />

also, das weiss<br />

ich nicht. Das weiss ich<br />

nicht. Aber was das anbelangt,<br />

so habe ich mich<br />

immer zurückgehalten <strong>und</strong><br />

habe ihr nicht gesagt, ich<br />

würde <strong>die</strong>s an deiner Stelle<br />

nicht machen. Das nicht.<br />

Aber es ist eben gerade<br />

<strong>die</strong>se ... Als junger Mensch<br />

muss man zuerst nach dem<br />

Studium, wenn man durch das<br />

Studium ist, das ist relativ<br />

hart auch, das sehe ich<br />

jetzt, dann muss man min<strong>des</strong>tens<br />

sechs Jahre durch<br />

<strong>die</strong> Weiterbildung gehen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> an <strong>die</strong>sen Spitälern<br />

absolvieren. Die Spitäler<br />

sind unterschiedlich ausgeprägt<br />

aber in einem katastrophalen<br />

Zustand. Eben<br />

weil sie Sauerbruch Strukturen<br />

haben. Das ist ja nur<br />

<strong>die</strong> Spitze <strong>des</strong> Eisberges,<br />

aber, was ich an Fällen aus<br />

dem Universitätsspital, <strong>und</strong><br />

ich hatte da nie irgendwelche<br />

Konflikte, ich muss<br />

nichts Schlechtes sagen,<br />

aber was ich dort an persönlichen<br />

Katastrophen miterlebt<br />

habe, wo Leute kaputt<br />

gemacht wurden <strong>und</strong> so<br />

weiter. Das System ist in<br />

einem katastrophalen Zustand.<br />

Katastrophalen Zustand<br />

<strong>und</strong> es wird noch<br />

schlimmer werden <strong>und</strong> sie<br />

sind extrem unwirtschaftlich,<br />

extrem unwirtschaftlich.<br />

Wie da Geld problemlos<br />

verlocht wird, das ist<br />

unfassbar. Da es eben am<br />

Schluss gedeckt wird, <strong>und</strong><br />

es wird auch so bleiben,<br />

auch mit Einführung der DRG<br />

wird es sich nicht ändern,<br />

da bin ich mir sicher.<br />

„Sie brauchen heute einen<br />

Guide Michelin oder was<br />

auch immer, um sich auszuwählen,<br />

wohin sie gehen,<br />

wenn sie etwas haben.“<br />

311


- Können sie mir drei oder<br />

vier Faktoren nennen, bei<br />

denen sie das Gefühl haben,<br />

dass man <strong>die</strong>s ändern müsste,<br />

oder wo sie einen Vorschlag<br />

hätten, dass man<br />

<strong>die</strong>s so oder so ändern<br />

könnte, dahingehend, dass<br />

<strong>die</strong> öffentlichen Spitäler<br />

wirtschaftlicher gestaltet<br />

werden können. (…)<br />

Xavier R. - Was <strong>die</strong> Wirtschaftlichkeit?<br />

- Ja.<br />

Xavier R. - Das muss ich<br />

doch auch überlegen. Ich<br />

meine, Entschuldigung, das<br />

muss ich weit von der Hand<br />

weisen. Wirtschaftliche<br />

Überlegungen betreffen <strong>die</strong><br />

Psychiaterin in der Praxis,<br />

betreffen mich hier, betreffen<br />

das öffentliche<br />

Spital. Das ist aber vom<br />

öffentlichen Spital nicht<br />

gepachtet. Das ist ja unglaublich!<br />

Im Gegenteil!<br />

(Xavier R. ist enerviert.)<br />

Das ist einfach falsch,<br />

dass man dort einfach <strong>die</strong>se<br />

Wirtschaftlichkeit, <strong>die</strong> im<br />

312<br />

KVG festgelegt ist, in gewissen<br />

Bereichen beachten<br />

muss, <strong>und</strong> in anderen Bereichen<br />

kann man, muss man<br />

<strong>die</strong>s nicht beachten. Das<br />

ist einfach falsch. Dieser<br />

Gr<strong>und</strong>satz wird im öffentlichen<br />

Spitalbereich mit den<br />

Füssen getreten <strong>und</strong> fortgesetzt<br />

<strong>und</strong> konsequent. Ich<br />

könnte das auch mit x Beispielen<br />

belegen. Das ist<br />

unglaublich. Ich meine, was<br />

sind <strong>die</strong> ... das führt<br />

jetzt nicht nur zurück auf<br />

<strong>die</strong> einzelnen Spitaladministrationen,<br />

von denen man<br />

sagen kann, das sind unfähige<br />

Manager oder so. Nehmen<br />

wir mal ein ideal administriertes<br />

Spital, nehmen<br />

wir jetzt mal das eine Kantonsspital<br />

an, wo ein fantastischer<br />

Manager <strong>und</strong> Verwaltungsdirektor<br />

ist, ich<br />

kenne <strong>die</strong> Details zu wenig,<br />

aber <strong>die</strong> scheinen alles gut<br />

zu machen. Weshalb wird<br />

immer noch <strong>die</strong> Wirtschaftlichkeit<br />

mit Füssen getreten,<br />

was sind <strong>die</strong> Hauptausgabepunkte<br />

in <strong>die</strong>sem Kantonsspital:<br />

das Personal.<br />

Und ich meine, ich gehe ja


ab <strong>und</strong> zu für bestimmte<br />

spezielle Sachen zur Patientenbehandlung<br />

an <strong>die</strong>ses<br />

Kantonsspital auf <strong>die</strong> Abteilung<br />

der Spezialität,<br />

<strong>die</strong>selbe, <strong>die</strong> ich hier am<br />

Privatspital betreue. Die<br />

Explosion von Stellen in<br />

Spitälern in den letzten<br />

Jahren, das ist unglaublich,<br />

das sind unzählige<br />

Millionen, <strong>die</strong> dort an Kosten<br />

auflaufen, <strong>und</strong> worauf<br />

geht das zurück? Das geht<br />

auf eine absolut idiotische<br />

<strong>und</strong> rigi<strong>des</strong>te Arbeitszeitregelung,<br />

rigi<strong>des</strong>te, das<br />

führt dann dazu, dass sie<br />

<strong>die</strong> dümmsten Schichtwechsel<br />

haben, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kommunikation<br />

extrem erschweren, aufwändiger<br />

machen <strong>und</strong> so weiter.<br />

Der Patient kennt<br />

schon niemanden mehr. Also<br />

es ist verheerend. Kontraproduktiv.<br />

Und sie haben<br />

plötzlich drei, vier Stellen,<br />

wo früher nur eine<br />

war. Halt, halt, es wäre<br />

völlig falsch, wenn man<br />

mich so verstehen würde,<br />

dass ich ein Advokat für<br />

<strong>die</strong> H<strong>und</strong>ertst<strong>und</strong>enwoche<br />

oder so was bin. Man muss<br />

anständige Arbeitszeiten<br />

haben. Keine Frage. Man<br />

muss das auch anpassen an<br />

den Schweregrad der Belastung<br />

während der Arbeit,<br />

das ist klar. Aber <strong>die</strong> Pläne<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Regelungen, auch<br />

dort gibt es eine Überregulation,<br />

sind derart rigid,<br />

dass das zu einer Explosion<br />

an Stellen führt. Jetzt hat<br />

das auch unter anderem zur<br />

Folge, dass <strong>die</strong> Leute, <strong>die</strong><br />

auf <strong>die</strong>sen explo<strong>die</strong>rten<br />

Stellenzahlen beispielsweise<br />

als Mediziner sind, innerhalb<br />

ihrer Zeit gar keine<br />

Weiterbildung mehr richtig<br />

bekommen können. Die<br />

rotieren ja nur noch, um<br />

sich abzulösen <strong>und</strong> so weiter<br />

(…). Eine Facharztausbildung<br />

in sechs Jahren in<br />

einem Fach ist eigentlich<br />

heute praktisch nicht mehr<br />

möglich. (…) Jedenfalls<br />

kann man sagen, dass <strong>die</strong><br />

Personalkostenexplosion<br />

prominent ist <strong>und</strong> <strong>die</strong>s in<br />

jedem Spital, selbst an den<br />

gut geführten. Das führt<br />

uns zurück auf <strong>die</strong> Regulationsdichte<br />

<strong>und</strong> es führt<br />

uns zurück auf <strong>die</strong> Sauer-<br />

313


uch Strukturen, <strong>die</strong> auch<br />

am ob genannten Kantonsspital<br />

existieren, dort sind<br />

sie auch noch wie zu Sauerbruch,<br />

<strong>die</strong> kann der CEO gar<br />

nicht so einfach ändern.<br />

Und das ist natürlich eine<br />

gr<strong>und</strong>sätzliche Frage ...<br />

Was müsste man ändern, fragen<br />

sie ... Gerade vorhin<br />

war ein Kollege da, der war<br />

zehn Tage oder so etwas in<br />

Petersburg mit einer Mission,<br />

hätt ich bald gesagt,<br />

unterwegs operieren. Ja,<br />

wenn er da von den Petersburger<br />

Spitälern schildert,<br />

ja, was würde man dort ändern.<br />

Das ist natürlich ein<br />

Prozess, ein Prozess. Man<br />

kann nicht etwas ändern, in<br />

dem man einfach sagt, nun<br />

muss man da <strong>die</strong> Schraube X<br />

ersetzen, <strong>und</strong> dann funktioniert<br />

es wieder, das ist<br />

nicht der Fall. Aber man<br />

müsste einen Prozess einleiten,<br />

der in <strong>die</strong> richtige<br />

Richtung führt, Schritt für<br />

Schritt. Und was ist <strong>die</strong><br />

richtige Richtung? Das allererste<br />

wäre das „patients<br />

first“. „patients first“<br />

für jeden, also von unten<br />

314<br />

in der Garage bis zur letzten<br />

Putzhilfe auf der Station.<br />

Und vor allem für <strong>die</strong><br />

Chefs „patients first“. Und<br />

das ist nicht der Fall. Das<br />

ist nicht der Fall. Ich<br />

kann ihnen sagen, ich hätte<br />

als Patient ... Sie brauchen<br />

heute einen Guide Michelin<br />

oder was auch immer,<br />

um sich auszuwählen, wohin<br />

sie gehen, wenn sie etwas<br />

haben. Wenn sie ein Rückenproblem<br />

haben, oder wenn<br />

sie sich mit dem Brotmesser<br />

in <strong>die</strong> Hand schneiden, dann<br />

müssen sie wissen, wohin<br />

sie gehen. Ich als ... ich<br />

habe jetzt am letzten Wochenende<br />

einen Kollegen<br />

gehabt mit einem Lungenkarzinom.<br />

Der hat mich angefleht,<br />

der ist ein Hausarzt,<br />

ganz ein einfacher,<br />

netter Mensch, der hat mich<br />

angefleht, damit er nicht<br />

auf eine Notfallstation <strong>des</strong><br />

öffentlichen Spitals gehen<br />

muss. Dann bleibe er lieber<br />

zu Hause <strong>und</strong> sterbe. Das<br />

ist jetzt ein bisschen akzentuiert,<br />

aber davon gibt<br />

es Beispiele noch <strong>und</strong> noch.<br />

Ich hätte Angst auf eine,


ein wenig pointiert ausgedrückt,<br />

Notfallstation zu<br />

gehen. Das hat jetzt nichts<br />

mit der Notfallstation an<br />

sich zu tun, sondern mit<br />

dem gesamten Apparat, in<br />

welchen man dann hineingerät.<br />

Ich könnte ihnen Stories<br />

erzählen noch <strong>und</strong><br />

noch. Das ist ein Problem,<br />

wirklich. Patients sind<br />

nicht first. Das ist der<br />

erste gr<strong>und</strong>legende Systemmangel.<br />

Der zweite gr<strong>und</strong>legende<br />

Systemmangel, dass<br />

eben, das hab ich schon<br />

gesagt, <strong>die</strong> Personen nach<br />

anrüchigen <strong>und</strong> hochproblematischen<br />

Kriterien an ihre<br />

Positionen befördert werden.<br />

Das ist ein riesiges<br />

Problem. Nach politischer<br />

Kompatibilität, nach ...<br />

ich weiss nicht was, da<br />

gibt es ja unterschiedliche<br />

Kriterien, im Ordinarius<br />

ist ein bekanntes Kriterium,<br />

das möglicherweise etwas<br />

problematisch ist, <strong>die</strong><br />

Ausrichtung auf Forschungsrenommee<br />

<strong>und</strong> Publikationen.<br />

Was nicht parallel mit<br />

wirklicher Forschungskapazität<br />

geht. Es gibt Leute,<br />

<strong>die</strong> haben h<strong>und</strong>erte Publikationen,<br />

ich würde mich dort<br />

dazu zählen, <strong>und</strong> <strong>die</strong> haben<br />

keine grosse Forschungskapazität<br />

oder Forschungsgewicht<br />

(lacht). Verstehen<br />

sie? Wenn ich sage, ich<br />

habe, ich weiss nicht was,<br />

zweih<strong>und</strong>ertfünfzig Publikationen,<br />

ich weiss nicht<br />

genau, wie viele es sind,<br />

das ist aber auch Wurst,<br />

ich war nie in dem Sinne<br />

ein grosser Forscher, es<br />

ist gut zu wissen, wie es<br />

funktioniert, es hat interessante<br />

Fragen, es hat<br />

kleine Details, aber ich<br />

bin nicht der Nobelpreiskandidat<br />

für Medizin, völliger<br />

Blödsinn, oder? Ich<br />

sehe mich da ganz woanders.<br />

Mit anderen Worten, <strong>die</strong><br />

Zahl der Publikationen korreliert<br />

nicht unbedingt,<br />

wie man so schön sagt ...<br />

Einstein hat auch wenige<br />

Publikationen geschrieben<br />

<strong>und</strong> na gut. Nur um das zu<br />

unterstreichen. Eins der<br />

bekannteren anrüchigen Kriterien<br />

für <strong>die</strong>se Auswahl<br />

ist das, aber es gibt noch<br />

eine ganze Reihe anderer.<br />

315


Das ist das zweite Problem,<br />

das müsste man sicherlich<br />

auch in <strong>die</strong> richtige Richtung<br />

befördern. Es ist übrigens<br />

nicht nur ein Problem<br />

der Ärzte, es ist nicht<br />

nur ein Problem der Ärzte.<br />

Auch im Pflegebereich sind<br />

Entwicklungen im Gange, <strong>die</strong><br />

hochproblematisch sind. Ich<br />

meine ... es ist in meinen<br />

Augen hochproblematisch,<br />

dass man im Pflegebereich<br />

nicht mehr bereit ist Abstufungen<br />

zu akzeptieren,<br />

Hilfen zu akzeptieren, wie<br />

<strong>die</strong>s früher auch sehr sinnvoll<br />

war. Medizinstudenten,<br />

<strong>die</strong> das sogenannte Häfeli-<br />

Praktikum gemacht haben ...<br />

<strong>und</strong> heute ist <strong>die</strong>ses abgeschafft.<br />

Ja, um Gotteswillen,<br />

das war doch eine w<strong>und</strong>erbare<br />

Hürde, viel besser<br />

als <strong>die</strong>se blödsinnigen Numerus<br />

Clausus-Prüfungen.<br />

Man hatte eine gewisse Sozialkompetenz<br />

oder auch<br />

Einblicke in <strong>die</strong> Berufsumgebung,<br />

wo man eines Patienten<br />

Dreck auch mal erlebt,<br />

mit welchem man <strong>die</strong><br />

angehenden Mediziner so<br />

auch mal in Kontakt bringt.<br />

316<br />

Das ist in meinen Augen<br />

völlig falsch. Genau ein<br />

Schritt in <strong>die</strong> ... Kein<br />

systemverändernder Schritt<br />

aber es ist genau einer der<br />

kleinen Schritte in <strong>die</strong><br />

falsche Richtung. Der Einsatz<br />

von meinetwegen<br />

Dienstverweigerern in Spitälern<br />

oder Pflegeeinrichtungen<br />

geht nicht, ist verboten,<br />

kann man nicht brauchen.<br />

Völliger Blödsinn.<br />

Selbstverständlich könnte<br />

man <strong>die</strong> brauchen. Und all<br />

<strong>die</strong>s führt dazu, dass <strong>die</strong><br />

Patienten niemanden haben,<br />

der mit ihnen spricht, der<br />

ihnen das Essen eingibt.<br />

Wenn sie im öffentlichen<br />

Spital sind, wenn sie irgendwo<br />

im Bett hängen, das<br />

Essen vorgeknallt bekommen<br />

<strong>und</strong> es dann wieder abserviert<br />

wird, wenn sie es<br />

nicht gegessen haben ...<br />

das ist <strong>die</strong> Konsequenz,<br />

wenn sie es nicht akzeptieren<br />

<strong>und</strong> das sind <strong>die</strong> Entwicklungen.<br />

Auch dort wiederrum<br />

... Das sind so tägliche<br />

Beobachtungen <strong>und</strong><br />

dann wehe, wenn sie sagen,<br />

jetzt hab ich doch gesagt,


es ist so wichtig, der ist<br />

doch gerade frisch operiert<br />

worden oder muss operiert<br />

werden, dass der genügend<br />

Kalorien zu sich nimmt.<br />

Jetzt stellt sie ihm einfach<br />

das Essen hin, wie<br />

soll denn der da essen?<br />

Wenn sie das heute im öffentlichen<br />

Spital machen,<br />

dann leben sie gefährlich,<br />

dann kriegen sie ein Consilium<br />

abe<strong>und</strong>i, das Handeln<br />

darf man nicht kritisieren.<br />

Also, es sind viele kleine<br />

Schritte, <strong>die</strong> man in <strong>die</strong><br />

richtige Richtung tätigen<br />

sollte, das ist <strong>die</strong> Unternehmenskultur<br />

... Ich weiss<br />

nicht, wie man <strong>die</strong>se ...<br />

sie verstehen mehr von <strong>die</strong>sen<br />

Dingen, wo das anfängt.<br />

Und es fängt auch, das muss<br />

ich auch sagen, das ist<br />

natürlich im öffentlichen<br />

Spital ganz anders. Sie<br />

haben immer unterschiedliche<br />

Bereiche, auch im privaten<br />

... im unternehmerischen<br />

Bereich haben sie<br />

auch Betriebsteile, <strong>die</strong><br />

sehr gut funktionieren, das<br />

kann mal konjunkturabhängig<br />

sein, von Nachfrage abhän-<br />

gig sein <strong>und</strong> sie haben andere,<br />

<strong>die</strong> nicht so gut<br />

funktionieren. Dieses Gegenseitige<br />

sozusagen das<br />

Lernen oder <strong>die</strong> Diffusion<br />

von intelligenten Ideen<br />

findet überhaupt nicht<br />

statt. Sondern der, der es<br />

gut macht, wird nach Möglichkeit<br />

bestraft. Also es<br />

ist eher eine Nivellierung<br />

nach unten, als eine Förderung<br />

nach oben. Es ist<br />

nicht, dass man <strong>die</strong> Anderen<br />

zusperren <strong>und</strong> bestrafen<br />

muss, überhaupt nicht, aber<br />

<strong>die</strong> Förderung nach oben<br />

findet nicht statt, <strong>und</strong> das<br />

andere wird eher nach unten<br />

nivelliert, <strong>und</strong> man sagt<br />

nicht, jetzt haben wir da<br />

einen Bereich, der gut<br />

funktioniert. Noch einmal,<br />

man muss immer sagen, dass<br />

<strong>die</strong>se Aussagen, <strong>die</strong> ich<br />

hier treffe, <strong>die</strong> klingen<br />

immer sehr absolut. Es geht<br />

nie um h<strong>und</strong>ert oder null,<br />

natürlich ist das verkürzt<br />

ausgedrückt, das weiss ich<br />

schon, aber es ist nicht<br />

... tendenzmässig ...<br />

(Die Aufnahme wird beendet.<br />

Xavier R. nimmt nochmals<br />

317


kurz auf <strong>die</strong> Krankenkassen<br />

<strong>und</strong> das Schweizer Krankenversicherungssystem<br />

Bezug<br />

<strong>und</strong> fügt hinzu, dass <strong>die</strong><br />

Wahlmöglichkeiten hinsichtlich<br />

möglicher Behandlungen<br />

<strong>und</strong> Ärzte einen enormen<br />

Vorteil <strong>des</strong> Schweizer Sys-<br />

318<br />

tems darstellen. Es sei<br />

sehr wichtig, dass der Patient<br />

stets <strong>die</strong> Freiheit<br />

habe, sich für denjenigen<br />

Arzt zu entscheiden, bei<br />

welchem er sich am besten<br />

aufgehoben fühle.)<br />

4.4 Louis B. − „... <strong>die</strong> müssen das Butterbrot essen“<br />

4.4.1 Der CEO − Porträt eines CEO einer Privatspitalgruppe<br />

Der sportliche <strong>und</strong> jugendliche Eindruck, den Louis B. hinterlässt, hat wohl<br />

nicht nur mit seinem Alter, Mitte vierzig, zu tun, sondern wird vermutlich auch<br />

durch seinen sicheren Schritt <strong>und</strong> sein eloquentes Auftreten unterstrichen.<br />

Wörter wie Effizienz, Persistenz <strong>und</strong> ziel- <strong>und</strong> prozessorientiertes Handeln<br />

beschreiben seinen Führungsstil am treffendsten. Das Interview mit Louis B.<br />

findet in seinem Büro statt, das sich im obersten Stockwerk jenes Bürohauses<br />

befindet, in welchem das gesamte Head Office der Privatklinikgruppe angesiedelt<br />

ist <strong>und</strong> das in einem der trendigsten Viertel einer Schweizer Grossstadt<br />

liegt. Seine Räumlichkeiten bestechen durch ein grosszügiges Raumangebot,<br />

<strong>des</strong>sen grosse Fensterfront es zulässt, den Blick über den sich vor der Haustüre<br />

befindenden See hin zur fernen Bergregion schweifen zu lassen. Das Habitat<br />

widerspiegelt gewissermassen den heutigen Habitus von Louis B., der sich, was<br />

anhand der folgenden Ausführungen ersichtlich werden wird, im Laufe seiner<br />

Laufbahn einem Wandel unterzogen hat, wobei auch <strong>die</strong> Veränderung <strong>des</strong><br />

Habitats einhergeht. Sein Habitus scheint sich an <strong>die</strong> neuen, an ihn gerichteten<br />

<strong>und</strong> von ihm anerkannten Praxisformen, aufgr<strong>und</strong> der zunehmenden Vermarktlichung<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> der verstärkten <strong>Ökonomisierung</strong>sprozesse<br />

innerhalb <strong>des</strong> Krankenhaussektors, problemlos angepasst zu haben,<br />

ebenso wie an das Interieur, in dem er seine Arbeitstage verbringt. Man könnte<br />

versucht sein, hier von einer Widerspiegelung <strong>des</strong> Raums der Lebensstile52 , wie<br />

52 Im Buch Die feinen Unterschiede widmet Bour<strong>die</strong>u dem Konzept <strong>des</strong> Habitus <strong>und</strong> damit einhergehend dem Raum der<br />

Lebensstile ein eigenes Kapitel. Inwiefern sich <strong>die</strong>se beiden konstituieren, zeigt folgende Aussage: „... der Habitus ist


Bour<strong>die</strong>u <strong>die</strong> repräsentierte soziale Welt nennt, im objektiv ersichtlichen Wohn-<br />

bzw. Arbeitsraum zu sprechen. Das Interieur <strong>des</strong> Büros ist modern gehalten,<br />

der Raum ist nicht mit Dokumenten <strong>und</strong> Papier überfüllt, wie man es aus öf-<br />

fentlichen Institutionen kennt, sondern präsentiert sich übersichtlich, aufge-<br />

räumt <strong>und</strong> lichtdurchflutet. Der Standort <strong>des</strong> Bürohauses sowie <strong>die</strong> Aussicht<br />

aus Louis B.s Büro können als privilegiert bezeichnet werden, privilegiert sind<br />

auch <strong>die</strong> Patienten, <strong>die</strong> Einlass in <strong>die</strong> Privatkliniken der Gruppe erhalten. Der<br />

asketische Anblick der Büroräume der Kaderärzte <strong>und</strong> Geschäftsleitungsmit-<br />

glieder inklusive dem CEO an öffentlichen Spitälern steht im Gegensatz zur<br />

Mehrheit der Räumlichkeiten der in Privatspitälern tätigen Ärzte, <strong>die</strong> im Rah-<br />

men der vorliegenden Forschung interviewt wurden. Oft wurden <strong>die</strong> kleinen<br />

Büroräumlichkeiten, <strong>die</strong> an öffentlichen Spitälern meist von Büchern, Dokumenten<br />

<strong>und</strong> Patientenberichten überhäuft waren, von den Interviewpartnern<br />

beklagt, <strong>und</strong> <strong>die</strong> befragten Kaderärzte der öffentlichen Spitäler wiesen oft auch<br />

auf den Raummangel an öffentlichen Spitälern hin.<br />

Nach der Begrüssung wird am grossen Sitzungszimmertisch, der sich in unmittelbarer<br />

Nähe der Fensterfront befindet, Platz genommen. Einleitend wird in<br />

Kürze erklärt, weshalb ein Interesse an seiner Person <strong>und</strong> der Privatklinikgruppe<br />

besteht. Louis B. beantwortet <strong>die</strong> Fragen wohlwollend <strong>und</strong> ausführlich. Dass<br />

<strong>die</strong> im Vorfeld vereinbarte Gesprächsdauer von einer St<strong>und</strong>e eingehalten werden<br />

muss, ist erst erkennbar, als seine Assistentin nach exakt einer St<strong>und</strong>e das<br />

Büro betritt, Unterlagen auf seinem Bürotisch hinterlegt <strong>und</strong> kopfnickend den<br />

Raum wieder verlässt.<br />

Vor wenigen Jahren wurde Louis B. zum CEO einer der grössten Privatklinikgruppen<br />

der Schweiz ernannt. Den Geschäftsleitungsmitgliedern war er aber<br />

keine unbekannte Grösse, da er vor seiner Ernennung bereits einige Jahre als<br />

Direktor einer zur Gruppe gehörenden Privatklinik tätig gewesen war. Louis B.<br />

entstammte aber nicht wie sein Vorgänger, der <strong>die</strong> Privatklinikgruppe aufgebaut<br />

<strong>und</strong> über zwanzig Jahre lang geführt hatte, aus einer der Medizin fach-<br />

Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis <strong>und</strong> Klassifikationssytem (principum divisionis) <strong>die</strong>ser<br />

Formen. In der Beziehung <strong>die</strong>ser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer<br />

Praxisformen <strong>und</strong> Werk zum einen, der Unterscheidung <strong>und</strong> Bewertung der Formen <strong>und</strong> Produkte (Geschmack) zum<br />

anderen, konstituiert sich <strong>die</strong> repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile.“ (Bour<strong>die</strong>u,<br />

1979/1987, S. 277 f.)<br />

319


fremden Wissenschaft, sondern hatte sich ursprünglich für den Beruf <strong>des</strong> Arz-<br />

tes entschieden, den er als Assistenz- <strong>und</strong> Oberarzt auch nahezu ein Jahrzehnt<br />

ausführte. Vor über zehn Jahren entschied er sich, nach seinem ursprünglich<br />

angedachten Entscheid, Allgemeinarzt zu werden, <strong>die</strong> Seiten zu wechseln, was<br />

er folgendermassen kommentiert: „Das war so <strong>die</strong> Zeit in Deutschland,<br />

als <strong>die</strong> Themen DRG, Medizincontrolling <strong>und</strong> alle <strong>die</strong>se<br />

Dinge aufkamen. Der Bedarf an Ärzten im Management wurde<br />

plötzlich sichtbar. Ich hab mir dann gedacht, guckst dir<br />

das einmal an, <strong>und</strong> so kam ich dann von einem 5%-Pensum, zu<br />

10% ein bisschen Gucken, so ist es immer weiter gegangen<br />

<strong>und</strong> bin dann so durch <strong>die</strong> unterschiedlichsten Funktionen in<br />

der Spitalverwaltung marschiert.“ Louis B. schien im Wandel, der<br />

das Ges<strong>und</strong>heitswesen in Form einer voranschreitenden <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong><br />

Privatisierung der Spitallandschaft erfasste <strong>und</strong> ein Zeuge für <strong>die</strong> neoliberalen<br />

Transformationsprozesse <strong>und</strong> den flexiblen Kapitalismus darstellt, keine Gefahr<br />

zu sehen <strong>und</strong> partizipierte daran, indem er seine ehemalige Berufung zum Arzt<br />

kontinuierlich gegen eine Position in der Verwaltungsebene <strong>und</strong> anschliessend<br />

in der Geschäftsleitungsebene eintauschte. Sein medizinisches <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitsökonomisches<br />

Wissen, das er sich aus eigener Initiative zusätzlich aneignete,<br />

nachdem er <strong>die</strong> Oberarztstelle <strong>und</strong> seine Funktion als Mitglied der Geschäftsleitung<br />

einer deutschen Privatklinik abgegeben hatte <strong>und</strong> sich ganz seiner<br />

neuen CEO-Funktion eines deutschen Unternehmens widmete, sollte nun<br />

produktiv eingesetzt werden. Die Diskussionen r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Einführung der<br />

DRG hat Louis B. in Deutschland hautnah miterlebt, wanderte jedoch kurz nach<br />

deren Einführung im Jahre 2003 in <strong>die</strong> Schweiz aus. Die Funktion <strong>des</strong> CEOs<br />

erfüllte er erstmalig in einem deutschen Unternehmen, das ursprünglich Eigner<br />

einer der grössten Privatkliniken Deutschlands war <strong>und</strong> gleichzeitig durch eine<br />

Tochtergesellschaft Beratungen im Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialbereich anbot. Die<br />

Modellhaftigkeit <strong>des</strong> Spitals <strong>und</strong> <strong>die</strong> bis anhin schwache Durchsetzungskraft<br />

<strong>und</strong> Präsenz sowie Historie der Privatkliniken in Deutschland haben gemäss<br />

Louis B. zum Scheitern <strong>und</strong> zur späteren Insolvenz <strong>des</strong> Unternehmens, einer<br />

Aktiengesellschaft, beigetragen. Diese Faktoren führten dann folglich auch<br />

dazu, dass er seinen Vertrag nicht mehr verlängerte <strong>und</strong> in <strong>die</strong> Schweiz auswanderte.<br />

Die Privatklinik musste ihre Türen nicht schliessen, konnte das verbleibende<br />

Vermögen an eine neue Betreibergesellschaft übertragen <strong>und</strong> präsentiert<br />

sich gegen aussen auch heute noch als eine der grössten deutschen Privatkliniken.<br />

Louis B. gab seine Tätigkeit als Arzt aber auch während seiner Tätig-<br />

320


keit als CEO in Deutschland nie vollständig auf, was er folgendermassen kommentiert:<br />

„Ich muss sagen, dass das endgültige ... also das<br />

Stethoskop an den Nagel gehängt, habe ich erst im April<br />

2004. (…) Ich hatte damals, als ich keinen Medizinstu<strong>die</strong>nplatz<br />

erhalten hatte, <strong>die</strong> Rettungssanitäterausbildung gemacht,<br />

um min<strong>des</strong>tens etwas Medizinisches machen zu können.<br />

Bin dann natürlich hinterher als ich Arzt war Notarzt <strong>und</strong><br />

Leitender Notarzt geworden, bin ganz viel Hubschrauber geflogen<br />

<strong>und</strong> habe Notarzttätigkeit gemacht, was ich eigentlich<br />

bis 2004 nachts <strong>und</strong> an den Wochenenden noch immer<br />

machte.“<br />

Die Me<strong>die</strong>n präsentieren <strong>des</strong>halb Louis B. gerne als den CEO, der bis zur Auswanderung<br />

in <strong>die</strong> Schweiz <strong>und</strong> folglich bis zum Eintritt in <strong>die</strong> Privatklinikgruppe<br />

als Lebensretter <strong>und</strong> Notfallarzt tätig war53 . Diese Kombination zweier<br />

doch sehr unterschiedlicher Fachrichtungen scheint ihm <strong>die</strong> Berechtigung zu<br />

geben, sowohl für <strong>die</strong> Ärzteschaft als auch für <strong>die</strong> Ökonomen das Wort ergreifen<br />

zu dürfen. Louis B. betrachtet <strong>die</strong> Kombination der beiden Berufe in einer<br />

Person nicht als Rezept für <strong>die</strong> erfolgreiche Führung eines Krankenhauses. Er<br />

ist aber der Meinung, dass der Ökonom aufgr<strong>und</strong> seines fehlenden medizinischen<br />

Fachwissens lediglich Vorgaben festlegen, <strong>die</strong> Ärzte <strong>und</strong> <strong>die</strong> Pflege aber<br />

nicht beraten oder unterstützen kann. Dieses fehlende Wissen könne der Ökonom<br />

aber mithilfe von Erfahrung durch eine langjährige Tätigkeit im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

<strong>und</strong> innerhalb der Direktion eines Spitals wieder kompensieren.<br />

Dennoch ist spürbar, dass er für <strong>die</strong> erfolgreiche <strong>und</strong> ganzheitliche Führung<br />

eines Spitals eine Kombination der beiden Berufsgattungen als ausserordentlich<br />

wertvoll, wenn nicht sogar unabdingbar empfindet. Die Ökonomen können<br />

neben dem Einbringen ihres betriebswirtschaftlichen Wissens <strong>und</strong> dem Festlegen<br />

finanzieller Zielgrössen wenig zum Erfolg eines Spitals beitragen. Louis B.<br />

gehört zu den wenigen CEOs der Schweizer Spitallandschaft, <strong>die</strong> in einer Per-<br />

53 Ich verweise hierzu auf den Artikel in der Handelszeitung, der knapp ein halbes Jahr nach der Ernennung Louis B.s<br />

zum CEO der Privatklinikgruppe in Form eines Personenporträts veröffentlicht wurde. Das Porträt trägt den Titel<br />

„Aufstieg vom Blaulicht-Doktor zum CEO“ <strong>und</strong> charakterisiert Louis B. als vifen Querdenker, der mit seiner Patchwork-Familie<br />

ein Leben wie jeder andere führt <strong>und</strong> der sowohl als Arzt als auch als Klinikchef glücklich sei. Die Kernkompetenzen<br />

der Kliniken sollen gestärkt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Wertschöpfungsprozesse optimiert werden, wobei sich <strong>die</strong> Kliniken<br />

gewissermassen als Gastgeber fühlen, da für sie <strong>die</strong> Patienten keine K<strong>und</strong>en, wie sie heute oft <strong>und</strong> gerne von den<br />

Akteuren genannt werden, sondern Gäste sind, denen man für höhere Zusatzversichertenprämien entsprechende<br />

Leistungen zu bieten hat.<br />

321


son sowohl den Arzt als auch den Ökonomen vereinen <strong>und</strong> sich folglich nicht<br />

nur das medizinische, sondern auch das betriebswirtschaftliche Fachwissen<br />

angeeignet haben. Dieses Wissen bezüglich der medizinischen Abläufe <strong>und</strong> der<br />

Prozesse <strong>und</strong> Strukturen innerhalb eines Spitals komme ihm im Rahmen seiner<br />

täglichen Arbeit ausserordentlich zugute. Für Louis B. ist <strong>die</strong> Erfüllung seines<br />

heutigen Tätigkeitsbereiches ohne <strong>die</strong> Kombination seines medizinischen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Wissens unvorstellbar. Vor allem im Rahmen der Gespräche<br />

mit den „Leuten an der Front ...“ ist das medizinische Wissen von<br />

Bedeutung, da ohne <strong>die</strong>ses Wissen <strong>die</strong> Gefahr droht, hinters Licht geführt zu<br />

werden. Das Fachwissen helfe einem also, <strong>die</strong> korrekten Informationen von den<br />

Fehlinformationen zu trennen, ganz im Sinne von „... du schau, das<br />

stimmt jetzt einfach nicht, was du sagst.“ Die Rolle von Louis B.<br />

innerhalb der Spitalstruktur könnte als hybride Rolle gelten, da er sein medizi-<br />

nisches Fachwissen <strong>und</strong> das seinem ärztlichen Berufsethos zugr<strong>und</strong>eliegende<br />

Engagement durch Kompetenzen wie eine erhöhte Mobilität, Flexibilität, Autonomie,<br />

Kreativität <strong>und</strong> Vernetzung, <strong>die</strong> einen Manager <strong>und</strong> Ökonomen auszeichnen,<br />

ergänzt, was bei Louis B. eine sehr wohl kompatible Form annimmt.<br />

Louis B. wusste bereits als Junge, dass er eines Tages den Beruf <strong>des</strong> Arztes bzw.<br />

<strong>des</strong> Chirurgen erlernen <strong>und</strong> praktizieren möchte. Er fühlte sich bereits im Kin<strong>des</strong>alter<br />

berufen, den Arztberuf zu ergreifen. Das Konzept der Berufung wird<br />

bei Bour<strong>die</strong>u sehr schön anhand <strong>des</strong> folgenden Prozesses beschrieben: Die<br />

Homogenität der an eine Position geb<strong>und</strong>enen Dispositionen scheint anscheinend<br />

w<strong>und</strong>erbar mit den in der Position angelegten Anforderungen übereinzustimmen,<br />

aus <strong>die</strong>ser Übereinstimmung ergibt sich <strong>die</strong> Schlussfolgerung <strong>des</strong><br />

Individuums, dass <strong>die</strong> Position wie auf es zugeschnitten sei oder <strong>die</strong>s den gegenwärtigen<br />

Stelleninhabern zumin<strong>des</strong>t so vorkommt. (Bour<strong>die</strong>u, 1979/1987, S.<br />

189)<br />

Bour<strong>die</strong>u sieht <strong>die</strong> Berufung als „... antizipierte Zustimmung zum objektiven,<br />

durch den praktischen Bezug auf <strong>die</strong> typische Laufbahn innerhalb der Herkunftsklasse<br />

aufgezwungenen Schicksal“. (Bour<strong>die</strong>u, 1979/1987, S. 189) Ganz in<br />

<strong>die</strong>sem Sinne betont Louis B., dass er aus einer Ärztefamilie stamme, obwohl<br />

<strong>die</strong>se Tatsache bereits einige Generationen zurückliege. Sein Vater war Funktionär<br />

in einem Industriebetrieb. Woher <strong>die</strong> Faszination für den Arztberuf<br />

stammte, erklärt er folgendermassen: „Das ist einfach eines der<br />

letzten grossen Abenteuer, <strong>die</strong> man erfahren kann, <strong>und</strong> man<br />

322


kann ganz viel lernen. Man ist immer auf einer Bühne, es<br />

kann einem keiner mehr helfen, man muss für sein Handeln<br />

hinterher einstehen, <strong>die</strong>s positiv <strong>und</strong> negativ, das sind so<br />

<strong>die</strong> Attribute, <strong>die</strong> mich immer fasziniert haben.“ Die Laufbahn<br />

von Louis B. war nicht gradlinig, einige neue Ausrichtungen musste er vornehmen,<br />

bis er zum Studium der Medizin zugelassen wurde. Er scheut nicht<br />

davor zurück zu erwähnen, dass sein Abitur weit unter den Anforderungen <strong>des</strong><br />

Numerus clausus gelegen habe, weshalb seine Bewerbungen für einen Medizinstu<strong>die</strong>nplatz<br />

erfolglos blieben <strong>und</strong> er folglich sieben Semester Biologie <strong>und</strong><br />

Chemie stu<strong>die</strong>rte, bevor er einen Medizinstu<strong>die</strong>nplatz <strong>und</strong> anschliessend auch<br />

eine Assistenzstelle an einer Universitätsklinik ergatterte, wo er dann <strong>die</strong> Ausbildung<br />

zum Facharzt der Chirurgie absolvierte. Den Worten von Louis B. kann<br />

ein persönliches Berufsideal entnommen werden, das eine heroische Komponente<br />

beinhaltet, indem das Abenteuer darin besteht, dass man sich als Arzt<br />

während eines medizinischen Eingriffs auch immer einem gewissen Risiko<br />

aussetzt <strong>und</strong> man im bildlichen Sinne <strong>die</strong> Rolle <strong>des</strong> einsamen Weisen in der<br />

medizinischen Wüste einnimmt, wo man sich ausschliesslich auf sich selber<br />

verlassen kann. Damit einher gehen <strong>die</strong> elitäre Verantwortungsethik <strong>des</strong> einsamen<br />

Helden <strong>und</strong> das lebenslange Lernen, das auch von Beat U., dem Chefarzt<br />

eines Kantonsspitals im Rahmen <strong>des</strong> Interviews propagiert wurde <strong>und</strong> das<br />

nach Boltanski <strong>und</strong> Chiapello (2006) zu einem zentralen Motiv <strong>des</strong> Ethos <strong>des</strong><br />

neuen Kapitalismus wird.<br />

Ohne einen reellen Auslöser zu erkennen, kam jedoch der Moment, an welchem<br />

Louis B. sein Arbeitsumfeld <strong>und</strong> seine Zukunftsperspektiven hinterfragte; <strong>die</strong>s<br />

beschreibt er folgendermassen: „Ich habe mir <strong>die</strong> Figuren um mich<br />

herum angeguckt <strong>und</strong> hab mir dann gesagt, nein, das möchtest<br />

du nicht mehr, das ist es nicht.“ Wie bereits angemerkt, entstand<br />

<strong>die</strong>se Neuorientierung dennoch nicht so plötzlich <strong>und</strong> unverhofft. Dieser zunehmend<br />

für Louis B. offenk<strong>und</strong>ig stattfindende Wandel empfand er folgendermassen:<br />

„Das war so <strong>die</strong> Zeit in Deutschland, als <strong>die</strong> Themen<br />

DRG, Medizincontrolling <strong>und</strong> alle <strong>die</strong>se Dinge aufkamen.<br />

Der Bedarf an Ärzten im Management wurde plötzlich sichtbar.“<br />

Für Louis B. wurde er sichtbar, für andere Akteure war <strong>die</strong>ser Wandel<br />

anscheinend nicht gleichermassen sichtbar, teilweise verdrängten sie ihn möglicherweise<br />

auch, da er durch Unsicherheit, Instabilität <strong>und</strong> unklare Verantwortlichkeiten<br />

gekennzeichnet war. Louis B. könnte als ein Mann der ersten<br />

323


St<strong>und</strong>e gelten, der den neuen Zeitgeist spürte, erfasste <strong>und</strong> aktiv umsetzte. Die<br />

Flexibilität, <strong>die</strong> er bereits zu Beginn seiner Karriere pflegte <strong>und</strong> <strong>die</strong> dazu beitrug,<br />

dass er trotz seiner nicht zufriedenstellenden Abiturnoten nie von seinem<br />

Vorhaben, Medizin zu stu<strong>die</strong>ren <strong>und</strong> Arzt zu werden, abgehalten wurde, ist<br />

Teil seines Habitus. Mit <strong>die</strong>ser flexiblen Haltung entschied er sich, nach der für<br />

ihn sichtbar werdenden <strong>und</strong> anhaltenden Prominenz von Ökonomen innerhalb<br />

der Spitalleitung <strong>die</strong> Front zu wechseln. Aus seiner ursprünglichen Berufung<br />

wurde eine anschliessende Neuorientierung, <strong>die</strong> zu einer Zeit einsetzte, in welcher<br />

<strong>die</strong> neoliberalen Transformationsprozesse bereits Einzug in das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

gef<strong>und</strong>en hatten. Die Indizien für den Wandel erkannte er, woraufhin<br />

er sich äusserst flexibel den neuen Bedingungen anpasste <strong>und</strong> so gewissermassen<br />

<strong>die</strong> Gunst der St<strong>und</strong>e nutzte. Seine Wahrnehmung bewirkte, dass er<br />

sich im betriebswirtschaftlichen Bereich weiterbildete <strong>und</strong> sich im Laufe <strong>die</strong>ser<br />

Neuorientierung kontinuierlich gegen <strong>die</strong> Ausübung <strong>des</strong> Arztberufs <strong>und</strong> für<br />

<strong>die</strong> Rolle <strong>des</strong> Managers entschied. Louis B. ist kein Mitläufer <strong>und</strong> Opportunist,<br />

sondern ein aktiver Unternehmer, ein geradezu idealtypischer, „flexibler<br />

Mensch“, der sich ein neues Wissenskapital aneignete, um sich Wettbewerbsvorteile<br />

auf dem sich neu abzeichnenden Markt <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens zu<br />

erschaffen. Der flexible Mensch, den Richard Sennett in seinem Buch beschreibt,<br />

ist ein Produkt <strong>des</strong> globalen Kapitalismus, der dem Individuum jegliche Stabilität<br />

abspricht <strong>und</strong> sowohl zu einer Neudefinierung seines Arbeitsethos als auch<br />

seines generellen Lebensraumes führt. Sennett trauert dem alten Arbeitsethos<br />

nicht nach, das gemäss Weber dazu führte, dass sich der Arbeiter einer „weltlichen<br />

Askese“ unterwarf, gemäss welcher sich der Wert eines Menschen durch<br />

seine Arbeit definierte <strong>und</strong> der disziplinierte Gebrauch der eigenen Zeit sowie<br />

<strong>die</strong> aufgeschobene Belohnung nur zwei legitime Indizien dafür darstellten<br />

(Sennett, 2009, S. 132). Der Umgang mit Zeit beispielsweise wandelte sich von<br />

einer selbstauferlegten Disziplin hin zum Mythos, dass <strong>die</strong> menschliche Unterwerfung<br />

unter <strong>die</strong> Zeit das innere psychische Chaos regeln <strong>und</strong> disziplinieren<br />

solle. Die daraus resultierende Askese führte dazu, dass der Mensch sich stetig<br />

disziplinierte, um in den Augen Gottes würdig zu erscheinen. Gerade im Protestantismus<br />

wurde den Menschen gelehrt, dass sie sich ihren moralischen<br />

Rang, ihre Würde vor Gott erarbeiten mussten, sei <strong>die</strong>s nun über gute Werke<br />

oder harte Arbeit. Daraus entstand ein getriebener Mensch, der seinen moralischen<br />

Wert durch <strong>die</strong> Arbeit zu beweisen suchte (Sennett, 2009, S. 141). Das<br />

zweite Indiz, das Warten auf <strong>die</strong> aufgeschobene Belohnung, kann nur in einem<br />

324


Unternehmen geschehen, das stabil genug ist, den Menschen das Abwarten zu<br />

erlauben <strong>und</strong> in dem <strong>die</strong> Möglichkeit einer Stelle auf Lebzeiten besteht. In sich<br />

rasch verändernden Institutionen wird ein Abwarten sinnlos, da der Unter-<br />

nehmer gewinnorientiert handelt <strong>und</strong> am schnellen Verkauf <strong>und</strong> Neuanfang<br />

interessiert ist. Der flexible Kapitalismus hat ein Zeitalter eingeläutet, das <strong>die</strong><br />

Starrheit der bürokratischen Arbeitsweise sowie <strong>die</strong> routinierten Vorgänge <strong>und</strong><br />

Prozesse anprangert. Der Mensch soll sich rascher an kurzfristige Veränderungen<br />

anpassen, stetig bereit sein, Risiken einzugehen, <strong>und</strong> frei von expliziten<br />

Regeln <strong>und</strong> formalisierten Prozeduren handeln. Dass <strong>die</strong>sen Forderungen nicht<br />

lediglich mit kleineren Umstrukturierungen nachgekommen werden kann,<br />

zeigt <strong>die</strong> Suche nach einer ganzheitlichen Neudefinierung <strong>des</strong> Begriffs der Arbeit.<br />

Auch von einer Karriere, sei sie nun gradlinig oder nicht, kann nur noch<br />

eingeschränkt <strong>die</strong> Rede sein, da Arbeiternehmer gewollt oder ungewollt immer<br />

wieder den Arbeitsplatz oder Arbeitsort zu wechseln haben <strong>und</strong> angehalten<br />

werden, projektorientiert zu denken <strong>und</strong> handeln. Das Individuum wird sich<br />

zusehends all dem beugen müssen <strong>und</strong> erhält dadurch das Prädikat <strong>des</strong> flexiblen<br />

Menschen. Unter dem Deckmantel der Freiheit, der unternehmerischen<br />

Entfaltung <strong>und</strong> der Suche nach dem erfüllten <strong>und</strong> gestaltbaren Leben verkaufen<br />

sich <strong>die</strong> Vorzüge <strong>des</strong> flexiblen Kapitalismus. Der Aufbau eines Privatspitals, der<br />

sich antiinstitutionellen Effekten verpflichtet hinsichtlich der flachen Hierarchien,<br />

dem Abbau der angeblich verkrusteten Strukturen der Bürokratisierung,<br />

<strong>des</strong> Belegarztsystems <strong>und</strong> der integrierten Praxen, <strong>die</strong> eine gewisse Autonomie<br />

der Spezialisten symbolisieren, unterscheidet sich massgeblich von demjenigen<br />

eines öffentlichen Spitals. Die öffentlichen Institutionen versuchen sich teilweise<br />

den Strukturen der Privatspitäler anzugleichen, was durch Umstrukturierungen,<br />

zunehmendem Outsourcing <strong>und</strong> neuen Führungsstrukturen erreicht werden<br />

soll. Die dadurch schwindende Stabilität kann aber seitens <strong>des</strong> Pflegepersonals<br />

<strong>und</strong> der Ärzteschaft zu Unsicherheit <strong>und</strong> zu einer schwindenden Loyalität<br />

führen, <strong>und</strong> hierzu sind Fragen, wie <strong>die</strong> folgenden von Sennett, mehr als<br />

berechtigt: Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im<br />

Rahmen einer ganz auf Kurzfristigkeit ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie<br />

können Loyalitäten <strong>und</strong> Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden,<br />

<strong>die</strong> ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? (Sennett,<br />

2009, S. 12).<br />

Die beiden Pole, Ökonomie/Management <strong>und</strong> medizinisches Fachperso-<br />

325


nal/Arzt, koexistieren spitalintern kontinuierlich, wobei eine klare Polarisierung<br />

zu erkennen ist, wobei sich Louis B. zunehmend dem ersten Pol zugehörig<br />

fühlt. Louis B. bedauert <strong>die</strong>se neue Zugehörigkeit zur Berufsgruppe der Öko-<br />

nomen zeitweise, gleichzeitig zweifelt er nicht an seinem Entscheid <strong>und</strong> emp-<br />

findet <strong>die</strong>sen für richtig. Der Werdegang steht idealtypisch für <strong>die</strong> Transforma-<br />

tion <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>, wobei sein Habitus noch immer sogenannte Restbestände seines<br />

Ethos als Arztes beinhaltet. Die Aussagen von Louis B. lassen ein deutliches<br />

Gefühl von affektiver Ambivalenz erkennen, da durch den Akt <strong>des</strong> endgültigen<br />

An-den-Nagel-Hängens <strong>des</strong> Stethoskops eine bewusste Abwendung <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Habitus <strong>und</strong> Ethos <strong>und</strong> eine deutliche Hinwendung zu seiner neuen Rolle<br />

als Manager <strong>und</strong> CEO eines rein marktwirtschaftlich orientierten Spitalkomplexes<br />

vollzogen wurde, obschon er dem Austausch mit den Patienten <strong>und</strong> dem<br />

von ihnen stammenden Feedback eine unwiderruflich starke Wirkung in Form<br />

einer Sinnhaftigkeit <strong>des</strong> Handelns zuspricht.<br />

Die Beispiele, <strong>die</strong> Louis B. zur Legitimation privater Krankenhäuser im Ges<strong>und</strong>heitsmarkt,<br />

der daraus entstehenden Konkurrenz zu den Institutionen der<br />

öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsversorgung, <strong>die</strong> immer stärker unter einen ansteigenden<br />

Kostendruck geraten, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Abschöpfung der halbprivat- <strong>und</strong> privatversicherten<br />

Patienten benutzt, entstammen den Märkten der Privatwirtschaft wie<br />

beispielsweise der Gastronomie oder der Versicherungsbranche. Louis B. selber<br />

entzaubert das in der Kindheit oder Jugend entstandene Bild <strong>des</strong> vertrauenswürdigen<br />

<strong>und</strong> heilenden Arztes, der mit Herzblut für seine Patienten einsteht<br />

<strong>und</strong> teilweise <strong>die</strong> Vertrauensperson einer Familie über zwei, drei Generation<br />

hinweg darstellt. An <strong>die</strong> Stelle <strong>des</strong> reinen Helfens, unabhängig der kontextuellen<br />

Bedingungen, kommt ein zweckrationales, berechnen<strong>des</strong> Denken, das dazu<br />

führt, dass nur noch dasjenige Mass an Ges<strong>und</strong>heit gewährleistet wird, das sich<br />

der Staat bzw. der Patient finanziell leisten kann. Die Gesellschaft soll sich das<br />

Gut Ges<strong>und</strong>heit nur noch in dem Masse leisten dürfen, in welchem sie sich<br />

<strong>die</strong>ses Gut ökonomisch gesehen auch leisten kann. Da aufgr<strong>und</strong> von Faktoren<br />

wie der abnehmenden Kostendeckung der allgemeinversicherten Patienten <strong>und</strong><br />

den ansteigenden Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungskosten für Medikamente <strong>die</strong><br />

Gesellschaft sich das Gut Ges<strong>und</strong>heit immer weniger leisten kann, soll der<br />

Markt eingreifen <strong>und</strong> über <strong>die</strong> Zuteilung der ges<strong>und</strong>heitsversorgenden Massnahmen<br />

entscheiden, wie <strong>die</strong>s in einer marktwirtschaftlich orientierten <strong>und</strong><br />

spätkapitalistischen Gesellschaft zu geschehen hat. Auf <strong>die</strong> Beispiele, <strong>die</strong> Louis<br />

326


B. zur Legitimierung benutzt, wird später Bezug genommen.<br />

Nach einer vierjährigen Tätigkeit als Assistenzarzt verliess er das Universitäts-<br />

spital <strong>und</strong> trat eine neue Stelle als Oberarzt <strong>und</strong> Mitglied der Geschäftsleitung<br />

einer der grössten Privatkliniken Deutschlands an. Vom Patientengut 54 her<br />

unterscheiden sich <strong>die</strong>se deutsche Privatklinik, <strong>die</strong> ausschliesslich Privat-<br />

Krankenversicherte, Selbstzahler <strong>und</strong> Beihilfeempfänger behandelt, <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Kliniken der Schweizer Privatklinikgruppe wohl nicht massgeblich voneinan-<br />

der. Diese Ausschliesslichkeit ist in der Schweiz jedoch nicht abschliessend<br />

geregelt, was bedeutet, dass <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versicherten Zugang zu gewissen Pri-<br />

vatkliniken erhalten, jedoch eine deutliche Einschränkung der Inanspruchnah-<br />

me <strong>des</strong> Leistungsangebotes in Kauf nehmen müssen. Den Zusatzversicherten<br />

steht das gesamte Leistungsangebot zur Verfügung, obwohl auch sie mit Ein-<br />

schränkungen hinsichtlich der freien Arzt- <strong>und</strong>/oder Spitalwahl rechnen müs-<br />

sen, weshalb <strong>die</strong> Privatkliniken zum Abschluss von Zusatzversicherungen ohne<br />

Einschränkungen raten. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang muss angemerkt werden,<br />

dass <strong>die</strong> deutsche Privatklinik nebst der Klinik für Privatpatienten eine Klinik<br />

für gesetzlich Versicherte <strong>und</strong> Privatpatienten betreut, <strong>die</strong>s jedoch lediglich in<br />

auserwählten Disziplinen (Chirurgie, Orthopä<strong>die</strong>, Unfallchirurgie <strong>und</strong> Wirbelsäulenchirurgie),<br />

<strong>die</strong> interessanterweise zu den lukrativsten, medizinischen<br />

Fachgebieten gehören. Vorstellbar ist, dass das angepriesene Leistungsangebot<br />

für Allgemeinversicherte in Privatkliniken sich inskünftig noch stärker nach<br />

den Kriterien der Wirtschaftlichkeit ausrichten wird. Der bald neu zu definierende<br />

Leistungsauftrag zwischen den Kantonen <strong>und</strong> den Privatkliniken, <strong>die</strong><br />

nach der Einführung der DRG neu für gewisse Leistungen auch in den Genuss<br />

von Subventionen kommen werden, wird <strong>die</strong>sem selektiven Angebot von lukrativen<br />

Fachgebieten voraussichtlich nicht zuwiderlaufen. Für <strong>die</strong> öffentlichen<br />

Spitäler hingegen ist das selektive Anbieten von Ges<strong>und</strong>heitsleistungen, <strong>die</strong> nur<br />

den Zusatzversicherten angeboten werden, nicht möglich, da ihnen <strong>die</strong> Pflicht<br />

der Gr<strong>und</strong>-, Zentrums- <strong>und</strong> Spezialversorgung für den jeweiligen Kanton zukommt.<br />

54 Für den Begriff Patientengut konnte keine eindeutige Definition gef<strong>und</strong>en werden. Im deutschen Sprachraum steht<br />

Patientengut als Synonym für <strong>die</strong> Gesamtheit der Patienten eines Krankenhauses, wobei <strong>die</strong>se Gesamtheit in der<br />

Schweiz oft nach dem Kriterium der Versicherungsklasse (allgemein, halbprivat, privat) unterteilt wird.<br />

327


Die Ärzte in der Deutschen Privatklinik sind rechtlich selbstständig tätig, <strong>die</strong>s<br />

bedeutet, dass sie auf eigene Rechnung therapieren <strong>und</strong> behandeln, was dem<br />

Belegarztsystem einer Mehrheit der Schweizer Privatkliniken entspricht. Die<br />

Privatklinik wird zum Zulieferer, der den Ärzten <strong>die</strong> Infrastruktur zur Verfü-<br />

gung stellt bzw. der Arzt wird zum Dienstleister oder Industriellen, der sein<br />

Fachwissen auf eigene Rechnung dem Patienten <strong>und</strong> den Krankenkassen weiterverrechnet<br />

<strong>und</strong> dem Spital für <strong>die</strong> ihm zur Verfügung gestellte Infrastruktur<br />

Miete bezahlt. Der in der Privatklinik tätige Arzt wird gewissermassen zum<br />

emanzipierten Marktakteur, zu einer Art „Ges<strong>und</strong>heits-Industriellem“, einem<br />

Entrepreneur, der an Verantwortung <strong>und</strong> Autonomie vermeintlich hinzugewinnt,<br />

wohingegen der Arzt am öffentlichen Spital sich auch gegenwärtig noch<br />

als Handwerker bezeichnet <strong>und</strong> sich selber zusehends als entmachteter Dienstleister<br />

fühlt. Ganz im Sinne <strong>des</strong> New Management werden in Privatkliniken<br />

jegliche Anzeichen von verkrusteter Bürokratie, standardisierter <strong>und</strong> hierarchisierter<br />

Abläufe, Kontrolle, Überwachung <strong>und</strong> Kalküldenken durch das Bild <strong>des</strong><br />

kreativen, unternehmerisch denkenden, menschlich handelnden, zeitlich flexiblen<br />

<strong>und</strong> ausserordentlich sorgfältig vernetzten, dynamischen Arztes ersetzt<br />

(Boltanski & Chiapello, 2006, S. 144 f.). Die Kernkompetenzen <strong>des</strong> Arztes einer<br />

Privatklinik scheinen der empathische Kontakt <strong>des</strong> Arztes mit dem Patienten,<br />

<strong>die</strong> fachliche Kompetenz sowie Kommunikations- <strong>und</strong> Beziehungskompetenz<br />

zu sein, <strong>die</strong> er seinen Patienten gegenüber, <strong>die</strong> im ärztlichen Jargon zunehmend<br />

K<strong>und</strong>en genannt werden, was aber im Gr<strong>und</strong>e der New Management Praxis<br />

widerstrebt, <strong>die</strong> ein sensibles, menschliches <strong>und</strong> authentisches Management<br />

predigt, alltäglich in der Form eines Fre<strong>und</strong>es, Vertrauten <strong>und</strong> Beraters mit<br />

medizinischer Fachkompetenz auslebt. Die von den Privatkliniken propagierten<br />

Vorteile, wie <strong>die</strong> ganzheitliche Erfassung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitszustan<strong>des</strong> eines Patienten<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Vermeidung von Doppeluntersuchungen, werden gerne unter<br />

dem aus der Ökonomie stammenden Begriff <strong>des</strong> „One-Stop-Shopping“, einem<br />

Teil <strong>des</strong> sich mehr <strong>und</strong> mehr durchsetzenden ges<strong>und</strong>heitsökonomischen<br />

Newspeaks, zusammengefasst. Newspeak zu Deutsch Neusprech ging aus dem<br />

Roman „1984“ von George Orwell hervor (Orwell, 1949), in welchem <strong>die</strong> Dystopie<br />

(Anti-Utopie) eines totalitären Überwachungs- <strong>und</strong> Präventionsstaates<br />

<strong>des</strong> Jahres 1984 beschrieben wird. Der darin dargestellte Staat macht von einer<br />

Sprache Gebrauch bzw. institutionalisiert eine Sprache, <strong>die</strong> abweichen<strong>des</strong> Verhalten<br />

<strong>und</strong>enkbar macht, Mehrdeutigkeiten unterbindet <strong>und</strong> gestaltet das Vokabular<br />

so aus, dass jegliche staatliche Massnahmen alternativlos <strong>und</strong> in einem<br />

328


möglichst positiven Licht erscheinen (Haase, 2008, S. 1). Der Nationalsozialis-<br />

mus hat sich Newspeak im Rahmen seiner politischen Propaganda bereits zu<br />

eigen gemacht (Klemperer, 1947) 55 , <strong>und</strong> der PR-Experte <strong>und</strong> -Begründer<br />

Edward Bernays zeigt in seinem 1928 erschienenem Buch „Propaganda“ (Ber-<br />

nays, 1928) auf, wie Kampagnen u.a. eben auch PR-Kampagnen, Meinungen<br />

der Massen beeinflussen können 56 , wobei er Erkenntnisse der Massenpsycholo-<br />

gie zu Hilfe nahm. Auch Joseph Goebbels hat sich <strong>die</strong> Theorie von Bernays zu<br />

Nutzen gemacht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s, obwohl Bernays als auch sein Onkel Sigm<strong>und</strong> Freud<br />

jüdischer Abstammung waren. Bernays sprach weniger von Propaganda, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s, obwohl sein Buch genau <strong>die</strong>sen Titel trug, sondern von Public Relations<br />

(PR), was auch mit der Historie <strong>und</strong> der Verwendung ersteren Begriffs zusam-<br />

menhängt. Noam Chomsky, einer der bedeutendsten Linguistin der Gegen-<br />

wart, <strong>des</strong>sen politische Aktivität sowie wissenschaftliches Wirken sowohl auf<br />

Kritik als auch auf Zuspruch stösst, kreierte gemeinsam mit Edward S. Herman<br />

das sogenannte „propaganda model“ (1988), in welchem unter anderem <strong>die</strong><br />

enge Verflechtung zwischen der Me<strong>die</strong>nwelt, dem Staat <strong>und</strong> Grosskonzernen<br />

sowie <strong>die</strong> Abhängigkeit ersterer von letzteren aufgezeigt wird. Die fehlende<br />

Unabhängigkeit der Me<strong>die</strong>n von staatlichen <strong>und</strong> profitorientierten Strukturen<br />

geht zu Lasten <strong>des</strong> öffentlichen Interesses <strong>und</strong> einer aufgeklärten Öffentlichkeit.<br />

Chomsky zeigt auf, inwiefern <strong>die</strong> Politik sich an Bernays Vorschlägen orientiert<br />

<strong>und</strong> sich <strong>die</strong> Massenme<strong>die</strong>n für ihre Berichterstattung, Öffentlichkeitsarbeit<br />

<strong>und</strong> schliesslich auch der Manipulation der Massen zunutze macht. Als interes-<br />

santes Beispiel für Newspeak kann beispielsweise <strong>die</strong> in Deutschland seit 1995<br />

eingesetzte Krankenversicherungskarte bzw. Krankenversichertenkarte (KVK),<br />

<strong>die</strong> durch <strong>die</strong> elektronische Ges<strong>und</strong>heitskarte (eGk) bereits 2006 hätte ersetzt<br />

werden sollen, <strong>die</strong>nen (Haase, 2008, S. 3). Die neue Karte soll nicht nur eine<br />

überarbeitete Version der KVK darstellen <strong>und</strong> einen um vertrauliche Personendaten<br />

(nebst Daten der Identitätsüberprüfung auch medizinische oder buchhalterische<br />

Daten, u.a. daraus entstammen auch <strong>die</strong> Datenschutzproblematiken)<br />

erweiterten Speicher zur Verfügung stellen, sondern durch <strong>die</strong> Verwendung<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbegriffs anstelle <strong>des</strong> Krankheitsbegriffs positive Assoziationen<br />

55 Der Titel <strong>des</strong> Buches von Victor Klemperer LTI – Notizbuch eines Philologen stellt bereits einer Paro<strong>die</strong> auf <strong>die</strong> unzähligen<br />

Kürzel, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sprache der Nationalsozialisten prägten, dar. LTI steht für Lingua Tertii Imperii, was wiederrum für<br />

<strong>die</strong> Sprache <strong>des</strong> Dritten Reiches steht (Klemperer, LTI – Notizbuch eines Philologen).<br />

56 „Wenn wir den Mechanismus <strong>und</strong> <strong>die</strong> Motive <strong>des</strong> Gruppendenkens verstehen, wird es möglich sein, <strong>die</strong> Massen,<br />

ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren <strong>und</strong> zu steuern“ (Bernays, Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen).<br />

329


transportieren <strong>und</strong> möglicherweise kritische Sachverhalte ausblenden. In <strong>die</strong>ser<br />

Begriffsumwandlung kommt nicht nur das rhetorische Hilfsmittel der „An-<br />

tiphrase“ zur Anwendung, <strong>die</strong> Beschreibung eines Sachverhalts durch sein<br />

Gegenteil, sondern man be<strong>die</strong>nt sie auch <strong>des</strong> „Euphemismus“, dank welchem<br />

ein mit negativen oder schmerzvollen Emotionen konnotierter, gegebenenfalls<br />

auch durch <strong>die</strong> Historie belasteter Begriff durch eine Begrifflichkeit ersetzt<br />

wird, <strong>die</strong> den Sachverhalt beschönigt oder zumin<strong>des</strong>t positive Gefühlsregungen<br />

hervorruft. Von Euphemisierung sprach auch Bour<strong>die</strong>u im Zusammenhang mit<br />

der Unverkäuflichkeit gewisser Güter <strong>und</strong> der Absicht, <strong>die</strong> hinter ihrer Produk-<br />

tion im Sinne der Verneinung <strong>des</strong> Ökonomischen steckt, <strong>die</strong> unter Kapitel 2.2<br />

bereits thematisiert wurde. Hierzu Bour<strong>die</strong>u: „Man sieht also, eine wirklich<br />

allgemeine Wissenschaft von der ökonomischen Praxis muss in der Lage sein,<br />

auch alle <strong>die</strong> Praxisformen miteinzubeziehen, <strong>die</strong> zwar objektiv ökonomischen<br />

Charakter tragen, aber als solche im gesellschaftlichen Leben nicht erkannt<br />

werden <strong>und</strong> auch nicht erkennbar sind. Sie verwirklichen sich aufgr<strong>und</strong> eines<br />

erheblichen Aufwan<strong>des</strong> an Verschleierung oder, besser, Euphemisierung.“<br />

(Bour<strong>die</strong>u, 1992/2005b, S. 52). Dieses Zitat soll aber nicht dahingehend verstan-<br />

den werden, dass der Ges<strong>und</strong>heit ein ökonomischer Charakter zukommt, son-<br />

dern, dass heute zunehmend Krankenhäuser <strong>und</strong> demzufolge auch <strong>die</strong> darin<br />

tätigen Akteure mit der Angleichung ihres medizinischen Jargons an den öko-<br />

nomischen Jargon <strong>und</strong> mit der Verwendung von Euphemismen, bewusst ver-<br />

suchen, <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> <strong>die</strong> Profanierung <strong>des</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsbegriffs gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Jonathon<br />

Green (1984) hat gängige Newspeak-Begriffe in einem Wörterbuch zusammen-<br />

gefasst. Auch anhand <strong>die</strong>ser Auswahl wird <strong>die</strong> Machtlosigkeit der Outsider<br />

eines Fel<strong>des</strong>, in welchem <strong>die</strong> Begrifflichkeiten angewandt werden, deutlich, <strong>und</strong><br />

führt gleichzeitig zur Exklusion von Insidern, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Sprache nicht zu<br />

eigen machen. Edwards <strong>und</strong> Cromwell (2009) zeigen in ihrem Buch „Newspeak<br />

in the 21st century“ <strong>und</strong> mithilfe ihrer Website „Media Linse“ wie <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n,<br />

<strong>und</strong> infolge<strong>des</strong>sen <strong>die</strong> darin vertretenen Akteure, Newspeak-Begrifflichkeiten<br />

annektieren <strong>und</strong> dadurch ein Propaganda-Puzzle, wie Edwards <strong>und</strong> Cromwell<br />

es nennen, aufbauen <strong>und</strong> immerzu weiterspinnen. Anhand zentraler politischer<br />

<strong>und</strong> historischer Geschehnisse der letzten zehn bis zwanzig Jahre wird <strong>die</strong> enge<br />

Verflechtung zwischen der Me<strong>die</strong>nwelt, dem Staat, der Wirtschaft <strong>und</strong> den<br />

Kriegsgeschehnissen aufgezeigt, indem <strong>die</strong> verwendete Sprache der Berichterstattung<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> darin gebrauchten Termini aufgeschlüsselt werden. Zurück<br />

330


zum Begriff <strong>des</strong> „One-Stop-Shopping“: Der Begriff ist fragwürdig, bedenkt<br />

man, dass beispielsweise in <strong>die</strong>ser Begrifflichkeit <strong>die</strong> Gleichsetzung von Ge-<br />

s<strong>und</strong>heitsversorgung <strong>und</strong> Konsum deutlich mitschwingt <strong>und</strong> mit dem Begriff<br />

Shopping eher das Gefühl eines Erlebnisses als eines von Unsicherheit <strong>und</strong><br />

teilweise auch Angst geprägten Gefühls transportiert werden soll, das bei ei-<br />

nem Spitalaufenthalt oder einer medizinischen Untersuchungen verständli-<br />

cherweise aufkommt. Dem Besuch beim Arzt oder dem Eintritt ins Spital<br />

kommt bei medizinischen Eingriffen <strong>und</strong> Untersuchungen, also in all den Be-<br />

reichen, <strong>die</strong> nicht Teil der Wellnessmedizin sind <strong>und</strong> <strong>die</strong> grosse Mehrheit aus-<br />

machen, kein Eventcharakter zu, da es um den Erhalt der Existenz <strong>des</strong> Indivi-<br />

duums geht <strong>und</strong> um <strong>die</strong> Wiederherstellung der Ges<strong>und</strong>heit oder zumin<strong>des</strong>t<br />

Linderung <strong>des</strong> Leidens. Die Zwei-Klassen-Medizin, <strong>die</strong> bereits heute in der<br />

Schweiz wie auch in den meisten Nachbarländern existiert, geht auch im Zu-<br />

sammenhang mit dem soeben erläuterten Begriff einen weiteren Schritt in Rich-<br />

tung der Idee einer käuflichen Ges<strong>und</strong>heit. Derjenige Patient, der sich eine<br />

Halbprivat- oder Privatversicherung leisten kann, erhält durch <strong>die</strong> ihm durch<br />

den Abschluss einer Zusatzversicherung zugesprochenen Rechte einen leichte-<br />

ren, teilweise auch ausschliesslichen Zugang zu erfahrenen <strong>und</strong> hochqualifi-<br />

zierten Ärzten, eine umfassendere <strong>und</strong> ganzheitlichere Betreuung durch <strong>die</strong><br />

Ärzte <strong>und</strong> Pflege <strong>und</strong> den Zugang zum Spital seiner Wahl. Unterschiede inner-<br />

halb der Zusatzversicherungen existieren, <strong>die</strong>se werden aber nicht weiter the-<br />

matisiert, da gr<strong>und</strong>sätzlich der Zugang zur Ges<strong>und</strong>heitsversorgung, ob mit<br />

oder ohne <strong>die</strong>se zusätzlichen Variationen, ungleich ist <strong>und</strong> bleibt. Die Zwei-<br />

Klassenmedizin, <strong>die</strong> in der Schweiz bereits erkennbar ist, wird durch den selektiven<br />

Zugang zusatzversicherter Patienten zur Privatklinik offensichtlich institutionalisiert.<br />

Wie bereits erwähnt wurde, benutzt Louis B. einige Analogien zur Legitimierung<br />

der privaten Krankenhäuser im Ges<strong>und</strong>heitssektor, der Abschöpfung<br />

derjenigen Patientenklassen, <strong>die</strong> sich eine Halbprivat- bzw. Privatversicherung<br />

leisten können <strong>und</strong> <strong>des</strong> unterschiedlichen Zugangs zur Ges<strong>und</strong>heitsversorgung,<br />

eine davon lautet folgendermassen: „Es gibt reihenweise Leute,<br />

<strong>die</strong> müssen das Butterbrot essen <strong>und</strong> gehen zu McDonalds, <strong>und</strong><br />

es gibt eine Gruppe, <strong>die</strong> geht jeden zweiten Tag zu, ich<br />

weiss nicht wer, ,Petermann am See‘ essen.“ Oder eine andere<br />

lautet „Die Lösung ist, dass man den Gr<strong>und</strong>leistungskatalog<br />

beschränken muss <strong>und</strong> sagen muss, schau ... Das ist bei je-<br />

331


der anderen Versicherung auch, da ist <strong>die</strong> normale Kaskoversicherung<br />

für dein Fahrzeug, wenn du halt irgendwo dagegen<br />

donnerst, dann musst du es eben selber zahlen, wenn du aber<br />

<strong>die</strong> Vollversorgung haben <strong>und</strong> immer in <strong>die</strong> Markenwerkstatt<br />

gehen möchtest, dann musst du es zusätzlich versichern. Das<br />

ist das einzige Konzept, das irgendwann langfristig finanziell<br />

<strong>und</strong> volkswirtschaftlich verheben wird.“ Diese Legitimierung<br />

<strong>die</strong>nt teilweise auch als Rechtfertigung seiner eigenen Position <strong>und</strong> den<br />

von ihm geführten Privatkliniken, <strong>die</strong> für „Petermann am See“ stehen. Die<br />

Analogie, <strong>die</strong> Louis B. hier anwendet, kann als polemisch, wenn nicht gar zynisch<br />

bezeichnet werden, denn er vergleicht <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit mit einem Restaurantgenuss<br />

<strong>und</strong> möchte durch <strong>die</strong>sen Vergleich jegliche Kritik verstummen<br />

lassen, da er jedem Mann <strong>und</strong> jeder Frau begreiflich machen möchte, dass der<br />

Zugang zur Ges<strong>und</strong>heitsversorgung wie auch der Einlass ins Restaurant potenziell<br />

bzw. formal gesehen allen offenstehe <strong>und</strong> folglich auch alles mit rechten<br />

Dingen zu <strong>und</strong> her gehe. Offen stehen <strong>die</strong> Privatkliniken wie auch <strong>die</strong> öffentlichen<br />

Spitäler allen, das Wesentliche stellt aber der Zugang dar, der bei ersteren<br />

offensichtlich <strong>und</strong> klar reglementiert ist <strong>und</strong> nicht jedem Einlass <strong>und</strong> Zugang<br />

zur Ges<strong>und</strong>heitsversorgung gewährt. Die Delegitimierung der Privilegierten,<br />

<strong>die</strong> zur ob genannten Patientenklasse gehören, geschieht bei Louis B. verständlicherweise<br />

nicht, da <strong>die</strong>se seine K<strong>und</strong>en darstellen, <strong>die</strong>, durch <strong>die</strong> von ihnen<br />

generierten Einnahmen, <strong>die</strong> Existenz seiner Privatspitäler sichern. Louis B.<br />

argumentiert mit Gleichnissen <strong>und</strong> tut <strong>die</strong>s anhand <strong>des</strong> Vergleichs der Ges<strong>und</strong>heit<br />

mit einer beliebigen Ware. Er versucht dem Zuhörer begreiflich zu machen,<br />

dass Ges<strong>und</strong>heit denselben Regeln <strong>und</strong> Normen wie je<strong>des</strong> andere Gut, wie<br />

beispielsweise einer Autoversicherung, zu gehorchen hat <strong>und</strong> versucht dadurch<br />

den Wettbewerb zwischen der von ihm geführten Privatklinikgruppe <strong>und</strong> den<br />

öffentlichen Spitälern, <strong>die</strong> Bevorteilung einer auserlesenen Patientengruppe<br />

<strong>und</strong> seine Position sowie <strong>die</strong>jenige seiner Kollegen zu legitimieren <strong>und</strong> zu<br />

rechtfertigen.<br />

Schon Weber zeigte auf, inwiefern Herrschaftsstrukturen der Rechtfertigung<br />

bedürfen bzw. durch ihre gesellschaftliche Konstitution bereits gerechtfertigt<br />

wurden <strong>und</strong> folglich als legitim betrachtet werden. Louis B. ist sich der privilegierten<br />

Position seiner Patienten bewusst <strong>und</strong> erkennt auch <strong>die</strong> ihnen, aufgr<strong>und</strong><br />

ihres Versicherungsstatus <strong>und</strong> dem damit einhergehenden, typischerweise<br />

höheren ökonomischen Kapitals, offenstehenden Zugänge, in deren Genuss<br />

332


Allgemeinversicherte nicht kommen. Auch <strong>die</strong> Ärzteschaft an Privatspitälern<br />

nimmt im Gegensatz zu ihren Kollegen an öffentlichen Spitälern eine privile-<br />

giertere Position ein, da sie weniger Zeit für <strong>die</strong> Ausbildung von Assistenzärz-<br />

ten aufwenden müssen, teilweise weniger Notfall<strong>die</strong>nste leisten müssen, oft<br />

besser entlohnt werden, in den Genuss einer ausgeglichenen Work-Life-Balance<br />

kommen, da <strong>die</strong> Bürokratisierung durch Entrepreneurship abgelöst wird. We-<br />

bers Erklärung für den Rechtfertigungsdrang <strong>die</strong>ses Unterschie<strong>des</strong> kommt in<br />

<strong>die</strong>sem Zusammenhang deutlich zum Tragen: „Die einfachste Beobachtung<br />

zeigt, dass bei beliebigen auffälligen Kontrasten <strong>des</strong> Schicksals <strong>und</strong> der Situation<br />

zweier Menschen, es sei etwa in ges<strong>und</strong>heitlicher oder in ökonomischer oder<br />

in sozialer oder welcher Hinsicht immer, möge der rein ,zufällige‘ Entstehungsgr<strong>und</strong><br />

<strong>des</strong> Unterschieds noch so klar zutage liegen, der günstiger Situierte das<br />

nicht rastende Bedürfnis fühlt, den zu seinen Gunsten bestehenden Kontrast als<br />

,legitim‘, seine eigene Lage als von ihm ,ver<strong>die</strong>nt‘ <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>des</strong> anderen als von<br />

jenem irgendwie ,verschuldet‘ ansehen zu dürfen.“ (Weber, 1921/1972, S. 549).<br />

Diese Legende, auch „Legitimitäts“-Prestige genannt, wird so lange akzeptiert<br />

<strong>und</strong> aufrechterhalten, solange <strong>die</strong> Masse <strong>die</strong> Herrschaftsordnung <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit<br />

einhergehende Machtverteilung als stabil <strong>und</strong> gerechtfertigt betrachtet 57 . Tut<br />

sie <strong>die</strong>s nicht mehr, muss sich <strong>die</strong> herrschende Klasse neue Legitimationsformen<br />

suchen, <strong>die</strong> wie <strong>die</strong> drei ob genannten Prinzipien ausschauen könnten.<br />

Dass auch <strong>die</strong> zu Privatspitälern abgewanderten Ärzte in <strong>die</strong>sen Rechtfertigungszwang<br />

geraten, zeigen <strong>die</strong> Interviewauswertungen. Gewissermassen<br />

findet folglich eine Erosion <strong>des</strong> symbolischen Kapitals statt, <strong>des</strong> ausseralltäglichen,<br />

sozialen Status <strong>und</strong> dem aus ihm resultierenden Charisma <strong>des</strong> Arztes, der<br />

sich dem Gemeinschaftswohl verpflichtet, wobei <strong>die</strong>s eng mit der Aura der<br />

öffentlichen Institution zusammenhängt. Der Gewinn stellt <strong>die</strong> Zunahme an<br />

ökonomischem Kapital dar, eine erhöhte Selbstverwirklichung <strong>und</strong> einen Zugewinn<br />

an Freizeit, was in einer ausgeglichenen Work-Life-Balance resultiert.<br />

Eine monokausale Betrachtung würde <strong>die</strong>sem Prozess <strong>des</strong> Wandels <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Habitus, der unter anderem aufgr<strong>und</strong> der Transformation der strukturel-<br />

57 „In Verhältnissen stabiler Machtverteilung <strong>und</strong>, demgemäss auch ,ständischer‘ Ordnung, überhaupt bei geringer<br />

Rationalisierung <strong>des</strong> Denkens über <strong>die</strong> Art der Herrschaftsordnung, wie sie den Massen so lange natürlich bleibt, als sie<br />

ihnen nicht durch zwingende Verhältnisse zum ,Problem‘ gemacht wird, akzeptieren auch <strong>die</strong> negativ privilegierten<br />

Schichten jene Legende.“ (Weber, 1921/1972, S. 549).<br />

333


len Rahmenbedingungen hin zu einer Marktvergesellschaftung stattgef<strong>und</strong>en<br />

hat, nicht gerecht werden, da nebst <strong>die</strong>sem Zugewinn einerseits <strong>die</strong> ob genann-<br />

te Erosion erfolgt <strong>und</strong> andererseits der Arzt durch <strong>die</strong> hinzugewonnene Auto-<br />

nomie <strong>und</strong> Verantwortung am Privatspital <strong>und</strong> der ihm neu zugetragenen<br />

Rolle <strong>des</strong> Unternehmers auch ein stetiges Wiedererkennen in all <strong>die</strong>sen Rollen<br />

erstreben muss. Nebst all dem wird er zusehends zum rechnerischen Denken<br />

<strong>und</strong> teilweise auch zur aktiven Akquise neuer K<strong>und</strong>en bzw. Patienten, dem<br />

sogenannten Patientengut, angehalten, <strong>die</strong>s vor allem, falls sein Gehalt einer<br />

leistungsorientierten Entlohnung entspricht. Er muss sich darüber hinaus im<br />

Klaren sein, dass <strong>die</strong> in öffentlichen Spitälern getätigte Gr<strong>und</strong>lagenforschung,<br />

seine Anbindung an <strong>die</strong> Forschung <strong>und</strong> Entwicklung im Allgemeinen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Förderung <strong>des</strong> Nachwuchses in Privatspitälern keine Priorität darstellt.<br />

Ges<strong>und</strong>heit war schon immer auch ein marktmässig organisiertes Gut <strong>und</strong> hat<br />

sich seit einigen Jahrzehnten zusehends zum käuflichen Gut entwickelt, das<br />

den Boden für <strong>die</strong> Zwei-Klassen-Medizin nährte. Schon immer kam den Menschen<br />

mit unterschiedlicher Kapitalausstattung auch ein unterschiedlicher Zugang<br />

zur Ges<strong>und</strong>heitsversorgung zu. Menschen, <strong>die</strong> reich an ökonomischem<br />

Kapital sind, haben beispielweise <strong>die</strong> Möglichkeit, eine Operation, deren<br />

Durchführung im Heimatland aufgr<strong>und</strong> einer Altersgrenze oder anderer Parameter<br />

(Nutzenprinzip siehe Diskussion zum Thema Organtransplantation oder<br />

Versichertenstatus) verunmöglicht oder eingeschränkt wird, im Ausland durchführen<br />

zu lassen. Oder wie <strong>die</strong> anhaltenden <strong>und</strong> aktuellen Diskussionen in<br />

Deutschland zeigen, erhalten Privatversicherte viel rascher einen Termin beim<br />

Kardiologen als ein Kassenpatient58 . All <strong>die</strong>s trägt zu einer deutlichen Zwei-<br />

Klassen-Medizin bei, <strong>die</strong> ein unverkennbares Indiz für <strong>die</strong> zunehmende Vermarktlichung<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens darstellt, <strong>die</strong> aber bis anhin im Sinne der<br />

political oder moral correctness verbrämt bzw. nur hinter vorgehaltener Hand<br />

58 Eine von der AOK Rheinland/Hamburg in Auftrag gegebene Stu<strong>die</strong> hat gezeigt, dass ein Kassenpatient für einen<br />

Termin beim Kardiologen 71 Tage <strong>und</strong> ein Privatversicherter lediglich 19 Tage wartet. Durchschnittlich warten gesetzlich<br />

Versicherte 20 Tage auf einen Arzttermin, wohingegen Privatversicherte nur 14 Tage warten, was eine Stu<strong>die</strong> der<br />

BKK ergeben hat. Im Vergleich zu 2008 hat sich <strong>die</strong> Wartezeit bei den GKV-Patienten um einen Tag verringert, bei den<br />

PKV-Patienten hingegen um 4 Tage verlängert, was einer deutlichen Verbesserung für <strong>die</strong> GKV-Patienten entspricht.<br />

Dennoch bestehen vor allem bei den Spezialisten noch immer gravierende Zugangsungleichgewichte bzw. unterschiedliche<br />

Wartezeiten für einen Arzttermin, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s, obwohl <strong>die</strong> grosse Mehrheit, nämlich 90% der Deutschen, gesetzlich<br />

<strong>und</strong> nicht privatversichert sind (Sommerfeldt, 2011, S. 7).<br />

334


diskutiert wurde. Das von Louis B. dargestellte Beispiel mit dem Vergleich<br />

zweier Restaurationsbetriebe wie McDonalds <strong>und</strong> dem Restaurant Petermann<br />

am See, anhand welchem er <strong>die</strong> unterschiedlichen Zugänge zu öffentlichen <strong>und</strong><br />

privaten Spitälern zu rechtfertigen <strong>und</strong> gleichzeitig auch zu verharmlosen ver-<br />

sucht, stellt <strong>die</strong> Zwei-Klassen-Medizin unverbrämt <strong>und</strong>, ohne bei Louis B.<br />

sichtbare kognitive <strong>und</strong> moralische Dissonanzen hervorzurufen, exemplarisch<br />

dar. Das Fehlen <strong>die</strong>ser Dissonanzen, der Verzicht auf Heuchelei <strong>und</strong> <strong>die</strong> Selbst-<br />

verständlichkeit, mit welcher Louis B. <strong>die</strong>sen Vergleich offenbart, verweisen auf<br />

eine neue öffentliche „Sagbarkeit“ einer bislang kaschierten Tatsache, <strong>die</strong> als ein<br />

realer Zeuge <strong>des</strong> Wandels im Feld der Medizin wahrgenommen werden muss<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> sich merklich auf das Rollenverständnis der darin agierenden Akteure<br />

auswirkt.<br />

Das erwähnte „One-Stop-Shopping“ kann aufgr<strong>und</strong> der ganzheitlichen Erfassung<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitszustan<strong>des</strong> eines Patienten der Ges<strong>und</strong>heitsprävention<br />

<strong>die</strong>nen; im Zeitalter der Fallpauschalen kann eine solche Strategie aber auch<br />

Anwendung finden, um, vereinfacht ausgedrückt, eine möglichst hohe Anzahl<br />

an Diagnosen unterschiedlicher Fallgruppen zu eruieren <strong>und</strong> summieren <strong>und</strong><br />

so höhere Einnahmen für das Spital zu generieren. Sowohl <strong>die</strong>ses Beispiel als<br />

auch der Umgang mit den DRG <strong>und</strong> <strong>die</strong> Abrechnung der Fallpauschalen im<br />

Allgemeinen werden von allen interviewten Ärzten gerne <strong>und</strong> oft thematisiert.<br />

Mit dem Zusammentragen <strong>und</strong> Erfassen einer Vielzahl von Krankheitsbildern<br />

soll beispielsweise auch präventiv gegen <strong>die</strong> sogenannten Bloody-Exits, <strong>die</strong> vor<br />

allem im Rahmen der Diskussionen um <strong>die</strong> 2012 eingeführten DRG thematisiert<br />

werden, vorgegangen werden. Patienten mit einem längeren Heilungsprozess,<br />

der mehr Tage in Anspruch nimmt als <strong>die</strong> vorgesehene <strong>und</strong> vorgeschriebene<br />

Hospitalisierungsdauer <strong>und</strong> ein erhöhtes finanzielles Risiko für das Spital darstellt,<br />

werden dank dem Erfassen weiterer Krankheitsbilder länger im Spital<br />

verweilen können, wodurch <strong>die</strong> Möglichkeit besteht, dass <strong>die</strong> Krankenkassen<br />

den Kostenanteil der betroffenen Patienten übernehmen, <strong>die</strong> Spitäler <strong>die</strong> Kostenübernahme<br />

von Risikofällen nicht selber tragen müssen beziehungsweise<br />

der Patient vor einer zu hohen Kostenbeteiligung geschützt wäre. Diese Darstellung<br />

entspricht der heutigen, gängigen Erklärung zur Begrenzung finanzieller<br />

Risiken, <strong>die</strong> zahlreiche der befragten Ärzte angeführt haben. Auf das angeführte<br />

Argument folgt sogleich ein Gegenargument, das <strong>die</strong> durch ein solches<br />

Verfahren resultierende Mengenausweitung thematisiert, <strong>die</strong> wiederum ein-<br />

335


deutig zur Kostenzunahme beiträgt, wobei letztere durch <strong>die</strong> Einführung der<br />

DRG eingedämmt werden soll.<br />

Mit der neuen Spitalfinanzierung sollen <strong>die</strong> Listenspitäler wie bis anhin be-<br />

darfsorientiert ausgewählt werden, wobei <strong>die</strong> Qualität <strong>und</strong> vor allem auch <strong>die</strong><br />

Wirtschaftlichkeit immer stärker in den Vordergr<strong>und</strong> rücken. Bereits heute<br />

verpflichtet sich ein Privatspital im Gegensatz zum öffentlichen Spital wesent-<br />

lich stärker dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit <strong>und</strong> anderer, unternehmeri-<br />

scher Maximen, <strong>die</strong> mithilfe flacher Hierarchien, kurzer Entscheidungswege<br />

<strong>und</strong> schlanker Prozesse erreicht werden sollen. Auch der ärztliche Jargon passt<br />

sich zunehmend demjenigen der Ökonomen an, was zur Folge hat, dass der<br />

Patient zum K<strong>und</strong>en, <strong>die</strong> Auslagerung zum Outsourcing <strong>und</strong> das Durchführen<br />

unterschiedlichster Ges<strong>und</strong>heitstests, was teilweise als ganzheitliche Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />

verstanden wird, zum „One-Stop-Shopping“ wird. Wie bereits<br />

thematisiert, hat das Phänomen Newspeak nach George Orwell auch Einlass in<br />

den ärztlichen Jargon gef<strong>und</strong>en, was <strong>die</strong> als bislang inakzeptabel geltende<br />

Amalgamierung, also <strong>die</strong> Verbindung <strong>und</strong> das teilweise Emergieren von<br />

Marktdenken <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge, langsam, aber sicherlich zulässt <strong>und</strong><br />

sogar gesellschaftlich vertretbar werden lässt. Diese propagierte <strong>und</strong> im Gegensatz<br />

zum öffentlichen Spital stehende, ganzheitliche Erfassung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitszustan<strong>des</strong><br />

eines Patienten kann in einer zunehmenden Mengenausweitung<br />

resultieren, wobei gesagt werden muss, dass sie auch ein Symptom der zunehmend<br />

eingeforderten, umfassenden Bedürfnisbefriedigung der K<strong>und</strong>en bzw.<br />

Patienten darstellt. Die Ärzte sehen sich einer zunehmenden, rechtlichen Interessensverfolgung<br />

seitens der Patienten ausgesetzt, was u.a. bewirken könnte,<br />

dass der Arzt teilweise angehalten wird, ein Übermass an teuren <strong>und</strong> teilweise<br />

unnötigen Untersuchungen durchzuführen.<br />

Die zur Privatklinikgruppe gehörenden Privatkliniken werden auch Belegarztkliniken<br />

genannt, da <strong>die</strong> grosse Mehrheit der Ärzte nicht direkt über <strong>die</strong> Kliniken<br />

angestellt, sondern als Freiberufler tätig ist. Dieses Anstellungs- bzw.<br />

Nicht-Anstellungsverhältnis, das das Unternehmertum, <strong>die</strong> Eigenverantwortung<br />

der Ärzte für ihren Spezialbereich, aber auch <strong>die</strong> Konkurrenz zwischen<br />

den Ärzten derselben Spezialität fördert, unterscheidet sich massgeblich von<br />

den Anstellungsbedingungen der Ärzte öffentlicher Spitäler <strong>und</strong> verdeutlicht<br />

<strong>die</strong> zunehmende Anlehnung <strong>und</strong> Orientierung der Spitalstrukturen an <strong>die</strong><br />

336


heute gängigen Unternehmensstrukturen grosser Wirtschaftskonzerne. Die<br />

Tendenz im Rahmen der Anstellungsbedingungen in Privatklinken geht in<br />

Richtung einer verstärkten Anstellung von Spezialisten derjenigen Fachrichtungen,<br />

<strong>die</strong> disziplinübergreifend eingesetzt werden, wie beispielsweise <strong>die</strong><br />

Anästhesiologie. Dieses Phänomen beschreibt Louis B. folgendermassen: „Wenn<br />

der Anästhesist meinen Hut auf hat, dann vertritt er <strong>die</strong><br />

Unternehmensinteressen, wenn er <strong>die</strong>s nicht tut, dann muss<br />

er nicht mehr bei uns arbeiten. (…) Das kann er mit dem<br />

Spital im Rücken sagen, als selbstständiger Unternehmer<br />

wird er <strong>die</strong>s eher nicht sagen, dann ist er eher der Dienstleister<br />

für den Chirurgen. (…) Und dann stellen wir auch<br />

immer wieder Ärzte ein, letztlich <strong>die</strong> Umgehung <strong>des</strong> Praxisstopps.“<br />

Louis B. verlangt von seinen Mitarbeitern eine Loyalität gegenüber<br />

den Unternehmensprinzipien. Der Arzt wird zur Gefolgschaft verpflichtet,<br />

<strong>die</strong> dem Unternehmergeist zu entsprechen hat; ist <strong>die</strong>s nicht der Fall, muss er<br />

gemäss den Worten von Louis B. „... nicht mehr bei uns arbeiten“ gehen. Die<br />

Chefärztin <strong>des</strong> Kantonsspitals, <strong>die</strong> das vorliegende Forschungsprojekt initiiert<br />

hat, verlangt von ihren Mitarbeitern auch ein loyales Verhalten, <strong>die</strong>s soll sich<br />

aber tendenziell gegen solche marktorientierten Werte richten. Es findet folglich<br />

eine doppelte Transformation <strong>des</strong> beruflichen Ethos statt. Zum einen gewinnen<br />

<strong>die</strong> Ökonomie, <strong>die</strong> damit einhergehende Vermarktlichung, <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong><br />

<strong>und</strong> folglich das Geld an Wert, <strong>und</strong> andererseits ist eine klare Ablehnung der<br />

„totalen sozialen Rolle“ festzustellen.<br />

Eine grosse Mehrheit der Ärzte der Privatkliniken waren zuvor Kaderärzte an<br />

öffentlichen Spitälern, wo sie ihre Ausbildung genossen, von Förderern nachgezogen<br />

wurden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Position <strong>des</strong> Leitenden Arztes oder Chefarztes erarbeiteten.<br />

Die Kaderärzte öffentlicher Spitäler fre<strong>und</strong>en sich aber nicht immer<br />

leicht mit dem Gedanken einer neuen Herausforderung in einer Privatklinik an,<br />

weshalb <strong>die</strong> Direktion der Privatspitäler, aber auch <strong>die</strong> Ärztekollegen, <strong>die</strong> bereits<br />

abgewandert sind, Überzeugungsarbeit bei den gewünschten Ärzten leisten<br />

müssen. Als Gründe für <strong>die</strong> Abwanderung nennen <strong>die</strong> Kaderärzte der öffentlichen<br />

Spitäler gemäss Louis B. <strong>die</strong> zeitliche Belastung <strong>und</strong> Auslastung;<br />

hinzu kommt, dass <strong>die</strong> jungen Ärzte zu wenig Einsatz <strong>und</strong> Präsenz zeigen,<br />

weshalb ihre Aufgaben teilweise durch <strong>die</strong> Leitenden Ärzte <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong><br />

ausgeführt werden müssen. Diese fehlende Bereitschaft der jungen Ärzte, erreichbar,<br />

einsetzbar <strong>und</strong> abrufbar zu sein, <strong>und</strong> ihre Forderung nach einer Work-<br />

337


Life-Balance, <strong>die</strong> nebst dem Berufsalltag auch Familie <strong>und</strong> Freizeit ermöglicht,<br />

führen zu einer klaren Erosion <strong>des</strong> traditionellen, ärztlichen Berufsbil<strong>des</strong>. Der<br />

Deal, wie ihn Louis B. nennt, der bis anhin von den Ärzten akzeptiert wurde<br />

<strong>und</strong> dazu führte, dass <strong>die</strong> jungen Ärzte zu Beginn ihrer Karriere zeitliche Belas-<br />

tungen auszuhalten <strong>und</strong> <strong>die</strong> Freizeit <strong>und</strong> das Privatleben in den Hintergr<strong>und</strong><br />

zu stellen hatten, wird heute nicht mehr akzeptiert. Die Werte der spätkapitalis-<br />

tischen Konsum-, Freizeit- <strong>und</strong> Erlebnisgesellschaft machen auch vor dem Be-<br />

rufsstand <strong>des</strong> Arztes nicht Halt, wodurch das Muster <strong>des</strong> individualistischen<br />

Hedonismus auch hier immer stärker <strong>die</strong> Lebensentwürfe prägt.<br />

Erreichen <strong>die</strong> beiden ob genannten Akteure ihr Ziel <strong>und</strong> wandert der Arzt ab,<br />

so scheinen gemäss Louis B. alle Zweifel <strong>und</strong> Vorbehalte der Ärzte öffentlicher<br />

Spitäler gegenüber den privaten Kliniken obsolet geworden zu sein, da <strong>die</strong><br />

Mitarbeiter der Privatklinik den abgewanderten Arzt dank der Strukturen der<br />

Privatklinik <strong>und</strong> dem ihm gebotenen Arbeitsumfeld eines Besseren belehren<br />

können. Dass <strong>die</strong>se Abwanderung zu bedeutenden Problemen seitens der öf-<br />

fentlichen Spitäler in Form von sowohl Mangel an erfahrenen <strong>und</strong> gut ausge-<br />

bildeten Kaderärzten, <strong>die</strong> ihre Ausbildung in öffentlichen Spitälern genossen<br />

hatten, als auch Mangel an Experten sowie Lehr- <strong>und</strong> Ansprechpersonen für <strong>die</strong><br />

Auszubildenden oder Assistenz- <strong>und</strong> Oberärzte führt, scheint Louis B. einzuse-<br />

hen, obwohl er <strong>die</strong>s nicht eindeutig ausspricht. Den Vorwurf, dass <strong>die</strong> Privat-<br />

spitäler keine oder nur eine geringe Anzahl an Assistenzärzten ausbildet, lässt<br />

er nicht gelten <strong>und</strong> erwähnt, dass seine Privatspitäler jährlich über 65 Assis-<br />

tenzärzte beschäftigen. Im Jahresbericht 2009/2010 der Privatklinikgruppe (kei-<br />

ne Quellenangabe da anonymisierte Daten) ist von insgesamt 1430 Ärzten <strong>die</strong><br />

Rede, <strong>die</strong> auf 14 Privatkliniken verteilt sind. Ob <strong>die</strong> Assistenzärzte in <strong>die</strong>ser<br />

Zahl bereits enthalten sind, ist unklar, für das prozentuale Verhältnis aber spielt<br />

<strong>die</strong>s auch keine wirklich tragende Rolle. Nimmt man an, dass <strong>die</strong> 65 Assistenzärzte<br />

im Total inklu<strong>die</strong>rt sind, dann machen <strong>die</strong> Assistenzärzte ca. 4.5 % der<br />

gesamten Ärzteschaft aus. Vergleicht man <strong>die</strong>se Zahlen beispielsweise mit<br />

denjenigen <strong>des</strong> Luzerner Kantonsspitals (Standorte Luzern, Sursee, Wolhusen,<br />

inkl. Montana), so konnte man 2009 folgen<strong>des</strong> Verhältnis ablesen: 271 Assistenzärzte,<br />

153 Oberärzte inkl. Oberärzte mit besonderer Funktion, 62 Leitende<br />

Ärzte <strong>und</strong> 59 <strong>Chefärzte</strong> inkl. Co-<strong>Chefärzte</strong>. Dies ergibt ein Total von 674 Ärzten<br />

(alle ob genannten Stufen inkl. Spezialfachärzte, Spezialfachärzte mbf. <strong>und</strong><br />

cand. med.) am Luzerner Kantonsspital inkl. ob genannter Standorte; anteils-<br />

338


mässig machen <strong>die</strong> Assistenzärzte folglich 40.2 % aus. Anhand <strong>des</strong> prozentua-<br />

len Verhältnisses wird ersichtlich, dass das öffentliche Spital seine Pflicht zur<br />

Ausbildung der neuen Ärztegeneration vollumfänglich wahrnimmt, <strong>die</strong> Privat-<br />

spitäler hingegen nicht. Auch wenn <strong>die</strong> Privatkliniken keiner Ausbildungs-<br />

pflicht nachzukommen haben, sollte ihrerseits ein Interesse bestehen, dass <strong>die</strong><br />

ehemaligen Kaderärzte der öffentlichen Spitäler ihr Fachwissen <strong>und</strong> ihre Erfah-<br />

rung an <strong>die</strong> jungen Ärzte weitergeben. Es findet gewissermassen aufgr<strong>und</strong> der<br />

fehlenden Reproduktion ihrer selbst eine Reproduktion auf öffentliche Kosten<br />

statt. Dass <strong>die</strong>s eine sehr brisante Tatsache darstellt, erklärt sich bereits alleine<br />

am Faktum, dass sich sowohl <strong>die</strong> Allgemeinversicherten als auch <strong>die</strong> Zusatz-<br />

versicherten an den Kosten der ärztlichen Ausbildung beteiligen, wobei erstere<br />

nur beschränkten Einlass in private Spitäler erhalten. Das tendenziell parasitäre<br />

Verhalten der Privatkliniken sticht hier massgeblich ins Auge, da <strong>die</strong> öffentliche<br />

Hand, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Ausbildung der angehenden Ärzte nicht nur fachlich, sondern<br />

auch finanziell gewährleistet, zusehends von Privatkliniken „kanibalisiert“<br />

wird, was insbesondere in Deutschland in Form zunehmender Privatisierungen<br />

öffentlicher Institutionen geschieht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ungeachtet der Tatsache, dass <strong>die</strong><br />

öffentlichen Spitäler massgeblich an der Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung der jungen<br />

Ärztegeneration <strong>und</strong> der medizinischen Forschung <strong>und</strong> Entwicklung beteiligt<br />

sind.<br />

Als Abwanderungsmotive erachtet Louis B. das menschlich <strong>und</strong> fachlich teils<br />

inkompetente Management der öffentlichen Spitäler, <strong>die</strong> darin stattfindende<br />

Überregulierung, den übermässigen Aufwand an administrativer Tätigkeit <strong>und</strong><br />

den Wunsch der Ärzte, wieder mehr am Patienten arbeiten zu können, ohne<br />

gleichzeitig <strong>die</strong> Ausbildung der Assistenzärzte gewährleisten zu müssen. Louis<br />

B. beschreibt, wie Ärzte von Privatspitälern von der Pflege angehalten werden,<br />

selber <strong>die</strong> Blutentnahme auszuführen, <strong>und</strong> dass es ihre Pflicht sei, den Patienten<br />

von seinem Eintritt bis zum Austritt vollständig zu betreuen. Die administrative<br />

Tätigkeit werde dem Arzt am Privatspital abgenommen, wodurch er wesentlich<br />

mehr Zeit beim Patienten verbringen könne. Es ist vorstellbar <strong>und</strong> nachvollziehbar,<br />

dass <strong>die</strong> nichtmedizinischen Tätigkeiten wie <strong>die</strong> Leistungserfassung,<br />

Budgetplanung <strong>und</strong> das Erstellen <strong>des</strong> Personalplans nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen<br />

der Mediziner gehören, <strong>und</strong> dennoch sind sie Teil ihres<br />

Berufsalltages geworden, der deutlich auf einen Wandel innerhalb <strong>des</strong> Arztberufs<br />

hinweist. Nebst <strong>die</strong>ser Aufgabe stellt <strong>die</strong> Ausbildung der Assistenzärzte<br />

339


<strong>und</strong> <strong>die</strong> Weitergabe <strong>des</strong> Wissens der erfahrenen <strong>und</strong> teils arrivierten Ärzte eine<br />

Pflicht dar, <strong>die</strong> ihnen eindeutig zukommt, derer sie sich nicht entziehen dürfen,<br />

da auch sie früher von ihren Ausbildern <strong>und</strong> Förderern, den damaligen Leitenden<br />

Ärzten <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong>n, profitiert haben. Nebst all dem hat sich gemäss<br />

Louis B. auch das Arzt-Patienten-Verhältnis verändert, was vor allem mit dem<br />

Informationsüberfluss zu tun hat, welchem der heutige Patient ausgesetzt ist<br />

<strong>und</strong> teilweise dazu führt, dass <strong>die</strong> Patienten besser informiert sind als <strong>die</strong> Ärzte<br />

oder <strong>die</strong>s zumin<strong>des</strong>t glauben. Objektiv gesehen seien <strong>die</strong> Patienten gemäss<br />

Louis B. tatsächlich teils besser informiert, das besondere Verhältnis zwischen<br />

dem Arzt <strong>und</strong> seinem Patienten sei aber immer noch von der folgenden Faszination<br />

geprägt: „... auf der anderen Seite gibt es noch immer<br />

<strong>die</strong>ses faszinierende Arzt-Patienten-Verhältnis, das sehr<br />

stark davon geprägt ist, dass der Patient annimmt, der Arzt<br />

wird es schon richten.“ Gemäss Louis B. vergessen <strong>die</strong> Patienten sehr<br />

oft <strong>die</strong> Tatsache, dass auch der Arzt „nur“ ein Mensch sei, der genauso Fehler<br />

begehe wie ein Mechaniker, was er folgendermassen umschreibt: „Du bestellst<br />

ein Möbel <strong>und</strong> <strong>die</strong> Türe hackt, da irgendeiner einfach<br />

<strong>die</strong> Schraube ein wenig schief hineingedreht hat, das<br />

passiert in der Unfallchirurgie mit einem Bein auch.“ Die<br />

Risikobereitschaft seitens der Ärzte <strong>und</strong> ihr beherzigtes Therapieren nehmen<br />

jedoch kontinuierlich ab, was vor allem mit den Schadenersatzklagen, <strong>die</strong> in<br />

den USA unheimliche Auswüchse angenommen haben <strong>und</strong> zu Kostenexplosionen<br />

führen, zusammenhänge. Die zusehends schwindende Bevorm<strong>und</strong>ung<br />

<strong>des</strong> Patienten <strong>und</strong> seine Emanzipation haben in der ärztlichen Wahrnehmung<br />

zur Demontage ihres Status geführt, <strong>des</strong>sen ist sich Louis B. sicher. Der Preis<br />

der Transformation im Feld der Medizin ist <strong>die</strong> Demontage <strong>des</strong> ärztlichen Status,<br />

<strong>die</strong> langsame, aber stetige Entmachtung der Ärzteschaft mithilfe neuer<br />

Organisationsstrukturen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Degra<strong>die</strong>rung <strong>des</strong> Arztberufs zum Dienstleister,<br />

gegen den man rechtlich vorgeht, wenn er den an ihn erteilten Auftrag<br />

nicht erfüllt. Zu dem allem steht auch Louis B., was <strong>die</strong> vorhergehende Aussage<br />

gezeigt hat <strong>und</strong> was auch <strong>die</strong> folgende tut: „Das Anspruchsdenken <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Situation, <strong>die</strong> wir im Hinblick auf Schadenersatzklagen<br />

etc. in den USA haben, ist natürlich eine fatale Entwicklung.<br />

Sie führt am langen Ende dazu, dass es immer weniger<br />

Ärzte geben wird, <strong>die</strong> beherzt <strong>und</strong> mit einer gewissen Risikofreude<br />

ans Werk gehen, darunter leidet am Ende <strong>die</strong> Patientenversorgung.<br />

Am Schluss gibt es eine irre Kostenexplo-<br />

340


sion, von welcher wir momentan profitieren.“ Auch wenn <strong>die</strong><br />

Spitäler an <strong>die</strong>ser Entwicklung mitver<strong>die</strong>nen <strong>und</strong> er <strong>die</strong>s von <strong>die</strong>sem Standpunkt<br />

aus betrachtet gutheissen könnte, befürwortet er <strong>die</strong>s dennoch nicht, da<br />

der Arzt durch Misstrauen in seine langjährige, fachliche Ausbildung weiter<br />

degra<strong>die</strong>rt wird.<br />

Diese Gründe zeugen vom <strong>und</strong> entspringen aus dem Wandel, der sich innerhalb<br />

<strong>des</strong> Arztberufs vollzieht <strong>und</strong> der mit der Einführung der DRG zu erwartende,<br />

weitere Kreise ziehen wird. Für Louis B. entspricht <strong>die</strong> Einführung der<br />

DRG einer positiven Entwicklung, weshalb er auch darin keine Gefahr für seine<br />

Privatkliniken sieht, da sie im Gegensatz zu den öffentlichen Spitälern rascher<br />

mit Veränderungen umgehen können. Mit den diagnosebezogenen Fallpauschalen<br />

werde ein Klassifikations- <strong>und</strong> Vergütungssystem geschaffen, das im<br />

stationären Bereich zur Qualitätsverbesserung beitragen werde. Weshalb das<br />

dadurch zu implementierende, neue Abrechnungssystem auf Skepsis seitens<br />

der Ärzteschaft stösst, erklärt er folgendermassen: „... <strong>und</strong> viele bringen<br />

auch das Thema der inadäquaten Vergütung, dass es dann<br />

nicht <strong>die</strong> eine Pauschale gibt. Sie müssen sich dann über<br />

ihr ärztliches Honorar mit uns auseinandersetzen <strong>und</strong> können<br />

nicht mehr direkt fakturieren.“ Ein hoher Case-Mix-Index, der, einfach<br />

ausgedrückt, den Durchschnitt der Kostenschwere bzw. <strong>des</strong> ökonomischen<br />

Aufwan<strong>des</strong> eines Falles (Relativgewicht) divi<strong>die</strong>rt durch <strong>die</strong> Anzahl Fälle darstellt,<br />

scheinen in den Augen von Louis B. in Kombination mit einem gut organisierten<br />

<strong>und</strong> strukturierten Spital der Schlüssel zum Erfolg zu sein. Im Rahmen<br />

der empirischen Auswertung der Interviews ist öfters der Vorwurf der Ärzte<br />

öffentlicher Spitäler an ihre Kollegen in Privatspitälern zu hören, dass <strong>die</strong> Privatspitäler<br />

gerade <strong>die</strong>jenigen Patienten mit einer hohen Fallschwere <strong>und</strong> einem<br />

folglich komplizierten <strong>und</strong> langwierigen Genesungsprozess, der mit Risiken<br />

verb<strong>und</strong>en ist, zu den öffentlichen Spitälern wie Zentrums- oder Universitätsspitälern<br />

abschieben, da bei solchen Patienten das Risiko einer längeren als <strong>die</strong><br />

von den Krankenkassen oder inskünftig der SwissDRG AG berechneten bzw.<br />

vorausgesetzten Aufenthaltsdauer besteht, was zu einer anteilsmässigen oder<br />

gesamthaften Übernahme der Kosten seitens <strong>des</strong> Spitals führt. Daher ist <strong>die</strong><br />

folgende Aussage von Louis B. eher fraglich: „Die Spitäler, <strong>die</strong> den<br />

höchsten Case-Mix-Index haben, also <strong>die</strong> höchste Komplexität<br />

oder Fallschwere, aber gut organisiert sind, <strong>die</strong> ver<strong>die</strong>nen<br />

am meisten Geld.“<br />

341


Louis B. würde eine Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen <strong>und</strong> privaten<br />

Spitälern begrüssen; wie eine solche Kooperation ausschauen könnte, dazu<br />

äussert er sich eher verhalten <strong>und</strong> ohne konkrete Vorschläge. Ausführlich <strong>und</strong><br />

mit deutlicher Vehemenz bek<strong>und</strong>et er sein Unverständnis hingegen bezüglich<br />

der unterschiedlichen Rahmenbedingungen, denen öffentliche <strong>und</strong> private<br />

Spitäler ausgesetzt sind, wie beispielsweise dem umfassenden Leistungsauftrag,<br />

der den öffentlichen Spitälern zukommt <strong>und</strong> zu unterschiedlichen Unterstützungsleistungen<br />

<strong>und</strong> Subventionen seitens der Kantone führt: „Im Kanton<br />

Luzern allein werden achth<strong>und</strong>ert Millionen in <strong>die</strong> Infrastruktur<br />

der Spitäler <strong>des</strong> Kantons Luzern investiert. Das<br />

muss man sich mal vorstellen, <strong>und</strong> nebenan gibt es ein Privatspital,<br />

das bestens in Stand gehalten ist, modernstens<br />

ausgestattet <strong>und</strong> mit welchem man nicht redet.“ In <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

muss jedoch beachtet werden, dass dank der Ausrichtung auf<br />

Zusatzversicherte <strong>und</strong> dank der Zugangsregulierung, <strong>die</strong> ermöglicht, dass das<br />

Privatspital risikoreiche <strong>und</strong> folglich kostenträchtige Patienten beispielsweise<br />

an Universitätsspitäler weiterverweisen kann (wozu man sich nur hinter vorgehaltener<br />

Hand äussert), das Privatspital merkliche Gewinne erzielt, was ein<br />

öffentliches Spital, das <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung je<strong>des</strong> Bürgers zu gewährleisten<br />

hat, nicht kann <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Subventionen erhält. In öffentlichen Spitälern<br />

müssen <strong>die</strong> Ausgaben für Allgemeinversicherte teilweise durch <strong>die</strong> Einnahmen<br />

der Zusatzversicherten quersubventioniert werden. Je weniger Zusatzversicherte<br />

sich in öffentlichen Spitälern behandeln lassen, umso weniger<br />

Quersubventionierungen werden möglich sein, <strong>und</strong> umso stärker wird das<br />

öffentliche Spital auf Subventionen angewiesen sein. Die Privatspitäler rechtfertigen<br />

<strong>die</strong> erzielten Gewinne mit dem Argument, dass sie, wie je<strong>des</strong> andere Privatunternehmen<br />

auch, marktwirtschaftlichen Regeln gehorchen, welchen sie<br />

entsprechend auch gerecht werden sollten <strong>und</strong> nicht auf Subventionierungen<br />

hoffen dürften, <strong>die</strong> den öffentlichen Institutionen zustehen. Die erzielten Gewinne<br />

<strong>und</strong> der selektive Zugang zu den privaten Krankenhäusern wurden<br />

seitens der Privatspitäler bis anhin mit dem Argument der fehlenden Staatssubventionen<br />

gerechtfertigt. Die sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP)<br />

fordert, dass Spitäler, <strong>die</strong> Anrecht auf öffentliche Gelder haben, einen Teil ihres<br />

Gewinns abgeben, was ca. einem Fünftel entsprechen würde. Dieser Anteil<br />

würde anschliessend in einen Stützungsfonds fliessen, der dazu <strong>die</strong>nt, <strong>die</strong>jenigen<br />

Spitäler, <strong>die</strong> weniger zusatzversicherte Patienten betreuen, zu unterstützen.<br />

342


Dieser Stützungsfond <strong>und</strong> das damit verb<strong>und</strong>ene, ergriffene Referendum ste-<br />

hen in engem Zusammenhang mit der für einige Politiker zu breiten Auslegung<br />

<strong>des</strong> neuen Spitalplanungs- <strong>und</strong> Finanzierungsgesetzes (SPFG), das auf den<br />

01.01.2012 mit der Einführung der Fallpauschalen in Kraft treten soll. Gemäss<br />

<strong>die</strong>sem Gesetz würden all jene Spitäler, <strong>die</strong> auf der Spitalliste <strong>des</strong> Kantons ste-<br />

hen, bei den medizinisch erbrachten Leistungen, <strong>die</strong> in <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versicherung<br />

fallen, in den Genuss staatlicher Subventionen (staatlicher Kostenbeitrag in der<br />

Höhe von 50%) kommen. Über <strong>die</strong> Fallpauschalen würden weiter auch <strong>die</strong><br />

Investitionskosten durch <strong>die</strong> Krankenkassen <strong>und</strong> den Kanton finanziert. Auf<br />

<strong>die</strong> Spitallisten können sich neu auch Privatspitäler setzen lassen bzw. müssen<br />

sich um einen Platz bewerben. Bislang kamen Privatspitäler in den Genuss der<br />

Rückvergütung seitens der Krankenkassen, <strong>die</strong> anteilsmässig <strong>die</strong> Kosten der<br />

erbrachten Leistungen der obligatorischen Gr<strong>und</strong>versicherung für <strong>die</strong> Allgemeinversicherten,<br />

<strong>die</strong> durchschnittlich 30% aller Patienten ausmachten, übernahmen.<br />

Sie kamen aber nicht in den Genuss von staatlichen Subventionen,<br />

was sich inskünftig ändern wird. Ohne einen solchen Fonds bestünde das Resultat<br />

darin, dass Gewinne privatisiert würden, wobei eine weitere Brisanz<br />

darin besteht, dass eine der grössten Privatklinikgruppen der Schweiz mit 14<br />

Kliniken schweizweit vor weniger als vier Jahren von einer ausländischen,<br />

privaten Krankenhausgruppe aufgekauft wurde, wodurch <strong>die</strong> in der Schweiz<br />

erzielten Gewinne auch anteilsmässig ins Ausland fliessen würden, wohingegen<br />

<strong>die</strong> Verluste vom Staat getragen werden dürften bzw. müssten. Die SP-<br />

Kantonsrätin <strong>des</strong> Kantons Zürich, Erika Ziltner, nimmt zu den Diskussionen<br />

r<strong>und</strong> um den Stützungsfonds folgendermassen Stellung: „Dass privat geführte<br />

Spitäler nicht ein Minimum zurückzahlen sollen, obwohl sie öffentliche Gelder<br />

erhalten, <strong>und</strong> ein Teil ihrer Gewinne an ausländische Investoren fliesst, ist ein<br />

absoluter Skandal.“ (Sonntagszeitung, 2011). Auch andere Politiker wie beispielsweise<br />

der Zürcher Regierungsrat <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsdirektor Thomas Heiniger<br />

begrüssen einen solchen Fonds, da <strong>die</strong>ser sich mit der liberalen Gr<strong>und</strong>haltung<br />

<strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens deckt, welches auf einem auf <strong>die</strong> öffentliche<br />

Hand gestützten <strong>und</strong> garantierten System beruht. Leider plä<strong>die</strong>rt aber<br />

eine grosse Mehrheit der Politiker für ein Ges<strong>und</strong>heitssystem, das den Marktkriterien<br />

gehorcht, das den Wettbewerb bewusst zulässt <strong>und</strong> das Quersubventionierungen<br />

unterbindet, um <strong>die</strong> ausgiebig propagierte Kostentransparenz zu<br />

erzielen (Aargauerzeitung, 2011), <strong>und</strong> all <strong>die</strong>s wieder treu nach dem Motto:<br />

„The winner takes it all.“<br />

343


Die Täterrolle übernehmen in Louis B.`s Ausführungen <strong>die</strong> Kantone, <strong>die</strong> für <strong>die</strong><br />

unökonomische Führung der öffentlichen Spitäler verantwortlich gemacht<br />

werden, <strong>die</strong> mithilfe von Praxisstopps oder kantonalen Spitalplanungen das<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen zu regulieren versuchen <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich dennoch nicht das<br />

Wissen für <strong>die</strong> branchenspezifische Führung der von ihnen betriebenen Spitäler<br />

aneignen wollen. Vor allem <strong>die</strong> internen Arbeitsprozesse <strong>und</strong> <strong>die</strong> Arbeit hinter<br />

den Kulissen der öffentlichen Spitäler liessen zu wünschen übrig, was man aber<br />

nicht von allen öffentlichen Spitälern behaupten könne. Die Kantone überneh-<br />

men eindeutig <strong>die</strong> Rolle <strong>des</strong> Sündenbocks, der für eine verstärkte Verstaatli-<br />

chung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens verantwortlich gemacht wird, das gemäss Louis<br />

B. keinen Wettbewerb zulässt <strong>und</strong> unökonomisch geführt wird, woraus möglicherweise<br />

auch qualitative Einbussen resultieren. Ein rein marktwirtschaftlich<br />

geführtes Ges<strong>und</strong>heitswesen, das Wettbewerb zulässt, den Kontrahierungszwang<br />

aufhebt <strong>und</strong> vollkommen „entpolitisiert“ ist, scheint in den Augen<br />

von Louis B. <strong>die</strong> Lösung für ein qualitativ hochstehen<strong>des</strong> <strong>und</strong> kostendecken<strong>des</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitssystem zu sein. Der Staat solle nur dann eingreifen dürfen bzw.<br />

müsse dann seine Subsidiärpflicht wahrnehmen, wenn es zur Unterversorgung<br />

kommt. Dies ist ein Widerspruch in sich, da Louis B. einerseits ein Plädoyer auf<br />

<strong>die</strong> Spielregeln <strong>des</strong> Marktes hält <strong>und</strong> ein Versagen im Rahmen <strong>die</strong>ser Regeln<br />

nahezu ausschliesst, andererseits aber der Staat als Nothelfer bei einem möglichen<br />

Versagen eingesetzt werden soll. „Es gibt in der Geschichte<br />

viel mehr Beispiele für Staatsversagen als für Marktversagen.“<br />

Käme es aber dennoch zu einer Unterversorgung, was einem Versagen<br />

gleichgesetzt werden könnte, so käme dem Staat <strong>die</strong> Pflicht zur Wiederherstellung<br />

der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung zu. Interessant ist <strong>die</strong>se Aussage von Louis B.<br />

im Hinblick auf <strong>die</strong> Tatsache, dass erst kürzlich während der grössten Bankenkrise<br />

aller Zeiten, der Staat den Banken <strong>und</strong> Unternehmen mit Steuergeldern<br />

aus der Krise heraushelfen musste, um ein Marktversagen zu verhindern. Seitens<br />

der Krankenversicherungen erscheint Louis B. <strong>die</strong> Lösung einer Einheitskasse<br />

absurd, er plä<strong>die</strong>rt für einen Wettbewerb unter den Krankenkassen, der<br />

dafür sorgen wird, dass sich mehrere Anbieter durchsetzen werden: „Ansonsten<br />

sollen <strong>die</strong> Vorgaben, <strong>die</strong> das KVG setzt, auch tatsächlich<br />

so gelebt <strong>und</strong> alle sollten gleich behandelt werden.“<br />

Ob er mit „alle“ <strong>die</strong> Patienten meint, <strong>die</strong> inskünftig alle gleichbehandelt werden<br />

sollen, was mit einer Abschaffung <strong>des</strong> Status Allgemeinversicherter, Halbprivat-<br />

<strong>und</strong> Privatversicherter einhergehen müsste, oder ob er darunter <strong>die</strong><br />

344


Gleichbehandlung aller Krankenkassen versteht, derjenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>ver-<br />

sicherung, <strong>und</strong> derjenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Zusatzversicherungen anbieten dürfen, ist<br />

unklar. Für das Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen hat Louis B. eindeutig kein Lob<br />

übrig, was anhand folgender Aussage ersichtlich wird: „Ges<strong>und</strong>heitspolitisch<br />

ist <strong>die</strong> Schweiz eine Bananenrepublik, das ist grauenvoll;<br />

was sich da abspielt, ist mehr als erschütternd.“ Sein<br />

Gefühl der ungleichen Behandlung der öffentlichen <strong>und</strong> privaten Häuser hängt<br />

eindeutig auch mit der Verteilung der Subventionen seitens der Kantone zusammen,<br />

<strong>die</strong> bis dato ausschliesslich den öffentlichen Häusern zukamen. Diese<br />

ungleiche Verteilung der Subventionen scheint in seinen Augen eindeutig ungerechtfertigt,<br />

<strong>und</strong> er benutzt als Argument den teilweise hohen Anteil an allgemeinversicherten<br />

Patienten in ihren Privatspitälern in der Region Bern: „Das<br />

eine Spital dort ist eine kleine Bude, aber <strong>die</strong> haben 95%<br />

gr<strong>und</strong>versicherte Patienten, auch <strong>die</strong> beiden anderen Spitäler<br />

dort, <strong>die</strong> haben 60% gr<strong>und</strong>versicherte Patienten. Wir<br />

sind dort ein öffentliches Spital in privater Hand mit einem<br />

vergleichsweise noch immer hohen Privatpatientenanteil.<br />

Das kann man ja einem nicht zum Vorwurf machen, dass man es<br />

besser macht als <strong>die</strong> Öffentlichen, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Privaten dann<br />

kommen.“ In <strong>die</strong>sem Zusammenhang muss beachtet werden, dass das Privatspital<br />

selektiv bestimmen kann, zu welchen Fachbereichen <strong>die</strong> allgemeinversicherten<br />

Patienten Zugang erhalten, bzw. wo sich ein Zugang für alle rechnet<br />

<strong>und</strong> wo der Zugang, wie bis anhin, ausschliesslich Privatversicherten vorbehalten<br />

bleibt. Es darf folglich nicht von einem „besser machen“ gesprochen werden,<br />

da nicht <strong>die</strong> gesamte medizinische Palette angeboten werden muss, sondern<br />

das selektive Vorgehen ein Fokussieren auf rentable Kernkompetenzen<br />

zulässt.<br />

Gemäss Louis B. steht dem Ges<strong>und</strong>heitswesen Deutschlands ein baldiger Kollaps<br />

bevor, für welchen er folgende Gründe anbringt: „Es ist nicht mehr<br />

finanzierbar für Deutschland, da das, was dort an sozialen<br />

Sicherungssystemen solidarisch finanziert wird, einfach zu<br />

viel ist meiner Meinung nach, <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb stehen <strong>die</strong>se Systeme<br />

mittelfristig bis langfristig vor dem Kollaps. Man<br />

macht einfach Notstandsverwaltung, symptomatische Therapie<br />

würde man als Arzt sagen.“ Ansonsten sieht er keine grossen Unterschiede<br />

zwischen dem Ges<strong>und</strong>heitswesen der Schweiz <strong>und</strong> Deutschland, obwohl<br />

er anmerken muss, dass <strong>die</strong> Privatisierung sowie <strong>die</strong> Professionalisierung<br />

345


der Medizinalberufe in Deutschland „sicherlich meilenweit voraus“<br />

ist. Die ältere Ärztegeneration, <strong>die</strong> sich noch stärker <strong>und</strong> bewusster der „totalen<br />

sozialen Rolle“ verschrieben hat, würde sich deutlich gegen eine Preisgebung<br />

<strong>des</strong> Gutes Ges<strong>und</strong>heit aussprechen, da eines der höchsten Güter aus ethischer<br />

<strong>und</strong> moralischer Perspektive nicht der Wirtschaftlichkeit unterworfen werden<br />

darf.<br />

Die Zukunft <strong>des</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesens wird gemäss Louis B. durch<br />

Rationierung geprägt sein, was mit einer Einschränkung <strong>des</strong> Leistungskatalogs<br />

einhergehen wird <strong>und</strong> sowohl durch <strong>die</strong> fortschreitende Weiterentwicklung der<br />

Technik <strong>und</strong> der Pharmakologie als auch durch <strong>die</strong> zunehmende Alterung der<br />

Gesellschaft bzw. durch <strong>die</strong> Verschiebung der Altersstruktur in Richtung einer<br />

steigenden Anzahl älterer Menschen innerhalb der Gesellschaft bedingt wird.<br />

Gemäss Louis B. wird Krebs in zwanzig bis dreissig Jahren zu den heilbaren<br />

Krankheiten gehören; <strong>die</strong> Forschung für <strong>die</strong> Weiterentwicklung <strong>und</strong> Neuentdeckung<br />

von Medikamenten, <strong>die</strong> zur Heilung führen sollen, werden eindeutig zur<br />

Verteuerung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens beitragen. Die Schweizer Bevölkerung<br />

wird sich <strong>die</strong> Fragen stellen müssen, wie <strong>und</strong> in welchem Umfang sie Solidarität<br />

<strong>und</strong> folglich Zugang zu einer umfassenden Ges<strong>und</strong>heitsversorgung gewährleisten<br />

will <strong>und</strong> wie viel sie bereit ist, für deren Aufrechterhaltung zu investieren<br />

<strong>und</strong> zu bezahlen. Als Lösung für <strong>die</strong> bevorstehende Kostenexplosion<br />

schlägt Louis B. <strong>die</strong> Einschränkung <strong>des</strong> Leistungskataloges vor <strong>und</strong> begründet<br />

<strong>die</strong>s anhand <strong>des</strong> folgenden Beispiels: „Das ist bei jeder anderen Versicherung<br />

auch, da ist <strong>die</strong> normale Kaskoversicherung für<br />

dein Fahrzeug, wenn du halt irgendwo dagegen donnerst, dann<br />

musst du es eben selber zahlen; wenn du aber <strong>die</strong> Vollversorgung<br />

haben <strong>und</strong> immer in <strong>die</strong> Markenwerkstatt gehen möchtest,<br />

dann musst du es zusätzlich versichern. Das ist das<br />

einzige Konzept, das irgendwann langfristig finanziell <strong>und</strong><br />

volkswirtschaftlich verheben wird.“ Dass <strong>die</strong>se Lösung mit Risiken<br />

verb<strong>und</strong>en ist, zeigt folgende Aussage: „Es ist moralisch <strong>und</strong> ethisch<br />

hochproblematisch, da es eben um Rationierungsdiskussionen<br />

geht <strong>und</strong> um <strong>die</strong> Diskussion bezüglich dem Zugang zur Versorgung.“<br />

Auch <strong>die</strong>ser Vergleich zeugt von einer guten Portion Zynismus. Das<br />

Privatspital entspricht in <strong>die</strong>sem Beispiel der Markenwerkstatt, wo man als<br />

Patient eine vollumfängliche Ges<strong>und</strong>heitsversorgung geniesst, wenn man dafür<br />

bezahlt. Nur kommt der Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> dem menschlichen Leben nun mal<br />

346


nicht derselbe Wert zu wie ein Lackkratzer oder eine Beule am Auto, da das<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen auf einen langjährigen <strong>und</strong> andauernden Kampf für <strong>die</strong><br />

sozialen Rechte auf Schutz vor Krankheit zurückblickt.<br />

Nebst der Heilung von Krebs prognostiziert Louis B. auch den inskünftig individuell<br />

zu fällenden Entscheid, wie viel <strong>und</strong> wofür man bereit sei zu bezahlen.<br />

Bei <strong>die</strong>sen Fragen spielt jedoch nicht <strong>die</strong> Bereitschaft <strong>des</strong> Individuums <strong>die</strong> zentrale<br />

Rolle, sondern <strong>die</strong> ihm zur Verfügung stehenden Mittel, <strong>die</strong> durch seine<br />

sozialen, ökonomischen <strong>und</strong> kulturellen, also folglich der symbolischen Kapitalien<br />

bedingt sind, wobei vermutlich <strong>die</strong> ökonomischen Kapitalien zum ausschlaggebenden<br />

Kriterium zählen werden. Louis B. prognostiziert darüber<br />

hinaus, dass in wenigen Jahren eine Altersgrenze für gewisse operative Eingriffe,<br />

wie beispielsweise <strong>die</strong> Durchführung einer Bypass-Operation, eingeführt<br />

werde: „Man wird nicht ad libitum jedem mit fünf<strong>und</strong>neunzig<br />

Jahren noch, keine Ahnung, den Bypass operieren können.“<br />

Seine Aussage begründet er mit den Worten: „Weil es keiner bezahlen<br />

kann.“<br />

Weist man Louis B. darauf hin, dass es sehr wohl jemanden gibt, der sich eine<br />

hochstehende <strong>und</strong> umfassende Ges<strong>und</strong>heitsversorgung leisten kann, nämlich<br />

der Privatversicherte, so verteidigt er sich, indem er anführt, dass es nun mal<br />

dem Leben entspreche, dass gewisse Menschen sich ein Aben<strong>des</strong>sen in einem<br />

Feinschmecker-Lokal leisten können <strong>und</strong> andere sich für <strong>die</strong> Fast-Food-Küche<br />

entscheiden müssen. Ein Entscheid, der dem kapitalstarken Patienten <strong>die</strong> Wahl<br />

zwischen dem Butterbrot <strong>und</strong> der Gourmet-Küche lässt, ein Entscheid aber<br />

auch, der für den kapitalarmen Patienten inexistent ist, da er sich das Gourmet-<br />

Menu ganz einfach nicht leisten kann. Ein meiner Meinung nach inadäquater<br />

Vergleich, da Ges<strong>und</strong>heit bislang den Kriterien <strong>des</strong> Gutes im herkömmlichen<br />

Sinne nicht entsprach. Auch in der Medizin soll der Zugang zur Produktpalette,<br />

also zu Behandlungen, Therapien <strong>und</strong> Medikamenten, durch das monetäre<br />

Kapital entschieden werden. Dass <strong>die</strong>se Diskussionen in der Öffentlichkeit<br />

geführt werden müssen, stellt eine klare Bedingung für Louis B. dar. Die Gesellschaft<br />

muss darüber entscheiden, ob sie bereit ist, ein Drittel ihres Einkommens<br />

sowohl für ihre Ges<strong>und</strong>heit als auch für <strong>die</strong> ihrer Mitmenschen auszugeben.<br />

Besteht <strong>die</strong>se Bereitschaft, so steht einer umfassenden Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />

nichts im Wege. Auch in <strong>die</strong>sem Zusammenhang wird deutlich, dass<br />

347


Louis B. verkennt, dass auch bei einem solchen Entscheid nicht lediglich <strong>die</strong><br />

Frage nach der Bereitschaft, sondern vor allem auch nach den individuellen<br />

Möglichkeiten gestellt werden muss.<br />

Die letzte an ihn gestellte Frage bezieht sich auf <strong>die</strong> Gehaltsstruktur innerhalb<br />

privater Spitäler <strong>und</strong> <strong>die</strong> Unterschiede, <strong>die</strong> innerhalb <strong>die</strong>ser Strukturen zwischen<br />

den öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spitälern existieren. Louis B. betont, dass<br />

<strong>die</strong> Ärzte in seinen Privatspitälern tendenziell finanziell besser gestellt sind<br />

bzw. höher entlohnt werden, als <strong>die</strong>s in einem öffentlichen Spital der Fall ist,<br />

wozu er Folgen<strong>des</strong> hinzufügt: „Ich sage nicht marginal, aber tendenziell<br />

besser gestellt.“ Damit, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ist nicht eindeutig, versucht<br />

er zu erklären, dass seine Ärzteschaft im Gegensatz zu derjenigen in den öffentlichen<br />

Spitälern wohl finanziell besser gestellt ist, was aber nicht durchwegs der<br />

Fall ist, sondern von Spezialität zu Spezialität variieren kann. Die Gehälter in<br />

den Privatspitälern entsprächen aber nicht dem doppelten oder dreifachen<br />

Einkommen der Ärzte öffentlicher Spitäler, meint Louis B. Die Differenz betrage<br />

zwischen zehn <strong>und</strong> zwölf Prozent, möglicherweise aber auch mehr, dazu<br />

wollte er sich aber nicht weiter äussern; auch eine Statistik zu den unterschiedlichen<br />

Gehältern innerhalb der Privatklinikgruppe existiere nicht. Man müsse<br />

aber immer beachten, dass, wenn ein Vergleich der Gehälter zwischen den<br />

privaten <strong>und</strong> öffentlichen Krankenhäusern angestellt werde, man auch <strong>die</strong>selben<br />

Spezialitäten miteinander vergleiche. Dies, da zwischen den Spezialitäten<br />

markante Unterschiede bestünden. Einen deutlichen Vorteil bei der Einkommensberechnung<br />

stelle für <strong>die</strong> Ärzte <strong>die</strong> Erfolgsbeteiligung ihres Spezialbereiches<br />

dar; Louis B. erklärt <strong>die</strong>ses Vorgehen folgendermassen: „Was wir für<br />

sie natürlich machen, ist, dass wir seine Einheit als Kostenstelle<br />

führen, <strong>und</strong> ihm sagen: Schau Fre<strong>und</strong>, wenn du dein<br />

Ziel erreichst, <strong>und</strong> wenn unten was übrig bleibt, dann lassen<br />

wir dich am Gewinn, den du in deiner Kostenstelle erwirtschaftest,<br />

partizipieren.“ Wobei auch im Rahmen <strong>die</strong>ses Systems<br />

Unterschiede zwischen den Spezialitäten existieren. Auch <strong>die</strong>s zeugt nach<br />

Boltanski <strong>und</strong> Chiapello (2006) vom neuen Geist <strong>des</strong> Kapitalismus <strong>und</strong> damit<br />

einhergehend vom Prinzip <strong>des</strong> Leistungslohns <strong>und</strong> Unternehmertums, das<br />

dazu beiträgt, dass sich der einzelne Arzt bei allen erdenklichen, beruflichen<br />

Entscheidungen profitorientiert verhält.<br />

Louis B. muss eingestehen, dass er <strong>die</strong> Sinnhaftigkeit seines beruflichen Han-<br />

348


delns <strong>und</strong> das Feedback der Patienten im Rahmen seiner heutigen Tätigkeit<br />

vermisst. Er bezeichnet sich selber als Narzisst, der <strong>die</strong>se beiden ob genannten<br />

Bedürfnisse auch heute noch immer gerne befriedigt haben würde. Seiner heutigen<br />

Tätigkeit als CEO kann er sehr wohl auch einen Sinn abgewinnen, das<br />

Feedback der Patienten vermisst er dennoch, da er <strong>die</strong>ses als äusserst sinnstiftend<br />

empfand. Anhand <strong>des</strong> Porträts von Louis B. wird deutlich, dass er mit<br />

dem Ablegen seines weissen Kittels auch <strong>die</strong> drei Rollen Professions-, Organisations-<br />

<strong>und</strong> Privatrolle in seinem Arbeitsalltag nicht mehr als Einheit verkörpert.<br />

Von der Profession her gesehen, wird Louis B. den Habitus <strong>des</strong> Arztes nie vollständig<br />

ablegen können, was <strong>die</strong> folgende Aussage beweist: „Die Sinnhaftigkeit<br />

<strong>des</strong> Handelns <strong>und</strong> das Feedback, das man bekommt, das<br />

einem kein Verwaltungs- oder auch sonstiger Job geben kann,<br />

wenn man so gestrickt ist, wie ich eben gestrickt bin <strong>und</strong><br />

ein Stückweit Narzisst ist. Man möchte gerne anerkannt,<br />

respektiert <strong>und</strong> gebraucht werden.“ Gleichzeitig sind anhand seines<br />

Werdegangs, seiner Argumentationsweise <strong>und</strong> seiner Stellungnahmen zu gegenwärtigen<br />

Diskussionen im Ges<strong>und</strong>heitswesen deutliche Ansätze <strong>des</strong> homo<br />

oeconomicus zu erkennen. Er trägt heute den Hut <strong>des</strong> CEOs einer der bedeutendsten<br />

Schweizer Privatklinikgruppen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s tut er offensichtlich aus<br />

vollster Überzeugung, wobei er sein medizinisches Fachwissen <strong>und</strong> seine Erfahrung<br />

als Arzt, <strong>die</strong> ihm den Zugang zu den Ärzten erleichtert <strong>und</strong> ihm grosse<br />

Akzeptanz einbringt, gekonnt einzusetzen weiss.<br />

4.4.2 Im Gespräch mit Louis B. − dem CEO <strong>und</strong> Arzt<br />

„Es gibt reihenweise Leute, <strong>die</strong> müssen das Butterbrot essen<br />

<strong>und</strong> gehen zu McDonalds, <strong>und</strong> es gibt eine Gruppe, <strong>die</strong> geht<br />

jeden zweiten Tag zu, ich weiss nicht wem, ,Petermann am<br />

See‘ essen.“<br />

- Ich würde zuerst einmal<br />

sehr gerne von Ihnen erfahren,<br />

wie Sie zu den beiden<br />

Berufen, also erstens zum<br />

Beruf <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> zweitens<br />

zu ihrer heutigen<br />

349


Stelle als CEO kamen?<br />

Louis B. - Ich wollte immer<br />

Arzt werden, <strong>die</strong>s schon<br />

bereits als Junge, <strong>und</strong> ich<br />

wollte schon immer Chirurg<br />

werden. Dann war ich aber<br />

in meinem Heimatland zu<br />

schlecht in der Schule <strong>und</strong><br />

habe ein weit neben dem<br />

Numerus Clausus liegen<strong>des</strong><br />

Abitur gehabt, habe mich<br />

dann beworben, habe dann<br />

aber natürlich keinen Stu<strong>die</strong>nplatz<br />

gekriegt. Ich<br />

habe dann angefangen Biologie<br />

<strong>und</strong> Chemie zu stu<strong>die</strong>ren<br />

<strong>und</strong> habe <strong>die</strong>s dann sieben<br />

Semester lang gemacht <strong>und</strong><br />

mich immer wieder beworben.<br />

Dann habe ich einen Medizinstu<strong>die</strong>nplatz<br />

gekriegt,<br />

dann gesagt, dass ich Diplombiologie<br />

noch schnell<br />

fertigmache, <strong>die</strong>s habe ich<br />

parallel mit der Medizin<br />

getan <strong>und</strong> dann Medizin fertiggemacht.<br />

Aufgr<strong>und</strong> meines<br />

naturwissenschaftlichen<br />

Hintergr<strong>und</strong>es habe ich an<br />

einer Universitätsklinik<br />

auch gleich eine Stelle<br />

bekommen, wo ich dann <strong>die</strong><br />

chirurgische Ausbildung zum<br />

Facharzt für Chirurgie ge-<br />

350<br />

macht habe. Durch einen<br />

Stellenwechsel, da mein<br />

Chef Ordinarius an einer<br />

anderen Universitätsklinik<br />

wurde, wohin ich dann auch<br />

mitging, habe ich das erste<br />

Mal begonnen zu überlegen,<br />

was ich eigentlich gemacht<br />

habe <strong>und</strong> habe mich gefragt,<br />

ob ich <strong>die</strong>s <strong>die</strong> nächsten 30<br />

Jahre weitermachen möchte.<br />

Es ist nichts passiert, es<br />

war alles gut, <strong>die</strong> Habilitation<br />

war fast schon, der<br />

experimentelle Teil zumin<strong>des</strong>t<br />

war fertig, es war<br />

schon alles vorgezeichnet.<br />

Ich hab dann aber gedacht,<br />

nein. Ich habe mir <strong>die</strong> Figuren<br />

um mich herum angeguckt<br />

<strong>und</strong> habe mir dann<br />

gesagt, nein, das möchtest<br />

du nicht mehr, das ist es<br />

nicht. Wenn <strong>die</strong> Medizin zum<br />

Sport wird, ich formuliere<br />

<strong>die</strong>s nun etwas überspitzt,<br />

aber Chirurgie ist teilweise<br />

schon etwas Grey's Anatomy-mässig,<br />

so funktioniert<br />

es eben zum Teil<br />

schon, es herrscht ein hartes,<br />

raues Klima <strong>und</strong> du<br />

kommst nur mit Ellenbogen<br />

voran. Der entscheidende


Punkt war, dass ich nie<br />

Interesse an Wissenschaft<br />

hatte oder an wissenschaftlichem<br />

Arbeiten. Ich hatte<br />

mir dann einfach gedacht,<br />

dass ich habilitieren muss,<br />

da ich ohne Professor irgendwie<br />

gar nicht vom Fleck<br />

gekommen wäre. Ich hab mir<br />

dann gesagt, nein, das ist<br />

es nicht. Ich habe dann<br />

aufgehört <strong>und</strong> <strong>die</strong>s mit dem<br />

Ziel tatsächlich Allgemeinarzt<br />

zu werden. Dazu fehlte<br />

mir aber noch ein Jahr Innere,<br />

ich bin dann also<br />

zurück ins Krankenhaus <strong>und</strong><br />

habe da dann in der Inneren<br />

begonnen. Das war so <strong>die</strong><br />

Zeit in Deutschland als <strong>die</strong><br />

Themen DRG, Medizincontrolling<br />

<strong>und</strong> alle <strong>die</strong>se Dinge<br />

aufkamen. Der Bedarf an<br />

Ärzten im Management wurde<br />

plötzlich sichtbar. Ich hab<br />

mir dann gedacht, guckst<br />

dir das einmal an, <strong>und</strong> so<br />

kam ich dann von einem 5%-<br />

Pensum, zu 10% ein bisschen<br />

Gucken, so ist es immer<br />

weiter gegangen <strong>und</strong> ich bin<br />

dann so durch <strong>die</strong> unterschiedlichsten<br />

Funktionen<br />

in der Spitalverwaltung<br />

marschiert. Heute würde man<br />

es MBA nennen, früher gab<br />

es <strong>die</strong>s in <strong>die</strong>ser Form<br />

nicht. Ich habe dann Ges<strong>und</strong>heitsökonomie<br />

noch nebenberuflich<br />

an einer Europäischen<br />

Wirtschaftsschule<br />

gemacht, bin dann irgendwann<br />

in der Geschäftsführung<br />

eines Spitals gewesen,<br />

dann bin ich da der Chef<br />

gewesen <strong>und</strong> dann im Jahr<br />

2004 in <strong>die</strong> Schweiz gekommen.<br />

War anschliessend bis<br />

zum Oktober 2008 Direktor<br />

an einer Privatklinik gewesen<br />

<strong>und</strong> seit dann bin ich<br />

jetzt hier.<br />

- Sie waren ja in Deutschland<br />

in einer der grössten<br />

deutschen Privatkliniken<br />

tätig.<br />

Louis B. - Ein Modellversuch<br />

muss man <strong>die</strong>s nennen,<br />

der letztlich gescheitert<br />

ist.<br />

- Inwiefern ist <strong>die</strong>ser gescheitert?<br />

Louis B. - Da es in<br />

Deutschland keine Tradition,<br />

keine Historie <strong>und</strong> auch<br />

keinen Markt für eine Pri-<br />

351


vatklinik im klassischen<br />

Sinne gab, also ohne Versorgungsauftrag<br />

oder ohne<br />

Leistungsauftrag. Das ist<br />

wirklich eine Klinik für<br />

Privatpatienten gewesen,<br />

<strong>die</strong> sehr modellhaft war <strong>und</strong><br />

Unternehmerpreise, Innovationspreise,<br />

etc. abgeräumt<br />

hat. Es war genial, es war<br />

super als Werkbank zum Lernen,<br />

ich hab mich dann auch<br />

voll <strong>und</strong> ganz engagiert,<br />

habe dann aber meinen Vertrag<br />

nicht verlängert, da<br />

es für mich absehbar war,<br />

<strong>und</strong> da es einige Sollbruchstellen<br />

in der Konstruktion<br />

gab, <strong>die</strong> mir gezeigt haben,<br />

dass all <strong>die</strong>s nicht auf <strong>die</strong><br />

Flughöhe kommen wird, auf<br />

welche sie vom Modellcharakter<br />

her eigentlich gehört.<br />

All <strong>die</strong>s war dann<br />

auch der Gr<strong>und</strong>, weshalb ich<br />

in <strong>die</strong> Schweiz ging. Aber<br />

es hat mir natürlich viel<br />

geholfen, da es sehr innovativ<br />

war <strong>und</strong> auch kreativ.<br />

- Wann hat der Bruch eigentlich<br />

stattgef<strong>und</strong>en, der<br />

dazu geführt hat, dass Sie<br />

nicht mehr als Arzt tätig<br />

sein wollten sondern ihre<br />

352<br />

Karriere als Ökonom weiter<br />

verfolgen wollten?<br />

Louis B. - Ich muss sagen,<br />

dass das endgültig, also<br />

das Stethoskop an den Nagel<br />

gehängt, habe ich erst im<br />

April 2004. Das heisst,<br />

dass ich trotz der Tatsache,<br />

dass ich dort bereits<br />

mehrere Jahre Geschäftsführer<br />

der Klinik war, habe<br />

ich noch immer in der Freizeit<br />

... Ich hatte damals,<br />

als ich keinen Medizinstu<strong>die</strong>nplatz<br />

erhalten hatte,<br />

<strong>die</strong> Rettungssanitäterausbildung<br />

gemacht, um min<strong>des</strong>tens<br />

etwas Medizinisches<br />

machen zu können. Bin dann<br />

als ich Arzt war natürlich<br />

hinterher Notarzt <strong>und</strong> Leitender<br />

Notarzt geworden.<br />

Bin ganz viel Hubschrauber<br />

geflogen <strong>und</strong> habe Notarzttätigkeit<br />

gemacht, was ich<br />

eigentlich bis 2004 nachts<br />

<strong>und</strong> an den Wochenenden noch<br />

immer machte, da mir all<br />

<strong>die</strong>s so viel Spass gemacht<br />

hat. Das war dann das definitive<br />

Ende <strong>und</strong> das vorläufige<br />

Ende geschah dann tatsächlich<br />

in dem Moment, als<br />

ich mit der Chirurgie auf-


gehört hatte <strong>und</strong> in <strong>die</strong><br />

Innere Medizin zurückging.<br />

Ich habe es damals noch<br />

nicht so richtig realisiert,<br />

aber ich glaube,<br />

dass <strong>die</strong>s damals der erste<br />

Schritt war <strong>und</strong> in dem Moment,<br />

in welchem ich dann<br />

eigentlich Verwaltungstätigkeiten<br />

im Spital übernommen<br />

habe, hat sich <strong>die</strong>s<br />

dann so sukzessive vollzogen.<br />

- Vermissen Sie Ihre Tätigkeit<br />

als Arzt?<br />

Louis B. - Ja. Ich bereue<br />

weder <strong>die</strong> Entscheidung mit<br />

der Chirurgie aufgehört zu<br />

haben, wenn man es bilanziert,<br />

war <strong>die</strong>s <strong>die</strong> richtige<br />

Entscheidung, noch bereue<br />

ich <strong>die</strong> Entscheidung<br />

hier in <strong>die</strong> Schweiz gekommen<br />

zu sein, ansonsten würde<br />

ich noch heute am Wochenende<br />

mit dem Hubschrauber<br />

herumfliegen. Dies war<br />

ja wiederum der Gr<strong>und</strong>, weshalb<br />

ich den Mantel dann<br />

endgültig an den Nagel gehängt<br />

habe. Wenn Sie aber<br />

<strong>die</strong> Frage stellen, ob ich<br />

<strong>die</strong>s vermisse, dann muss<br />

ich ganz klar sagen, ja.<br />

„Man möchte gerne anerkannt,<br />

respektiert <strong>und</strong> gebraucht<br />

werden.“<br />

- Was vermissen Sie daran<br />

am meisten?<br />

Louis B. - Die Sinnhaftigkeit<br />

<strong>des</strong> Handelns <strong>und</strong><br />

das Feedback, das man bekommt,<br />

das einem kein Verwaltungs-<br />

oder auch sonstiger<br />

Job geben kann, wenn<br />

man so gestrickt ist, wie<br />

ich eben gestrickt bin <strong>und</strong><br />

ein Stückweit Narzisst ist.<br />

Man möchte gerne anerkannt,<br />

respektiert <strong>und</strong> gebraucht<br />

werden. Da gibt es nichts<br />

Schöneres als der soziale,<br />

insbesondere der ärztliche<br />

Beruf, der ist natürlich<br />

für solche Typen prä<strong>des</strong>tiniert.<br />

Das vermisst man.<br />

Die Sinnhaftigkeit. Klar<br />

kann ich sagen, dass das<br />

was ich jetzt mache auch<br />

sinnvoll ist, aber es gibt<br />

null Feedback.<br />

- Es gibt bestimmt eine Art<br />

353


von Feedback, aber eine<br />

ganz andere Form von Feedback<br />

wahrscheinlich.<br />

Louis B. - Ja, aber es ist<br />

sicherlich kein emotionales<br />

Feedback, das einem <strong>die</strong><br />

Sinnhaftigkeit <strong>des</strong> Handelns<br />

so spüren lässt, wie man<br />

<strong>die</strong>s spürt, wenn man als<br />

Arzt tätig ist.<br />

- Sie blicken auf ca. 20<br />

Jahre Berufserfahrung zurück,<br />

inwiefern hat sich<br />

Ihrer Meinung nach der Beruf<br />

<strong>des</strong> Arztes verändert?<br />

Louis B. - Der hat sich<br />

dramatisch ... Also der<br />

Beruf an sich, <strong>die</strong> Tätigkeit<br />

an sich, <strong>die</strong> verändert<br />

sich klar aufgr<strong>und</strong> technologischer<br />

Fortschritte <strong>und</strong><br />

so, es wird immer mehr<br />

fragmentierte <strong>und</strong> superspezialisierte<br />

<strong>und</strong> so ..., das<br />

ist das eine Thema. Das<br />

andere Thema ist, dass ich<br />

noch zur Generation gehöre,<br />

wo <strong>die</strong> Themen Work-Life-<br />

Balance, Arbeitszeitgesetze,<br />

Vergütungsstrukturen<br />

<strong>und</strong> so weiter <strong>und</strong> so fort<br />

aus meiner Sicht, <strong>und</strong> so<br />

354<br />

wie ich <strong>die</strong>s rekapituliere<br />

auch aus der Sicht vieler<br />

Kollegen damals, eine untergeordnete<br />

Rolle gespielt<br />

haben. Dort war man noch<br />

mit Leib <strong>und</strong> Seele <strong>und</strong> Haut<br />

<strong>und</strong> Haaren, mit vollem Einsatz<br />

Arzt gewesen. Wir waren<br />

wahrscheinlich schon<br />

eine Generation, <strong>die</strong> im<br />

Vergleich zur Generation<br />

vorher bereits etwas mutiert<br />

war, <strong>und</strong> in welcher<br />

<strong>die</strong>ser Einsatz noch viel<br />

mehr gelebt wurde. R<strong>und</strong> um<br />

<strong>die</strong> Uhr Erreichbarkeit,<br />

Arbeitszeit, als ich anfing<br />

war es selbstverständlich,<br />

dass ich einmal in der Woche<br />

36-St<strong>und</strong>en am Stück<br />

gearbeitet habe <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

zwar klaglos, das gehörte<br />

zum Deal. Das findet man<br />

heute in der neuen Generation<br />

nicht mehr. Ob es nun<br />

Work-Life-Balance ist oder<br />

was auch immer, man gibt<br />

sich einfach nicht mehr mit<br />

Haut <strong>und</strong> Haaren hin, um<br />

dort seine Leistung zu<br />

bringen, das ist mein ganz<br />

klarer Eindruck. Das ist<br />

wahrscheinlich <strong>die</strong> einschneidenste<br />

Veränderung,


<strong>die</strong> auch von Kollegen, <strong>die</strong><br />

vom öffentlichen Spital zu<br />

uns wechseln, immer wieder<br />

berichtet wird. Die kommen<br />

zum Teil mit der Argumentation<br />

... ich frage sie ja<br />

immer, was sie denn eigentlich<br />

motiviert zu uns zu<br />

kommen? Hoffentlich doch<br />

nicht einfach um mehr Geld<br />

zu ver<strong>die</strong>nen. Viele sagen,<br />

sie mögen es nicht mehr<br />

ertragen, sie gurke das an,<br />

dass sie dann <strong>die</strong>jenigen<br />

seien, <strong>die</strong> sich noch um<br />

fünf Uhr um <strong>die</strong> Patienten<br />

kümmern, da <strong>die</strong> Anderen<br />

irgendwie gesagt haben, so<br />

jetzt ist fertig, jetzt<br />

gehe ich nach Hause, in <strong>die</strong><br />

Badi oder Rasenmähen oder<br />

irgend so etwas. Es gibt<br />

viele Ärzte, <strong>die</strong> sagen,<br />

dass <strong>die</strong> jüngere Generation<br />

von Ärzten einfach untauglich<br />

sei für <strong>die</strong>sen Beruf,<br />

für <strong>die</strong>sen Einsatz, für <strong>die</strong><br />

Leidenschaft, für, für, für<br />

...<br />

„... es ist das teilweise<br />

dramatisch fachliche <strong>und</strong><br />

menschlich inkompetente<br />

Management in öffentlichen<br />

Spitälern ... „<br />

- Wenn ich <strong>die</strong> Abwanderungstendenzen<br />

betrachte,<br />

so sticht es ins Auge, dass<br />

früher eher Oberärzte abwanderten,<br />

<strong>und</strong> heute <strong>die</strong>s<br />

eher <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leitende<br />

Ärzte tun, wodurch natürlich<br />

ein grosses Potential<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Sektors in<br />

den privaten Klinikbereich<br />

abwandert. Es kommt mir<br />

natürlich oft zu Ohren,<br />

dass <strong>die</strong> Tatsache, dass <strong>die</strong><br />

Arbeitszeit der Assistenzärzte<br />

heute einer 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche untersteht,<br />

zu ganz neuen <strong>und</strong> anderen<br />

Voraussetzungen als früher<br />

führt. Welche Antworten<br />

erhalten Sie weiter auf<br />

Ihre Frage, weshalb Ärzte<br />

in das öffentliche Spitalwesen<br />

abwandern? (…) Persönlich<br />

finde ich es schade,<br />

dass in Privatkliniken<br />

keine Assistenzärzte ausgebildet<br />

werden <strong>und</strong> folglich<br />

einem wichtigen Beitrag im<br />

Rahmen der Ausbildung der<br />

Ärzte nicht nachgekommen<br />

355


wird.<br />

Louis B. - Das stimmt ja<br />

nur bedingt. Wir haben im<br />

letzten Jahr 65 Assistenzärzte<br />

in der gesamten Gruppe<br />

immerhin ausgebildet.<br />

Klar nicht in dem Umfang<br />

wie ein Unispital oder<br />

grosses Versorgungsspital,<br />

aber wir machen es. Die<br />

Motivation der Ärzte ist<br />

aus meiner Sicht klar <strong>die</strong><br />

überfordernde Administration<br />

im öffentlichen Spital,<br />

es ist das teilweise dramatisch<br />

fachliche <strong>und</strong> menschlich<br />

inkompetente Management<br />

in öffentlichen Spitälern,<br />

was sich, so glaube<br />

ich, verbessert. Inzwischen<br />

hat man begriffen, dass das<br />

Spital ein Betrieb ist,<br />

<strong>des</strong>sen Direktorenposition<br />

man nicht mit einem, der<br />

seine Karriere, keine Ahnung,<br />

in der Kantonsverwaltung<br />

begonnen hat <strong>und</strong> dann<br />

Chef der Müllabfuhr wurde<br />

<strong>und</strong> jetzt zufällig Chef <strong>des</strong><br />

Spitals wird, sondern man<br />

begreift immer mehr, dass<br />

<strong>die</strong>s eine bestimme Qualifikation<br />

erfordert. Insofern<br />

ist es nicht mehr ganz so<br />

356<br />

schlimm, aber es ist in der<br />

Wahrnehmung immer noch<br />

schlimm. Ich denke, dass<br />

<strong>die</strong> Überregulierung <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Reglementierung im öffentlichen<br />

Bereich Ärzte zu uns<br />

treiben. Das ist das eine,<br />

das zweite ist, dass wir<br />

ein attraktives Angebot<br />

haben, das eben all <strong>die</strong>jenigen<br />

Dinge, <strong>die</strong> sie im<br />

öffentlichen Bereich so<br />

nerven, wir hier eben nicht<br />

haben. Die Betriebe sind<br />

straff organisiert <strong>und</strong><br />

funktionieren in der Regel.<br />

Man hat eine grosse Motivation,<br />

insbesondere der<br />

Chefs <strong>und</strong> der Leitenden<br />

Ärzte, dass sie sich endlich<br />

wieder um den Patienten<br />

kümmern können oder<br />

müssen, da es in unserem<br />

System keine grosse Schar<br />

von willfährigen Assistenten<br />

gibt, <strong>die</strong> da zur Visite<br />

mitkommen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Drecksarbeit<br />

in Anführungsstrichen<br />

machen. Sondern, das muss<br />

er selber machen. Es gibt<br />

immer einen gewissen Kulturschock,<br />

wenn <strong>die</strong> dann zu<br />

uns kommen. Beispielsweise,<br />

es ist kein Blut abgenommen


eim Meier; weshalb ist<br />

kein Blut abgenommen, dann<br />

sagt <strong>die</strong> Schwester, dass<br />

Sie es als Arzt eben hätten<br />

abnehmen müssen. Gibt es<br />

dann nicht irgendwie einen<br />

Stationsarzt, der Blut abnimmt,<br />

nein, das müssen Sie<br />

selber machen, Herr Professor.<br />

Das gibt einen ziemlichen<br />

Kulturschock, wenn<br />

<strong>die</strong>ser dann aber überw<strong>und</strong>en<br />

ist, dann höre ich immer<br />

wieder, das ist genau das,<br />

weshalb sie mal vor Jahren<br />

Arzt wurden, <strong>und</strong> selbst<br />

wenn es ums Blutabnehmen<br />

geht, so ist das noch immer<br />

eine sinnvollere Tätigkeit<br />

als in irgendeiner Sitzung<br />

über irgendwelche Investitionssummen,<br />

Stellenpläne<br />

oder sonst etwas in einer<br />

Verwaltung zu streiten.<br />

- Inwiefern wirken Sie <strong>die</strong>sem<br />

Übermass an administrativer<br />

Tätigkeit, an Verwaltungstätigkeit<br />

entgegen?<br />

Louis B. - Das nehmen wir<br />

ihnen ab.<br />

- Das machen dann?<br />

Louis B. - Das machen wir.<br />

„Wenn der Anästhesist meinen<br />

Hut auf hat, dann vertritt<br />

er <strong>die</strong> Unternehmensinteressen,<br />

wenn er <strong>die</strong>s<br />

nicht tut, dann muss er<br />

nicht mehr bei uns arbeiten.“<br />

- Sie haben ein Belegarztsystem,<br />

sprechen aber gegenwärtig<br />

immer stärker<br />

Festanstellungen aus, weshalb<br />

ist <strong>die</strong>s so?<br />

Louis B. - Da bin ich bei<br />

den Ärzten das Enfant Terrible,<br />

<strong>die</strong> haben mich gar<br />

nicht gerne. Ich bin f<strong>und</strong>amental<br />

davon überzeugt,<br />

dass ein Spital bestimmte<br />

Kern<strong>die</strong>nstleistungen selber<br />

bereitstellen, organisieren<br />

<strong>und</strong> auch <strong>die</strong> Verantwortung<br />

dafür übernehmen muss. Zu<br />

den Kern<strong>die</strong>nstleistungen<br />

eines Spitals gehört der<br />

allgemeine Internist, der<br />

Hospitalist, der Stationsarzt,<br />

der sich kümmert, der<br />

ärztliche Kümmerer, dazu<br />

gehört <strong>die</strong> Anästhesie, da<br />

sie im Längsschnitt der<br />

357


Behandlung in ganz vielen<br />

Punkten mit dem Patienten<br />

in Berührung kommt <strong>und</strong> den<br />

Motor eines Spitals ganz<br />

wesentlich mitbestimmt.<br />

Dazu gehören weiter <strong>die</strong><br />

Ärzte in der Notfallstation,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Eintrittspforte<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Visitenkarte eines<br />

Spitals darstellen <strong>und</strong><br />

manchmal gehört dazu vielleicht<br />

auch <strong>die</strong> Radiologie.<br />

Wir haben <strong>die</strong>s mal Systemanbieterkonzept<br />

getauft.<br />

Wir hier in der Privatklinik<br />

haben gesagt, dass wir<br />

ein System vorhalten müssen,<br />

<strong>des</strong>sen sich dann <strong>die</strong><br />

unterschiedlichen Spezialisten,<br />

<strong>die</strong> dann durchaus<br />

belegärztlich organisiert<br />

sein können, be<strong>die</strong>nen können.<br />

Einfach erklärt, wenn<br />

ich meinen Betrieb optimieren<br />

möchte, nehmen sie den<br />

OP, <strong>und</strong> ich <strong>die</strong> Wechselzeiten<br />

von einem Patienten zum<br />

nächsten im OP optimieren<br />

möchte, dann kann ich <strong>die</strong>s<br />

mit meinem Personal machen,<br />

das ist gut mit der Anästhesiepflege<br />

<strong>und</strong> OP-Pflege.<br />

Wenn der Anästhesist aber<br />

ein eigenständiger Unter-<br />

358<br />

nehmer ist <strong>und</strong> beschliesst,<br />

<strong>die</strong> Kaffeepause einfach mal<br />

eine halbe St<strong>und</strong>e länger zu<br />

machen, oder er hat halt<br />

noch ein privates Telefonat<br />

oder sonst etwas, <strong>und</strong> der<br />

Belegarzt ist auch noch ein<br />

freier, unabhängiger, outgesourcter<br />

Teilnehmer im<br />

ganzen Geschäft, dann gelingt<br />

mir <strong>die</strong>s nicht. Wenn<br />

der Anästhesist meinen Hut<br />

auf hat, dann vertritt er<br />

<strong>die</strong> Unternehmensinteressen,<br />

wenn er <strong>die</strong>s nicht tut,<br />

dann muss er nicht mehr bei<br />

uns arbeiten. Und dann wird<br />

der dem Chirurgen gegenüber<br />

auch sagen: mein Fre<strong>und</strong>,<br />

hör mal zu, wir haben hier<br />

um halb neun gesagt, <strong>und</strong> du<br />

kommst nun erst um zehn vor<br />

neun, das geht einfach<br />

nicht. Nächstes Mal um halb<br />

neun, ansonsten mache ich<br />

keine Narkose mehr für<br />

dich. Das kann er mit dem<br />

Spital im Rücken sagen, als<br />

selbstständiger Unternehmer<br />

wird er <strong>die</strong>s eher nicht<br />

sagen, dann ist er eher der<br />

Dienstleister für den Chirurgen.<br />

Das ist eines <strong>die</strong>ser<br />

Beispiele, das <strong>die</strong>s


illustriert. Wir transformieren<br />

das, <strong>und</strong> es gibt<br />

eine riesen Aufregung zu<br />

<strong>die</strong>sem Thema. Die versuchen<br />

mich <strong>des</strong>wegen auch immer<br />

wieder zu schlachten. Ich<br />

weiche aber f<strong>und</strong>amental<br />

keinen Kilometer, ich bin<br />

fest davon überzeugt, dass<br />

<strong>die</strong>s <strong>die</strong> richtige Herangehensweise<br />

ist. Und dann<br />

stellen wir auch immer wieder<br />

Ärzte ein, letztlich<br />

<strong>die</strong> Umgehung <strong>des</strong> Praxisstopps.<br />

Das heisst, weil<br />

es eben kaum mehr Praxisbewilligungen<br />

gibt oder nur<br />

Praxisbewilligungen gibt,<br />

wenn einer ausscheidet <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s insbesondere im Spezialistenbereich,<br />

so sind wir<br />

dazu übergegangen das zu<br />

umgehen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ärzte in<br />

einzelnen Bereichen anzustellen.<br />

Das darf man so<br />

nicht laut sagen <strong>und</strong> wahrscheinlich<br />

auch nicht so<br />

laut schreiben, defacto ist<br />

es ein Umgehungstatbestand.<br />

- Ich würde nochmals ganz<br />

gerne auf den Anfang unseres<br />

Gesprächs zurückkommen.<br />

War einer Ihrer Elternteile<br />

eigentlich Arzt?<br />

Louis B. - Nein.<br />

„Von Kin<strong>des</strong>beinen an war<br />

mir klar, man sagt, ich<br />

hätte immer gesagt, dass<br />

ich später mal <strong>die</strong> Leute<br />

von oben bis unten aufschneiden<br />

möchte.“<br />

- Folglich war <strong>die</strong> Wahl ein<br />

ganz persönlicher Wunsch<br />

von Ihnen?<br />

Louis B. - Ja, das war für<br />

mich immer klar. Von Kin<strong>des</strong>beinen<br />

an war mir klar,<br />

man sagt, ich hätte immer<br />

gesagt, dass ich später mal<br />

<strong>die</strong> Leute von oben bis unten<br />

aufschneiden möchte.<br />

Vielleicht war ich als Kind<br />

schon leicht pervers. Es<br />

war für mich klar, dass ich<br />

Medizin machen möchte, Chirurgie<br />

machen möchte, ich<br />

möchte den Kitzel, <strong>des</strong>halb<br />

hat mir auch <strong>die</strong> Notfallmedizin<br />

so Spass gemacht. Das<br />

ist einfach eines der letzten<br />

grossen Abenteuer, <strong>die</strong><br />

man erfahren kann, <strong>und</strong> man<br />

kann ganz viel lernen, man<br />

359


ist immer auf einer Bühne,<br />

es kann einem keiner mehr<br />

helfen, man muss für sein<br />

Handeln hinterher einstehen,<br />

<strong>die</strong>s positiv <strong>und</strong> negativ,<br />

das sind so <strong>die</strong> Attribute,<br />

<strong>die</strong> mich immer fasziniert<br />

haben.<br />

- Darf ich fragen, welcher<br />

Arbeit Ihr Vater nachging?<br />

Louis B. - Mein Vater war<br />

Funktionär in einem Industriebetrieb.<br />

Ich komme aus<br />

einer Ärztefamilie, das<br />

liegt aber eben einige Generationen<br />

zurück. In meinem<br />

Umfeld ist keiner in<br />

der Medizin gewesen.<br />

- Sie haben gerade angesprochen,<br />

dass man für sein<br />

Handeln einstehen muss. Der<br />

rechtliche Aspekt hat an<br />

Bedeutung gewonnen <strong>und</strong> so<br />

nehmen sich <strong>die</strong> Patienten<br />

auch immer mehr das Recht<br />

heraus einen Arzt zu verklagen.<br />

Wie gehen Sie damit<br />

um?<br />

Louis B. - Meinen Sie bei<br />

uns im Unternehmen oder<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich meine persönliche<br />

Meinung?<br />

360<br />

- Ihre persönliche Meinung.<br />

Louis B. - Es ist ja das<br />

gute Recht <strong>des</strong> Patienten<br />

sein Recht einzufordern.<br />

Das ist aber Teil, das haben<br />

wir vorhin vergessen,<br />

es ist Teil <strong>des</strong> Wandels im<br />

Berufsbild <strong>des</strong> Arztes. Man<br />

hat es mit viel mehr informierten<br />

Patienten zu tun.<br />

Manchmal sind sie ja besser<br />

informiert als der Arzt<br />

selber, <strong>und</strong> man hat es dann<br />

auch mit kritischeren Zeitgenossen<br />

zu tun. Dies führt<br />

vermutlich in der Selbstwahrnehmung<br />

<strong>des</strong> Arztes zu<br />

einer gewissen Demontage.<br />

So nach dem Motto, früher<br />

existierte das klassische<br />

Bild <strong>des</strong> Gottes in Weiss<br />

<strong>und</strong> der Patient in einer<br />

abhängigen, in Anführungsstrichen<br />

schwächeren Position.<br />

Jetzt wandelt sich<br />

das, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s bereitet sicherlich<br />

bei dem einen oder<br />

anderen Mühe, das könnte<br />

ich mir noch vorstellen.<br />

Diese Transparenz ... das<br />

Verrückte ist ja für mich<br />

noch immer, dass es eine<br />

gespaltene Wahrnehmung ist;<br />

auf der einen Seite gibt es


objektive Informationen,<br />

<strong>die</strong> im Netz für jeden zugänglich<br />

sind, <strong>und</strong> auf der<br />

anderen Seite gibt es noch<br />

immer <strong>die</strong>ses faszinierende<br />

Arzt-Patienten-Verhältnis,<br />

das sehr stark davon geprägt<br />

ist, dass der Patient<br />

annimmt, der Arzt wird es<br />

schon richten. Es ist ja<br />

faszinierend, dass wenn mal<br />

was passiert, <strong>und</strong> man mit<br />

den Leuten redet <strong>und</strong> sagt:<br />

schau, erstens bist du ordentlich<br />

aufgeklärt worden,<br />

<strong>und</strong> zweitens musst du verstehen,<br />

dass <strong>die</strong> Annahme,<br />

dass der Arzt immer alles,<br />

auch mechanisch, gerade bei<br />

den Chirurgen, richtig<br />

macht, ist einfach eine<br />

irrige Annahme. Du bestellst<br />

ein Möbel <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Türe hackt, da irgendeiner<br />

einfach <strong>die</strong> Schraube ein<br />

wenig schief hineingedreht<br />

hat, das passiert in der<br />

Unfallchirurgie mit einem<br />

Bein auch. Da ist es sehr<br />

bedauerlich, aber es passiert.<br />

Wir tun alles, um<br />

<strong>die</strong>s zu verhindern <strong>und</strong> so<br />

<strong>und</strong> so <strong>und</strong> so, am Schluss<br />

ist es aber ein Mensch,<br />

insbesondere wenn es um <strong>die</strong><br />

Chirurgie also Intervention<br />

geht, dann ist es ein<br />

Mensch, der mit seinen Händen<br />

arbeitet <strong>und</strong> dort eine<br />

Arbeit verrichtet <strong>und</strong> dort<br />

passieren Fehler. Das frustriert,<br />

so glaube ich, aber<br />

einige Ärzte auch ... Wobei<br />

ich finde das gut, damit<br />

muss man sich verdammt<br />

nochmals auseinandersetzen.<br />

Aber <strong>die</strong> etwas ältere Generation<br />

hat <strong>die</strong>ses Problem<br />

einfach ausgesessen, insofern<br />

trägt <strong>die</strong>s zur Veränderung<br />

bei. Das Anspruchsdenken<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Situation,<br />

<strong>die</strong> wir im Hinblick auf<br />

Schadenersatzklagen, etc.<br />

in den USA haben, ist natürlich<br />

eine fatale Entwicklung.<br />

Sie führt am langen<br />

Ende dazu, dass es immer<br />

weniger Ärzte geben<br />

wird, <strong>die</strong> beherzt <strong>und</strong> mit<br />

einer gewissen Risikofreude<br />

ans Werk gehen, darunter<br />

leidet am Ende <strong>die</strong> Patientenversorgung.<br />

Am Schluss<br />

gibt es eine irre Kostenexplosion,<br />

von welcher wir<br />

momentan profitieren. Das<br />

muss man sich mal überle-<br />

361


gen, es ist ganz einfach.<br />

Das ist ja so lange noch<br />

nicht her, als ich noch<br />

Chirurg war <strong>und</strong> einer in<br />

<strong>die</strong> Notaufnahme kam mit<br />

Unterbauchschmerzen rechts,<br />

fragliche Blinddarmentzündung,<br />

dann hat man seine<br />

sieben Sinne spielen lassen:<br />

Hören, Riechen, Schmecken,<br />

Fühlen <strong>und</strong> so weiter<br />

<strong>und</strong> so fort. Dann hat man<br />

gesagt Bauch aufschneiden<br />

oder Bauch nicht aufschneiden.<br />

Heute wird das Ultraschallgerät<br />

bemüht, aber<br />

nein, es braucht noch ein<br />

CT <strong>und</strong> dann weiss man es<br />

klar. In 95% der Fälle hat<br />

man es früher mit ein wenig<br />

Erfahrung <strong>und</strong> auch ohne<br />

<strong>die</strong>se Technik gewusst. Insofern<br />

hat sich <strong>die</strong>s verändert.<br />

- Liegt es eher an der Erfahrung<br />

oder daran, dass<br />

<strong>die</strong> Ärzte heute einfach<br />

weniger Zeit für den Patienten<br />

haben?<br />

Louis B. - Nein, es ist<br />

einfach reflektorisch ...<br />

Heute jemandem den Bauch<br />

aufzuschneiden <strong>und</strong> zu sa-<br />

362<br />

gen, also <strong>die</strong> berühmten 5%,<br />

<strong>die</strong> es vielleicht gibt <strong>und</strong><br />

man Hören, Fühlen, alles<br />

durchführt <strong>und</strong> dann sagt,<br />

das muss der Blinddarm<br />

sein, also aufschneiden.<br />

Schneiden wir ihn nun auf<br />

<strong>und</strong> der Blinddarm ist völlig<br />

unauffällig, es war<br />

einfach nichts. Wenn einem<br />

<strong>die</strong>s heute passiert, ohne<br />

dass man vorher ein CT gemacht<br />

hat, dann ist man<br />

dran. Das ist eigentlich<br />

idiotisch, bedauerlich, da<br />

es <strong>die</strong> Kosten treibt. Wir<br />

machen heute, das wissen<br />

Sie ja selbst, Knie verdreht<br />

oder sonst etwas <strong>und</strong><br />

es tut weh, dann landen sie<br />

garantiert im MRI, es ist<br />

so.<br />

- Das DRG haben Sie in<br />

Deutschland bereits miterlebt.<br />

In der Schweiz kommt<br />

es erst noch auf uns zu.<br />

Gewisse Stimmen sagen vielleicht<br />

doch nicht. Inwiefern<br />

blicken Sie <strong>die</strong>ser<br />

Einführung entgegen <strong>und</strong><br />

inwiefern wird es Euch<br />

überhaupt betreffen?<br />

Louis B. - Ich persönlich


efürworte <strong>die</strong> DRG, <strong>die</strong>s<br />

ist wahrscheinlich eine<br />

überraschende Botschaft,<br />

aber ... Es gibt zwei klare<br />

Vorteile, der eine ist,<br />

dass man mit einmal eingeführten<br />

DRG nicht nur ein<br />

Vergütungssystem, sondern<br />

auch ein Klassifikationssystem<br />

hat. Ich kann endlich<br />

mal ... man kann Aufschluss<br />

darüber geben, was<br />

man überhaupt macht, also,<br />

wie viele Patienten mit der<br />

<strong>und</strong> der Diagnose <strong>und</strong> der<br />

<strong>und</strong> der Nebendiagnose kommen<br />

<strong>und</strong> mit dem <strong>und</strong> dem<br />

operativen Verfahren behandelt<br />

wurden, das so zu machen<br />

war bislang nicht möglich.<br />

Dies gestattet dann<br />

auch Betriebsvergleiche,<br />

<strong>die</strong> gestatten dann auch<br />

Wirtschaftlichkeitsvergleiche,<br />

<strong>und</strong> nur dann kann ich<br />

der Forderung <strong>des</strong> KVG, den<br />

Spitallistenentscheiden,<br />

dem Aufbau, um <strong>die</strong> Wirtschaftlichkeit<br />

zu vergleichen<br />

etc. nachkommen. Ich<br />

habe auf der einen Seite<br />

<strong>die</strong>ses Klassifikationssystem<br />

<strong>und</strong> auf der anderen<br />

Seite habe ich ein Vergü-<br />

tungssystem, von dem ich<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich glaube ...<br />

,da rede ich ein bisschen<br />

gegen <strong>die</strong> eigene Industrie<br />

<strong>und</strong> zum Teil auch gegen <strong>die</strong><br />

eigenen Interessen, aber es<br />

ist meine persönliche <strong>und</strong><br />

f<strong>und</strong>amentale Überzeugung,<br />

dass das an sich der richtige<br />

Weg ist, da <strong>die</strong> Einzelleistungsvergütungeinfach<br />

einen Anreiz setzt,<br />

der volkswirtschaftlich<br />

kontraproduktiv ist. Ich<br />

zahle ja auch Steuern, ich<br />

zahle auch Krankenversicherung,<br />

<strong>und</strong> wenn man es ganz<br />

generell mal von <strong>die</strong>sem<br />

Blickwinkel anschaut, dann<br />

ist <strong>die</strong> Pauschalvergütung<br />

sicherlich der richtige<br />

Weg. Es ist <strong>die</strong> Frage, wie<br />

man es auslegt <strong>und</strong> wie man<br />

<strong>die</strong> Nachteile, <strong>die</strong> ein solches<br />

System hat, mit<br />

Bloody-Exit <strong>und</strong> so weiter<br />

<strong>und</strong> so fort abfängt, <strong>und</strong><br />

dass man nicht einfach alle<br />

<strong>die</strong>se Dienstleistungen in<br />

den nachgelagerten poststationären<br />

Bereich verschiebt<br />

<strong>und</strong> sich als Spital <strong>die</strong><br />

Hände wäscht <strong>und</strong> sagt, ich<br />

schmeisse <strong>die</strong> alle nach<br />

363


zwei Tagen raus, <strong>und</strong> dann<br />

soll doch einfach mal der<br />

Hausarzt schauen oder was<br />

auch immer. Das sind Dinge,<br />

<strong>die</strong> könnte man oder kann<br />

man regeln. Aber gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

bin ich der Meinung,<br />

ist <strong>die</strong>s an sich eine gute<br />

Sache, es führt zu einer<br />

Qualitätsverbesserung, das<br />

ist bewiesen, zumin<strong>des</strong>t im<br />

stationären Bereich <strong>und</strong> wir<br />

fühlen uns auch relativ gut<br />

gerüstet. Ich habe für das<br />

Unternehmen keine Sorgen,<br />

dass <strong>die</strong> DRG uns jetzt<br />

wirtschaftlich Schwierigkeiten<br />

bereiten werden, da<br />

wir einfach schon effizienter<br />

<strong>und</strong> schneller als <strong>die</strong><br />

öffentlichen Spitäler sind.<br />

- Der eine Kritikpunkte,<br />

den ich immer wieder höre,<br />

ist, dass es durch <strong>die</strong> DRG<br />

höchstwahrscheinlich zu<br />

einer Mengenausweitung kommen<br />

wird <strong>und</strong> der andere ...<br />

Louis B. - Ja, der andere<br />

ist schon mit hoher Wahrscheinlichkeit,<br />

also wenn<br />

man Ärzte fragt, dann ist<br />

es <strong>die</strong> Dokumentationspflicht<br />

natürlich, <strong>die</strong> wei-<br />

364<br />

tere Verbürokratisierung,<br />

<strong>die</strong> Ko<strong>die</strong>rung <strong>und</strong> der ganze<br />

Kram. Viele bringen auch<br />

das Thema der inadäquaten<br />

Vergütung, dass es dann<br />

nicht <strong>die</strong> eine Pauschale<br />

gibt, sie müssen sich dann<br />

über ihr ärztliches Honorar<br />

mit uns auseinandersetzen<br />

<strong>und</strong> können nicht mehr direkt<br />

fakturieren. Der dritte<br />

Punkt ist, dass es eben<br />

zu einer Verschiebung der<br />

Sektoren kommen wird, dass<br />

<strong>die</strong> Spitäler natürlich angehalten<br />

sind, <strong>die</strong> Patienten<br />

so schnell wie möglich<br />

loszuwerden, <strong>und</strong> dass dann<br />

der nachgelagerte ambulante<br />

Sektor das auffangen muss.<br />

- Und ein weiterer Punkt<br />

war, dass <strong>die</strong> schwerkranken<br />

Patienten in öffentliche<br />

Spitäler verlagert werden,<br />

da sie für private Häuser<br />

nicht rentieren <strong>und</strong> einfach<br />

zu teuer sind.<br />

Louis B. - Das ist klar,<br />

das ist aber ein Irrglaube,<br />

das stimmt nämlich gar<br />

nicht. Die Spitäler, <strong>die</strong><br />

den höchsten Case-Mix-Index<br />

haben, also <strong>die</strong> höchste


Komplexität oder Fallschwere,<br />

aber gut organisiert<br />

sind, <strong>die</strong> ver<strong>die</strong>nen am<br />

meisten Geld. Tendenziell<br />

müsste man sich eher darauf<br />

fokussieren, komplexe <strong>und</strong><br />

schwierige Sachen zu machen<br />

als sich mit Gallenblasen<br />

<strong>und</strong> Leistenbrüchen aufzuhalten.<br />

- Haben Sie das Gefühl,<br />

dass<br />

wird?<br />

das DRG eingeführt<br />

Louis B. - Ja, klar. Es<br />

wird nicht am 01.01.2012<br />

eingeführt, das ist so meine<br />

Prognose, oder es wird<br />

eingeführt <strong>und</strong> man sagt:<br />

gut, da gibt es nun eine<br />

Konvergenzübergangsphase.<br />

Es kann nicht am 01.01.2012<br />

scharfgeschaltet eingeführt<br />

werden, das wird nicht<br />

funktionieren. Aber es wird<br />

eingeführt,<br />

sicher.<br />

das denke ich<br />

- Wenn wir <strong>die</strong> Unterschiede<br />

Privatklinik <strong>und</strong> öffentliches<br />

Spital betrachten,<br />

dann existiert da eine Zusammenarbeit<br />

zwischen Euch<br />

<strong>und</strong> den Universitätsspitä-<br />

lern oder anderen öffentlichen<br />

Spitälern oder seid<br />

Ihr da doch relativ autonom?<br />

Louis B. - Wir bieten Zusammenarbeit<br />

an wie Sauerbier.<br />

In der Regel wird das<br />

aber ausgeschlagen, insbesondere<br />

hier in der Region<br />

ist es ganz schwierig. Die<br />

Vorbehalte gegenüber der<br />

privaten Spitalindustrie<br />

sind f<strong>und</strong>amental <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

ändern sich erst, wenn ein<br />

Arzt <strong>die</strong> Seite wechselt. Es<br />

gibt immer wieder welche,<br />

ich habe gerade neulich mit<br />

einem gesprochen, der sicher<br />

ein Überzeugungsopfer<br />

ist <strong>und</strong> fünf<strong>und</strong>zwanzig Jahre<br />

am Unispital war, der<br />

muss uns wie <strong>die</strong> Pest gehasst<br />

haben. Erst als wir<br />

oft <strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlang mit ihm<br />

gesprochen haben <strong>und</strong> gesagt<br />

haben, da wollen wir hin,<br />

das wäre dein Teil, so<br />

funktionieren wir, so sieht<br />

das hinter den Kulissen<br />

aus. Dann hat er gesagt,<br />

wenn ich das vor fünf<strong>und</strong>zwanzig<br />

Jahren gewusst hätte,<br />

wäre ich schon früher<br />

gekommen, ich habe immer<br />

365


gedacht, dass ihr einfach<br />

<strong>die</strong> Rosinenpicker <strong>und</strong> Geldschneider<br />

seid. Ich glaube<br />

von daher ist es extrem<br />

schwierig; in manchen Kantonen<br />

funktioniert es ein<br />

bisschen besser, aber im<br />

grossen Stil gibt es keine<br />

Zusammenarbeit. Das finde<br />

ich extrem schade, <strong>und</strong> es<br />

ist auch volkswirtschaftlich<br />

<strong>und</strong> ökonomisch völlig<br />

unklug, da <strong>die</strong> Kantone ihre<br />

öffentliche Infrastruktur<br />

jetzt mit unseren Steuergeldern<br />

aufrüsten, das kostet<br />

<strong>die</strong> Schweiz h<strong>und</strong>erte<br />

von Millionen bis zu einigen<br />

Milliarden für <strong>die</strong><br />

nächsten Jahre. Im Kanton<br />

Luzern allein werden achth<strong>und</strong>ert<br />

Millionen in <strong>die</strong><br />

Infrastruktur der Spitäler<br />

<strong>des</strong> Kantons Luzern investiert.<br />

Das muss man sich<br />

mal vorstellen, <strong>und</strong> nebenan<br />

gibt es ein Privatspital,<br />

das bestens in Stand gehalten<br />

ist, modernstens ausgestattet<br />

<strong>und</strong> mit welchem man<br />

nicht redet. Es bilden sich<br />

Spitalverbünde von öffentlichen<br />

Spitälern. Es gibt<br />

bislang noch keinen Spital-<br />

366<br />

verb<strong>und</strong> aus einem öffentlichen<br />

<strong>und</strong> einem privaten<br />

Spital. Man muss <strong>die</strong>s noch<br />

etwas weiterspinnen, es<br />

gibt bislang noch kein öffentliches<br />

Spital, das von<br />

Privaten gemanagt oder betrieben<br />

wird. Das was in<br />

Deutschland <strong>die</strong> Privatisierungswelle<br />

in Anführungsstrichen<br />

mit Röhn, Asklepios<br />

<strong>und</strong> Helios <strong>und</strong> Co. gemacht<br />

hat, sehe ich für <strong>die</strong><br />

Schweiz eigentlich auch als<br />

sinnvolles Modell, aber es<br />

passiert einfach im Moment<br />

nicht.<br />

- Was sind Ihrer Meinung<br />

nach <strong>die</strong> Gründe, weshalb es<br />

nicht passiert? Ist in gewissen<br />

Köpfen der Ärzte <strong>die</strong><br />

Verankerung <strong>des</strong> Gedankens<br />

den öffentlichen Häusern<br />

treu zu bleiben noch immer<br />

sehr gross <strong>und</strong> stark?<br />

Louis B. - Nein, ich glaube,<br />

dass ... Da hätten <strong>die</strong><br />

Ärzte wahrscheinlich schon<br />

etwas mitzureden, aber das<br />

ist ja ... da müsste ja der<br />

Betreiber der Kantone, <strong>die</strong><br />

Gemeinde oder <strong>die</strong> Kommune<br />

oder was auch immer es sei,


machen, <strong>die</strong> sind einfach<br />

ignorant auf der einen Seite,<br />

<strong>und</strong> auf der anderen<br />

Seite sind sie auch inkompetent<br />

zu sehen, dass ein<br />

Spital einfach ein Unternehmen<br />

ist, das nach branchenspezifischenGesichtspunkten<br />

geführt werden<br />

muss. Es ist keine Kollektivschelte.<br />

Es gibt viele<br />

öffentliche Spitäler, <strong>die</strong><br />

es gut machen <strong>und</strong> es gibt<br />

immer noch viele, <strong>die</strong>, wenn<br />

man hinter <strong>die</strong> Kulissen<br />

schaut, dann kann man <strong>die</strong><br />

Hände nur über dem Kopf<br />

zusammenschlagen, es ist<br />

unglaublich, unfassbar, wie<br />

unprofessionell <strong>die</strong> gemanagt<br />

sind. Ja, wir sind<br />

drauf <strong>und</strong> dran, wir versuchen<br />

es überall <strong>und</strong> immer<br />

wieder, aber <strong>die</strong> Zeit ist<br />

vielleicht einfach wirklich<br />

noch nicht reif, <strong>die</strong><br />

Schweiz ist da noch zu konservativ.<br />

- Welche Aufteilung zwischen<br />

allgemeinversicherten<br />

Patienten <strong>und</strong> Privatpatienten<br />

existiert in Euren Privatkliniken?<br />

Louis B. - Über <strong>die</strong> Gruppe<br />

gesprochen, so ist r<strong>und</strong> 30%<br />

unseres Patientengutes<br />

gr<strong>und</strong>versichert, allgemeinversichert,<br />

r<strong>und</strong> 38% sind<br />

privatversichert <strong>und</strong> der<br />

Rest ist dann halbprivatversichert.<br />

Der Gr<strong>und</strong>versichertenanteil<br />

variiert von<br />

Kanton zu Kanton erheblich,<br />

im Kanton Bern sind 60%<br />

aller in unseren Privatspitälern<br />

behandelten Patienten<br />

gr<strong>und</strong>versichert, im<br />

Kanton Zürich sind es 3%,<br />

das liegt dann in den<br />

rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> den jeweiligen Spitallisten.<br />

Das Vorurteil,<br />

unsere Kliniken adressieren<br />

nur den Privatpatienten,<br />

ist willkürlich, jeder<br />

strapaziert es <strong>und</strong> es<br />

stimmt einfach nicht. In<br />

Bern sind wir ... Das eine<br />

Spital dort ist eine kleine<br />

Bude, aber <strong>die</strong> haben 95%<br />

gr<strong>und</strong>versicherte Patienten,<br />

auch <strong>die</strong> beiden anderen<br />

Spitäler dort, <strong>die</strong> haben<br />

60% gr<strong>und</strong>versicherte Patienten.<br />

Wir sind dort ein<br />

öffentliches Spital in privater<br />

Hand mit einem ver-<br />

367


gleichsweise noch immer<br />

hohen Privatpatientenanteil.<br />

Das kann man ja einem<br />

nicht zum Vorwurf machen,<br />

dass man es besser macht<br />

als <strong>die</strong> Öffentlichen, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Privaten dann kommen.<br />

- Haben Sie das Gefühl,<br />

dass der Arzt mehr ein Unternehmer<br />

sein muss, als<br />

<strong>die</strong>s früher der Falle war?<br />

Louis B. - Das glaube ich<br />

schon. Ich weiss nur nicht,<br />

ob Unternehmer der richtige<br />

Begriff ist. Aber er muss<br />

zumin<strong>des</strong>t eine viel höhere<br />

Affinität für <strong>die</strong> Administration,<br />

für finanzielle<br />

Zusammenhänge oder wirtschaftliche<br />

Zusammenhänge<br />

haben, als <strong>die</strong>s in der Vergangenheit<br />

der Fall war,<br />

das glaube ich schon.<br />

- Im Gr<strong>und</strong>e widerspricht<br />

<strong>die</strong>s aber dem ärztlichen<br />

Naturell, <strong>und</strong> so kommen<br />

auch Aussagen wie "... das<br />

entspricht nicht meinem<br />

Kerngeschäft, das habe ich<br />

nicht gelernt." auf.<br />

Louis B. - Nein, es wird ja<br />

auch nicht gelehrt. Wenn<br />

368<br />

sie das Abitur machen, dann<br />

gehen sie an <strong>die</strong> Universität,<br />

sei <strong>die</strong>s nun in der<br />

Schweiz oder in Deutschland<br />

oder sonst wo, sie haben<br />

keinen Schimmer, aber wirklich<br />

keinen Schimmer.<br />

- Das werden sie aber inskünftig<br />

verändern müssen.<br />

Louis B. - Dringend, das<br />

glaube ich auch.<br />

„Ges<strong>und</strong>heitspolitisch ist<br />

<strong>die</strong> Schweiz eine Bananenrepublik,<br />

das ist grauenvoll,<br />

was sich da abspielt, ist<br />

mehr als erschütternd.“<br />

- Welche Tendenzen sehen<br />

Sie im Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswesen.<br />

Sie kennen ja<br />

auch das deutsche Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />

welches ich<br />

nicht so gut kenne. Welches<br />

sind Ihrer Meinung nach <strong>die</strong><br />

Hauptunterschiede <strong>und</strong> in<br />

welche Richtungen bewegen<br />

wir uns, wenn Sie beide<br />

Systeme nun vergleichen?<br />

Louis B. - Also erstens hat


<strong>die</strong> Schweiz ein völlig partikularisiertes<br />

System; 26<br />

Kantone mit 26 Ges<strong>und</strong>heitsministern<br />

<strong>und</strong> eigenen Spitalgesetzgebungen,<br />

mit eigenen<br />

Tarifen, etc. das ist<br />

unglaublich. Ges<strong>und</strong>heitspolitisch<br />

ist <strong>die</strong> Schweiz<br />

eine Bananenrepublik, das<br />

ist grauenvoll, was sich da<br />

abspielt, ist mehr als erschütternd.<br />

Die Entwicklung,<br />

<strong>die</strong> sich da vollzieht,<br />

ist dramatisch, <strong>und</strong><br />

sie vollzieht sich weitgehend<br />

unbemerkt der Öffentlichkeit.<br />

Obwohl das KVG in<br />

seiner revi<strong>die</strong>rten Fassung<br />

ganz anders sein sollte <strong>und</strong><br />

wollte, nämlich mehr Wettbewerb,<br />

mehr Marktwirtschaft,<br />

wir bewegen uns<br />

aber heute frontal auf <strong>die</strong><br />

Kantons- oder Staatsmedizin<br />

zu. Kantone sind über das<br />

Konkordat zur hochspezialisierten<br />

Medizin, den Preisstopp<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Spitalplanung<br />

an der Schaltstelle, indem<br />

sie regulieren, wer überhaupt<br />

noch machen darf <strong>und</strong><br />

wenn das definiert ist, was<br />

er noch machen darf <strong>und</strong> das<br />

sowohl im stationären wie<br />

auch im ambulanten Bereich.<br />

Sie werden <strong>die</strong> Chance nutzen<br />

der privaten Spitalindustrie<br />

im Zusammenhang mit<br />

der Spitalplanung <strong>und</strong> der<br />

Spitalfinanzierung an <strong>die</strong><br />

Wäsche zu gehen. Ich werde<br />

nicht müde jeden, der es<br />

hören will oder nicht hören<br />

will, zu sensibilisieren<br />

<strong>und</strong> zu fragen, habt ihr<br />

wirklich das Gefühl, dass<br />

ein kantonal dominiertes,<br />

reguliertes <strong>und</strong> betriebenes<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen à la<br />

longue unter wirtschaftlichen<br />

Gesichtspunkten aber<br />

auch Qualitätsgesichtspunkten<br />

funktionieren wird,<br />

dass das wirklich wünschenswert<br />

ist, dass man<br />

nicht mehr <strong>die</strong> Wahl hat,<br />

dass es keinen Wettbewerb<br />

mehr gibt, dass man sich<br />

nicht mehr mit seinem Konkurrenten<br />

challengen kann,<br />

sondern dass es ein staatliches<br />

System wird, ist das<br />

wirklich <strong>die</strong> Idee. Das kann<br />

es nicht sein, da bin ich<br />

der festen Überzeugung. Und<br />

in Deutschland ist <strong>die</strong> Entwicklung<br />

geprägt von, wie<br />

in vielen Ländern aber in<br />

369


Deutschland wahrscheinlich<br />

insbesondere, einem absehbaren<br />

Bankrott der Sozialversicherungssysteme,<br />

<strong>die</strong><br />

halten einfach nicht, <strong>die</strong><br />

kollabieren irgendwann, das<br />

ist bei der Rentenversicherung<br />

so, das ist bei der<br />

Pflegeversicherung so, das<br />

ist bei der Krankenversicherung<br />

so. Die Zahlen dazu<br />

gibt es seit vielen Jahren<br />

<strong>und</strong> man verschliesst <strong>die</strong><br />

Augen. Es ist nicht mehr<br />

finanzierbar für Deutschland,<br />

da das, was dort an<br />

sozialen Sicherungssystemen<br />

solidarisch finanziert<br />

wird, einfach zu viel ist<br />

meiner Meinung nach, <strong>und</strong><br />

<strong>des</strong>halb stehen <strong>die</strong>ses Systeme<br />

mittelfristig bis<br />

langfristig vor dem Kollaps.<br />

Man macht einfach<br />

Notstandsverwaltung, symptomatische<br />

Therapie würde<br />

man als Arzt sagen. Klar,<br />

ansonsten sind <strong>die</strong> Systeme<br />

insofern vergleichbar, als<br />

es eine Pflichtgr<strong>und</strong>versicherung<br />

<strong>und</strong> eine Zusatzversicherung<br />

gibt. In Deutschland<br />

gibt es noch <strong>die</strong> vollprivate<br />

Versicherung, sie<br />

370<br />

ist eine Besonderheit, ich<br />

sehe <strong>die</strong>se aber langfristig<br />

eher untergehend als bestehen<br />

bleibend. Im Bereich<br />

der stationären Medizin<br />

sind sie mit der Privatisierung<br />

<strong>und</strong> Verprofessionalisierung<br />

der Schweiz sicherlich<br />

meilenweit voraus.<br />

„Es gibt in der Geschichte<br />

viel mehr Beispiele für<br />

Staatsversagen<br />

Marktversagen.“<br />

als für<br />

- Welchen Ratschlag könnten<br />

Sie einem kantonalen Ges<strong>und</strong>heitsdirektor<br />

geben,<br />

wenn er Sie fragen würde,<br />

was Sie am Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

der Schweiz verbessern würden?<br />

Sie haben bereits ein<br />

paar Punkte erwähnt.<br />

Louis B. - Wegfall <strong>des</strong> Kontrahierungszwangs,<br />

den<br />

Markt spielen lassen, in<br />

jedem Fall <strong>die</strong> öffentlichen<br />

Spitäler entpolitisieren<br />

<strong>und</strong> wirklich privatisieren.<br />

Sie sagen ja immer, dass<br />

sie privatisieren würden,


am Ende hocken sie dann im<br />

Aufsichtsrat oder im Verwaltungsrat.Entpolitisieren,<br />

Rückzug <strong>des</strong> Kantons<br />

auf <strong>die</strong> Rolle <strong>des</strong> Regulators,<br />

aber im Sinne der<br />

Schaffung von Rahmenbedingungen<br />

für einen regulierten<br />

Wettbewerb, aber nicht<br />

selber aktiv spielen. Und<br />

zweitens <strong>die</strong> Rahmenbedingungen<br />

so setzen, dass der<br />

Kanton seiner Subsidiärpflicht<br />

noch nachkommen<br />

kann; wenn es irgendwo<br />

wirklich Unterversorgung<br />

oder sonst was gibt, dann<br />

soll er sich engagieren,<br />

ansonsten soll er doch den<br />

Markt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kräfte <strong>des</strong><br />

Marktes spielen lassen. Es<br />

gibt in der Geschichte viel<br />

mehr Beispiele für Staatsversagen<br />

als für Marktversagen.<br />

Dies ist für mich<br />

f<strong>und</strong>amental <strong>und</strong> gar keine<br />

Frage. Das Gleiche gilt<br />

auch auf der Versicherungsebene,<br />

das unsinnige Gerede<br />

einer Einheitskasse ... Es<br />

sollte eine Konzentration<br />

der Kassen geben, <strong>die</strong>s geschieht<br />

aber in einem Markt<br />

von alleine. Aber es muss<br />

eine gewisse Vielfalt von<br />

Anbietern von Krankenversicherungen<br />

oder Krankenkassen<br />

geben <strong>und</strong> <strong>die</strong>s auch in<br />

der Zukunft. Ansonsten sollen<br />

<strong>die</strong> Vorgaben, <strong>die</strong> das<br />

KVG setzt, auch tatsächlich<br />

so gelebt <strong>und</strong> alle sollten<br />

gleich behandelt werden.<br />

- Weshalb wird <strong>die</strong>s Ihrer<br />

Meinung nach nicht so umgesetzt?<br />

Louis B. - Aus Eigeninteresse.<br />

Also <strong>die</strong> Schergen in<br />

den Ges<strong>und</strong>heitsdirektionen<br />

sind <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> weiter<br />

administrieren wollen. Das<br />

sieht man immer wieder. Ob<br />

da nun ein neuer Ges<strong>und</strong>heitsdirektor<br />

kommt oder<br />

nicht, <strong>die</strong> nachgeordnete<br />

Mannschaft, <strong>die</strong> da zum Teil<br />

über Jahrzehnte ihre Spitäler<br />

verwaltet <strong>und</strong> versucht<br />

den Markt zu kontrollieren,<br />

<strong>die</strong> haben kein Interesse an<br />

einem freien Markt. Es<br />

braucht auch den ganzen<br />

Apparat nicht. Es braucht<br />

einen Kanton oder einen<br />

Staat, der strukturschwachen<br />

Regionen schaut, der<br />

im Gottesnamen dafür sorgt,<br />

371


dass <strong>die</strong> Qualität adäquat<br />

gemessen wird <strong>und</strong> so weiter<br />

<strong>und</strong> so fort. Der Markt wird<br />

es richten, davon sind wir<br />

weit entfernt.<br />

- Welchen Vorteil sehen Sie<br />

in Ihrer Person, da Sie ja,<br />

wie ich zu Beginn <strong>des</strong> Gespräches<br />

bereits angetönt<br />

habe, beide Herzen, dasjenige<br />

<strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> dasjenige<br />

<strong>des</strong> Ökonomen, in sich<br />

tragen? Wenn ich <strong>die</strong> anderen<br />

Direktoren Ihrer Kliniken<br />

betrachte, dann stammen<br />

<strong>die</strong>se meistens aus dem Controlling<br />

oder anderen ökonomischen<br />

Sparten, was sind<br />

Ihre persönlichen Vorteile<br />

im Gegensatz zu Ihren anderen<br />

Klinikdirektoren.<br />

Louis B. - Sagen wir es mal<br />

so, ich könnte mir nicht<br />

vorstellen den Job ohne<br />

medizinischen Hintergr<strong>und</strong><br />

zu machen, obwohl <strong>die</strong>s ja<br />

eigentlich <strong>die</strong> Regel ist,<br />

<strong>die</strong> meisten haben ja keinen<br />

medizinischen Hintergr<strong>und</strong>,<br />

insofern funktioniert es<br />

scheinbar ja auch. Ich für<br />

mich persönlich, sehe den<br />

grossen Vorteil darin, dass<br />

372<br />

man in den Gesprächen mit<br />

Ärzten ernst genommen wird.<br />

Ernster genommen wird, als<br />

wenn man keinen medizinischen<br />

<strong>und</strong> speziell keinen<br />

ärztlichen Hintergr<strong>und</strong> hat,<br />

da hat es ja immer <strong>die</strong>se<br />

Stan<strong>des</strong>dünkel, <strong>die</strong> in dem<br />

Job helfen. Das zweite ist,<br />

dass es einem in den Gesprächen<br />

mit den Leuten an<br />

der Front, also der Pflege,<br />

hilft, wenn man über Organisation,<br />

Strukturen <strong>und</strong><br />

Prozesse spricht, wenn man<br />

weiss, wie ein Spital funktioniert.<br />

Und es ist eben<br />

wirklich eine Welt für<br />

sich, das kann man lernen,<br />

aber man kann es wahrscheinlich<br />

nur lernen, wenn<br />

man drin ist oder drin war<br />

<strong>und</strong> weiss, was das bedeutet,<br />

wie das irgendwie alles<br />

ineinander geht, das<br />

ist unglaublich komplex.<br />

Und dass man nicht einfach<br />

<strong>die</strong> Story vom wilden Pferd<br />

erzählt bekommt; da man<br />

dann einfach sagen kann: du<br />

schau, das stimmt jetzt<br />

einfach nicht, was du<br />

sagst. Ich persönlich finde<br />

<strong>die</strong>s ideal <strong>und</strong> würde es


unter allen Umständen befürworten,<br />

dass sich mehr<br />

Ärzte im Management von<br />

Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen<br />

tummeln.<br />

- Geht aber <strong>die</strong> Tendenz<br />

nicht eher dahin, dass es<br />

immer mehr Ökonomen an der<br />

Spitze von Spitälern gibt?<br />

Louis B. - Ja, das ist natürlich<br />

so. Das hat ja auch<br />

sein Gutes. Aber ich glaube<br />

nicht an <strong>die</strong>se Erfolgskompetenz.<br />

Was soll ein Ökonom<br />

mit der Heiligen Dreifaltigkeit<br />

machen, <strong>die</strong> da<br />

sitzt mit der Pflegedirektorin,<br />

dem Chefarzt <strong>und</strong><br />

dann hat er noch einen Verwaltungsleiter.Er<br />

kann weder<br />

der Pflegedirektorin<br />

noch dem Chefarzt in irgendeiner<br />

Art ... er kann<br />

nur sagen, das ist <strong>die</strong> Vorgabe,<br />

streng ökonomisch <strong>und</strong><br />

betriebswirtschaftlich argumentieren<br />

<strong>und</strong> das funktioniert<br />

in dem Business nur<br />

bedingt.<br />

- Vielleicht kann er <strong>die</strong>s<br />

mit einer langen Berufserfahrung<br />

wieder etwas wegma-<br />

chen. (…)<br />

Louis B. - Das ist keine<br />

Frage, das ist keine Frage,<br />

dass <strong>die</strong>s geht.<br />

„Das ist bei jeder anderen<br />

Versicherung auch, da ist<br />

<strong>die</strong> normale Kaskoversicherung<br />

für dein Fahrzeug,<br />

wenn du halt irgendwo dagegen<br />

donnerst, dann musst du<br />

es eben selber zahlen, wenn<br />

du aber <strong>die</strong> Vollversorgung<br />

haben <strong>und</strong> immer in <strong>die</strong> Markenwerkstatt<br />

gehen möchtest,<br />

dann musst du es zusätzlich<br />

versichern.“<br />

- (…) Die Angst ist gross,<br />

dass wenn der öffentliche<br />

Spitalbereich privatisiert<br />

wird, <strong>die</strong> allgemeinversicherten<br />

Patienten <strong>die</strong> Opfer<br />

darstellen werden. (…) Welche<br />

Tendenzen lassen sich<br />

Ihrer Meinung nach für den<br />

öffentlichen Sektor erkennen?<br />

Louis B. - Für mich ist das<br />

völlig klar. Die Entwicklung<br />

in unserer Alters-<br />

373


struktur, der Pharmakologie<br />

<strong>und</strong> der Technik wird fortschreiten.<br />

Aus <strong>die</strong>sem Gr<strong>und</strong><br />

wird <strong>die</strong> Kostenexplosion im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen nicht aufzuhalten<br />

sein <strong>und</strong> eine Entwicklung<br />

darstellen, <strong>die</strong><br />

sich eher verstärken <strong>und</strong><br />

verschärfen wird. Gleichzeitig<br />

werden wir nur noch<br />

bedingt in der Lage sein,<br />

bestimmte Dinge solidarisch<br />

wirklich zu 100% zu finanzieren.<br />

Eine Gesellschaft<br />

muss sich fragen, wie viel<br />

an medizinischen Dienstleistungen<br />

möchte <strong>und</strong> kann<br />

ich solidarisch finanzieren,<br />

sprich <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versicherung.<br />

Abhängig davon<br />

muss man den Leistungskatalog,<br />

der damit abgedeckt<br />

ist, definieren <strong>und</strong> man<br />

muss auch sagen, das <strong>und</strong><br />

jenes Geld gebe ich aus,<br />

damit ich mir das auch<br />

leisten kann. Man wird aber<br />

nicht mehr alles in <strong>die</strong>sem<br />

Leistungskatalog drin haben<br />

können. Absehbar. Das wird<br />

nicht mehr funktionieren.<br />

Nehmen Sie <strong>die</strong> ganzen<br />

Krebsmedikamente, von denen<br />

wir jetzt nur ahnen können,<br />

374<br />

was da auf uns zukommt, das<br />

wird exponentiell <strong>die</strong> Kosten<br />

nach oben treiben. Wir<br />

werden in zwanzig Jahren<br />

Krebs heilen, wirklich heilen,<br />

das machen wir ja heute<br />

schon, aber viel flächendeckender<br />

als <strong>die</strong>s früher<br />

war, vielleicht auch<br />

erst in dreissig Jahren.<br />

Das kostet Unsummen. (Die<br />

Sekretärin von Louis B.<br />

betritt das Büro, hinterlegt<br />

Unterlagen auf dem<br />

Schreibtisch von Louis B.<br />

<strong>und</strong> nickt fre<strong>und</strong>lich mit<br />

dem Kopf.) Die Lösung ist,<br />

dass man den Gr<strong>und</strong>leistungskatalog<br />

beschränken<br />

muss <strong>und</strong> sagen muss, schau<br />

... Das ist bei jeder anderen<br />

Versicherung auch, da<br />

ist <strong>die</strong> normale Kaskoversicherung<br />

für dein Fahrzeug,<br />

wenn du halt irgendwo dagegen<br />

donnerst, dann musst du<br />

es eben selber zahlen, wenn<br />

du aber <strong>die</strong> Vollversorgung<br />

haben <strong>und</strong> immer in <strong>die</strong> Markenwerkstatt<br />

gehen möchtest,<br />

dann musst du es zusätzlich<br />

versichern. Das<br />

ist das einzige Konzept,<br />

das irgendwann langfristig


finanziell <strong>und</strong> volkswirtschaftlich<br />

verheben wird.<br />

Es ist moralisch <strong>und</strong><br />

ethisch hochproblematisch,<br />

da es eben um Rationierungsdiskussionen<br />

geht <strong>und</strong><br />

um <strong>die</strong> Diskussion bezüglich<br />

dem Zugang zur Versorgung.<br />

Man wird nicht ad libitum<br />

jedem mit fünf<strong>und</strong>neunzig<br />

Jahren noch, keine Ahnung,<br />

den Bypass operieren können.<br />

Das lässt sich nicht<br />

finanzieren, unabhängig vom<br />

staatlichen System oder vom<br />

marktwirtschaftlich orientierten<br />

System. Alles was<br />

man da diskutiert, ist wiederum<br />

symptomatisch kausal,<br />

es muss <strong>die</strong> Diskussion geführt<br />

werden, wie viel will<br />

ich für was ausgeben, <strong>und</strong><br />

da muss ein abgestimmtes<br />

Modell her nach finanziellen<br />

Leistungsfähigkeiten,<br />

aber der gr<strong>und</strong>versicherte<br />

95-Jährige kriegt zukünftig,<br />

in dreissig Jahren<br />

keinen Bypass mehr. Weil es<br />

keiner zahlen kann.<br />

- Der Privatversicherte<br />

aber schon.<br />

Louis B. - Ja. Das ist so.<br />

Aber es ist auch sonst so.<br />

Es gibt reihenweise Leute,<br />

<strong>die</strong> müssen das Butterbrot<br />

essen <strong>und</strong> gehen zu McDonalds,<br />

<strong>und</strong> es gibt eine<br />

Gruppe, <strong>die</strong> geht jeden<br />

zweiten Tag zu, ich weiss<br />

nicht wem, „Petermann am<br />

See“ (gehobenes Restaurant<br />

in Küsnacht, am rechten<br />

Ufer <strong>des</strong> Zürichsees, mit<br />

dem Namen „Petermanns<br />

Kunststuben“) essen. Das<br />

ist das Leben. Weshalb soll<br />

<strong>die</strong>s in der Ges<strong>und</strong>heit anders<br />

sein, das verstehe ich<br />

nicht. Das ist eine harte<br />

Position, aber es ist einfach<br />

so. Das ist ja das<br />

Problem in Deutschland. In<br />

allen anderen Lebensbereichen<br />

akzeptiert man, dass<br />

es abhängig von der wirtschaftlichen<br />

Fähigkeit <strong>und</strong><br />

Leistungsfähigkeit eben<br />

unterschiedliche Standards<br />

gibt, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s muss es in<br />

der Medizin auch geben,<br />

wenn man es ökonomisch betrachtet,<br />

alles andere ist<br />

unlogisch. Oder <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

sagt, es ist kein<br />

Problem, ich gebe dreissig<br />

Prozent von meinem Brutto-<br />

375


inlandprodukt für <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

aus, dann ist es<br />

ok. Deshalb sage ich, dass<br />

es ein gesellschaftspolitischer<br />

Dialog ist, der geführt<br />

werden muss, <strong>und</strong> wenn<br />

man sagt: ja, man beschneidet<br />

alles andere <strong>und</strong> wir<br />

machen das, wir gönnen uns<br />

das, dann ist es ok, <strong>und</strong><br />

dann muss man sich auch<br />

nicht beklagen. Aber man<br />

kann nicht auf der einen<br />

Seite Vollversorgung haben<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> auf der anderen<br />

Seite umsonst kriegen, das<br />

ist naiv. Das ist das Bismarck’sche<br />

Modell, das gewesen<br />

war, es hat aber nun<br />

doch ein bisschen überlebt.<br />

- Wir sind eigentlich am<br />

Ende beziehungsweise <strong>die</strong><br />

Zeit ist bereits fast abgelaufen,<br />

eine Thematik möchte<br />

ich dennoch kurz anschneiden.<br />

Das Einkommen,<br />

das als eines der häufigsten<br />

Abwanderungsgründe genannt<br />

wird, variiert von<br />

Spital zu Spital <strong>und</strong> ist<br />

nicht wirklich einfach eruierbar.<br />

Hätten Sie dazu<br />

eine Statistik, <strong>die</strong> mir<br />

einen Überblick über <strong>die</strong><br />

376<br />

Gehaltsklassen im Privatspitalbereich<br />

geben könnte?<br />

Louis B. - Nein, haben wir<br />

nicht. Tendenziell ist es<br />

wahrscheinlich so, ich würde<br />

nun mal behaupten, dass<br />

sie im Durchschnitt <strong>und</strong><br />

über alle Ärzte hinweg tendenziell<br />

finanziell besser<br />

gestellt sind. Ich sage<br />

aber wirklich tendenziell.<br />

Ich sage nicht marginal<br />

aber tendenziell besser<br />

gestellt. Ich kann Ihnen<br />

aber nicht sagen, ob <strong>die</strong>s<br />

nun 10 Prozent oder zwölf<br />

Prozent sind oder was auch<br />

immer. Es ist aber sicherlich<br />

nicht so, dass der<br />

Durchschnitt der Ärzte bei<br />

uns das zwei- oder dreifache<br />

von dem kriegen/bekommen,<br />

was er am<br />

öffentlichen Spital ver<strong>die</strong>nt.<br />

Das stimmt einfach<br />

nicht. Man sieht dann natürlich<br />

den Radiologen in<br />

der Privatklinik, der wahrscheinlich<br />

deutlich mehr<br />

als eine Million ver<strong>die</strong>nt;<br />

aber wenn man den Radiologiechef<br />

in einem anderen<br />

erfolgreichen, in einer<br />

anderen erfolgreichen Radi-


ologieabteilung im öffentlichen<br />

Spital betrachtet,<br />

dann ver<strong>die</strong>nen <strong>die</strong> ähnlich.<br />

Also es gibt ... Ich glaube<br />

es ist ... Das ist so, wenn<br />

wir Ärzte rekrutieren <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> anstellen, dann orientieren<br />

wir uns an den ...<br />

annähernd an der Gehaltsstruktur<br />

<strong>des</strong> öffentlichen<br />

Spitals. Was wir für sie<br />

natürlich machen ist, dass<br />

wir seine Einheit als Kostenstelle<br />

führen <strong>und</strong> ihm<br />

sagen: „Schau Fre<strong>und</strong>, wenn<br />

du deine Ziel erreichst <strong>und</strong><br />

wenn unten was übrig<br />

bleibt, dann lassen wir<br />

dich am Gewinn, den du in<br />

deiner Kostenstelle erwirtschaftest,<br />

partizipieren.“<br />

Wir versuchen ihn ...<br />

- Nicht am gesamten Unternehmenserfolg<br />

wird er partizipieren<br />

können, sondern<br />

am Erfolg seines Instituts.<br />

Dies variiert ja wahrscheinlich<br />

auch von Spezialität<br />

zu Spezialität oder?<br />

Louis B. - Ja, ja, klar.<br />

Ja, logisch.<br />

- Dann möchte ich mich noch<br />

ganz herzlich bei Ihnen<br />

bedanken.<br />

Louis B. - Ja gerne. Wie<br />

viele <strong>die</strong>ser Interviews<br />

müssen Sie noch machen?<br />

- Sie waren mein vorerst<br />

letzter Interviewpartner.<br />

Louis B. - Ah, cool.<br />

377


378


5 Entzauberung<br />

Ansonsten bin ich ein Spezialist,<br />

der seine Produktpalette auf dem Markt anbietet.<br />

Mein Challenge ist,<br />

meine Produkte den Leuten schmackhaft zu machen,<br />

damit sie mir Patienten zuweisen.<br />

Walter I., Arzt eines Privatspitals <strong>und</strong><br />

ehemaliger Chefarzt eines Schweizer Kantonsspitals<br />

Die oben präsentierten Porträts der drei Ärzte <strong>und</strong> <strong>des</strong> CEOs einer Privatklinikgruppe<br />

– eine Stichprobe der insgesamt 22 durchgeführten <strong>und</strong> den folgenden<br />

Analysen zugr<strong>und</strong>e liegenden Interviews – haben einen ersten Eindruck<br />

<strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> <strong>und</strong> zweier ihrer zentralen Akteure, dem Kaderarzt <strong>und</strong> dem CEO,<br />

der in unserem Falle in einer Person sowohl Arzt als auch Ökonom verkörpert,<br />

verliehen. 59 Im Zentrum <strong>die</strong>ser vier exemplarischen Porträts von Zeitzeugen<br />

stand <strong>die</strong> Erörterung der subjektiven Sinnzusammenhänge aus den biographischen<br />

Zeugnissen <strong>und</strong> Interviewsituationen. Anhand der biographischen Flugbahn<br />

eines Stayers, eines Rückkehrers, eines Leavers <strong>und</strong> eines CEOs einer<br />

Privatklinikgruppe galt es, einerseits <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong>s-, Vermarktungs<strong>und</strong><br />

Managerialisierungsprozesse, den Prozess der zunehmenden Bürokratisierung<br />

<strong>und</strong> der damit einhergehenden Verwaltungsherrschaft sowie weitere<br />

soziologisch relevante Phänomene zu verdeutlichen. Mithilfe <strong>des</strong> verstehenden<br />

pluriperspektiven Ansatzes <strong>und</strong> <strong>des</strong> Vergleichs <strong>die</strong>ser Porträts mit der Gesamtheit<br />

der Interviews wurden zahlreiche kognitive <strong>und</strong> moralische Dissonanzen<br />

auf exemplarische Weise sichtbar. Einige der bereits im Rahmen der Porträts<br />

erläuterten soziologischen Theoreme werden in <strong>die</strong>sem Kapitel erneut veranschaulicht.<br />

In den aus dem empirischen Material <strong>und</strong> der transversalen Analyse<br />

hervorgegangenen Kategorien, wie <strong>die</strong> sozialen Strukturen innerhalb der Orga-<br />

59 Wie anhand <strong>die</strong>ser Porträts <strong>und</strong> ihrer Darstellung ersichtlich wurde, wird aus Gründen der Einfachheit bei den<br />

Interviewrahmungen auf <strong>die</strong> Nennung der akademischen Titel <strong>die</strong>ser Kaderärzte verzichtet, was im folgenden Kapitel<br />

auch dementsprechend weitergeführt wird. Die Titel können aber der Tabelle 12 unter Kapitel 3.2.2 entnommen<br />

werden.<br />

379


nisation oder unterschiedliche Perspektiven der Arbeitswelten, werden theore-<br />

tische Interpretationen mehrfach aufgegriffen, wodurch es auch zu Red<strong>und</strong>an-<br />

zen kommen kann. Die soziologische Objektivierung <strong>des</strong> empirischen Materials<br />

mittels verschiedener theoretischer Ansätze <strong>und</strong> konzeptueller Werkzeuge soll<br />

ermöglichen, <strong>die</strong> aus jeweils subjektiven Perspektiven <strong>und</strong> Erfahrungen heraus<br />

geschilderten <strong>und</strong> gedeuteten Transformationsprozesse im Feld <strong>und</strong> deren<br />

Konsequenzen für <strong>die</strong> Betroffenen nachvollziehbar zu machen. Dieses Kapitel<br />

stellt das Resultat der transversalen Lektüre durch <strong>die</strong> 22 geführten Interviews,<br />

der Co<strong>die</strong>rung <strong>und</strong> anschliessenden objektivierten Verdichtung dar. Im Sinne<br />

der soziologischen Ethnographie wurden Kaderärzte, Experten mit einer über<br />

zwanzigjährigen Erfahrung im medizinischen Berufsalltag, zu ihrem beruflichen<br />

Selbstverständnis, zum strukturellen Wandel in ihrem beruflichen Sektor<br />

<strong>und</strong> zu den Transformationsprozessen innerhalb <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Krankenhauswesens<br />

befragt. Wobei sich der Forschungsschwerpunkt aus der Vermarktung<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens durch den Eintritt privatwirtschaftlich organisierter<br />

Versorgungsinstitutionen, der zunehmenden Konkurrenzbeziehung<br />

zwischen öffentlich bzw. öffentlich subventionierten <strong>und</strong> privaten Spitälern<br />

<strong>und</strong> insbesondere der Auswirkungen der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Krankenhauswesens<br />

auf den Berufsethos <strong>des</strong> Arztes zusammensetzte. Die Kategorien <strong>und</strong><br />

Subkategorien gingen aus den gewonnenen empirischen Daten hervor <strong>und</strong><br />

erfuhren eine Verdichtung durch <strong>die</strong> unterschiedlichen Wahrnehmungen,<br />

Sichtweisen <strong>und</strong> Deutungen der Stayer, Leaver <strong>und</strong> Rückkehrer.<br />

Visuell kann das Spannungsverhältnis, in welchem sich das Feld befindet, mit<br />

drei Achsen beschrieben werden. Die horizontale Gerade (x-Achse) steht für <strong>die</strong><br />

objektiven Strukturveränderungen, also für <strong>die</strong> Entmonopolisierung, <strong>die</strong> Vermarktung,<br />

<strong>die</strong> Kommodifizierung. Die vertikale Gerade (y-Achse) beschreibt<br />

<strong>die</strong> subjektiven Strukturveränderungen, also den kollektiv geteilten <strong>und</strong> inkorporierten<br />

Habitus, den beruflichen Ethos <strong>und</strong> <strong>die</strong> ethisch-moralischen Dispositionen<br />

<strong>und</strong> mit den damit einhergehenden Dissonanzen, während <strong>die</strong> diagonale<br />

Gerade (z-Achse) <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> aufzeigt, <strong>die</strong> sich durch den öffentlichen<br />

Dienst <strong>und</strong> dementsprechend auch durch <strong>die</strong> innere Struktur <strong>des</strong> Krankenhauses<br />

zieht, <strong>und</strong> <strong>die</strong> sozio-strukturellen Veränderungen (Dreibein- bzw.<br />

duale Führungsstruktur versus CEO-Modell) beschreibt, <strong>die</strong> in einer Bürokratisierung<br />

<strong>und</strong> Managerialisierung <strong>des</strong> beruflichen Lebensalltags der Leistungserbringer<br />

resultieren. Die Krankenhäuser blicken in Bezug auf <strong>die</strong> Historie ihrer<br />

380


Trägerschaft auf zwei bedeutende Träger. Einerseits <strong>die</strong> Kirche, ihre Orden <strong>und</strong><br />

andere karitative Organisationen <strong>und</strong> andererseits, bedingt durch <strong>die</strong> Säkulari-<br />

sierung, den Staat. Der moderne Staat scheint als Garant für das Feld <strong>des</strong> öffent-<br />

lichen Dienstes <strong>und</strong> der öffentlichen Güter dafür Sorge zu tragen, dass sowohl<br />

das Feld als auch das produzierte Gut, in der vorliegenden Arbeit das Gut Ge-<br />

s<strong>und</strong>heit, einer nicht ökonomischen Logik unterliegt <strong>und</strong> keinen marktwirt-<br />

schaftlichen Regeln untersteht, sondern dass <strong>die</strong> von den sozialen Akteuren<br />

erbrachte Tätigkeit im Interesse <strong>und</strong> im Dienste der Allgemeinheit erbracht<br />

wird.<br />

Die nachfolgenden Erläuterungen zur Rolle der Kirche, <strong>des</strong> Staates <strong>und</strong> privater<br />

Anbieter hinsichtlich der Herstellung symbolischer Güter <strong>und</strong> zur Verkennung<br />

<strong>des</strong> Ökonomischen im Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens werden sich an das Manuskript<br />

„Im Dienste öffentlicher Güter: eine feldtheoretische Annäherung“ von<br />

Franz Schultheis (2012) anlehnen. „Historisch entsteht <strong>die</strong> Ordnung <strong>des</strong><br />

,öffentlichen Interesses‘, der ,öffentlichen Angelegenheiten‘, durch <strong>die</strong> Bildung<br />

eines Fel<strong>des</strong>, in dem das Handeln im Interesse der Allgemeinheit, im Dienste<br />

der Öffentlichkeit, möglich sein <strong>und</strong> gefördert, erkannt, anerkannt <strong>und</strong> belohnt<br />

werden soll.“ (Bour<strong>die</strong>u, 2011a, S. 221) Die Kirche gilt geschichtlich als erster<br />

Garant <strong>die</strong>ser antiökonomischen Logik. Die Logik der Heilsgüter, <strong>die</strong> in ihrer<br />

Definition so unterschiedlich wie <strong>die</strong> Weltreligionen sind <strong>und</strong> sowohl <strong>die</strong>sseitige<br />

(Ges<strong>und</strong>heit, Vermögen, langes Leben) als auch jenseitige (Erlösung, Wiedergeburt,<br />

Inkarnation) Verheissungen darstellen, steht kennzeichnend für <strong>die</strong><br />

Institution Kirche. Im Laufe der Säkularisierung wurden <strong>die</strong> Heilsgüter zum<br />

Gemeinwohl, <strong>des</strong>sen Herstellung antiökonomischen <strong>und</strong> universalistischen<br />

Ansprüchen gerecht werden musste. Demzufolge trat der Staat mit der Ethik<br />

der Brüderlichkeit <strong>und</strong> der uneigennützigen Herstellung eines öffentlichen<br />

Gutes gewissermassen das Erbe der Kirche an. Die Ethik unterscheidet sich im<br />

Krankenhauswesen aber von dem in Familien geltenden Wert der Brüderlichkeit<br />

<strong>und</strong> dem im religiösen Feld sich an religiösen Schriften <strong>und</strong> Glaubenssätzen<br />

orientierten Verständnis der Brüderlichkeit massgeblich. Hierzu Bour<strong>die</strong>u:<br />

„Diesem bürokratischen Feld ist es allerdings niemals gelungen, seine Akteure<br />

zu einem ebenso rückhaltlos aufopfernden Handeln zu bewegen wie es <strong>die</strong><br />

Familie (oder selbst <strong>die</strong> Kirche) vermag, <strong>und</strong> der Dienst an den staatlichen Interessen<br />

steht immer in Konkurrenz zur Be<strong>die</strong>nung der persönlichen oder familialen<br />

Interessen. Das öffentliche Recht muss daran erinnern, dass ,Behörden<br />

381


keine Geschenke machen dürfen‘. Und tatsächlich ist behördliches Handeln, da;<br />

individualisiert einer Privatperson zugute kommt, verdächtig wenn nicht illegal.“<br />

(ebd.) Dies lässt <strong>die</strong> Schlussfolgerung zu, dass <strong>die</strong> rückhaltlose Selbstlosigkeit<br />

eines Arztes sich massgeblich von derjenigen unterscheidet, <strong>die</strong> in einer<br />

Familie durch ihre Mitglieder oder seitens der Kirche durch ihre Ordensmänner<br />

<strong>und</strong> -frauen sowie Gläubigen erzeugt wird. Es bedarf folglich innerhalb <strong>des</strong><br />

säkularisierten öffentlichen Dienstes immer der Ermahnung ihrer Mitglieder an<br />

ihre berufsständische Ethik. Gemein ist der Religion <strong>und</strong> dem öffentlichen<br />

Dienst, <strong>des</strong>sen Sicherung dem Staat obliegt, das Dienen für eine höhere Sache.<br />

Der Staat hat als Instanz <strong>die</strong> Anerkennung <strong>und</strong> Sicherung antiökonomischer<br />

<strong>und</strong> im Dienst der Öffentlichkeit hergestellter öffentlicher Güter sowie <strong>die</strong><br />

ständische Entlohnung der sozialen Akteure zu gewährleisten. Durch <strong>die</strong> dem<br />

Staat zugestandene Sicherung <strong>und</strong> Aufrechterhaltung <strong>des</strong> Gemeinwohls entstand<br />

ein staatliches Quasi-Monopol, das Weber als staatliches Monopol auf<br />

legitime Gewaltausübung (Weber, 1921/1972, S. 29) <strong>und</strong> Bour<strong>die</strong>u als Monopol<br />

symbolischer Gewalt erachtet. Der Staat hat <strong>die</strong> Macht über Zugehörigkeit oder<br />

Ausschluss, über Rechte <strong>und</strong> Pflichten, Qualifikationen <strong>und</strong> Zugangsberechtigungen<br />

<strong>und</strong> demzufolge über Anerkennung oder Diskreditierung zu entscheiden.<br />

Den Ärzten als soziale Akteure, <strong>die</strong> dem Gemeinwohl <strong>die</strong>nen, kommen<br />

nebst ihrem ständischen Habitus <strong>und</strong> ihrer Pflicht, im Dienste der Öffentlichkeit<br />

zu handeln, auch Statusprivilegien zu. Den Akteuren <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Dienstes kommen gemäss Weber ein spezifisches „Amtscharisma“ <strong>und</strong> demzufolge<br />

auch <strong>die</strong> Amtspflicht der Sicherung <strong>des</strong> Gemeinwohls zu, ausschliesslich<br />

<strong>die</strong>ser Pflicht <strong>und</strong> keiner anderen höheren Macht sollen sie zu <strong>die</strong>nen haben.<br />

Wie bereits erläutert steht <strong>die</strong> Ethik der Brüderlichkeit, <strong>die</strong> sich in den Institutionen<br />

Kirche <strong>und</strong> Familie von unterschiedlichen Beziehungen bzw. Systeme<br />

(Familienbeziehung/Glaubenssätze) nährt, im bürokratischen Feld immer in<br />

Konkurrenz zur Be<strong>die</strong>nung der persönlichen <strong>und</strong> familiären Interessen. Der<br />

ständische Ethos <strong>des</strong> sozialen Akteurs <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes, <strong>des</strong>sen Unabhängigkeit<br />

vom Markt- <strong>und</strong> Wirtschaftsgeschehen dadurch gewährleistet wird,<br />

dass er ausschliesslich der höheren Sache, dem Gemeinwohl, <strong>und</strong> nicht der<br />

Profitorientierung oder anderen profanen materiellen bzw. finanziellen Interessen<br />

verpflichtet ist, wird durch <strong>die</strong> öffentliche Anerkennung seiner Tätigkeit,<br />

seines stan<strong>des</strong>gemässen Gehalts <strong>und</strong> weiterer Privilegien, <strong>die</strong> über das Rentenalter<br />

hinaus gelten, gesichert (Schultheis, 2012, S. 3). Gemäss Weber orientiert<br />

sich <strong>die</strong> Höhe <strong>des</strong> Gehalts eines legitimen Herrschers, von jenem aber der cha-<br />

382


ismatische Herrscher divergiert, am hierarchischen Rang, der Verantwortlich-<br />

keit der Stellung <strong>und</strong> am Prinzip der „Stan<strong>des</strong>gemässheit“ (Weber, 1921/1972,<br />

S. 127). Obwohl dem Arzt ein „Amtscharisma“ zugeschrieben wird, ähnelt<br />

seine Lohnstruktur der eines legitimen Herrschers, was aus der bürokratischen<br />

Verwaltungsstruktur eines öffentlichen Spitals herrührt. Schultheis verdeutlicht<br />

<strong>die</strong> Entstehung eines ständischen Ethos im Dienst für eine höhere Sache folgen-<br />

dermassen: „Aus dem Umstand, dass man keinen Partikular- <strong>und</strong> Profitinteres-<br />

sen ,<strong>die</strong>nt‘, sondern dem Gemeinwohl, erwächst ein spezifischer ständischer<br />

Ethos der hier involvierten Akteure, ein „Amtscharisma“, basierend auf der<br />

Würde, einer ,höheren‘ Sache zu <strong>die</strong>nen als den profanen materialistischen<br />

Interessen <strong>des</strong> Marktes.“ (Schultheis, 2012, S. 3) In den folgenden Abschnitten<br />

wird verdeutlicht, inwiefern ein ständisches Ethos durch <strong>die</strong> Entblössung der<br />

Spielregeln <strong>und</strong> der „Illusio“ eines Fel<strong>des</strong> einer kontinuierlichen Demontage<br />

ausgesetzt wird. Die Dualstruktur, <strong>die</strong> sowohl in Bezug auf das öffentliche Gut<br />

Ges<strong>und</strong>heit als auch auf den sozialen Akteur mit einer Verkennung <strong>des</strong> Öko-<br />

nomischen einhergeht, resultiert in einer institutionalisierten <strong>und</strong> inkorporier-<br />

ten kollektiven Heuchelei. Die Verneinung <strong>des</strong> Ökonomischen ist, wie das reine<br />

<strong>und</strong> uneigennützige Dienen im Interesse der Öffentlichkeit, Bestandteil <strong>des</strong><br />

„Amtscharismas“ der sozialen Akteure.<br />

Mit dem Eintritt privater Anbieter in den Krankenhaussektor fand eine Primär-<br />

vermarktlichung statt, <strong>die</strong> dazu führte, dass eine der wesentlichen Versor-<br />

gungsinstitutionen <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes potenziell marktwirtschaftlichen<br />

Regeln, Prozessen <strong>und</strong> Strukturen unterworfen wurde, sich private Anbieter<br />

neben <strong>die</strong> bis dahin rein öffentlichen stellten <strong>und</strong> ein regelrechter Sirenenruf<br />

innerhalb der Ärzteschaft ausgelöst wurde. Dieser Paradigmenwechsel, der alte<br />

Werthierarchien infrage stellt, der das Bildnis <strong>des</strong> sicheren Hafens in der Gestalt<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses ins Wanken bringt <strong>und</strong> seitens der Akteure zu<br />

Verunsicherung <strong>und</strong> Desorientierung führt, wurde mit der Privatisierung öffentlicher<br />

Krankenhäuser eingeläutet <strong>und</strong> zielte auf einen verstärkten Wettbewerb<br />

unter den institutionellen Marktteilnehmern ab, der gleichzeitig in einem<br />

Wettbewerb zwischen den sozialen Akteuren (v.a. in Privatspitälern anzutreffen)<br />

resultierte. Die Idee, <strong>die</strong> sich hinter all dem verbarg, war <strong>die</strong> einer Qualitätserhöhung<br />

durch gesteigerte Konkurrenz <strong>und</strong> dadurch auch durch das Ringen<br />

um knappe finanzielle Mittel. Die privaten Krankenhäuser richten ihr Angebot<br />

bewusst auf K<strong>und</strong>en mit den nötigen finanziellen Ressourcen aus <strong>und</strong><br />

383


fühlen sich, wie ein Unternehmen der Privatwirtschaft, Marktgesetzen wie<br />

Effizienzoptimierung, Gewinnmaximierung, Wettbewerb, Konkurrenz oder<br />

leistungsorientierten Besoldungsstrukturen <strong>und</strong> dem Unternehmertum an sich<br />

verpflichtet. Dieser erweiterte Möglichkeitsrahmen hat zur Spaltung der Ärzte-<br />

schaft in zwei Lager, Stayer <strong>und</strong> Leaver, <strong>und</strong> zu einer Entzauberung <strong>des</strong> beruf-<br />

lichen Selbstverständnisses, <strong>des</strong> kollektiv geteilten Selbst- <strong>und</strong> Rollenverständ-<br />

nisses <strong>und</strong> den bis dahin einigermassen ausgeglichenen stan<strong>des</strong>gemässen Privi-<br />

legien geführt. Dies hat zur Folge, dass sich der erfahrene Kaderarzt mit seinen<br />

inkorporierten Dispositionen, seinem Glauben an <strong>die</strong> „totale soziale Rolle“ <strong>des</strong><br />

Arztes <strong>und</strong> den damit einhergehenden ethischen Verbindlichkeiten, denen er<br />

sich im Dienste der Allgemeinheit <strong>und</strong> im Dienste einer staatlichen Organisati-<br />

on verschrieben hat, sich höchstkritischen <strong>und</strong> seinem eigentlichen Berufsethos<br />

diametral entgegengesetzten Transformationsprozessen ausgesetzt sieht. Was<br />

es bedeutet, aus einem – nach seinem Selbstverständnis – antiökonomisch ori-<br />

entierten Bereich <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes, <strong>des</strong>sen Produkt ein globales öffent-<br />

liches Gut darstellt, ein sich an Marktgesetzen orientieren<strong>des</strong> System formieren<br />

zu wollen, zeigt folgende Interviewaussage von Joachim A., Chefarzt eines<br />

Kantonsspitals: „Letztlich, <strong>und</strong> nun wird es schon bald politisch,<br />

ist es ein riesiger Irrtum, dass man <strong>die</strong> Kosten im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen durch den Markt regulieren kann. Dies ist<br />

vielleicht der Kernpunkt von allem. Es ist ein grosser Irrglaube,<br />

dass man das Ges<strong>und</strong>heitswesen durch den Markt regulieren<br />

kann. Die Ges<strong>und</strong>heit ist keine Ware, <strong>die</strong> man produziert.“<br />

Die Kommodifizierung – das zur Ware werden – <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Gutes Ges<strong>und</strong>heit bezweifelt ein Grossteilt der befragten Ärztegeneration, da<br />

<strong>die</strong> Meinung herrscht, dass der Zugang zu Versorgungsinstitutionen durch <strong>die</strong><br />

OKP für jedermann gesichert ist <strong>und</strong> <strong>die</strong> Zwei- bzw. Dreiklassen-Medizin, <strong>die</strong><br />

in Grossbritannien bereits der Realität entspricht, <strong>die</strong> aber dem qualitativ hochstehenden<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen der Schweiz anscheinend noch lange nicht blüht,<br />

da <strong>die</strong> finanziellen Ressourcen, entgegen der von Ökonomen propagierten<br />

Kostenexplosion, noch lange währen. Hierzu Xavier R., Arzt eines Privatspitals<br />

<strong>und</strong> ehemaliger Kaderarzt eines Stadtspitals: „Aber, Geld hat es im<br />

Ges<strong>und</strong>heitsbereich <strong>und</strong> in der Medizin absolut genügend. So,<br />

dass ich mir gar keine Sorgen mache, auch nicht um <strong>die</strong> Frage,<br />

ob es zu teuer ist <strong>und</strong> so weiter. Das ist für mich<br />

überhaupt keine dominante Problematik. Die USA leben offensichtlich<br />

auch mit 17 Prozent Ausgaben im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

384


vom Bruttonationalprodukt, <strong>und</strong> wir haben 11 Prozent stagnierend<br />

jetzt in den letzten Jahren.“ Hingegen scheint der Marktcharakter<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens in den Köpfen der befragten Kaderärzte<br />

wesentlich stärker verankert. Sein Kollege Emil E., Co-Chefarzt eines Kantonsspitals,<br />

verdeutlicht in seiner Aussage <strong>die</strong> Vermarktlichung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

durch den Eintritt privater Krankenhäuser: „Die kaufen einfach<br />

den Markt. In bestimmten Bereichen kauft sich <strong>die</strong> berühmteste<br />

Schweizer Privatklinikgruppe einfach den Markt.<br />

Sie haben nun beispielsweise aus einem Stadtspital eine<br />

gute Gruppe von Spezialisten abgeworben. Die Privatklinik<br />

hat ihre Beziehungen, <strong>und</strong> dann kauft sie <strong>die</strong>se Gruppe einfach.<br />

Sie kauft einfach den Markt. (…) Aus ihrer Sicht sind<br />

sie schon <strong>die</strong> Besten. Sie haben einen guten Zuweiserstamm.<br />

Ob sie nun akademisch oder innerhalb der Profession <strong>die</strong><br />

Besten sind oder von der wissenschaftlichen Reputation her,<br />

das ist etwas anders. (…) Es ist einfach der Aufkauf <strong>des</strong><br />

Marktes, <strong>und</strong> sie bezahlen keine Lernkurve. Es ist im Prinzip<br />

wie eine Fussballmannschaft, <strong>die</strong> Kapital hat. Bayern<br />

München, <strong>die</strong> gute Talente spottet <strong>und</strong> dann kauft, selber<br />

aber keine aufbaut. (…) Sie kaufen einfach den Markt, das<br />

ist ein Geschäftsmodell.“ Emil E. ist ein Kenner betriebs- <strong>und</strong> volkswirtschaftlicher<br />

Theoreme <strong>und</strong> Modelle, da er nach seiner Assistenzzeit eine<br />

Auszeit nahm <strong>und</strong> ein MBA-Programm absolvierte. Seine berufliche Laufbahn<br />

wird inskünftig kein Einzelfall mehr darstellen, was <strong>die</strong> Interviewpartner auch<br />

vermehrt bestätigt haben <strong>und</strong> anhand <strong>des</strong> Bildungs- <strong>und</strong> Weiterbildungsangebots<br />

seitens der Schweizer Universitäten in Bezug auf <strong>die</strong> Vermittlung betriebswirtschaftlichen<br />

Wissens für Fachfremde <strong>und</strong> dabei insbesondere für<br />

Mediziner ersichtlich ist. Dies stellt ein weiteres Indiz für <strong>die</strong> voranschreitende<br />

Managerialisierung der Health Professionals dar.<br />

Der Prozess der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong> Entzauberung hat zur Profanierung <strong>des</strong><br />

bislang antiökonomischen Wertespektrums der Medizin <strong>und</strong> der bisherig existierenden<br />

Annahme <strong>des</strong> nicht handelbaren <strong>und</strong> unverkäuflichen öffentlichen<br />

Gutes Ges<strong>und</strong>heit geführt. Wie bereits anhand <strong>des</strong> Forschungsstan<strong>des</strong> ersichtlich<br />

wurde, beruht, bezogen auf <strong>die</strong> objektiven Strukturen, das zentrale Forschungsinteresse<br />

auf der voranschreitenden <strong>Ökonomisierung</strong> innerhalb eines<br />

wesentlichen Teilbereichs <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes, nämlich <strong>des</strong> medizinischen<br />

stationären Versorgungsbereichs <strong>und</strong> dabei insbesondere auf der Institution <strong>des</strong><br />

öffentlichen Krankenhauses <strong>und</strong> der ihr zukommenden Pflicht der Gewährleis-<br />

385


tung eines egalitären Zugangs zu Versorgungsleistungen für alle. Bezogen auf<br />

<strong>die</strong> subjektiven Strukturen steht <strong>die</strong> Frage nach der sich durch <strong>die</strong> Ökonomisie-<br />

rung <strong>des</strong> Krankenhauswesens <strong>und</strong> ihrer Privatisierung ergebenden Konse-<br />

quenzen für das berufsständische <strong>und</strong> bislang unvergleichliche ärztliche Ethos.<br />

Die <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> öffentlichen Dienstes hat zu beträchtlichen Struktur-<br />

veränderungen sowohl auf der Makro- <strong>und</strong> Mesoebene als auch auf der Mikro-<br />

ebene geführt. Die Veränderungen der materiellen Gegebenheiten der Instituti-<br />

on Krankenhaus in Bezug auf das Krankenhausmanagement <strong>und</strong> dabei insbe-<br />

sondere auf Führungsstruktur, Hierarchie, Finanzierungsformen, Arbeitszeitre-<br />

gelungen, Gehaltsstrukturen haben zu neuen Formen der Professionalisierung,<br />

Spezialisierung <strong>und</strong> Managerialisierung geführt. Demzufolge konnte eine zu-<br />

nehmende Auswirkung der strukturellen Veränderungen auf den Arbeitsalltag<br />

<strong>des</strong> Krankenhauspersonals verzeichnet werden, <strong>die</strong> zu einer merklichen De-<br />

montage <strong>des</strong> ärztlichen Stan<strong>des</strong> <strong>und</strong> seines Status, <strong>des</strong> „Halbgott in Weiss“ im<br />

selbstlosen Dienste der Allgemeinheit, beigetragen haben. Der Arzt als erwie-<br />

sener Experte seines Berufsfel<strong>des</strong> wird als Direktbetroffener <strong>und</strong> Zeitzeuge der<br />

Transformation seines beruflichen Alltags zu einem essentiellen ethnographi-<br />

schen Informanten, der wesentlich zum Verständnis der Transformations- <strong>und</strong><br />

Entzauberungsprozesse beiträgt. Die strukturellen <strong>und</strong> damit einhergehenden<br />

institutionellen Veränderungen wirken sich unweigerlich auf den Habitus 60<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Ensemble an Denk-, Handlungs- <strong>und</strong> Wahrnehmungen ihrer Ak-<br />

teure, auf ihr berufsethisches Selbstverständnis <strong>und</strong> ihrem Berufsstand entspre-<br />

chenden „Amtscharisma“ aus. Den Arzt umgibt ein von aussen zugeschriebe-<br />

nes Charisma, das ihm als Amtsträger <strong>und</strong> Berufener im Besonderen durch<br />

seinen Dienst für das Gemeinwohl aller, <strong>die</strong> Uneigennützigkeit seines Handelns<br />

<strong>und</strong> der unvergleichlich starken Vertrauensbeziehung zwischen dem Arzt <strong>und</strong><br />

seinem Patienten zukommt. Die Zuschreibung <strong>des</strong> „Amtscharismas“ durch<br />

staatliche Instanzen, durch Amtsträger <strong>und</strong> im Falle der Ärzteschaft durch <strong>die</strong><br />

Patienten trägt zur Legitimierung seines Charismas bei. Wie bereits im Kapitel<br />

2.2 zur Feldtheorie Bour<strong>die</strong>us erläutert wurde, ging das „Amtscharisma“, das<br />

dem Arztberuf zugeschrieben wird, auch mit dem konstanten Verkennen der<br />

ökonomischen Dimension seiner Tätigkeit <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>des</strong> öffentlichen Gutes Ge-<br />

s<strong>und</strong>heit einher. Weber prägte <strong>die</strong> Definition <strong>des</strong> „Amtscharismas“ exempla-<br />

60 Der Habitus steht als Ensemble auch für <strong>die</strong> Grenzen <strong>des</strong> Fühlbaren <strong>und</strong> Machbaren.<br />

386


isch: „Über <strong>die</strong> Geltung <strong>des</strong> Charisma entscheidet <strong>die</strong> durch Bewährung (…)<br />

gesicherte freie (…) Anerkennung durch <strong>die</strong> Beherrschten. Aber <strong>die</strong>s ist (…)<br />

nicht der Legitimitätsgr<strong>und</strong>, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung <strong>und</strong> Be-<br />

währung zur Anerkennung <strong>die</strong>ser Qualität Aufgerufenen. Diese ,Anerkennung‘<br />

ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not <strong>und</strong> Hoffnung geborene<br />

gläubige ganz persönliche Hingabe.“ (Weber, 1921/2006, S. 243) Die Interviews<br />

haben den Missmut der Ärzteschaft gegenüber der institutionellen Verwal-<br />

tungsherrschaft <strong>und</strong> der damit einhergehenden Bürokratisierung der internen<br />

Prozesse <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses offenbart, denen sich, wie <strong>die</strong> Inter-<br />

views mit Leavern gezeigt haben, auch <strong>die</strong> Privatkliniken nicht entziehen kön-<br />

nen. Dieser Widerstand geht unter anderem mit der charismatischen Herrschaft<br />

einher: „Die charismatische Herrschaft ist, als das Ausseralltägliche, sowohl der<br />

rationalen, insbesondere der bürokratischen, als der traditionalen, insbesondre<br />

der patriarchalen <strong>und</strong> patrimonialen oder ständischen, schroff entgegengesetzt.<br />

(…) Die bürokratische Herrschaft ist spezifisch rational im Sinn der Bindung an<br />

diskursiv analysierbare Regeln, <strong>die</strong> charismatische spezifisch irrational im Sinn<br />

der Regelfremdheit.“ (Weber, 1921/2006, S. 245) Otto K., Chefarzt der Inneren<br />

Medizin eines Kantonsspitals, fasste seinen Unmut gegenüber der Bürokratisie-<br />

rung seiner alltäglichen Arbeit folgendermassen zusammen: „Was sicherlich<br />

negativ ist, ist <strong>die</strong> Überadministration, dass alles<br />

schriftlich erledigt werden muss. Das ,Scheiss-<br />

Krankenkassenzeugs‘ geht nun wohl gar nicht mehr. Es kommen<br />

viele Papiere zu uns, <strong>die</strong> nicht dem Patienten <strong>und</strong> niemand<br />

ausser dem ,Kassenschangli‘ <strong>die</strong>nen, welcher dann seinen<br />

Buchstaben X notieren kann. Wenn sechs Therapien verordnet<br />

wurden, kommen dennoch bei jeder einzelnen Therapie wieder<br />

<strong>die</strong> gleichen Fragen. Man muss es ausfüllen, ansonsten bezahlen<br />

sie nichts. Sehr viel administrativer Leerlauf wird<br />

verursacht, der aber nicht von uns stammt, der kommt von<br />

aussen.“ Das geringe Verständnis der Ärzteschaft für bürokratische Abläufe<br />

rührt auch daher, dass der Umgang mit <strong>die</strong>sen Prozessen <strong>und</strong> finanziellen<br />

Kennzahlen kein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung der Ärzteschaft der<br />

befragten Generation darstellte, was gewisse Ärzte bemängelt haben, andere<br />

zur Weiterbildung animiert hat <strong>und</strong> bei dritten eine deutliche Ablehnungshaltung<br />

<strong>und</strong> Berufung auf ihre medizinischen Fachkompetenzen hervorgerufen<br />

hat. Auch hierzu nochmals Weber: „Reines Charisma ist spezifisch wirtschaftsfremd.<br />

Es konstituiert, wo es auftritt, einen ,Beruf‘ im emphatischen Sinn <strong>des</strong><br />

387


Worts: als ,Sendung‘ oder innere ,Aufgabe‘. Es verschmäht <strong>und</strong> verwirft, im<br />

reinen Typus, <strong>die</strong> ökonomische Verwertung der Gnadengabe als Einkommensquelle<br />

− was freilich oft mehr Anforderung als Tatsache bleibt.“ (Weber,<br />

1921/2006, S. 245 f.) Besitz <strong>und</strong> Erwerb wird gemäss Weber demzufolge nicht<br />

prinzipiell verschmäht, das traditionale <strong>und</strong> rationale der Alltagswirtschaft<br />

jedoch schon. Die charismatische Herrschaft in ihrer ursprünglichen Form ist<br />

streng an <strong>die</strong> Person <strong>und</strong> ihre Eigenschaften <strong>und</strong> der damit einhergehenden<br />

Bewährung der beiden geknüpft. Besteht jedoch seitens der Anhängerschaft das<br />

Bedürfnis eines andauernden Fortbestands <strong>die</strong>ses Charismas, bedarf es <strong>des</strong>sen<br />

Veralltäglichung. Weber hat unterschiedliche Formen der Veralltäglichung<br />

definiert, in Bezug auf den Arzt scheint folgende Form treffend: „Durch <strong>die</strong><br />

Vorstellung, dass das Charisma eine durch hierurgische Mittel seitens eines<br />

Trägers auf andre übertragbare oder erzeugbare (ursprünglich: magische) Qualität<br />

sei: Versachlichung <strong>des</strong> Charismas, insbesondere: „Amtscharisma“. Der<br />

Legitimitätsglaube gilt dann nicht mehr der Person, sondern den erworbenen<br />

Qualitäten <strong>und</strong> der Wirksamkeit der hierurgischen Akte.“ (Weber, 1921/2006, S.<br />

249) In Bezug auf den Übergang <strong>des</strong> Charismas einer Ärztegeneration auf <strong>die</strong><br />

nächste spielt auch eine Rolle, was Weber <strong>die</strong> „... Nachfolger<strong>des</strong>ignation seitens<br />

<strong>des</strong> charismatisch qualifizierten Verwaltungsstabs <strong>und</strong> Anerkennung durch <strong>die</strong><br />

Gemeinde“ nennt (Weber, 1921/2006, S. 248). Im nächsten Unterkapitel wird<br />

<strong>die</strong>se Form der Nachfolger<strong>des</strong>ignation exemplarisch anhand beruflicher Laufbahnen<br />

der befragten Ärzteschaft gezeigt, da anhand der Interviews <strong>die</strong> Wichtigkeit<br />

sogenannter Förderer <strong>und</strong> zentraler Etappen einer ärztlichen Laufbahn<br />

wie Auslandssemester bzw. -aufenthalte oder Habilitation für das Erreichen<br />

eines Kaderarztpostens zum Ausdruck kommt.<br />

Die objektiven <strong>und</strong> strukturellen Wandelungsprozesse, <strong>die</strong> sich massgeblich<br />

aus der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Krankenhauswesens ergeben haben, trugen zu<br />

merklichen subjektiven Veränderungen seitens der darin agierenden Akteure<br />

<strong>und</strong> ihrer Dispositionen bei. Anhand der Interviews hat sich eine regelrechte<br />

Ernüchterung der alten Schule offenbart. Der konstante Vergleich <strong>des</strong> Arbeitsalltags<br />

<strong>des</strong> Stayers mit seinen abgewanderten Kollegen, <strong>die</strong> während der Stu<strong>die</strong>njahre<br />

teils auch Kommilitonen waren <strong>und</strong> sich dementsprechend nicht fremd<br />

sind, hat zur Entzauberung <strong>des</strong> historisch gewachsenen ärztlichen Berufsstan<strong>des</strong><br />

beigetragen, womit auch <strong>die</strong> „Illusio“, dem Menschen etwas Gutes zu tun<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Verkennung <strong>des</strong> Ökonomischen bei der Herstellung <strong>und</strong> Wiederher-<br />

388


stellung <strong>des</strong> Gutes Ges<strong>und</strong>heit, an Glaubwürdigkeit verloren hat. Wie bereits<br />

erwähnt, rührte <strong>die</strong>ser Vergleich in<strong>des</strong>sen aus den strukturellen Veränderun-<br />

gen, <strong>die</strong> sich durch den Eintritt von Privatkliniken <strong>und</strong> der daraus resultieren-<br />

den neuen Alternative ergaben, <strong>und</strong> der Legitimierung <strong>die</strong>ser Klinik durch eine<br />

zunehmende Abwanderung von Kaderärzten aus öffentlichen Krankenhäusern.<br />

Mit <strong>die</strong>ser Abwanderung fanden neue Spielregeln Einzug ins Feld <strong>und</strong> <strong>die</strong> alten<br />

wurden langsam enthüllt. Bour<strong>die</strong>u hat <strong>die</strong> Idee der Verkennung der ökonomischen<br />

Dimension folgendermassen beschrieben: „Wie aber jedermann weiss,<br />

haben auch scheinbar unverkäufliche Dinge ihren Preis. Sie lassen sich nur<br />

<strong>des</strong>halb so schwer in Geld umsetzen, weil sie mit der Absicht einer ausdrücklichen<br />

Verneinung <strong>des</strong> Ökonomischen hergestellt werden. Man sieht also, eine<br />

wirklich allgemeine Wissenschaft von der ökonomischen Praxis muss in der<br />

Lage sein, auch alle <strong>die</strong> Praxisformen miteinzubeziehen, <strong>die</strong> zwar objektiv ökonomischen<br />

Charakter tragen, aber als solche im gesellschaftlichen Leben nicht<br />

erkannt werden <strong>und</strong> auch nicht erkennbar sind. Sie verwirklichen sich nur<br />

aufgr<strong>und</strong> eines erheblichen Aufwan<strong>des</strong> an Verschleierung oder, besser, Euphemisierung.“<br />

(Bour<strong>die</strong>u, 1992/2005b, S. 52) Aus der Ernüchterung der Stayer heraus<br />

<strong>und</strong> durch <strong>die</strong> ständige Konfrontation mit dem durch <strong>die</strong> Privatisierung<br />

verursachten neuen Möglichkeitsrahmen (Feldeffekt) entstand eine Diskrepanz<br />

zwischen den objektiven Strukturen <strong>und</strong> den subjektiven, inkorporierten Werthaltungen<br />

was gleichzeitig zur Infragestellung der „Illusio“ <strong>des</strong> Spiels führte.<br />

Durch <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> öffentlichen Gutes Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> <strong>die</strong> den<br />

öffentlichen Versorgungsinstitutionen auferlegten Gesetzen „<strong>des</strong> neuen Geist<br />

<strong>des</strong> Kapitalismus“ hat der Glaube an den eigenen Einsatz, in der Form eines<br />

geringen bis nahezu inexistenten Privatlebens während der Assistenzarztzeit,<br />

der steten Erreichbarkeit durch <strong>die</strong> Patienten, <strong>die</strong> Spitalleitung oder das eigene<br />

Team in der teils geringen Freizeit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Zurückstellung persönlicher Bedürfnisse<br />

für das Wohl <strong>des</strong> Patienten, <strong>die</strong> angestrebte Karriere oder <strong>die</strong> Umsatzgenerierung<br />

<strong>und</strong> der damit einhergehenden Konkurrenzfähigkeit <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Spitals dem Privatspital gegenüber, an Wirkkraft verloren <strong>und</strong> zu<br />

weiteren Zweifeln an der „Illusio“ geführt.<br />

Die eine Gruppe von Ärzten, <strong>die</strong> Stayer, versuchen, den Glauben an <strong>die</strong> Spielregeln<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses, an das öffentliche Gut, das per Definition<br />

keinen marktwirtschaftlichen Regeln unterliegt <strong>und</strong> allen zugänglich ist,<br />

<strong>und</strong> an ihre eigene Motivation, der kein egoistisches <strong>und</strong> selbstbereichern<strong>des</strong><br />

389


Interesse am Dienst für <strong>die</strong> Allgemeinheit zugr<strong>und</strong>e liegen sollte (Stichwort:<br />

Dualstruktur), aufrechtzuerhalten. Sie leben mit der sogenannten kollektiven<br />

Heuchelei, der damit einhergehenden Verkennung <strong>des</strong> monetären Gehalts ihrer<br />

ärztlichen Tätigkeit <strong>und</strong> dem nach Bour<strong>die</strong>u benannten Interesse an der Unei-<br />

gennützigkeit (intérêt du désintéressement). Sowohl Mauss in seiner Ethik der<br />

Gabe als auch Bour<strong>die</strong>u, der sich an <strong>die</strong> Theoreme von Mauss anlehnte, verfie-<br />

len nicht der Illusion, dass <strong>die</strong> Ethik der Grosszügigkeit <strong>und</strong> Brüderlichkeit in<br />

einem uneigennützigen, zweckfreien <strong>und</strong> reinen Gabentausch resultiert: „Beide<br />

gehen davon aus, dass <strong>die</strong>ses gesellschaftliche Spiel ein gutes Mass an kollektiv<br />

geteilter Heuchelei voraussetzt, eine Art ,gesellschaftlicher Lüge‘, wie Mauss es<br />

nennt. Denn wie bei einem stillschweigenden Gesellschaftsvertrag ist es den<br />

,Mitspielern‘ strikt verboten, <strong>die</strong> sich hinter der vermeintlichen Uneigennützig-<br />

keit verbergenden Egoismen <strong>und</strong> Strategien zu benennen <strong>und</strong> aufzudecken. Im<br />

Gabentausch, <strong>die</strong>sem archetypischen sozialen Tatbestand, geht es nach Ansicht<br />

beider wahlverwandter Autoren um sehr ernste Einsätze <strong>und</strong> Interessen: Anerkennung,<br />

Ehre, Überlegenheit, Macht, <strong>und</strong> für <strong>die</strong>ses Einsätze wird hart gerungen.“<br />

(Schultheis, 2007, S. 71) Das Interesse an der Uneigennützigkeit hat<br />

Bour<strong>die</strong>u im Zusammenhang mit den Ausführungen zum wissenschaftlichen<br />

Feld definiert <strong>und</strong> hat dabei den dem Feld zugr<strong>und</strong>e liegende Spielcharakter<br />

<strong>und</strong> den Glauben an <strong>die</strong> im Feld herrschende „Illusio“ hervorgehoben: „Eine<br />

Sublimation, <strong>die</strong> stillschweigend von jedem Neuzugang gefordert wird, <strong>und</strong> in<br />

jener besonderen Form der Illusio beschlossen liegt, <strong>die</strong> zur Teilhabe am Feld<br />

notwendig gehört, also im Wissenschaftsglauben, einer Art interesselosem<br />

Interesse <strong>und</strong> Interesse an der Interesselosigkeit, das zu Anerkennung <strong>des</strong><br />

Spiels bewegt, zum Glauben, dass es das wissenschaftliche Spiel, wie man sagt,<br />

wert ist, gespielt zu werden, dass es sich lohnt, <strong>und</strong> gleichzeitig <strong>die</strong> Gegenstände<br />

bestimmt, <strong>die</strong> <strong>des</strong> Interesses würdig, bemerkenswert, bedeutend sind, jene<br />

also, <strong>die</strong> den Einsatz lohnen. Es ist mit anderen Worten das Feld, oder genauer<br />

gesagt, <strong>die</strong> antiökonomische Ökonomie <strong>und</strong> der geregelte Wettbewerb in ihm,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong>se besondere Form der Illusio hervorbringen, eben das wissenschaftliche<br />

Interesse, ein Interesse, das im Verhältnis zu den herkömmlichen Interessen <strong>des</strong><br />

Alltags (<strong>und</strong> insbesondere denen <strong>des</strong> ökonomischen Fel<strong>des</strong>) als uneigennützig,<br />

unentgeltlich erscheint. Doch unterschwellig ist das ,reine‘, das uneigennützige<br />

Interesse ein Interesse an der Uneigennützigkeit, eine Art <strong>des</strong> Interesses, <strong>die</strong> zu<br />

allen Ökonomien symbolischer Güter, allen antiökonomischen Ökonomien<br />

gehört, wo es in gewissem Sinne <strong>die</strong> Uneigennützigkeit ist, <strong>die</strong> sich ,auszahlt‘<br />

390


(das ist einer der radikalsten Unterschiede zwischen dem<br />

,Wissenschaftskapitalisten‘ <strong>und</strong> dem einfachen Kapitalisten). So sind <strong>die</strong> Strate-<br />

gien der Akteure in gewisser Weise immer doppelgesichtig, doppelsinnig, inte-<br />

ressengeleitet <strong>und</strong> interessenlos, beseelt von einer Art Eigennutz der Uneigennützigkeit,<br />

der völlig gegensätzliche, aber gleichermassen falsche, weil einseitige<br />

Beschreibungen zulässt, <strong>die</strong> eine hagiographisch <strong>und</strong> idealisierend, <strong>die</strong> andere<br />

zynisch <strong>und</strong> reduktionistisch, wenn sie aus dem<br />

,Wissenschaftskapitalisten‘ einen Kapitalisten wie jeden anderen macht.“<br />

(Bour<strong>die</strong>u, 1998, S. 27) Der Leaver darf demzufolge nicht als ärztlicher homo<br />

oeconomicus abgetan werden sowie der Stayer nicht als Gutmensch voller<br />

Reinheit <strong>und</strong> Uneigennützigkeit emporgehoben werden darf. Es gilt infolge<strong>des</strong>sen<br />

in Erfahrung zu bringen, inwiefern ein Feldeffekt wie der Eintritt eines<br />

privatwirtschaftlich orientierten Spitalunternehmens <strong>die</strong> Einstellung eines Arztes<br />

gegenüber seines Berufs bzw. seiner Berufung, seiner dem ärztlichen Ethos<br />

verpflichteten Tätigkeiten <strong>und</strong> seinem inkorporierten <strong>und</strong> historisch gewachsenen<br />

Habitus beeinflussen kann, wobei <strong>die</strong> Infragestellung der gr<strong>und</strong>legenden<br />

Spielregeln <strong>und</strong> der bis anhin geteilten „Illusio“ durch <strong>die</strong> Abwanderung von<br />

Arztkollegen <strong>und</strong> demzufolge von Insidern sich als besonders glaubenszerstörend<br />

erwiesen hat.<br />

Die Interviews haben gezeigt, dass vor allem hinsichtlich der Entlohnung der<br />

ärztlichen Tätigkeit, der bislang kein Preis zugeschrieben wurde, was sowohl<br />

mit der kollektiven Heuchelei als auch mit der Stan<strong>des</strong>zuschreibung <strong>und</strong> dem<br />

ärztlichen Dienst im Interesse der Öffentlichkeit einherging, ein grosser Redebedarf<br />

bestand, was auf <strong>die</strong> innerhalb <strong>und</strong> zwischen den öffentlichen <strong>und</strong> privaten<br />

Krankenhäusern existierenden differenzierenden Gehaltsstrukturen zurückzuführen<br />

ist. Es wurde sowohl vom Anspruch auf eine dem Berufsstand<br />

entsprechenden <strong>und</strong> gerechtfertigten Entlohnung, von hohen Diskrepanzen<br />

zwischen öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spitälern, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong> Selektion <strong>des</strong> Patientengutes<br />

<strong>und</strong> der gestellten Indikationen zurückzuführen sei, als auch von<br />

auffällig hohen Gehältern gesprochen, was anscheinend einerseits mit dem<br />

Fachbereich als auch mit dem Anteil behandelter Zusatzversicherten <strong>und</strong> dem<br />

Kaderarzt dadurch zukommenden Honorar zusammenhänge. Für den Outsider<br />

zeugten <strong>die</strong> Beschreibungen von einer hohen Intransparenz der Gehaltsstrukturen<br />

sowohl innerhalb als auch zwischen den Institutionen. Der sich durch den<br />

Eintritt marktwirtschaftlich orientierter Krankenhäuser erhoffte Wettbewerb<br />

391


hat nicht nur im Aussenverhältnis, sondern auch innerhalb der Spitäler zu<br />

Konkurrenzierungen geführt, wobei <strong>die</strong>ser vor allem in Privatspitälern anzu-<br />

treffen sei <strong>und</strong> in einem regelrechten Kampf um <strong>die</strong> Patientenbehandlung re-<br />

sultiere. Von <strong>die</strong>ser starken <strong>und</strong> vermutlich auch beabsichtigten internen Kon-<br />

kurrenzierung in Privatspitälern haben sowohl Stayer, Rückkehrer als auch<br />

Leaver berichtet. Nicht nur beim Gehalt wurde keine Preiszuschreibung vorge-<br />

nommen, auch <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit an sich wurde als öffentliches Gut ohne Preis<br />

versehen. Die Ges<strong>und</strong>heit, <strong>die</strong> gemäss der WHO als Ressource für das tägliche<br />

Leben <strong>und</strong> nicht als Ziel <strong>des</strong> Lebens erachtet wird <strong>und</strong> zu den globalen öffentli-<br />

chen Gütern zählt, kann, in Anbetracht der Tatsache, dass bereits heute eine<br />

Zwei- bis Dreiklassenmedizin vorherrscht <strong>und</strong> den sozialen Unterschichten, <strong>die</strong><br />

für eine umfassende Ges<strong>und</strong>heitsversorgung notwendigen Ressourcen fehlen,<br />

<strong>die</strong> den Zugang zu Versorgungsinstitutionen ermöglichen, den Merkmalen<br />

eines globalen öffentlichen Gutes wie der Ausschliessbarkeit nicht mehr gerecht<br />

werden.<br />

Wie bereits im vorhergehenden Abschnitt angedeutet wurde, wäre es zu leicht,<br />

den Leaver als ärztlichen homo oeconomicus zu verschreien, <strong>und</strong> dennoch trägt<br />

er mit seiner Abwanderung <strong>und</strong> der Bekehrung weiterer Kollegen zur Legimi-<br />

tierung der privatwirtschaftlich betriebenen Versorgungsinstitutionen bei. Der<br />

Leaver wird im Sinne der Doppelstrukturiertheit als Spielverderber <strong>und</strong> Nest-<br />

beschmutzer wahrgenommen, der <strong>die</strong> nackte Wahrheit offenbart, sich dem<br />

ökonomischen Bereicherungsprozess hergibt <strong>und</strong> damit zum Abbau der „Illu-<br />

sio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> beiträgt. Die Leaver ihrerseits legitimierten ihren Abwande-<br />

rungsentscheid durch <strong>die</strong> Hervorhebung ihrer gewonnenen selbstbestimmten<br />

Work-Life-Balance, ihrer unternehmerischen Selbstständigkeit, im Rahmen<br />

welcher sie über Investitionen entscheiden können, ohne an der Unterneh-<br />

mungsführung beteiligt zu sein, <strong>und</strong> der flachen <strong>und</strong> den antiautoritären Hie-<br />

rarchien. Sie sind sich aber im Klaren darüber, dass ihre Selbstständigkeit nur<br />

solange Bestand hat, wie <strong>die</strong> Einnahmen der Zufriedenheit der Spitalleitung<br />

entsprechen.<br />

Zieht man <strong>die</strong> Tatsache in Betracht, dass <strong>die</strong> Mehrheit der befragten Kaderärzte<br />

von der Auftragsforschung, <strong>die</strong> durch eine Insiderin initiiert wurde, Kenntnis<br />

hatte, kann davon ausgegangen werden, dass wohl alle dazu ten<strong>die</strong>ren würden,<br />

ihre konkrete Entscheidung vor der Interviewerin zu legitimieren bzw. als<br />

392


ational <strong>und</strong> moralisch vertretbar erscheinen zu lassen. Hinzu kommt ja auch<br />

noch <strong>die</strong> allgemein beobachtbare kognitive Haltung <strong>des</strong> Suchens nach Kohärenz<br />

bzw. Stimmigkeit <strong>und</strong> der Vermeidung von kognitiven oder moralischen<br />

Dissonanzen. Der Stayer verdeutlichte in seinen Aussagen, weshalb er den<br />

Verlockungen <strong>des</strong> Marktes standhält, welche Einstellung er gegenüber seinen<br />

abgewanderten Kollegen vertritt, welche Gründe aus seiner Perspektive zu<br />

einer Abwanderung führen <strong>und</strong> welche ökonomisch induzierte strukturelle<br />

Veränderungen in subjektiven <strong>und</strong> folglich in berufsständischen <strong>und</strong> -ethischen<br />

Anpassungen resultieren. Kognitive Dissonanzen, <strong>die</strong> durch den Eintritt privater<br />

Versorgungsinstitutionen in ein sich vordergründig an symbolischen Kapitalien<br />

orientieren<strong>des</strong> Feld hervorgerufen werden <strong>und</strong> den Arzt einer bislang<br />

inexistenten Wahlmöglichkeit aussetzt, sind sowohl seitens der Stayer als auch<br />

seitens der Leaver erkennbar. Der Entscheid für oder gegen <strong>die</strong>se neue Alternative<br />

zieht eine Rechtfertigung sowohl gegenüber sich selber als auch gegenüber<br />

seiner Familie, seinen Kollegen im medizinischen Feld, zu denen vermutlich<br />

auch Leaver zählen, <strong>und</strong> seinem weiteren Umfeld nach sich. In <strong>die</strong>ser Rechtfertigungsposition<br />

fühlten sich einige der befragten Ärzte, wodurch auch Sätze<br />

wie folgender von Adrian L., Arzt eines Kantonsspitals, fielen: „Es ist ja<br />

nicht eine Schande privatversichert zu sein, das kommt ja<br />

noch dazu. (…) Ich war lange allgemeinversichert. Ich habe<br />

mich erst vor ein paar Jahren privat versichern lassen, da<br />

ich mir gesagt habe, dass jetzt <strong>die</strong> Zeit kommt, in welcher<br />

ich das allenfalls gebrauchen kann. (…) Es ist ja auch<br />

nicht so wichtig, da <strong>die</strong> Qualität auch für den Allgemeinversicherten<br />

in der Schweiz sehr hoch ist.“ Der Stayer hat beispielweise<br />

zu rechtfertigen, weshalb er den Sirenenrufen der Privatklinik nicht<br />

folgt <strong>und</strong> somit auch eine mögliche monetäre Bereicherung ausschlägt <strong>und</strong> der<br />

Leaver, weshalb er den Rufen gefolgt ist <strong>und</strong> dadurch gewissermassen einen<br />

Verrat an seinen Kollegen im öffentlichen Spital in Bezug auf <strong>die</strong> Verneinung<br />

<strong>des</strong> Ökonomischen begangen hat. Die moralischen Dissonanzen haben sich<br />

dann offenbart, wenn <strong>die</strong> durch den Übertritt einhergehenden Anpassungen an<br />

<strong>die</strong> neuen strukturellen Begebenheiten eine Angleichung <strong>des</strong> berufsethischen<br />

Selbstverständnisses an <strong>die</strong> <strong>des</strong> homo oeconomicus bedingt haben. Seitens der<br />

Leaver zeichnet sich eine nachträgliche Moralisierung der Handlungsschemata<br />

<strong>und</strong> eine teils unverblümt <strong>des</strong>illusionierte Haltung gegenüber dem berufsalltäglichen<br />

Handlungsablauf im privaten Krankenhaus ab. Moralische Dissonanzen<br />

traten bei den Leavern dann auf, wenn durch <strong>die</strong> Abwanderung berufsethi-<br />

393


sche Pflichten, wie der Lehre <strong>des</strong> Nachwuchses, dem Teaching, nicht mehr<br />

nachgekommen werden kann. Im Zusammenhang mit der Lehre <strong>des</strong> Nach-<br />

wuchses ist nebst der eigentlichen Wissensvermittlung auch <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> arri-<br />

vierten Kaderärzte getätigte Förderung potenzieller Kaderärzte gefährdet,<br />

wodurch <strong>die</strong> Laufbahn <strong>des</strong> Nachwuchses entscheidend beeinflusst wird. Kogni-<br />

tive Dissonanzen im Hinblick auf ihre Entscheidung traten bei den Leavern<br />

auch im Zusammenhang mit der Bürokratisierung ihres ehemaligen beruflichen<br />

Alltags im öffentlichen Krankenhaus auf. Das vermeintliche Entkommen der<br />

Bürokratisierung, das als ein Beweggr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> Abwanderung erachtet wur-<br />

de, gelang den Leavern nicht. Einerseits aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> in Privatspitälern geför-<br />

derten Unternehmertums <strong>und</strong> der damit einhergehenden Selbstständigkeit <strong>und</strong><br />

andererseits aufgr<strong>und</strong> der äusserst geringen Zahl an Assistenten in Privatspitä-<br />

lern, <strong>die</strong> in öffentlichen Spitälern teils <strong>die</strong> administrativen Tätigkeiten der Ka-<br />

derärzte übernahmen.<br />

Die mit der <strong>Ökonomisierung</strong> einhergehenden Privatisierungswellen im Kran-<br />

kenhaussektor <strong>und</strong> <strong>die</strong> Orientierung am neuen Geist <strong>des</strong> Kapitalismus haben<br />

eine Kluft zwischen den objektiven <strong>und</strong> subjektiven Veränderungen herbeige-<br />

führt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Bildung zweier Lager, das <strong>des</strong> Stayers <strong>und</strong> <strong>des</strong> Leavers, zur Folge.<br />

Das von den Leavern entworfene Eigenporträt <strong>des</strong> selbstständigen <strong>und</strong> unter-<br />

nehmerisch denkenden Arztes kann in intensivierter Form auch als das <strong>des</strong><br />

hohen Priesters der Marktgläubigkeit <strong>und</strong> das <strong>des</strong> sich bereichernden <strong>und</strong> dem<br />

Ruf <strong>des</strong> Marktes gehorchenden Managers erachtet werden. Wohingegen mit<br />

dem Stayer ein Bildnis eines Arztes gezeichnet werden kann, der sich dem<br />

Gemeinwohl verpflichtet, den Rufen <strong>des</strong> Marktes trotzt <strong>und</strong> den stan<strong>des</strong>gemäs-<br />

sen ärztlichen Berufsethos aufrechtzuerhalten versucht. Gleichzeitig kann aber<br />

auch ein Stayer proklamiert werden, der <strong>die</strong> Aufrechterhaltung der kollektiven<br />

Verkennung <strong>und</strong> der traditionellen altertümlichen hierarchischen Strukturen<br />

zur Sicherung der eigenen Position nutzt <strong>und</strong> so ein Stayer in Form eines an ein<br />

veraltetes System gläubigen Idealisten zum Vorschein kommen lässt. Der<br />

Leaver verursacht mit der Offenbarung der nackten Wahrheit <strong>die</strong> Profanisie-<br />

rung seiner ärztlichen Tätigkeit, damit soll möglicherweise Legitimität für <strong>die</strong><br />

verstärkte Ausrichtung seines Handelns an monetären Gegenwerten erreicht<br />

werden. Wohingegen der Stayer durch <strong>die</strong> – explizite oder implizite, beabsich-<br />

tigte oder unbeabsichtigte – idealistische Hochhaltung berufsethischer Prämis-<br />

sen allenfalls versucht, <strong>die</strong> eigenen Dissonanzen zum Verstummen zu bringen.<br />

394


Die Stayer <strong>und</strong> Leaver lassen sich ebenso wenig in zwei klar abgegrenzte Kate-<br />

gorien fassen, dafür sind <strong>die</strong> Motivlagen zu heterogen bzw. lassen sich nicht<br />

eindeutig definieren, wie auch <strong>die</strong> in den folgenden Kapiteln definierten Kate-<br />

gorien aus der transversalen Analyse als nicht abschliessend erachtet werden<br />

dürfen. Das Bildnis eines Stayers <strong>und</strong> eines Leavers lässt sich nicht unter zwei<br />

entgegengesetzte Kräfte subsumieren, wie <strong>die</strong>s in den letzten Zeilen geschah.<br />

Die Interviewsituation ist vor Verzerrungen nicht gefeit. Hier ist <strong>die</strong> „reflexarti-<br />

ge Reflexivität“ <strong>des</strong> Soziologen <strong>und</strong> seine notwendige Distanz zum Gesagten<br />

gefragt, was Bour<strong>die</strong>u folgendermassen erläutert: „Auch wenn sich <strong>die</strong> Befra-<br />

gungssituation von der Mehrzahl der Austauschbeziehungen <strong>des</strong> alltäglichen<br />

Lebens insofern unterscheidet, als sie sich <strong>die</strong> reine Erkenntnis zum Ziel setzt,<br />

bleibt sie doch unausweichlich eine soziale Beziehung, <strong>die</strong> ihre [entsprechend der<br />

verschiedenen Parameter, <strong>die</strong> wirksam werden können, variablen] Effekte auf<br />

<strong>die</strong> Ergebnisse ausübt, <strong>die</strong> man erhält. (…) Allein <strong>die</strong> Reflexivität, <strong>die</strong> ja ein<br />

Synonym von Methode ist, aber eine reflexartige Reflexivität, <strong>die</strong> auf dem sozio-<br />

logischen ,Beruf‘, dem soziologischen ,Auge‘ beruht, erlaubt es, im Feld, also<br />

während das Interview geführt wird, <strong>die</strong> Effekte der gesellschaftlichen Struk-<br />

tur, innerhalb der sich <strong>die</strong>ses Interview vollzieht, wahrzunehmen <strong>und</strong> zu kon-<br />

trollieren.“ (Bour<strong>die</strong>u, 1993/2005a, S. 394) Sowohl der Leaver als auch der Stayer<br />

sind als <strong>Chefärzte</strong> oder langjährige Leitende Ärzte Traditionalisten, <strong>die</strong> sich<br />

durch <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> ihrer strukturellen Begebenheiten <strong>des</strong> Selbstverständnisses<br />

ihres Berufsstan<strong>des</strong> mehr oder minder stark beraubt fühlen. Inwiefern<br />

nun aber <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> ärztlichen Arbeitsalltags <strong>und</strong> der strukturellen<br />

Rahmenbedingungen in Bezug auf das Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> den<br />

öffentlichen Dienst zur Transformation der Anschauungen, <strong>des</strong> Werteverständnisses<br />

<strong>und</strong> der Denk-, Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Handlungsschemata der Kaderärzte<br />

beigetragen hat, wird anhand folgender Kategorien geklärt: soziale Strukturen<br />

innerhalb der Organisation, – spitalinterne, soziale Strukturen bzw. Beziehungen<br />

<strong>und</strong> das damit einhergehende Rollenverständnis (kompetitiv versus<br />

kollegial, ökonomische versus symbolische Anerkennung, flache versus steile<br />

Hierarchie, K<strong>und</strong>ebeziehung versus Arzt-Patienten-Verhältnis) – <strong>und</strong> <strong>die</strong> arbeitsweltlichen<br />

Paradoxien, dabei insbesondere Work-Life-Balance <strong>und</strong> Intensivierung<br />

der Arbeitsbelastung, Professionalisierung versus Deprofessionalisierung,<br />

Selbstständiger versus Arbeitnehmer, Manager versus Chefarzt. Im folgenden<br />

Unterkapitel werden im Rahmen der biographischen Flugbahn <strong>die</strong><br />

Herkunft der interviewten Kaderärzte erläutert sowie ihre berufliche Laufbahn,<br />

395


ihre vermeintliche Karriereplanung <strong>und</strong> ihre Spieleinsätze, <strong>die</strong> sie oft auch als<br />

Opfer <strong>des</strong> Werdegangs bezeichnen.<br />

5.1 Biographische Flugbahnen <strong>und</strong> Profile der Probanden<br />

Die gegenwärtigen Transformationsprozesse im Ges<strong>und</strong>heitswesen, wo der<br />

Staat einer öffentlichen Verantwortung für das Wohl der Bevölkerung nachzu-<br />

kommen hat, stossen zu einem gr<strong>und</strong>legenden Umdenken an. Die Ökonomisie-<br />

rung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> <strong>des</strong> Krankenhauswesens im Besonderen<br />

haben sowohl objektive als auch subjektive Veränderungen auf den drei Ebe-<br />

nen Makro, Meso <strong>und</strong> Mikro zur Folge. Bezüglich der Transformationsprozesse<br />

auf der Makroebene wird auf <strong>die</strong> Ausführungen im Kapitel 2 verwiesen. Bezo-<br />

gen auf das Krankenhauswesen (Meso) ist eine Vermarktlichung festzustellen,<br />

<strong>die</strong> sich anhand <strong>des</strong> Eintritts privatwirtschaftlicher Anbieter, <strong>die</strong> in Konkurrenz<br />

zu den öffentlichen Institutionen vor allem im Hinblick auf <strong>die</strong> Behandlung<br />

zusatzversicherter Patienten treten, bemerkbar macht. Private Anbieter können,<br />

da sie einer privaten <strong>und</strong> folglich nichtstaatlichen Trägerschaft verpflichtet<br />

sind, ihre Dienstleistungen, <strong>die</strong> einem selektiven Angebot an medizinischen<br />

Leistungen gleichkommen, ihrer erwünschten Patientengruppe entsprechend<br />

festlegen. Die Zwei-Klassenmedizin wird nicht nur ausschliesslich, aber ver-<br />

stärkt durch <strong>die</strong> Privatkliniken institutionalisiert, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s anhand <strong>des</strong> auf dem<br />

Versichertenstatus basierenden Zugangs <strong>und</strong> der sich daraus ergebenden selektiven<br />

Patientenauswahl (vornehmlich Zusatzversicherte). Die K<strong>und</strong>enselektion<br />

privater Krankenhäuser hat <strong>die</strong> Abwerbung von Zusatzversicherten von den<br />

öffentlichen Spitälern zufolge. Diese Abwerbung führt zu fehlenden finanziellen<br />

Einnahmen, <strong>die</strong> der Quersubventionierung der Allgemeinversicherten <strong>die</strong>nen.<br />

Dem Vorwurf der selektiven Patientenauswahl konnten <strong>die</strong> Leaver bis<br />

anhin mit dem Argument der fehlenden staatlichen Subventionen entgegenhalten.<br />

Mit der Einführung der DRG <strong>und</strong> der damit einhergehenden möglichen<br />

Platzierung auf der neuen Spitalliste wird <strong>die</strong>ses Argument merklich an Geltungskraft<br />

verlieren. Der grossflächige Einzug von privaten Anbietern hat zu<br />

einer Veränderungsdynamik, <strong>die</strong> beispielhaft für <strong>die</strong> Marktvergesellschaftung<br />

durch Marktkonkurrenz steht, geführt, <strong>die</strong> massgeblich zur Entmonopolisierung<br />

(von der Kirche zum Staat <strong>und</strong> nun zu privaten Anbietern) beiträgt. Das<br />

Ringen um Privat- bzw. Halbprivatversicherte geht aufgr<strong>und</strong> der Tatsache,<br />

dass Privatspitäler eine vernachlässigbare Anzahl an Assistenten einstellen <strong>und</strong><br />

396


ausbilden, einher mit dem Ringen um Fachkräfte <strong>und</strong> dabei vor allem um Ka-<br />

derärzte. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang erinnert das Abwerben von Fachkräften im<br />

Spitalwesen an das Abwerben von sogenannten Portfoliomanagern in Finan-<br />

zinstituten oder Key Account Managern im Konsumgütermarkt, da <strong>die</strong> Treue<br />

<strong>und</strong> Zufriedenheit der K<strong>und</strong>schaft deutlich mit dem Vertrauensverhältnis zwi-<br />

schen K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> K<strong>und</strong>enberater korreliert, was möglicherweise auch <strong>die</strong><br />

Privatspitäler dazu bewogen hat, vermehrt Kaderärzte einzustellen.<br />

Diese Angleichung an den Konsumgütermarkt <strong>und</strong> das Bankwesen erklärt auch<br />

folgende Parallelität. In einigen wenigen Interviews wurde der Vergleich zwischen<br />

einem Krankenhaus <strong>und</strong> einem Unternehmen der Privatwirtschaft angestellt<br />

<strong>und</strong> dabei zugestanden, dass Ersteres zusehends sich den Gesetzen <strong>des</strong><br />

Marktes zu stellen hat, sich dabei auch dem Wettbewerb mit Privatspitälern zu<br />

stellen hat <strong>und</strong> demzufolge auch nicht mehr wie bis anhin auf <strong>die</strong> Defizitdeckung<br />

der Kantone hoffen darf. Das Resultat soll ein gewinnorientiertes <strong>und</strong><br />

konkurrenzfähiges Ges<strong>und</strong>heitsunternehmen sein. Unverblümt <strong>und</strong> vereinfacht<br />

ausgedrückt, würde <strong>die</strong>se durchgängige Infiltrierung marktwirtschaftlicher<br />

Gesetze auch <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung angreifen <strong>und</strong> <strong>die</strong>se zu einer profanen<br />

K<strong>und</strong>enbeziehung verkommen lassen. Die der Wiederherstellung der Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>die</strong>nende ärztliche Behandlung würde zur handelbaren Ware mit<br />

einem Preis versehen <strong>und</strong> hätte zur Folge, dass der Patient zum K<strong>und</strong>en wird<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Konsum an ges<strong>und</strong>heitlichen Leistungen nur mit dem nötigen<br />

ökonomischen Kapital käuflich wäre. Von der Mehrheit der befragten Kaderärzte<br />

wird der Marktcharakter <strong>des</strong> Krankenhauswesens bzw. der Produktcharakter<br />

der Ges<strong>und</strong>heit vehement abgelehnt, wodurch sich ein regelrechtes Widersetzen<br />

gegen marktwirtschaftliche Instrumente, wie Prozessoptimierung,<br />

Marketingprojekte, Strategiesitzungen oder Controllinggespräche, offenbart.<br />

Dieser Widerstand rührt einerseits daher, dass ein hoher zeitlicher Aufwand<br />

von den Kaderärzten für <strong>die</strong> Implementierung solcher Instrumente vorausgesetzt<br />

wird, <strong>und</strong> andererseits kämpfen sie mit der eigenen Unwissenheit, da ihre<br />

Ausbildung, <strong>die</strong> sie vor über zwanzig Jahren genossen haben, <strong>die</strong> Lehre betriebswirtschaftlicher<br />

Prozesse <strong>und</strong> Modelle ganz einfach noch nicht beinhaltet<br />

hat. Mit der Marktvergesellschaftung geht der Akt <strong>des</strong> Geldtausches, <strong>die</strong> nackte<br />

Wahrheit, einher, <strong>die</strong> natürlich all denen widerstrebt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Verneinung <strong>des</strong><br />

Ökonomischen weiterhin aufrechterhalten wollen. Die Vergesellschaftung<br />

durch Tausch auf dem Markt stellt der „... [Arche-]Typos alles rationalen Ge-<br />

397


sellschaftshandelns ...“ (Weber, 1921/1972, S. 382) dar <strong>und</strong> steht, wie auch fol-<br />

gende Definition Webers zeigt, im puren Gegensatz zur Ethik der Brüderlich-<br />

keit <strong>und</strong> zum Dienst an <strong>und</strong> für alle: „Der ,freie‘, d.h. der durch ethische Nor-<br />

men nicht geb<strong>und</strong>ene Markt mit seiner Ausnutzung der Interessenkonstellation<br />

<strong>und</strong> Monopollage <strong>und</strong> seinem Feilschen gilt jeder Ethik als unter Bürdern verworfen.“<br />

(Weber, 1921/2006, S. 597 f.) Betrachtet man beispielsweise <strong>die</strong> Arzt-<br />

Patienten-Beziehung <strong>und</strong> dabei <strong>die</strong> finanzielle Abgeltung der ärztlichen Konsultation,<br />

so findet in den wenigsten Fällen eine offensichtliche Zahlung für <strong>die</strong><br />

ärztliche Leistung mit Geld in der Praxis offenk<strong>und</strong>ig statt (Ausnahmen wie<br />

Arztbesuch oder Spitalaufenthalte im Ausland oder <strong>die</strong> sofortige Begleichung<br />

der Arztkosten in der Praxis von „Hand zu Hand“ wie in Frankreich sind darin<br />

nicht enthalten). Erst im Nachhinein findet <strong>die</strong> Bezahlung seitens <strong>des</strong> Patienten<br />

an den Arzt statt, <strong>die</strong>se wird aufgr<strong>und</strong> seiner monatlichen Prämienzahlung von<br />

der Krankenkasse anteilsmässig rückerstattet. Weber beschreibt den Prozess<br />

der Marktvergesellschaftung, dem sich das Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> insbesondere<br />

das öffentliche Krankenhaus ausgesetzt sieht, folgendermassen: „Die Vergemeinschaftung<br />

kraft Geldgebrauchs ist der charakteristische Gegenpol jeder<br />

Vergesellschaftung durch rational paktierte oder oktroyierte Ordnung.“ (ebd.)<br />

Bei der paktierten oder oktroyierten Ordnung orientieren sich <strong>die</strong> Handlungen<br />

an Werten, Normen <strong>und</strong> Ordnungen, wobei <strong>die</strong>se Handlungen von Kontinuität,<br />

Dauerhaftigkeit <strong>und</strong> allgemeiner Gültigkeit geprägt sind, wohingegen <strong>die</strong><br />

Handlungen beim Geldgebrauch <strong>und</strong> bei der Markttransaktion lediglich am<br />

Vertragsabschluss <strong>und</strong> gegenüber dem Tauschkontrahenten gültig sind <strong>und</strong><br />

anschliessend erlöschen (Mikl-Horche, 2010, zit. in Maurer, 2010, S. 107). „Die<br />

Marktgemeinschaft als solche ist <strong>die</strong> unpersönlichste praktische Lebensbeziehung,<br />

in welche Menschen miteinander treten können. Nicht weil der Markt<br />

einen Kampf unter den Interessenten einschliesst. Jede, auch <strong>die</strong> intimste,<br />

menschliche Beziehung, auch <strong>die</strong> noch so unbedingte persönliche Hingabe ist in<br />

irgendeinem Sinn relativen Charakters <strong>und</strong> kann ein Ringen mit dem Partner,<br />

etwa um <strong>des</strong>sen Seelenrettung, bedeuten. Sondern weil er spezifisch sachlich,<br />

am Interesse an den Tauschgüter <strong>und</strong> nur an <strong>die</strong>sen, orientiert ist.“ (Weber,<br />

1921/2006, S. 597 f.) Hierbei nimmt Weber auf <strong>die</strong> empirische Wirklichkeit Bezug,<br />

in welcher sich <strong>die</strong> Abstraktheit <strong>des</strong> Marktes in seiner idealtypischen Form<br />

relativiert. Das im Markt statuierte ausschliessliche Interesse an der Tauschbeziehung<br />

definiert Weber folgendermassen: „Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit<br />

überlassen ist, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Per-<br />

398


son, keine Brüderlichkeits- <strong>und</strong> Pietätspflichten, keine der urwüchsigen von<br />

den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen. Sie<br />

alle bilden Hemmungen der freien Entfaltung der nackten Marktvergemein-<br />

schaftung <strong>und</strong> deren spezifische Interessen wiederum <strong>die</strong> spezifische Versu-<br />

chung für sie alle.“ (ebd.) Wobei er einräumen muss, dass <strong>die</strong> realen Marktbe-<br />

ziehungen <strong>und</strong> das ausschliessliche zweckrationale Handeln durch Hemmnis-<br />

se gekennzeichnet sind. Die Marktvergesellschaftung entfaltet ihre Wirkkraft in<br />

den spitalinternen Prozessen (Mikro), wo Dynamiken der Rationalisierung<br />

anhand neuer Finanzierungsmodelle <strong>und</strong> <strong>die</strong> strukturelle Angleichung öffentli-<br />

cher Spitäler an private Krankenhäuser Zeugnisse der Transformationsprozesse<br />

darstellen. Bezogen auf <strong>die</strong> Gehaltsstrukturen zeichnet sich eine Angleichung<br />

der Privatspitäler an <strong>die</strong> der öffentlichen Spitäler ab (Belegarztstruktur versus<br />

Festanstellung). Die Eigengesetzlichkeit <strong>des</strong> Marktes durchdringt auch <strong>die</strong><br />

Zusammenarbeit der Ärzte gleicher Fachbereiche in Privatspitälern, wo eine<br />

hohe Konkurrenz <strong>und</strong> ein geringes Gemeinschaftsgefühl den Arbeitsalltag<br />

beeinflussen <strong>und</strong> teilweise auch bestimmen. Der Wandel <strong>des</strong> beruflichen Um-<br />

fel<strong>des</strong> der befragten Kaderärzte bedingt ein gr<strong>und</strong>legen<strong>des</strong> Umdenken ihrer-<br />

seits <strong>und</strong> ruft Dissonanzen hinsichtlich ihrer beruflichen Wahrnehmung <strong>und</strong><br />

ihres beruflichen Selbstverständnisses hervor: von der Berufung zur profanen<br />

Ausübung eines Jobs oder vom Arzt im Dienste aller zum Dienstleister im<br />

Dienste der K<strong>und</strong>schaft. Wie bereits in der Einleitung <strong>die</strong>ses Kapitels erläutert<br />

wurde, gehorcht der ärztliche Habitus, <strong>die</strong> inkorporierte Praxis nach Bour<strong>die</strong>u,<br />

einer gewissen Schwerkraft <strong>und</strong> einem Verharrungsvermögen, wodurch sich<br />

eine zeitliche Verzögerung zwischen dem Wandel der objektiven Strukturen<br />

<strong>und</strong> der subjektiven Dispositionen ergibt. Die daraus entstehende Diskrepanz<br />

zwischen der von der Spitalverwaltung, Politik <strong>und</strong> teilweise auch von den<br />

konvertierten Kollegen erwarteten Praxis, der sich <strong>die</strong> Health Professionals in<br />

ihrem Arbeitsalltag zusehends ausgesetzt sehen, <strong>und</strong> ihrem Habitus, bereitet<br />

vor allem langjährigen Mitarbeitern grosse Mühe. Die internalisierten, subjektiven<br />

Strukturen der Ärzteschaft, <strong>die</strong> ein wesentlicher Bestandteil <strong>des</strong> stan<strong>des</strong>gemässen<br />

Ethos sind, weichen demzufolge von den Erwartungen mancher<br />

staatlicher Machtinhaber <strong>und</strong> spitalinterner Führungspersönlichkeiten ab. Diese<br />

Diskrepanz führt bei einigen befragten Kaderärzten, <strong>die</strong> mit der zunehmenden<br />

Konkurrenz privater Anbieter erst im Laufe <strong>und</strong> nicht bereits seit Anbeginn<br />

ihrer beruflichen Laufbahn konfrontiert wurden, zu einem regelrechten Festhalten<br />

an den ihnen vertrauten Strukturen oder zu Resignation. Andere wiederum<br />

399


sehen in der Alternative Privatkrankenhaus <strong>die</strong> Möglichkeit, ihrer Karriere eine<br />

neue Wende zu geben, <strong>und</strong> erzählen von Wendepunkten, bedingt durch Füh-<br />

rungswechsel, persönliche <strong>und</strong> familiäre Begebenheiten, geringere Perspektive<br />

<strong>des</strong> Erlangens der nächsten Karrierestufe oder <strong>die</strong> sogenannte Altersguillotine,<br />

<strong>die</strong> sie zur Abwanderung bewogen haben. Die ethnographischen Zeugnisse der<br />

Leaver, Stayer <strong>und</strong> Rückkehrer werden ihre Sichtweisen zum Ausdruck brin-<br />

gen, bedingen aber bei der Interviewauswertung eine objektive Distanz zum<br />

Gesagten. Im nächsten Abschnitt werden einige Eckdaten zu den befragten<br />

Kaderärzten dargelegt, was insbesondere in Bezug auf <strong>die</strong> anschliessenden<br />

beiden Kapitel der Interviewauswertung hilfreich sein wird.<br />

Zur Erläuterung der soziodemographischen Zusammensetzung der interview-<br />

ten Ärzte <strong>die</strong>nt <strong>die</strong> Abbildung <strong>des</strong> Samples unter Kapitel 3.2.2, anhand welcher<br />

ersichtlich wird: Der akademische Titel, das Pseudonym, das Alter, das Fachge-<br />

biet, <strong>die</strong> zum Zeitpunkt <strong>des</strong> Interviews ausübende Funktion <strong>und</strong> <strong>die</strong> Träger-<br />

schaft <strong>des</strong> Spitals, in welchem der Kaderarzt zum Interviewzeitpunkt tätig war.<br />

Bezüglich der Fachgebiete wird eine Begrenzung auf <strong>die</strong> Innere Medizin <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Chirurgie vorgenommen, integriert wurden zusätzlich <strong>die</strong> Verwaltung, <strong>die</strong><br />

kein medizinisches Fachgebiet darstellt, aber der Einfachheit halber so genannt<br />

wurde. Von der Nennung der Spezialitäten bzw. Fachbereiche, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kader-<br />

ärzte innerhalb ihres Fachgebietes betreuen, wurde explizit abgesehen, was mit<br />

der Gewährleistung der Anonymität der befragten Akteure zusammenhing.<br />

Insgesamt wurden zwei<strong>und</strong>zwanzig Akteure befragt. Diese Zahl setzt sich<br />

folgendermassen zusammen: zwei CEOs, dreizehn Kaderärzte aus öffentlichen<br />

Spitälern bzw. Kantonsspitälern <strong>und</strong> sieben Ärzte aus Privatspitälern. Die drei-<br />

zehn Kaderärzte, <strong>die</strong> auch als Stayer bezeichnet werden, setzen sich aus zehn<br />

<strong>Chefärzte</strong>n (Lena C., Beat U., Daniel S., Andreas L., Emil E., Hans S., Joachim<br />

A., Karl K., Petra S. <strong>und</strong> Otto K.) <strong>und</strong> drei Leitenden Ärzten (Klaus K., Bernard<br />

S. <strong>und</strong> Martin A.) zusammen, wobei <strong>die</strong> Mehrheit <strong>die</strong>ser Kaderärzte einem<br />

Fachgebiet der Medizin entstammt (zehn Medizin, zwei Chirurgie, einer Anäs-<br />

thesie). Karl K. <strong>und</strong> Bernard S. stellen <strong>die</strong> beiden interviewten Rückkehrer dar,<br />

<strong>die</strong> sich nach der Tätigkeit in einem Privatspital wieder bewusst für ein öffentli-<br />

ches Spital entschieden haben. Bei den sieben Ärzten der Privatspitäler, <strong>die</strong><br />

Leaver, lässt sich keine solch eindeutige Funktionszuteilung vornehmen, da <strong>die</strong><br />

hierarchischen Strukturen in privaten Krankenhäusern keine entsprechenden<br />

Positionszugehörigkeiten ausmachen lassen. Betrachtet man ihre letzte Position<br />

400


am öffentlichen Spital, d.h. <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> sie vor ihrem Eintritt ins Privatspital<br />

innehatten, zeigt sich folgen<strong>des</strong> Bild: Drei <strong>Chefärzte</strong> (Yann S., Walter I. <strong>und</strong><br />

Christian N.), drei Leitende Ärzte (Victor H., Adrian L. <strong>und</strong> Xavier R.) <strong>und</strong> ein<br />

Oberarzt (Bernd A.). Die Curriculum Vitae <strong>die</strong>ser sieben befragten Ärzte sind<br />

auch online zugänglich, jedoch lässt sich mehrheitlich aus den publizierten<br />

Daten ihr letzter Arbeitsort nicht entnehmen. Dies kann entweder darauf zu-<br />

rückzuführen sein, dass <strong>die</strong> online gestellten Daten unabsichtlich unvollständig<br />

sind oder aber aus der Absicht gründen, dass eine von potenziellen Patienten<br />

dadurch vorausgesetzte langjährige Tätigkeit am Privatspital sowohl von grosser<br />

Loyalität dem Privatspital gegenüber als auch einer erwiesenen Fachkompetenz<br />

zeugt. Im Rahmen der Interviews erstellten <strong>die</strong> befragten Ärzte stetig eine<br />

mündliche Kurzzusammenfassung ihres Werdegangs, <strong>die</strong>sen Zeugnissen zufolge<br />

sind <strong>die</strong> befragten Ärzte seit min<strong>des</strong>tens vier Jahren bzw. höchstens fünfzehn<br />

Jahren am Privatspital tätig. 61 Die Altersstruktur, <strong>die</strong> bei den Ärzten der<br />

Privatspitäler auf geschätzte Werte, <strong>die</strong> anhand der CVs <strong>und</strong> der mündlichen<br />

Aufzeichnungen ihres Werdegangs im Rahmen der Interviews eruiert wurden,<br />

weist ein Spektrum zwischen Anfang fünfzig bis Mitte sechzig auf. Als ein nicht<br />

zu verachtender Wandel der geschlechtsspezifischen Struktur der Ärzteschaft<br />

wurde im Rahmen der Interviews <strong>die</strong> zunehmende Feminisierung der Ärzteschaft<br />

beobachtet. Anhand <strong>des</strong> Samples wird ersichtlich, dass unter den zwanzig<br />

befragten Kaderärzten nur zwei Chefärztinnen vorzufinden sind. Diese<br />

Samplezusammensetzung widerspiegelt das auch heute noch gängige Geschlechterverhältnis<br />

auf Stufe Chefarzt. Beachtet man <strong>die</strong> Ärztestatistik der<br />

FMH <strong>des</strong> Jahres 2010, so sah im stationären Sektor auf Stufe Chefarzt <strong>die</strong> Aufteilung<br />

folgendermassen aus: 1‘510 <strong>Chefärzte</strong> (11.5% 62 aller Ärzte im stationären<br />

Sektor) davon 145 Frauen (9.6%) <strong>und</strong> 1‘365 Männer (90.4%) <strong>und</strong> auf Stufe Leitender<br />

Arzt folgendermassen: 1‘707 Leitende Ärzte (13.0% aller Ärzte im stationären<br />

Sektor) davon 371 Frauen (21.7%) <strong>und</strong> 1‘336 Männer (78.3%) (FMH, 2012,<br />

S. 400). Hierzu ein zusätzlicher Verweis auf <strong>die</strong> statistischen Zahlen zur Feminisierung<br />

<strong>des</strong> Arztberufs im Kapitel 2.3.2. Im Fokus <strong>des</strong> folgenden Unterkapitels<br />

stehen im Sinne <strong>des</strong> ethnographischen Forschungsansatzes <strong>die</strong> biographischen<br />

61 Yann S., ehemaliger Chefarzt eines Kantonsspitals, der Anfang 2000 ins Privatspital wechselte, scheint gemäss der<br />

Homepage der Privatklinik nicht mehr dort tätig zu sein.<br />

62 Im stationären Versorgungsbereich waren 2011 insgesamt 13‘123 Ärzte (100.0%) tätig. Diese Plätze teilen sich 1‘510<br />

<strong>Chefärzte</strong> (11.5%), 1‘707 Leitende Ärzte (13.0%), 2‘915 Oberärzte (22.2%) <strong>und</strong> 6‘991 Assistenzärzte (53.3%).<br />

401


Flugbahnen der interviewten Kaderärzte, wobei ein besonderes Augenmerk auf<br />

ihre Herkunft <strong>und</strong> den Verlauf ihres Werdegangs gelegt wurde. Bereits in <strong>die</strong>-<br />

sem sowie auch in den nachfolgenden Unterkapiteln wird eine Unterteilung<br />

zwischen den Stayern, Rückkehrern <strong>und</strong> Leavern vorgenommen, wodurch <strong>die</strong><br />

Differenzierung verdeutlicht werden soll <strong>und</strong> <strong>die</strong> unterschiedlichen Sichtweisen<br />

zum Ausdruck kommen.<br />

Die befragten Kaderärzte wurden im Vorfeld zum Gespräch über <strong>die</strong> Dissertationsthematik<br />

<strong>und</strong> über eine der zentralen Forschungsinteressen informiert, der<br />

zunehmenden Abwanderung von Kaderärzten aus öffentlichen Krankenhäusern<br />

hin zu privaten Spitälern. Mehrheitlich fanden <strong>die</strong> Interviews in den Büros<br />

der Ärzte statt, lediglich <strong>die</strong> Interviews mit Andreas L. <strong>und</strong> Daniel S. wurden in<br />

Besprechungsräumen abgehalten. Der zeitliche Rahmen variierte zwischen 40<br />

<strong>und</strong> 90 Minuten, wobei auf das kürzeste Interview, dasjenige mit Daniel S., ein<br />

E-Mailaustausch folgte, worin er zu den möglichen Abwanderungsgründen<br />

nochmals ausführlicher Stellung nahm. Das längste Interview wurde mit Petra<br />

S. geführt, <strong>die</strong> im Anschluss an ihren Arbeitsalltag ausführlich bereit war, Rede<br />

<strong>und</strong> Antwort zu stehen.<br />

5.1.1 Die soziale Herkunft der Probanden<br />

Der weitverbreitete Glaube der vererbten Berufung der ärztlichen Profession<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Ethos <strong>und</strong> <strong>die</strong> Reproduktion aus Ärztedynastien heraus konnte<br />

anhand <strong>des</strong> Samples, das <strong>die</strong>ser Arbeit zugr<strong>und</strong>e liegt, nicht bestätigt werden.<br />

Die Mehrheit der Kaderärzte stammt aus dem Kleinbürgertum <strong>und</strong> der Arbeiterschaft.<br />

Auf <strong>die</strong> Frage hin, ob Ärzte bereits in der eigenen Familie vertreten<br />

seien, kam zumeist eine kurze Antwort, <strong>die</strong> verlauten liess, dass der Vater entweder<br />

Handwerker, Facharbeiter, Händler, Bankfachmann oder selbstständiger<br />

Kleinunternehmer war. Daniel S. <strong>und</strong> Karl K. bezeichnen ihre Herkunftsfamilien<br />

als Arbeiterfamilien, <strong>die</strong> aus der Generation <strong>des</strong> Zweiten Weltkrieges<br />

stammen, wobei Karl K. im Gegensatz zu Daniel S. ausführlich über <strong>die</strong><br />

Kriegserfahrungen seiner Eltern <strong>und</strong> deren Geschwister berichtet. Mehrheitlich<br />

fügten <strong>die</strong> Ärzte sogleich an, dass überwiegend keine akademische Vorbildung<br />

seitens der Eltern bestand. Der Interviewte blieb auch zumeist das einzige Familienmitglied,<br />

das in der Herkunftsfamilie eine akademische Ausbildung<br />

absolvierte <strong>und</strong> demzufolge auch eine ärztliche Tätigkeit ausübt. Lediglich Otto<br />

K., Walter I. <strong>und</strong> Xavier R. berichten von Brüdern, <strong>die</strong> so wie sie selber ein Me-<br />

402


dizinstudium absolvierten <strong>und</strong> das Interesse an der Medizin bei ihnen auch<br />

verstärkt haben. Petra S., Otto K., Yann S. <strong>und</strong> Xavier R. entstammen aus Ärzte-<br />

familien, worüber sie auch ausführlich berichten. Otto K. erläutert anhand der<br />

Erfahrungen aus seiner Kindheit, weshalb er sich, wie auch seine Brüder, wo-<br />

von einer als Professor im akademischen Bereich <strong>und</strong> ein anderer als Chefarzt<br />

tätig ist, für eine Tätigkeit im stationären Sektor <strong>und</strong> bewusst gegen eine Haus-<br />

arztpraxis entschieden hat: „Es scheint eine familiäre Krankheit<br />

zu sein. Meine Grosseltern <strong>und</strong> Eltern waren bereits Mediziner<br />

bzw. meine Mutter <strong>und</strong> meine drei Brüder – alle sind<br />

Mediziner. Also das ist wirklich ein wenig in der Familie<br />

gewesen, was aber nicht heissen soll, dass ich nicht versucht<br />

habe etwas anderes zu machen. (…) Aber <strong>die</strong> Praxis kam<br />

für mich nicht infrage. Dies haben meine Eltern gemacht <strong>und</strong><br />

niemand von uns wollte <strong>die</strong>s danach. (…) Erstens ist man<br />

natürlich mit der Praxis aufgewachsen. Es war Dauerbetrieb.<br />

Wir waren alle der Meinung, dass es spannender ist, sich in<br />

Neuem zu engagieren, als in der Applikation. Wir wollten<br />

nicht ausschliesslich mit bekanntem Wissen arbeiten.“ Petra S.<br />

hingegen berichtet, dass sie ursprünglich in <strong>die</strong> Fussstapfen ihres Vaters treten<br />

wollte: „Ich wollte nie <strong>die</strong>sen Posten, den ich jetzt habe.<br />

Ich wollte immer Hausarzt werden, wie mein Vater. Ich wollte<br />

immer eine Praxis.“ Im Laufe <strong>des</strong> Interviews mit Petra S. verdeutlicht<br />

sich ihr anhaltender Einsatz für <strong>die</strong> Hausarztmedizin, <strong>und</strong> sie zeigt gleichzeitig<br />

<strong>die</strong> Schwierigkeiten auf, mit denen <strong>die</strong> Hausärzte zusehends zu kämpfen haben:<br />

„Was bei der Hausarztbetreuung sehr gut ist, ist, dass<br />

man eine umfassende Betreuung einer Familie machen kann,<br />

man kennt den sozialen Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> sie begleiten einen<br />

Menschen über Jahre. Ich bin nun dreizehn Jahre hier, ich<br />

habe Patienten hier, <strong>die</strong> ich von Beginn weg habe, so wie<br />

ein Hausarzt gewissermassen. Wenn man einen Patienten über<br />

Jahre kennt, dann ergibt sich daraus zum einen eine ganz<br />

andere Beziehung <strong>und</strong> zweitens kennt man den Patienten auch<br />

viel besser. Man muss ihn nur anschauen <strong>und</strong> erkennt schon,<br />

ob es ihm gut geht oder nicht. Es ist eine Kombination von<br />

einfacher <strong>und</strong> teilweise auch komplexer Medizin, <strong>des</strong>halb<br />

engagiere ich mich so stark für den Erhalt der Hausmedizin.<br />

(…) Heute ist es frustrierend für einen Hausarzt, heute<br />

geht der Patient zu ihm <strong>und</strong> ohne, dass er es weiss, geht<br />

<strong>die</strong>ser noch zum Herzspezialisten, zum Rheumatologen, zum<br />

Gastroenterologen oder er wünscht eine Weiterweisung. So<br />

403


wird der Hausarzt nur noch zum Triageur, der Zeugnisse ausfüllt<br />

<strong>und</strong> Überweisungen vornimmt, was es bestimmt auch<br />

nicht so attraktiv macht. (…) Ich denke, dass <strong>die</strong> Hausarztmedizin<br />

nach wie vor attraktiv ist, doch benötigt es neue<br />

Modelle, weg von der Einzelpraxis hin zu Gruppenpraxen, da<br />

erstens der finanzielle Druck kleiner wird <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ressourcen<br />

besser ausgenutzt werden können <strong>und</strong> vielleicht auch<br />

gleitende Zeiten angeboten werden könnten.“ Im Gegensatz zu<br />

Petra S. prophezeit Bernd A. keine grosse Zukunft: „Ich muss es so sagen,<br />

der Hausarzt ist eigentlich ein Auslaufmodell, obwohl<br />

man ihn konservieren möchte. Der Hausarzt muss von so vielen<br />

Bereichen, so viel wissen <strong>und</strong> à jour sein <strong>und</strong> mit dem<br />

Spezialisten mithalten können, <strong>und</strong> das schafft er nicht,<br />

denn viele der Hausärzte waren in den Spitälern Assistenten<br />

<strong>und</strong> nicht Oberärzte, das muss man wissen. Entscheidungen<br />

fällen, können sie erst auf Stufe Oberarzt. Wenn sie sagen<br />

können: Ich habe <strong>die</strong>sen Patienten operiert, aus <strong>die</strong>sen <strong>und</strong><br />

jenen Gründen, <strong>und</strong> ich habe das operiert.“ Andreas L. würde<br />

ihm hinsichtlich der zunehmenden Spezialisierung nicht widersprechen, jedoch<br />

würde er <strong>die</strong>s hinsichtlich der Zuschreibung der Wichtigkeit, <strong>die</strong> Bernd A. den<br />

Spezialitäten bzw. Fachbereichen gegenüber vornimmt, tun: „Wir haben ein<br />

hohes Niveau in der Feuerwehr, jeder meint aber, dass wir<br />

nur den Umweltgiftspezialisten, den Bombenentschärfer, usw.<br />

in der Feuerwehr benötigen. Diese braucht es auch, aber es<br />

braucht in erster Linie mal jene, <strong>die</strong> ein Feuer löschen<br />

können, von <strong>die</strong>sen braucht es <strong>die</strong> Mehrheit. Von den anderen<br />

aber braucht es nur ganz wenige.“ Petra S. veranschaulicht im Rahmen<br />

<strong>des</strong> Gesprächs mehrmals den ziel- <strong>und</strong> prozessorientierten sowie kooperativen<br />

Führungsstil <strong>des</strong> CEOs ihres Kantonsspitals <strong>und</strong> zeigt auf, wie bedeutend<br />

ihrer Meinung nach <strong>die</strong> Zusammenarbeit zwischen dem ambulanten <strong>und</strong> stationären<br />

Sektor ist: „Auf der Notfallstation haben wir einen riesigen<br />

Zulauf, sodass wir nun, nach etwa sieben- oder achtjährigem<br />

Kampf soweit sind <strong>und</strong> <strong>die</strong> Stadtärzte auch davon<br />

überzeugen konnten, dass sie den Notfall bei uns machen, wo<br />

wir alle Vorhalteleistungen anbieten können, anstatt zwei<br />

Notfallstationen zu haben, zu den Hausärzten aber niemand<br />

kommt. Nun haben wir fünf<strong>und</strong>zwanzig Ärzte aus der Stadt,<br />

<strong>die</strong> in der Notfallstation <strong>des</strong> hiesigen Spitals den Notfall<br />

für <strong>die</strong> Stadt machen. Ein Patient, der gehfähig ist, wird<br />

bei uns auf der Notfallstation von einem Hausarzt betreut.“<br />

404


Ihr Engagement gepaart mit durchgängiger Zielstrebigkeit <strong>und</strong> ihre Prämisse,<br />

mit kompetenter <strong>und</strong> professioneller Leistung vorankommen zu wollen, <strong>die</strong> sie<br />

als Notwendigkeit für das Bestehen als Ärztin gegenüber ihren männlichen<br />

Kollegen, oft auch Konkurrenten, erachtet, hat zu einem vorbildlichen Karrie-<br />

reverlauf geführt, wie auch folgende Zusammenfassung zeigt: „Man muss<br />

sicherlich eine gleichwertige Leistung erbringen oder einen<br />

Zacken mehr. Aber ansonsten hier im Spital, ich war ja <strong>die</strong><br />

erste Frau hier als Chefärztin im Spital, auch Professorin<br />

<strong>und</strong> alle <strong>die</strong>se Dinge, ich war vielleicht doch ein wenig ein<br />

Novum. Auch am Universitätsspital auf der Abteilung meiner<br />

heutigen Spezialität war ich eine der ersten Professorinnen,<br />

war <strong>die</strong> erste Spezialistin innerhalb meines heutigen<br />

Spezialgebietes <strong>und</strong> überhaupt <strong>die</strong> Einzige. War auch <strong>die</strong><br />

erste Spezialistin innerhalb meines Fachbereichs in der<br />

Schweiz, <strong>die</strong> habilitiert war.“ Der Karriereverlauf, den <strong>die</strong> Mehrheit<br />

der Ärzte als zufällig bezeichnet, ist mehrheitlich durch Förderer, Ausbilder<br />

bzw. Kaderärzte, Auslandsaufenthalte, Kombination von klinischer Tätigkeit<br />

<strong>und</strong> akademischer Forschung <strong>und</strong> schliesslich <strong>die</strong> Habilitation gekennzeichnet.<br />

Joachim A. spricht in Bezug auf seine berufliche Laufbahn nicht von Zufällen<br />

<strong>und</strong> Schicksal, sondern von Glück: „Sie haben ja gehört, dass ich<br />

ein paar Mal Glück gehabt habe. Ich sehe <strong>die</strong>s als Glück an,<br />

es gibt ja immer wieder gewisse Knackpunkte in einer Karriere,<br />

teilweise kann man <strong>die</strong>se selber beeinflussen, teilweise<br />

ist es einfach <strong>die</strong> Konstellation.“ Auf <strong>die</strong> beruflichen Laufbahnen<br />

wird unter Kapitel 5.1.2 ausführlicher eingegangen. Petra S. hat <strong>die</strong><br />

Wichtigkeit der Unterstützung <strong>und</strong> Förderung seitens der Kaderärzte im Laufe<br />

ihrer eigenen beruflichen Karriere erlebt, weshalb sie als Frau <strong>und</strong> Chefärztin<br />

<strong>die</strong> Förderung junger Ärztinnen als eine ihrer eminent wichtigen Aufgaben im<br />

Rahmen ihrer Führungsposition <strong>und</strong> ihrer Aus- <strong>und</strong> Weiterbildungstätigkeit<br />

sieht: „Was einfach wichtig ist, so glaube ich, ich habe ja<br />

auch immer wieder geschaut, dass ich Frauen nachziehe, ist,<br />

dass man als Frau einfach sich selber bleibt.“ Und sie fügt<br />

folgenden Satz hinzu: „Es gibt vielleicht Frauen, <strong>die</strong> etwas burschikos<br />

sind oder so, aber man sollte versuchen sich einfach<br />

treu zu bleiben, echt <strong>und</strong> authentisch bleiben.“ Auch<br />

Lena C. <strong>und</strong> Otto K. teilen <strong>die</strong> Leidenschaft für <strong>die</strong> Lehre <strong>und</strong> das Teaching der<br />

Assistenzärzte, was Lena C. folgendermassen ausdrückt: „Es ist auch<br />

irrsinnig immer wieder mit Studenten oder jungen Assisten-<br />

405


ten zusammenzuarbeiten <strong>und</strong> man anschliessend sieht, was aus<br />

ihnen wird.“ Insbesondere Otto K. hat im Laufe <strong>des</strong> Gesprächs <strong>die</strong> hohe<br />

Relevanz <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses als Lehr- <strong>und</strong> Forschungsinstitution<br />

betont: „Der grösste negative Punkt ist, dass wir keine Medical<br />

School sind. Also wir haben sehr viele Kliniken, <strong>die</strong> A-<br />

Kliniken sind <strong>und</strong> akademisch arbeiten. Aber wir sind keine<br />

Ausbilder. Wir sind nur Mitausbilder. Natürlich nehmen wir<br />

Deutsche <strong>und</strong> Schweizer hier auf, aber es wäre toll, wenn<br />

wir ein Teaching Hospital sein könnten <strong>und</strong> nicht einfach<br />

attached. Dass wir eine Medical School werden, das ist eine<br />

meiner ehrgeizigen Aufgaben in meiner verbleibenden Zeit,<br />

dass wir Studenten im Master ausbilden, dass wir also <strong>die</strong><br />

klinische Seite der Ausbildung teilweise übernehmen können.<br />

Die Bachelorseite müssen wir nicht machen. Wir sind ein<br />

ideales Ausbildungsspital. Wenn sie heute an ein Universitätsspital<br />

in Zürich oder Bern gehen, dann erzählen mir<br />

meine Chefarztkollegen, dass der normale Lungenkrebspatient<br />

nicht mehr zu ihnen komme. Sie hätten nur noch <strong>die</strong>se mit<br />

zwei Bypässen, einem Hirnschlag <strong>und</strong> einer schweren Diabetes.<br />

Alles was <strong>die</strong> anderen also nicht wollen, schickt man<br />

zu uns. Wir hier sind Gr<strong>und</strong>versorger. Wir sind das Stadtspital,<br />

das Kantonsspital, der Tertiärversorger in der Region.“<br />

Auch Christian N., der im Gegensatz zu den anderen Leavern bereits<br />

seit fünfzehn Jahren im Privatspital tätig ist, stimmt Otto K. zu: „Ich finde<br />

der Chefarzt hat zwei Sachen zu tun: das eine ist <strong>die</strong> Ausbildung<br />

der Assistenten, Organisation der Klinik <strong>und</strong> Behandlung<br />

allgemeinversicherter Patienten mit schwierigen<br />

Fällen.“ Und das andere sei: „Das ist das eine, <strong>und</strong> das soll<br />

auch recht honoriert sein. Daneben kann man sagen, du hast<br />

zehn oder zwanzig oder dreissig Privatbetten, im Prinzip<br />

würde ich als Spital sagen, du hast so viele, wie du<br />

willst, da das Spital ja auch daran ver<strong>die</strong>nt <strong>und</strong> <strong>die</strong>s auch,<br />

wenn er nichts vom Honorar abzieht.“ Dabei scheint Christian N. zu<br />

entgehen, dass er als ehemaliger Chefarzt in seinem beruflichen Alltag im Privatspital<br />

<strong>die</strong> beiden ersten Pflichten, denen ein Chefarzt nachzukommen hat,<br />

nicht erfüllt. Und auf <strong>die</strong> an <strong>die</strong>se Antwort anschliessende Frage, dass eine zu<br />

hohe Anzahl an Betten für Zusatzversicherte <strong>die</strong> Gefahr der Kannibalisierung<br />

von Betten für Allgemeinversicherte zur Folge haben könnte, antwortet er:<br />

„Nein, nein, ein Spital hat immer freie Betten. Die einzige<br />

Gefahr ist, dass der private Patient schneller dran kommt.<br />

406


Zum Beispiel für Operationen, welche nicht dringend sind.<br />

Aber es war noch nie so, dass man einen Patienten mit einem<br />

Notfall nicht hätte operieren können, ob er nun allgemeinversichert<br />

oder privatversichert war. Und zudem hat der<br />

privatversicherte Patient ja <strong>die</strong> Möglichkeit in alle Privatkliniken<br />

zu gehen. Das Kantonsspital, das öffentliche<br />

Spital, hat ja einen Bonus, da man denkt, dass das Kantonsspital<br />

besser ist oder <strong>die</strong> besseren Ärzte dort arbeiten.<br />

Das denkt man heute schon viel weniger.“ Im Laufe der<br />

Forschungsphase <strong>und</strong> den damit einhergehenden zahlreichen Besuchen von<br />

Kantonsspitälern <strong>und</strong> Privatspitälern sowie aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> steten Austauschs<br />

mit Kaderärzten öffentlicher Spitäler <strong>und</strong> weiterer Informanten aus dem Feld<br />

kam durchwegs <strong>die</strong> zahlenmässige Knappheit der Betten sowohl seitens der<br />

Abteilungen für Allgemeinversicherte als auch seitens derjenigen für Zusatzversicherte<br />

zum Ausdruck. Seine Aussage verdeutlicht aber auch, dass <strong>die</strong><br />

Behandlung zusatzversicherter Patienten einen monetären Zugewinn bzw. ein<br />

Honorar aus der persönlichen Erbringung medizinischer Leistungen verspricht,<br />

<strong>und</strong> offenbart somit <strong>die</strong> nackte Wahrheit der vom Versichertenstatus abhängigen<br />

Entlohnung. Im Rahmen <strong>des</strong> Kapitels zu den arbeitsweltlichen Paradoxien<br />

werden <strong>die</strong> Gehaltsstrukturen als Entlohnungs- <strong>und</strong> zugleich leistungsabhängigem<br />

Anreizsystem verdeutlicht.<br />

Sowohl Otto K. als auch Petra S. erläuterten, wie sehr das familiäre Leben dem<br />

Berufsalltag <strong>des</strong> Vaters in der Praxis untergeordnet wurde <strong>und</strong> wie bewusst sie<br />

als Kinder <strong>die</strong> geringe Freizeit, <strong>die</strong> ihren Eltern durch den Beruf der Mutter<br />

bzw. <strong>des</strong> Vaters zugestanden wurde, miterlebten. Bei der Hausarztpraxis <strong>des</strong><br />

Vaters von Petra S. kann von einer Gemeinschaftspraxis gesprochen werden,<br />

<strong>die</strong>s nicht im neuzeitlich angewandten Sinne, sondern im Sinne einer gemeinschaftlich<br />

geführten Praxis, in welcher der Vater <strong>die</strong> Rolle <strong>des</strong> Arztes einnahm<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Mutter <strong>die</strong> der Buchführerin, bei Ferienabwesenheit der Praxisschwestern,<br />

<strong>die</strong> der Pflegefachfrau <strong>und</strong> bei kleineren ambulanten Eingriffen <strong>die</strong> der<br />

Operationsassistentin. Petra S. beschreibt <strong>die</strong> damalige familiäre Situation <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> offensichtliche Vermengung <strong>des</strong> beruflichen <strong>und</strong> privaten Lebensalltags<br />

folgendermassen: „Bei uns war <strong>die</strong> Praxis im Wohnhaus integriert,<br />

nicht mal eine Türe hat bei<strong>des</strong> abgetrennt. Bei uns<br />

war immer Durchgangsverkehr, nach der Schule bin ich inmitten<br />

der Praxis im Parterre gelandet. (…) Das war ein durchgängiges<br />

Haus mit nur einer Treppe <strong>und</strong> auch nur einem Tele-<br />

407


fon. Wenn folglich ein Anruf kam, dann wusste man nie, ist<br />

<strong>die</strong>s nun privat oder für <strong>die</strong> Praxis. Bei uns waren <strong>die</strong> Praxis<br />

<strong>und</strong> der Haushalt eine Einheit. (…) Das Familienleben<br />

hat man dem Beruf <strong>des</strong> Vaters untergeordnet. Das Leben <strong>des</strong><br />

Vaters war <strong>die</strong> Medizin <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mutter hat sich quasi <strong>die</strong>sem<br />

angepasst oder untergeordnet. (…) Und am Mittag kamen Telefonate<br />

der Patienten oder <strong>die</strong> Hausglocke hat geklingelt,<br />

wir haben Telefone beantwortet, an der Haustüre Patienten<br />

entgegen genommen. Später war meine Arbeit am frühen Morgen<br />

immer, dass ich um sechs Uhr <strong>die</strong> Türe öffnen ging, damit<br />

<strong>die</strong> Patienten ins Wartezimmer gehen konnten, da sie teilweise<br />

bereits um halb sieben kamen. Das war vollständig<br />

integriert. Für uns Kinder war es schon spürbar, wir konnten<br />

aber auch gleichzeitig unsere Freiräume gestalten, da<br />

<strong>die</strong> Eltern keine Zeit für uns hatten. Im Alltag war der<br />

Vater mehr oder weniger inexistent. Er kam lediglich am<br />

Mittag Mittagessen, <strong>und</strong> am Abend kam er von der Besuchstour<br />

so spät nach Hause, dass wir ihn kaum gesehen haben. Erst<br />

als wir älter wurden, hatten wir mehr Kontakt mit ihm.“<br />

Anhand <strong>die</strong>ser Aussage verdeutlicht sich <strong>die</strong> Vereinheitlichung der Professions-<br />

, Organisations- <strong>und</strong> Privatrolle <strong>des</strong> Vaters von Petra S. (Manzeschke & Nagel,<br />

2006). Wie bereits zu Beginn <strong>die</strong>ses Unterkapitels erläutert wurde, war sich Otto<br />

K. bereits zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn im Klaren darüber, dass er<br />

nicht Hausarzt werden möchte. Otto K. greift in <strong>die</strong>sem Zusammenhang einen<br />

weiteren wichtigen Faktor auf, nämlich <strong>die</strong> Intensivierung <strong>des</strong> beruflichen Alltags,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> sich daraus ergebenden, teils auch zahlreichen, Opfer, <strong>die</strong> das<br />

Ärztesein mit sich bringen, wie geringe Freizeit, hohe Arbeitsbelastung <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

starke Verflechtung <strong>des</strong> Arbeitsalltages <strong>und</strong> <strong>des</strong> Privatlebens, wobei <strong>die</strong>se Faktoren<br />

besonders im Rahmen der Erläuterungen zu den ersten Assistenzarztjahren<br />

verlautbart wurden: „Wir wollten nicht ausschliesslich mit<br />

bekanntem Wissen arbeiten. À la longue muss ich auch sagen,<br />

dass <strong>die</strong>jenigen meiner Kollegen, welche in <strong>die</strong> Praxis gingen,<br />

viel eher ein Burnout hatten. Das sind Situationen,<br />

welche ich nie erlebt habe. Ich kam auch nie in <strong>die</strong> Situation,<br />

dass ich am Morgen nicht gerne aufstehe, weil ich<br />

meinen Job nicht gerne mache, dafür ist er einfach zu spannend.“<br />

Inwiefern <strong>die</strong> Arbeitsintensität sich im Laufe der beruflichen Laufbahn<br />

verändert hat <strong>und</strong> inwiefern <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en-Woche, <strong>die</strong> teilweise als massiver<br />

Eingriff in <strong>die</strong> Ausbildung der Assistenzärzte bezeichnet wurde <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

aber auch als Indiz für das sich wandelnde Berufsverständnis der jungen<br />

408


Ärztegeneration erachtet wird, eine deutliche Forderung nach oder aber Auferlegung<br />

von einer ges<strong>und</strong>en Work-Life-Balance zeugt, wird aus Sicht der Kaderärzte<br />

im Rahmen <strong>des</strong> Kapitels zu den arbeitsweltlichen Paradoxien erläutert.<br />

Die Mehrheit der befragten Kaderärzte ist verheiratet <strong>und</strong> hat Kinder, ihre<br />

Anzahl variiert in all jenen Fällen, in denen <strong>die</strong> Ärzte im Interview auch bereit<br />

waren, von der eigenen Familie zu erzählen, zwischen zwei <strong>und</strong> vier Kindern.<br />

Lediglich von Klaus K. <strong>und</strong> Petra S. war zu vernehmen, dass sie keine Kinder<br />

haben. Petra S. begründet <strong>die</strong>sen Entscheid folgendermassen: „Ich wollte<br />

immer h<strong>und</strong>ertprozentig <strong>und</strong> zwar ohne Abstrich Medizin machen.<br />

Da ist bei Frauen immer noch <strong>die</strong> Frage nach Familie<br />

<strong>und</strong> Kindern. Und ich fand immer, dass wenn ich etwas mache,<br />

dann mache ich es vollumfänglich. Die Alternative war ein<br />

Bauernhof <strong>und</strong> ein paar Kinder, aber auch das hätte aufgehen<br />

müssen. Ich hatte nie das ,Fünfer <strong>und</strong> der Weggen-Denken‘,<br />

ich hatte immer das Gefühl, da der Beruf mir immer zuvorderst<br />

stand, dass wenn ich ein Kind hätte, dann würde <strong>die</strong>ses<br />

oder der Beruf leiden. Deshalb habe ich auch das Ziel<br />

zielstrebig verfolgt.“ In den wenigsten Fällen entschied sich der<br />

Nachwuchs für ein Medizinstudium, lediglich Andreas L., Yann S. <strong>und</strong> Xavier<br />

R. berichten von ihren Töchtern, <strong>die</strong> denselben Weg wie ihre Väter <strong>und</strong> teilweise<br />

auch wie ihre Mütter eingeschlagen haben. Zumeist wird von den Söhnen<br />

berichtet, dass sie sich entweder für ein Wirtschafts-, Rechts- oder Philosophiestudium<br />

entscheiden, mehrheitlich fügten in <strong>die</strong>sen Fällen <strong>die</strong> Ärzte hinzu, dass<br />

sie sich gegen ein Medizinstudium entschieden hätten, da sie den Beruf <strong>des</strong><br />

Vaters als zu anstrengend wahrnehmen. Andreas L. drückt sich hierzu folgendermassen<br />

aus: „Ich habe eine Tochter, <strong>die</strong> nun auch Medizin<br />

macht. Die Söhne nicht, <strong>die</strong> sind etwas bequem <strong>und</strong> wollen<br />

nicht so viel arbeiten.“ Und Hans S. nimmt folgendermassen dazu<br />

Stellung: „Keines meiner Kinder wird dasselbe machen wie ich.<br />

Der eine stu<strong>die</strong>rt Wirtschaft, der andere Jura <strong>und</strong> meine<br />

Tochter hat gerade Architektur abgeschlossen.“ Auf <strong>die</strong> Frage<br />

hin, ob der inskünftig zu erwartende monetäre Ver<strong>die</strong>nst <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong>nwahl bzw.<br />

Berufswahl der heutigen Jugend beeinflusst, nimmt Xavier R. folgendermassen<br />

Stellung: „Nur ein Beispiel, ich weiss von (…) meinen Kindern,<br />

dass <strong>die</strong> Berufswahl ihrer Kollegen sehr unter dem<br />

angesprochenen Einfluss steht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s egal ob im Bereich<br />

Recht oder Ökonomie, es spielt in beiden eine Rolle. Bei<br />

409


den Juristen existiert das interessante Phänomen, das kann<br />

ich jetzt auch gerade per Zufall sagen, wer wird Strafverteidiger<br />

<strong>und</strong> wer geht in den Wirtschaftsbereich.“ Xavier R.<br />

stellt demzufolge <strong>die</strong> These auf, dass <strong>die</strong> Wahl <strong>des</strong> Stu<strong>die</strong>ngangs durch <strong>die</strong> in<br />

Aussicht gestellte überdurchschnittlich hohe Entlohnung beeinflusst wird. Die<br />

Interviews haben gezeigt, dass <strong>die</strong> Gehaltsstrukturen sowohl <strong>die</strong> Gemüter der<br />

Leaver als auch <strong>die</strong> der Stayer erregen. Der Rückkehrer Bernard S. hingegen<br />

vertritt folgende Meinung: „Es sind sowieso hohe Gehälter, nach<br />

meiner Beurteilung gehören wir sowieso alle zu den Spitzenver<strong>die</strong>nern.<br />

Wenn mir heute einer sagt, in <strong>die</strong>ser Preisklasse,<br />

in welcher wir heute noch immer sind, er ver<strong>die</strong>ne zu<br />

wenig, dann kann ich <strong>die</strong>s nicht nachvollziehen.“ Und auch<br />

Petra S. zeigt wenig Verständnis für ihre Kollegen, <strong>die</strong> sich über ein zu tiefes<br />

Gehalts beklagen: „Ansonsten sind Ärzte aber ,Jommeris‘<br />

(Anm.d.A. Schweizerdeutscher Wortgebrauch. Jommeris steht<br />

für all jene, <strong>die</strong> sich gerne beklagen), wie <strong>die</strong> Bauern, ...<br />

Sie müssen übers Geld <strong>und</strong> über alles jammern.“ Die Entlohnungssysteme<br />

variieren von Kantonsspital zu Kantonsspital sehr stark, auch bei<br />

den Privatspitälern konnte keine Einheitlichkeit festgestellt werden, was mit<br />

der Belegarztstruktur, der zunehmenden Anzahl an festangestellten Ärzten <strong>und</strong><br />

der offenk<strong>und</strong>igen Konkurrenz zwischen <strong>und</strong> innerhalb den Fachbereichen<br />

zusammenhängt. Die Gehaltsstrukturen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Auskunftsbereitschaft hinsichtlich<br />

der monetären Einnahmen <strong>und</strong> ihre Zusammensetzung wird im Kapitel<br />

zu den Paradoxien der ärztlichen Arbeitswelt vertieft erörtert.<br />

Klaus K., Yann S., Christian N. <strong>und</strong> Xavier R. berichten, dass ihre Frauen Ärztinnen<br />

sind, hierzu Yann S.: „Meine Frau ist auch Ärztin, das kommt<br />

auch noch dazu (beide lachen). Wir haben <strong>die</strong> Tochter sicherlich<br />

nicht aufs Medizinstudium hinauf gelupft. Auch<br />

meine Frau hat gesagt, dass Probleme hinsichtlich <strong>des</strong> Timings<br />

mit dem FMH machen <strong>und</strong> Kinder haben <strong>und</strong> so auftreten.<br />

Gewisse Gebiete sind einfach schwierig.“ Yann S. spricht auch den<br />

gegenwärtig noch bestehenden Entscheidungskonflikt an, Kind oder Karriere,<br />

der sich eine Frau vor dem Entscheid zum Medizinstudium zu stellen hat. Petra<br />

S. hat sich bewusst gegen Kind <strong>und</strong> Familie entschieden, <strong>und</strong> auch wenn mit<br />

Gruppenpraxen im ambulanten Sektor <strong>und</strong> Teilzeitstellen im stationären Sektor<br />

auf Stufe Oberarzt Möglichkeiten geschaffen wurden, um Familie <strong>und</strong> Beruf<br />

kombinieren zu können, so stellt <strong>die</strong> Wahl in eine Kaderposition noch immer<br />

410


ein Hürdenlauf für all jene dar, <strong>die</strong> bei<strong>des</strong> unter einen Hut zu versuchen krie-<br />

gen. Klaus K. beispielsweise berichtet, dass er seine Assistenzarztstelle im Uni-<br />

versitätsspital dem Umstand zu verdanken hat, dass <strong>die</strong> Bereitschaft der Vorge-<br />

setzten Teilzeitstellen zu fördern bzw. Ärztinnen, <strong>die</strong> nebst Medizinerinnen<br />

auch Mütter sein wollen, neue Anstellungsmöglichkeiten zu bieten, fehlt:<br />

„Meine Vorgängerin in der Abteilung am Universitätsspital<br />

wurde schwanger, folglich konnte ich ihren Weiterbildungsplatz<br />

erhalten. Der Chef damals war nicht so fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong><br />

teilte ihr mit, dass er sie nach dem Urlaub nicht mehr anstellen<br />

werde <strong>und</strong> teilte ihr weiter mit, dass er nicht wolle,<br />

dass sie eine Teilzeitausbildung mache.“ Auch Lena C.<br />

musste sich <strong>die</strong>ser Diskriminierung stellen, <strong>und</strong> Petra S. antwortet auf <strong>die</strong> Frage<br />

hin, ob sie sich als Frau je benachteiligt gefühlt hat, mit einem deutlichen Nein<br />

<strong>und</strong> fügte folgende Ausnahme hinzu: „Nein, nein, nein. Das einzige<br />

Mal als es wirklich ein Nachteil war, ist, als ich zweimal<br />

im Leben eine Stelle nicht erhalten habe. In dem kleineren<br />

Kantonsspital zum ersten Mal, also nicht bei meinem späteren<br />

Partner, sondern bei seinem Leitenden Arzt. Als ich<br />

mich als Frau gemeldet habe, hat er gesagt, das können Sie<br />

vergessen, denn falls Sie kommen müssen, dann sind Sie<br />

schwanger oder verheiratet <strong>und</strong> so. Hier erhalten Sie keine<br />

Stelle. Ich habe es dann aber über <strong>die</strong> Hintertür gemacht<br />

... Ich habe es immer über <strong>die</strong> Leistung gemacht.“ Lena C.<br />

sprach im Gegensatz zu Petra S. <strong>die</strong> geschlechterspezifischen Rollenzuschreibungen<br />

aktiv an, was auch damit zu tun hatte, dass Lena C. bereits als Kind<br />

eine höhere schulische Ausbildung aufgr<strong>und</strong> ihres Geschlechts <strong>und</strong> dem damaligen<br />

Rollenverständnis nicht zugetraut wurde: „Weil mein Vater den<br />

Eindruck hatte, dass Mädchen sowieso heiraten, <strong>und</strong> dann sei<br />

<strong>die</strong>s eine Fehlinvestition. Das war rückblickend, so glaube<br />

ich, sehr gut gewesen, denn eigentlich war <strong>die</strong>s ein klarer<br />

Ansporn. (…) Es herrschte also <strong>die</strong> Vorstellung, dass man<br />

nicht für das geboren ist.“ Sowie Petra S. kann auch Lena C. auf eine<br />

vorbildliche Karriere zurückblicken, wobei Lena C. über das Durchsetzungsvermögen,<br />

das sie gegenüber ihren männlichen Kollegen im Laufe ihrer Ausbildung<br />

sowie während ihrer Oberarztjahre an den Tag zu legen hatte, ausführlicher<br />

berichtet: „Und dann habe ich gesagt, was benötigt man,<br />

damit man am damaligen Spital Oberarzt wird? Und dann sagte<br />

mein Chef, also Frauen werden nie Oberarzt. Dann habe ich<br />

gesagt, wir sind nicht dümmer als Männer. Und dann hat er<br />

411


gesagt, aber <strong>die</strong> bringt man nicht los, wörtlich. Also, dass<br />

<strong>die</strong>, dass wenn man <strong>die</strong> als Oberarzt einstellt, werden <strong>die</strong><br />

nicht zum Chef gewählt. Die hatten eben an <strong>die</strong>sem Spital<br />

ganz viele, <strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong> wurden, <strong>und</strong> dann hatte er das<br />

Gefühl, dass Frauen als Chefärztinnen nicht gewählt werden,<br />

<strong>und</strong> demzufolge bleiben <strong>die</strong> bei ihm hängen.“ Hierzu muss angefügt<br />

werden, dass der Kaderarzt, der <strong>die</strong>se Worte gegenüber Lena C. verlauten<br />

liess, später zu ihren wichtigsten Förderern gehörte. Lena C. spornten <strong>die</strong> offensichtlich<br />

auf der Geschlechterzugehörigkeit basierenden Abweisungen an: „Ja,<br />

natürlich ist es mühsamer gewesen, aber umgekehrt, wenn ich<br />

ein Junge gewesen wäre, dann hätte ich vielleicht nicht so<br />

viel Widerstand gehabt <strong>und</strong> damit nicht so viel Motivation.<br />

Jetzt am Schluss bin ich denen dankbar, dass sie das nicht<br />

haben wollten. Dann habe ich gedacht, den Typen zeig ich<br />

es, das ist nun ein wenig böse gesagt. Und so ist das.“<br />

Sowohl Lena C. als auch Petra S. berichten, dass <strong>die</strong> Benachteiligung der Frau<br />

abnimmt, je höher ihre Position in der Spitalhierarchie angesiedelt ist, wodurch<br />

ihnen ganz offensichtlich auch eine andere Legitimität seitens ihrer männlichen<br />

Kollegen zugesprochen wird. Hierbei muss beachtet werden, wie in der Einleitung<br />

zu <strong>die</strong>sem Kapitel bereits berichtet wurde, dass auf zehn <strong>Chefärzte</strong> nur<br />

eine Chefärztin kommt, was vermutlich stark mit der fehlenden Förderung<br />

angehender weiblicher Ärztinnen korreliert.<br />

Eine erneute Betrachtung der Ehepartner der befragten Kaderärzte zeigt, dass<br />

Petra C. mit einem ehemaligen Chefarzt verheiratet ist, während Lena C. keine<br />

Eckdaten zu ihrem Privatleben preisgibt. Bei Adrian L. arbeitet <strong>die</strong> Ehefrau in<br />

seiner Praxis im Privatspital mit, <strong>die</strong> Frau von Daniel S. ist bzw. war in der<br />

Pflege tätig, <strong>und</strong> <strong>die</strong> jetzige Frau von Otto K. ist Hebamme, von seiner ersten<br />

Frau, <strong>die</strong> Mutter seiner Kinder, hat sich Otto K. getrennt. Von Trennungen <strong>und</strong><br />

Scheidungen berichten <strong>die</strong> Kaderärzte, wenn überhaupt, dann nur sehr verhalten,<br />

von der Schwierigkeit den Arztberuf mit dem Familienleben <strong>und</strong> dem<br />

Fre<strong>und</strong>eskreis zu vereinbaren, berichten sie hingegen ausführlicher, was Hans<br />

S. exemplarisch erläutert: „Ich war Assistent in der Intensivstation<br />

mit Zwölfst<strong>und</strong>en-Schichten, was bedeutet, dass man sieben<br />

Tage à zwölf St<strong>und</strong>en arbeitete. In der ersten Woche<br />

arbeitete man am Tag, in der zweiten Woche in der Nacht <strong>und</strong><br />

in der dritten Woche hatte man sieben Tage frei, das bedeutete,<br />

dass ich während <strong>die</strong>ser Zeit völlig ausserhalb jeglicher<br />

sozialen Normalität war. Ich habe <strong>die</strong>s dann neun Mona-<br />

412


te lang gemacht. In <strong>die</strong>ser Zeit ist man für <strong>die</strong> eigene Beziehungsperson,<br />

wenn man in einer Beziehung lebt, für <strong>die</strong><br />

Kinder, aber auch für <strong>die</strong> weitere soziale Umgebung einfach<br />

nicht vorhanden, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s war schwierig.“ Auf <strong>die</strong>se fehlende <strong>und</strong><br />

teils geringe Freizeit für <strong>die</strong> eigene Familie <strong>und</strong> <strong>die</strong> eigenen Bedürfnisse blicken<br />

<strong>die</strong> Mehrheit der befragten Kaderärzte mit grosser Wehmut. Bei Walter I., einem<br />

angesehenen ehemaligen Chefarzt eines Kantonsspitals, war <strong>die</strong>s mitunter<br />

ausschlaggebend für <strong>die</strong> Abwanderung in ein Privatspital: „Bis ich für<br />

eine Chefarztposition fit war, war ich auch bereit, so viel<br />

zu opfern, das muss man auch. Ab fünfzig müssen sie aber<br />

eine vernünftige Life-Balance finden, ansonsten werden sie<br />

für <strong>die</strong> Mitarbeiter <strong>und</strong> <strong>die</strong> Familie unerträglich, das hätte<br />

ich aber im Paket Kantonsspital nicht gesehen. Ich muss nun<br />

wieder eine Life-Balance haben. (…) Ich sehe meine Familie<br />

wenig. Im Winter habe ich meine Kinder am Morgen beim<br />

Schlafen gesehen <strong>und</strong> am Abend, wenn ich nach Hause kam,<br />

beim Schlafen gesehen. Das bringt es doch überhaupt nicht.“<br />

Bei anderen wiederum stellt <strong>die</strong>se, von Walter I. treffend als fehlende oder<br />

gestörte Work-Life-Balance bezeichnet, den Gr<strong>und</strong> gegen eine erneute Wahl <strong>des</strong><br />

Arztberufs dar, wie Beat U. erläutert: „Einfach, von 1981 bis vor zwei<br />

Jahren, habe ich nur für <strong>die</strong> Medizin gelebt. Gut, ich habe<br />

alles für meine Familie gemacht, ich habe vier Kinder. Aber<br />

ich habe nichts für mich gemacht. Ich würde was anderes<br />

machen, was komplett anderes machen, ich würde aufs Konservatorium<br />

gehen.“ Beat U. ist, wie <strong>die</strong> grosse Mehrheit der befragten Kaderärzte,<br />

ein äusserst engagierter Arzt, der den Glauben an <strong>die</strong> „totale soziale Rolle“<br />

noch nicht verworfen hat, gleichzeitig aber Ansätze von Desillusionierung<br />

zeigt, was auch <strong>die</strong> Rahmung seines Interviews offenbart hat. Beat U. fasst<br />

exemplarisch zusammen, was <strong>die</strong> Kaderärzte in ihrer Zeit als junge Assistenzärzte<br />

am Arztberuf fasziniert hat: „Das Spannende an der Medizin ist<br />

das Erkennen, was dem Patienten fehlt, sein Leiden. Dies<br />

herauszufinden fand ich spannend. Es ist wie ein Kriminalroman.<br />

Man hat ein paar Symptome, Hercule Poirot hat ein<br />

paar Indizien, welche man dann richtig zusammenstellen<br />

muss, damit man zu einer Diagnose kommt oder eben den Täter<br />

findet. Sich <strong>die</strong>ses Wissen aneignen zu können, das ist genial.<br />

Und dass dann <strong>die</strong>s auch noch <strong>die</strong> richtige Konsequenz<br />

hat, dass man eine Krankheit, dann nicht lediglich diagnostizieren,<br />

sondern auch behandeln kann, das ist genial. Das<br />

Arbeiten mit Leuten, mit jungen Assistenten, in welchen man<br />

413


teilweise auch das Feu sacré erkennt oder aber <strong>die</strong>jenigen,<br />

<strong>die</strong> sich damit anstecken lassen, das ist enorm befriedigend.<br />

Das Weitergeben an Erfahrungen, das Weitergeben <strong>des</strong>sen,<br />

was man gesehen hat, ist enorm befriedigend, vor allem<br />

auch wenn man sieht, dass <strong>die</strong>s aufgenommen wird. Ich bin<br />

nun bald seit zwanzig Jahren als Arzt tätig.“<br />

Die ursprüngliche Begeisterung, <strong>die</strong> sich hinter der Wahl <strong>des</strong> Arztberufs verbarg,<br />

ist leicht auf zwei Nenner zu bringen: das Interesse am <strong>und</strong> für den Patienten<br />

sowie <strong>die</strong> Faszination für <strong>die</strong> Medizin als Wissenschaft. Wie anhand der<br />

Biographien bereits ersichtlich wurde, konnten sich nur Petra S., Otto K., Yann<br />

S. <strong>und</strong> Xavier R. durch <strong>die</strong> ärztliche Tätigkeit ihrer Eltern inspirieren lassen. Bei<br />

Walter I., Xavier R. <strong>und</strong> Otto K. entschieden sich <strong>die</strong> Geschwister für ein Medizinstudium,<br />

wodurch insbesondere bei Walter I. <strong>und</strong> Xavier R. <strong>die</strong> Faszination<br />

für den Arztberuf verstärkt wurde. Nur wenige der befragten Kaderärzte waren<br />

sich von Kin<strong>des</strong>beinen an im Klaren darüber, dass sie Medizin stu<strong>die</strong>ren<br />

wollen. Klaus K. <strong>und</strong> Karl K. gehören zu den Ausnahmen, ersterer verspürte<br />

bereits knapp nach seinem zehnten Lebensjahr den Wunsch, Arzt zu werden,<br />

<strong>und</strong> zweiterer beschreibt seine bereits in jungen Jahren existierende Begeisterung<br />

für den Arztberuf folgendermassen: „Ich wollte schon im Kindergarten<br />

immer Arzt werden. Ich hatte schon bereits im Kindergartentäschchen<br />

immer Salbe <strong>und</strong> Pflaster dabei <strong>und</strong> habe<br />

alle versorgt, <strong>die</strong> da irgendwie einen Unfall hatten. Da war<br />

ich schon immer dabei. Das war schon immer mein Job gewesen,<br />

mein Berufsziel. Dann habe ich mit einigen Hindernissen<br />

Medizin stu<strong>die</strong>rt. Und dann wollte ich eigentlich Kinderarzt<br />

werden, da ich einen guten Draht zu Kindern habe.<br />

Dann haben sie mich im Praktikum auf eine Krebsstation gesteckt,<br />

<strong>und</strong> dann war das zu Ende. Ich hatte sterbende <strong>und</strong><br />

leidende Kinder gesehen <strong>und</strong> dann wusste ich, das werde ich<br />

nicht schaffen, das schaffe ich einfach psychisch nicht, da<br />

gehe ich daran zugr<strong>und</strong>e. Ähnlich wie <strong>die</strong> Kinderheilk<strong>und</strong>e<br />

ist ja <strong>die</strong> Innere Medizin, <strong>und</strong> dann wusste ich, dass <strong>die</strong>s<br />

auch etwas ist, was mir sehr gefallen würde.“ Karl K. ist der<br />

Einzige aus dem Sample, der deutlich offenbart, wie sehr Schicksäle von Patienten<br />

ihn über den Krankenhausalltag hinaus beschäftigen: „Ich lebe da<br />

vielleicht in einer anderen Welt, aber das ist auch gut so.<br />

Das ist vielleicht eher das, was <strong>die</strong> suchen. Die schalten<br />

den Riegel um <strong>und</strong> sind weg. Mich hat das immer beschäftigt,<br />

meine Arbeit <strong>und</strong> meine Probleme nehme ich auch heute immer<br />

414


nach Hause. Ich habe schon Zeit für <strong>die</strong> Familie, aber danach<br />

beschäftigt mich das. Ich denke dann darüber nach,<br />

überlege <strong>und</strong> mitunter muss ich dann auch hierher fahren <strong>und</strong><br />

das Problem lösen.“ Mit „<strong>die</strong>“ spricht Karl K. <strong>die</strong> heranwachsende<br />

Arztgeneration an, <strong>die</strong> seiner Meinung nach eine klare Distanz zur „totalen<br />

sozialen Rolle“ <strong>des</strong> Arztes demonstriert <strong>und</strong> den Arztberuf zusehends als Einkommensquelle<br />

<strong>und</strong> als Job erachtet <strong>und</strong> nicht mehr als Berufung versteht. Eine<br />

Befürchtung, <strong>die</strong> auch andere Kaderärzte in den Interviews verlauten liessen<br />

<strong>und</strong> in den nachfolgenden Kapiteln nochmals ausführlicher betrachtet wird.<br />

Otto K. beispielsweise hätte sich auch ein Philosophiestudium vorstellen können,<br />

welches heute sein Sohn absolviert; Lena C. wuchs zu einer Zeit auf, in der<br />

das Erlangen der Hochschulreife für ein Mädchen keine Selbstverständlichkeit<br />

darstellte <strong>und</strong> hätte sich, nachdem sie sich gegen ihren Vater durchgesetzt hat,<br />

nebst der Medizin auch ein Studium der Mathematik oder der Physik vorstellen<br />

können. Daniel S. stu<strong>die</strong>rte bereits Chemie <strong>und</strong> Naturwissenschaften, als er sich<br />

für <strong>die</strong> Medizin entschied; Karl K. war ein erfolgreicher Musiker <strong>und</strong> stu<strong>die</strong>rte<br />

nebst der Medizin drei Semester Informatik, <strong>und</strong> Bernard S. wollte ursprünglich<br />

Journalist werden, weshalb er vor seinem Studium einige Semester Islamwissenschaften<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftsgeschichte stu<strong>die</strong>rte. Biologie, Chemie, Physik,<br />

Mathematik <strong>und</strong> Philosophie scheinen <strong>die</strong> wissenschaftlichen Disziplinen darzustellen,<br />

<strong>die</strong> sich unter den befragten Kaderärzten grosser Beliebtheit erfreuen,<br />

auch <strong>die</strong> Leidenschaft für <strong>die</strong> Musik verbindet einige von ihnen. Das Interview<br />

mit Emil E. liess ein weiteres Interessengebiet zum Vorschein kommen. Unter<br />

den zwanzig befragten Kaderärzten waren Emil E. <strong>und</strong> Bernd A. <strong>die</strong> Einzigen,<br />

<strong>die</strong> nebst der Medizin ein grosses Interesse an den Rechtswissenschaften <strong>und</strong><br />

der Ökonomie zeigten. Bernd A. verdeutlicht sein Interesse folgendermassen:<br />

„Medizin war für mich bereits ab der ersten Klasse immer<br />

spannend gewesen. Immer. Ich habe das immer verfolgt <strong>und</strong><br />

hatte immer das Gefühl, dass ich besser als unser Hausarzt<br />

sein möchte, als derjenige, den wir hatten, da <strong>die</strong>ser nicht<br />

gut war. (…) Also ich hätte mir gut vorstellen können im<br />

Vermögensberatungsbereich, im Bankbereich, im privaten Vermögensbereich<br />

tätig zu sein. Ich wäre dann auch nach St.<br />

Gallen gegangen. Dort hatte es dann aber einfach zu viel<br />

Mathematik gehabt, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s hat mich dann irgendwie abgestossen,<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>halb habe ich dann Medizin gemacht.“ Und Emil<br />

E. entschied sich schliesslich aus folgendem Gr<strong>und</strong> gegen <strong>die</strong> Rechtswissen-<br />

415


schaften: „Es ist eine solch pseudo, sophistizierte Form, <strong>und</strong><br />

das fand ich blöd. Also <strong>die</strong>s ist bei den klassischen Anwälten<br />

so, es sei denn, sie sind ein Wirtschaftsanwalt <strong>und</strong><br />

können irgendwelche Mergers einfädeln, das ist dann noch<br />

was anderes. Das sind auch solche Sprachwerker.“ Emil E. gehört<br />

innerhalb der befragten Gruppe von Kaderärzten zu den wenigen, <strong>die</strong> nebst<br />

ihrem Medizinstudium eine betriebswirtschaftliche Weiterbildung absolvierten.<br />

Petra S. betonte nach dem gemeinsamen Gespräch, wie sehr <strong>die</strong> Weiterbildung<br />

in den Wirtschaftswissenschaften heute von Relevanz sei <strong>und</strong> bereits eine konstituierende<br />

Bedingung im Bewerbungsprozess darstelle. Vor allem MBA-<br />

Programme erfreuen sich grosser Beliebtheit seitens der Ärzteschaft. Bei der<br />

Betrachtung <strong>des</strong> Kantonsspital St.Gallen beispielsweise fällt einem eine enge<br />

Zusammenarbeit mit der Universität St.Gallen auf. Auf <strong>die</strong> Frage hin, weshalb<br />

Emil E. ein MBA in Betracht zog, antwortete er folgendermassen: „Das ist<br />

aus einem Bruch heraus entstanden. Irgendwann fand ich,<br />

dass es hier blöd ist, <strong>und</strong> es war auch eine Denkpause, das<br />

war es, aber sie hat etwas gebracht. Zumin<strong>des</strong>t kann ich nun<br />

den Wirtschaftsteil der NZZ qualifiziert lesen.“ Mit Bruch<br />

spricht er <strong>die</strong>ses eine Jahr zwischen seiner Assistenzarztzeit <strong>und</strong> seinen Wiedereintritt<br />

in den Krankenhausalltag an, während<strong>des</strong>sen er einen MBA an der<br />

Universität St.Gallen absolvierte. Diese Auszeit entstand aus der Frustration<br />

heraus, <strong>die</strong> er während seiner Assistenzarztjahre erlebte hatte, <strong>die</strong> er als teils<br />

unnütz erlebte <strong>und</strong> auch so bezeichnete. Die Inkorporierung <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Jargons fand bei keinem Arzt in solch ausgeprägter Weise statt wie bei Emil E.,<br />

was vermutlich im engen Zusammenhang mit seiner Weiterbildung in Betriebswirtschaft<br />

steht <strong>und</strong> seiner heutigen Zusatzfunktion als Leiter der medizinischen<br />

Stabstelle (nebst seiner eigentlichen Funktion als Co-Chefarzt eines<br />

Kantonsspitals), innerhalb welcher er sich unter anderem um Medizincontrolling,<br />

Medizininformatik, Qualitäts- <strong>und</strong> Riskmanagement kümmert.<br />

Die Faszination, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kaderätze schliesslich zur Erlernung <strong>des</strong> Arztberufs<br />

bewegt hat, setzt sich zusammen aus dem anhaltenden Interesse an der Medizin<br />

als Wissenschaft <strong>und</strong> als Forschungsbereich, an der damit einhergehenden<br />

detektivischen Ursachenforschung, wie Daniel S. <strong>und</strong> Beat U. <strong>die</strong>s wörtlich<br />

veranschaulichen, an den handwerklichen Fähigkeiten, <strong>die</strong> für gewisse Fachbereiche<br />

essentiell sind, <strong>und</strong> an den alltäglich neuen Herausforderungen, <strong>die</strong> an<br />

den Arzt gestellt werden. Martin A. beschreibt den Reiz an der Herausforde-<br />

416


ung, <strong>die</strong> eng mit der detektivischen Arbeit zusammenhängt, folgendermassen:<br />

„Dass jeder Tag etwas Neues ist, eine Herausforderung. Fast<br />

nichts, was sich einfach so wiederholt. Eine gewisse Spannung<br />

darin. So <strong>die</strong>se Herausforderung jeden Tag. Jeder Patient,<br />

man fängt wieder von vorne an, obwohl es viel Routine<br />

gibt, ist doch jeder einzigartig <strong>und</strong> ist immer wieder etwas<br />

Neues. Wie wenn sie Maler sind <strong>und</strong> immer wieder ein neues<br />

Bild machen können. Je<strong>des</strong> Bild ist wieder anders <strong>und</strong> ist<br />

einzig.“ Daniel S., Otto K. <strong>und</strong> Petra S. nähren ihre Leidenschaft am Arztberuf<br />

durch ihre Lehrtätigkeit, der Vermittlung ihres Fachwissens <strong>und</strong> damit<br />

einhergehend durch <strong>die</strong> Förderung <strong>des</strong> Nachwuchses. Andere wiederum wie<br />

Daniel S. berichteten von der für sie essentiell wichtigen Teamarbeit <strong>und</strong> fügen<br />

hinzu, dass <strong>die</strong>s auch einer der Gründe darstellt, der gegen eine Abwanderung<br />

in eine Privatpraxis spricht. Er berichtet, dass vor allem beim Belegarztsystem,<br />

wo nicht für jeden Belegarzt <strong>die</strong> Integration seiner Arztpraxis im Spital gegeben<br />

war, man mit der Situation <strong>des</strong> Einzelkämpfertums in Arztpraxen leben können<br />

musste, da <strong>die</strong> Ärzte meistens nur für operative Eingriffe oder weitergehende<br />

Abklärungen, <strong>die</strong> hochspezialisierte <strong>und</strong> teure Gerätschaften bedingten, <strong>die</strong><br />

Infrastruktur <strong>des</strong> Privatspitals in Anspruch nahmen. Je höher der Spezialisierungsgrad<br />

einer ärztlichen Ausbildung, umso stärker wird auch <strong>die</strong> Kombination<br />

zwischen der intellektuellen Tätigkeit <strong>und</strong> dem benötigten medizinischen<br />

<strong>und</strong> operativen Handwerk hervorgehoben, bei Walter I. schimmert eine weitere<br />

Komponente hindurch: „Eben auch <strong>die</strong> manuelle Tätigkeit <strong>und</strong> das<br />

Erkennen, dass man eine gewisse Geschicklichkeit hat, <strong>die</strong>s<br />

ist etwas sehr Dankbares <strong>und</strong> ein schönes Handwerk. Ganz<br />

abgesehen davon ist <strong>die</strong>ses Spezialgebiet ein relativ dankbares<br />

Handwerk, da man relativ viele einfache Probleme hat,<br />

nicht nur komplexe. Natürlich sind <strong>die</strong> komplexeren Fälle<br />

interessanter, gleichzeitig ist das Ergebnis dann aber<br />

vielleicht weniger befriedigend.“ Die weitere Komponente, <strong>die</strong><br />

Walter I. in <strong>die</strong>ser Aussage anspricht, wird von den Stayern sehr oft missbilligt,<br />

da komplexe Fälle, <strong>die</strong> zumeist auch zeitlich längere Aufenthalte im Spital bedingen,<br />

oft auch Komplikationen beinhalten <strong>und</strong> nicht oder knapp kostendeckend<br />

sind, demzufolge als nicht lukrativ gelten, gerne in ein nahe gelegenes<br />

Kantons- oder Universitätsspital verlegt werden <strong>und</strong> demzufolge eine deutliche<br />

Kostenzunahme seitens <strong>des</strong> öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitswesens verursachen<br />

(Stichwort: Rosinenpickerei). Das weniger befriedigende Ergebnis, das Walter I.<br />

anspricht, kann einerseits eine unvollständige Heilung <strong>und</strong>/oder ein finanziell<br />

417


unbefriedigen<strong>des</strong> Resultat bedeuten. Vermutlich sprach Walter I. <strong>die</strong> Unvoll-<br />

ständigkeit der Heilung an, wobei folgende Aussage seinerseits auch <strong>die</strong> zweite<br />

Schlussfolgerung zulässt: „Hier ist jeder eigenverantwortlich <strong>und</strong><br />

muss in seinem eigenen kleinen Mikrokosmos genau <strong>die</strong> gleichen<br />

Sachen machen, <strong>die</strong> auch der Assistent im öffentlichen<br />

Spital macht, auch <strong>die</strong> grossen Sachen im Operationssaal<br />

beispielsweise. Er ist für seine Patienten im Mikrokosmos<br />

selber verantwortlich. Wenn er <strong>die</strong> Qualität nicht bringt,<br />

dann hat er keine Zuweisung <strong>und</strong> nichts mehr zum Leben. (…)<br />

Ansonsten bin ich ein Spezialist, der seine Produktpalette<br />

auf dem Markt anbietet. Mein Challenge ist, meine Produkte<br />

den Leuten schmackhaft zu machen, damit sie mir Patienten<br />

zuweisen. Dann behandle ich <strong>die</strong> Patienten hier im Spital.<br />

Das Spital stellt mir den OP <strong>und</strong> <strong>die</strong> Pflege sowie <strong>die</strong> gesamte<br />

übrige Infrastruktur zur Verfügung. (…) Ich bin natürlich<br />

dadurch in einem gewissen Sinne in den Möglichkeiten<br />

gefangen, <strong>die</strong> hier gegeben sind. Und auch unter Druck<br />

durch <strong>die</strong> Konkurrenz. Wenn sie sich selbstständig machen,<br />

dann müssen sie sich gegen solche, <strong>die</strong> bereits etabliert<br />

sind, durchsetzen.“ Falls Walter I. sich tatsächlich als Dienstleiter, der<br />

seine Produkte auf dem Markt anbietet <strong>und</strong> verkauft, versteht, sieht er sich dem<br />

gr<strong>und</strong>legendsten Marktgesetz, keine K<strong>und</strong>en, keine Einnahmen, folglich kein<br />

Lohn, ausgesetzt, was natürlich insgesamt in einem unbefriedigendem Ergebnis<br />

resultiert. Der Rückkehrer Bernard S., der in derselben Privatklinikgruppe wie<br />

Walter I. tätig war, beschreibt <strong>die</strong> Einnahmegenerierung folgendermassen:<br />

„Ich spreche nun für <strong>die</strong>se, <strong>die</strong> eine eigene Praxis haben,<br />

<strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> Belegärzte sind. Das Gehalt ist eins zu<br />

eins vom Umsatz abhängig, den man generiert. Je mehr man<br />

umsetzt, umso höher ist der Profit“, was beispielhaft für stark leistungsabhängige<br />

Gehälter spricht. Aber nicht nur minderwertige Qualität hat<br />

eine geringe Anzahl an Zuweisungen zur Folge, auch <strong>die</strong> hohe spitalinterne<br />

Konkurrenz zwischen den Spezialisten <strong>des</strong>selben Fachbereichs oder der geringe<br />

Bekanntheitsgrad <strong>des</strong> Spezialisten unter den Hausärzten, <strong>die</strong> zumeist <strong>die</strong> Zuweisungen<br />

vornehmen, kann zur geringen Anzahl beitragen. Möglicherweise<br />

wollen Privatspitäler mit der zunehmenden Anstellung bzw. Abwerbung von<br />

Kaderärzten aus öffentlichen Spitälern letzterer Vermutung entgegenwirken, da<br />

<strong>Chefärzte</strong> öffentlicher Krankenhäuser durch ihren Karriereverlauf, durch Förderer,<br />

<strong>die</strong> zumeist ihre vorgesetzten <strong>Chefärzte</strong> waren, <strong>und</strong> durch Publikationen<br />

im akademischen Umfeld <strong>und</strong> Vorträge auf Kongressen einen hohen Bekannt-<br />

418


heitsgrad bereits erreicht haben, demzufolge den Hausärzten bekannt sind <strong>und</strong><br />

auch langjährige zusatzversicherte Patienten in <strong>die</strong> private Institution mitneh-<br />

men. Zurück zur Faszination, <strong>die</strong> zur Berufswahl <strong>des</strong> Arztes bewegt: Die Aus-<br />

sage von Emil E., der als einer der wenigen exemplarisch das symbolische Kapi-<br />

tal hervorhebt, das Ärzten aufgr<strong>und</strong> ihres „Amtscharismas“ <strong>und</strong> ihres Dienstes<br />

sowie Einsatzes für das Wohl der Bevölkerung <strong>und</strong> <strong>des</strong> Individuums in Form<br />

von Anerkennung, Vertrauen <strong>und</strong> Privilegien zukommt, verdeutlicht <strong>die</strong>se<br />

Faszination: „Wissen Sie, irgendwie ist <strong>die</strong>s immer ein privilegierter<br />

Beruf. Man sieht den Menschen häufig in Grenzsituationen.<br />

Der Beruf hat mir Zugang zu vielen Leuten gegeben,<br />

einen Zugang, den ich vielleicht nie so hätte. Wenn<br />

ich nun Banker wäre, dann würde ich mit Ihnen darüber sprechen,<br />

was ein gutes Investment für Sie wäre, wie Sie Ihre<br />

Firma am besten mergen. Sie würden mir aber nicht sagen,<br />

dass Sie Angst vor dem Tod haben, da Sie Krebs haben, <strong>und</strong><br />

ich habe <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes in meinem Leben falsch gemacht. Sie<br />

würden mir all <strong>die</strong>s, was Grenzsituationen so hockkommen<br />

lassen, nicht sagen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ist existentiell. Ich glaube,<br />

dass <strong>die</strong>s ein Privileg ist.“ Entgegen den Erwartungen stammt <strong>die</strong><br />

Mehrheit der befragten Kaderärzte aus der Arbeit- <strong>und</strong> Mittelschicht. Nahezu<br />

alle haben aus derselben oder einer ähnlichen Faszination heraus den Arztberuf<br />

auserwählt <strong>und</strong> nur in den allerwenigsten Fällen spielte <strong>die</strong> monetäre Komponente<br />

ihres ärztlichen Handelns eine vordergründige Rolle. Für einige ist <strong>die</strong><br />

Weitergabe <strong>die</strong>ser Faszination auf den ärztlichen Nachwuchs von grosser Wichtigkeit.<br />

Im Rahmen <strong>des</strong> nächsten Unterkapitels werden zentrale Etappen einer ärztlichen<br />

Karriere erläutert, wobei nicht ausser Acht gelassen werden darf, dass vor<br />

allem im Hinblick auf <strong>die</strong> Stayer nur <strong>die</strong> sogenannte Crème de la Crème einen<br />

Chefarztposten ergattert <strong>und</strong> <strong>die</strong> Konkurrenz um <strong>die</strong> Posten der <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong><br />

Leitenden Ärzte gross ist. Die Anzahl <strong>die</strong>ser Posten ist innerhalb der Schweiz<br />

relativ gering, bedenkt man, dass im Jahre 2011 insgesamt 13‘123 Ärzte im<br />

stationären Bereich (Assistenten in Ausbildung, Oberärzte, Leitende Ärzte,<br />

<strong>Chefärzte</strong>) tätig waren, davon 11.5% also folglich 1‘510 Stellen durch <strong>Chefärzte</strong><br />

<strong>und</strong> 13.0% also folglich 1‘707 der Stellen durch Leitende Ärzte besetzt waren<br />

(FMH, 2012, S.400). Auf <strong>die</strong> Anonymisierung der Daten wurde im Rahmen<br />

<strong>die</strong>ser Arbeit grossen Wert gelegt, da <strong>die</strong> Kaderärzte sich kennen <strong>und</strong> in den<br />

Aussagen wiedererkennen würden, sich jährlich auf zahlreichen Kongressen<br />

419


treffen <strong>und</strong> teilweise auch Kooperationen untereinander stattfinden. Hinsicht-<br />

lich der Zusammenarbeit berichtet der Rückkehrer Bernard S. im Anschluss an<br />

das Interview, dass sich eine klare Trennung zwischen der Gruppe der Stayer<br />

<strong>und</strong> der Gruppe der Leaver innerhalb der Ärzteschaft bereits institutionalisiert<br />

hat. Mit dem Arbeitswechsel aus der privaten in <strong>die</strong> öffentliche Spitalinstitution<br />

oder vice versa würde zumeist auch der Kontakt mit der Ärzteschaft <strong>des</strong> Spi-<br />

tals, aus welchem man austritt, abbrechen. Bernard S. berichtet aus eigener<br />

Erfahrung von <strong>die</strong>sen Ausgrenzungs- <strong>und</strong> Ausschlussmechanismen, denen er<br />

sowohl am öffentlichen Spital als auch am Privatspital ausgesetzt war. Er gab<br />

auch unverblümt zu, dass ihn <strong>die</strong> Tatsache, dass der Kollege, der ihm das Pri-<br />

vatspital schmackhaft gemacht <strong>und</strong> anschliessend auch angestellt hat, den Rü-<br />

cken zudrehte, sobald Bernard S. den Entschluss gefasst hatte zurück ans öf-<br />

fentliche Spital zu gehen, sehr getroffen <strong>und</strong> traurig gemacht hatte, da er an <strong>die</strong><br />

Kollegialität mit <strong>die</strong>sem Arzt über <strong>die</strong> Arbeitsbeziehung hinaus geglaubt hatte.<br />

Das Porträt von Bernard S. lässt weitere Einblicke in seine doppelte Insider<br />

bzw. doppelte Outsider-Position zu. Diese Outsider-Rolle scheint auch der<br />

Leaver Adrian L. zu kennen <strong>und</strong> beschreibt sie folgendermassen: „Es haben<br />

sich aber auch <strong>die</strong>jenigen Sachen bewahrheitet, von welchen<br />

ich dachte, dass sie nicht gut sein werden. Beispielsweise<br />

<strong>die</strong> Zusammenarbeit mit meinem Spezialgebiet, mit den externen<br />

Spezialisten, ist sicherlich ein Problem, <strong>die</strong>s wusste<br />

ich aber bereits bevor ich hierher kam.“ Adrian L. bereut seinen<br />

Schritt ins Privatspital nicht <strong>und</strong> dennoch räumt er ein, dass <strong>die</strong>ser auch seinen<br />

Preis hat, wie beispielsweise der vermeintlich geringe Kontakt mit externen<br />

Kollegen <strong>des</strong>selben Fachgebiets. Diesen Austausch mit Kollegen bezeichneten<br />

einige der befragten Kaderärzte als essentielle Stimulation, dank dem man sich<br />

auch fachlich immer wieder auf den neusten Stand der Forschung bringt.<br />

Abschliessend kommen Hans S. <strong>und</strong> Daniel S. zu Wort, <strong>die</strong> sich bereits aus der<br />

Stu<strong>die</strong>n- <strong>und</strong> Assistenzarztzeit kennen, sich gegenseitig als Mediziner mit einer<br />

hohen Fachkompetenz, aber auch als Menschen schätzen <strong>und</strong> <strong>die</strong> beide heute<br />

einen Chefarztposten in einem Kantonsspital innehaben – Hans S.: „Ich<br />

wollte eigentlich Allgemeinpraktiker in einer öffentlichen<br />

Quartierpoliklinik (…) werden, das war mein ursprüngliches<br />

Ziel als junger Mediziner mit einem politischen Bewusstsein.<br />

Ich habe immer gesagt, dass ich nie Spezialarzt <strong>und</strong><br />

nie Karriere machen werde. Ich wollte Basismedizin für <strong>die</strong><br />

Bevölkerung in einer Quartierpoliklinik machen. Und so<br />

420


kommt es am Schluss ganz anders heraus.“ Daniel S. zeigt grosses<br />

Interesse an der im Rahmen <strong>die</strong>ser Arbeit bearbeiteten Forschungsfrage zum<br />

Wandel <strong>des</strong> ärztlichen Berufsethos <strong>und</strong> fügt hinzu, dass er hofft, dass ein Inter-<br />

view mit seinem Kollegen Hans S. stattfindet, <strong>die</strong>ser hatte Daniel S. früher als<br />

sehr rechts empf<strong>und</strong>en: „Ja, als sehr rechtsextrem, <strong>und</strong> ich habe<br />

ihn als sehr links empf<strong>und</strong>en. Und trotzdem haben wir ähnliche<br />

Wege beschritten <strong>und</strong> verstehen uns heute bestens. Wahrscheinlich<br />

wird man im Lauf oder je älter ich wurde, <strong>des</strong>to<br />

... In <strong>die</strong>sem klassizistischen Modell bin ich links geworden,<br />

wenn es das überhaupt gibt. Sehr viel sozialer.“ Daniel<br />

S. kommt zum Schluss: „Da viele von ihrem Schicksal nicht verwöhnt<br />

sind <strong>und</strong> es einfach durchstehen müssen. Das habe ich<br />

nicht immer so gesehen. Ich dachte, dass jeder irgendwohin<br />

kommt, wenn er nur etwas will <strong>und</strong> leisten möchte. Und nicht<br />

jammern, sondern arbeiten.“<br />

5.1.2 Die berufliche Laufbahn – Karrieren <strong>und</strong> ihr Preis<br />

Dieses Kapitel wird einerseits ein exemplarischer beruflicher Werdegang eines<br />

Chefarztes eines Kantonsspitals aufzeigen <strong>und</strong> andererseits <strong>die</strong> zentralen Meilensteine<br />

bzw. Etappenabschnitte einer ärztlichen Laufbahn mit Zeugnissen der<br />

zwei<strong>und</strong>zwanzig Probanden verdichtend erläutern <strong>und</strong> Differenzen in Bezug<br />

auf <strong>die</strong> exemplarische Laufbahn beleuchten. Als exemplarisch wurde <strong>die</strong> Laufbahn<br />

von Daniel S. erachtet, <strong>die</strong>ser ähnelt sehr stark den Laufbahnverläufen<br />

von Lena C., Chefärztin im selben Kantonsspital wie Daniel S., von Andreas L.,<br />

Chefarzt im selbigen Kantonsspital wie Daniel S., Petra S., Chefärztin eines<br />

Kantonsspital, Otto K., Chefarzt am selben Kantonsspital wie Petra S., <strong>und</strong><br />

Walter I., ehemaliger Chefarzt <strong>des</strong> dritten Kantonsspitals, das an der Stu<strong>die</strong><br />

teilgenommen hat, <strong>und</strong> heutiger Arzt am Privatspital. Alle <strong>die</strong>se <strong>Chefärzte</strong><br />

haben das Absolvieren der zentralen Etappenstufen einer ärztlichen Laufbahn<br />

gemein <strong>und</strong> sind durch <strong>die</strong> zentralen Institutionen der Weihe zu <strong>Chefärzte</strong>n<br />

ernannt worden. Der Glaube an <strong>die</strong> „totale soziale Rolle“ verbindet alle fünf<br />

Ärzte. Bei Walter I., den einzigen Leaver unter den fünf genannten Ärzten, hat<br />

<strong>die</strong> Abwanderung in eines der grössten Schweizer Privatspitäler zumin<strong>des</strong>t in<br />

seinem ärztlichen Jargon bereits Spuren hinterlassen. Im Laufe <strong>des</strong> Interviews<br />

mit Walter I. verdeutlichten sich der Bruch mit dem öffentlichen Spital <strong>und</strong> sein<br />

Abschied aus dem öffentlichen Krankenhauswesen. Walter I. offenbarte <strong>die</strong><br />

421


nackte Wahrheit <strong>des</strong> selbstständigen Arztes, der sich mit seinen Produkten dem<br />

Markt stellen <strong>und</strong> sich gegenüber seiner Konkurrenz durchsetzten muss. An-<br />

hand der transversalen Analyse ergaben sich folgende Etappenstufen: <strong>die</strong> As-<br />

sistenzarzt- <strong>und</strong> Oberarztjahre, <strong>die</strong> Forschungstätigkeiten im Ausland, <strong>die</strong> an-<br />

schliessende Habilitation <strong>und</strong> <strong>die</strong> Wahl auf den Posten eines Leitenden Arztes<br />

sowie <strong>die</strong> abschliessende Weihe durch <strong>die</strong> Ernennung zum Chefarzt. Die inter-<br />

viewten Kaderärzte haben sich für eine klinische Tätigkeit entschieden <strong>und</strong><br />

betreiben zumeist, nebst der Lehre <strong>und</strong> im Rahmen ihrer zeitlichen <strong>und</strong> infra-<br />

strukturellen Möglichkeiten, auch Forschung. Wobei angemerkt werden muss,<br />

dass <strong>die</strong> Möglichkeiten für Forschung <strong>und</strong> Lehre im öffentlichen Krankenhaus<br />

gefördert werden <strong>und</strong> institutionalisiert sind. Die Lehre <strong>des</strong> Nachwuchses stellt<br />

nebst einer Pflicht auch ein besonderes Anliegen der Kaderärzte dar, was von<br />

den Stayern auch stets betont wurde. Dieses Interesse liess sich bei den Leavern<br />

nicht mehr im selben Ausmasse bestätigen. Die nachfolgenden Ausführungen<br />

zur Laufbahn eines Kaderarztes werden sich ausschliesslich auf <strong>die</strong> Laufbahn<br />

eines klinisch tätigen Kaderarztes beziehen.<br />

Daniel S. hat das, was man in Medizinerkreisen einen vorbildlichen Karriere-<br />

verlauf nennen könnte, erreicht. Anfang der Siebzigerjahre begab er sich in das<br />

Studium der Chemie <strong>und</strong> der Naturwissenschaft, <strong>die</strong>s tat er in erster Linie, da<br />

das Image, welches man in der Schule von der Medizin vermittelte, ein schlech-<br />

tes war. Im Laufe <strong>des</strong> Studiums entschied er sich schliesslich doch für das Me-<br />

dizinstudium, welches er Ende der Siebzigerjahre mit dem Staatsexamen ab-<br />

schloss. Zehn Jahre später war er, nebst seiner medizinischen Tätigkeit an ei-<br />

nem Universitätsspital, Privatdozent an einer Schweizer Universität, er habili-<br />

tierte Anfang der Neunzigerjahre <strong>und</strong> erhielt Mitte der Neunzigerjahre <strong>die</strong><br />

Titularprofessur in Medizin an der Universität, wo er davor einige Jahre dozier-<br />

te. Zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt war er bereits Leitender Arzt am Kantonsspital, wo er<br />

heute Chefarzt ist. Parallel zu seiner ärztlichen Tätigkeit engagiert er sich in<br />

zahlreichen Gesellschaften für seinen Fachbereich <strong>und</strong> gilt nicht nur unter seinen<br />

Arztkollegen, sondern auch in der Öffentlichkeit als Koryphäe innerhalb<br />

seines Spezialgebiets, das ein Fachbereich der Inneren Medizin darstellt. Bis auf<br />

seine ersten beiden Assistenzarztjahre absolvierte er alle weiteren Assistentenjahre<br />

<strong>und</strong> seine Oberarzttätigkeit an einem Schweizer Universitätsspital. Nach<br />

fünfjähriger Tätigkeit als Assistent wurde er zum Oberarzt ernannt. Mitte der<br />

Achtzigerjahre, nach dreijähriger Tätigkeit als Oberarzt, entschied er sich, an<br />

422


ein berühmtes klassisches Teaching-Hospital im englischsprachigen Ausland zu<br />

gehen. Dieses ist besonders für seine klinische Forschung bekannt. Ein Jahr<br />

später verliess er das Spital <strong>und</strong> peilte eine weitere Forschungstätigkeit in den<br />

Staaten an, wobei seine Vorstellungen nicht ganz der Realität entsprachen <strong>und</strong><br />

er zum ersten Mal von der „Härte Amerikas“ eingeholt wurde. Seinem Chef<br />

vor Ort wurde gekündigt, <strong>die</strong>ser musste sich folglich um eine neue Stelle küm-<br />

mern, <strong>und</strong> obwohl Daniel S. bereits auf zwei weitere Stellenangebote hätte<br />

zurückgreifen können, entschied er sich, bei seinem Chef zu bleiben: „Ich<br />

fand dann aber, dass der arme ,Siech‘ alleine ist <strong>und</strong> blieb<br />

bei ihm. Ich hatte ja sowieso keinen Lohn, so kam es gar<br />

nicht darauf an.“ Da <strong>die</strong> Forschungsstellen im Ausland zumeist keine<br />

Gehälter für ihre Absolventen vorsahen, musste eine andere Finanzierungsquelle<br />

gesucht werden. Finanziell stellten <strong>die</strong> Jahre im Ausland folglich ein<br />

nicht unbedeuten<strong>des</strong> Risiko dar. Ein Stipendium <strong>des</strong> Schweizerischen Nationalfonds<br />

erhielt er aufgr<strong>und</strong> seines Alters, das vor seinem Auslandsantritt fünf<strong>und</strong>dreissig<br />

betrug, nicht mehr, also lieh ihm <strong>die</strong> Universität Geld, das er anschliessend<br />

während zehn Jahren zurückbezahlen musste <strong>und</strong> damit auch<br />

gleichzeitig <strong>die</strong> Pflicht einging, im Anschluss an Amerika einige Jahre für <strong>die</strong><br />

Universität tätig zu sein. Damit sichert sich gewissermassen <strong>die</strong> Universität<br />

auch das Wissen, das sich Daniel S. während seiner Auslandsjahre <strong>und</strong> seiner<br />

dort getätigten Forschung aneignete. Die 100‘000 Schweizer Franken an Ersparnis<br />

<strong>und</strong> Darlehen waren nach den zwei Jahren in England <strong>und</strong> den Staaten<br />

aufgebraucht. Mit Schulden im Umfang von 100‘000 Schweizer Franken kehrte<br />

Daniel S. mit seiner Frau <strong>und</strong> Tochter als Oberarzt an das selbige Universitätsspital<br />

zurück, an welchem er vor seinen Auslandsaufenthalten bereits während<br />

mehreren Jahren tätig war. Nach seiner Rückkehr erhielt Daniel S. den Facharztausweis<br />

FMH seines heutigen Spezialbereichs <strong>und</strong> war während seiner letzten<br />

zwei Jahre als Oberarzt <strong>und</strong> auch als Privatdozent an der Universität, an welche<br />

das Universitätsspital angeschlossen war, tätig. Insgesamt war Daniel S. folglich<br />

fünf Jahre am Universitätsspital Oberarzt, eine Funktion bzw. ein Posten, den<br />

man zumeist, falls keine akademische Karriere angestrebt wird, nach fünf Jahren<br />

verlassen muss, um sich auf <strong>die</strong> Suche nach einer neuen Stelle als Oberarzt<br />

bzw. Leitender Arzt zu machen. Vermutlich hätte Daniel S. noch länger bleiben<br />

können, da er grosses Interesse für <strong>die</strong> akademischen Tätigkeiten hegte, sich<br />

bereits während seiner Oberarztzeit sehr stark für <strong>die</strong> Forschung einsetzte <strong>und</strong><br />

bereits Mitglied in einigen Kommissionen war. Daniel S. entschied sich aber,<br />

423


aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Rücktritts seines damaligen Chefs am Universitätsspital, auf <strong>die</strong><br />

Suche nach einer neuen Herausforderung zu machen, <strong>die</strong> er Anfang der Neun-<br />

zigerjahre an einem Kantonsspital fand. Die Volksabstimmung, durch welche er<br />

gewählt wurde, sprach ihm <strong>die</strong> Funktion <strong>des</strong> Leitenden Arztes innerhalb seines<br />

Fachbereichs zu. Ursprünglich hatte Daniel S. vor seiner Wahl zum Leitenden<br />

Arzt einen weiteren Auslandsaufenthalt angedacht, von welchem er jedoch<br />

absah, was in erster Linie mit seiner Familie zusammenhing. Für sie wünschte<br />

er sich mehr Stabilität, da Daniel S. sich bewusst war, dass seine Frau, <strong>die</strong> selber<br />

im Pflegebereich tätig war, mit den beiden ersten Auslandsaufenthalten <strong>und</strong><br />

dem unbändigen Einsatz ihres Mannes für seinen Beruf bereits einiges in Kauf<br />

nehmen musste: „Da meine Frau aber bereits zwölf Mal umgezogen<br />

<strong>und</strong> meine Tochter bereits sechs Jahre alt war, war es<br />

dann aber genug. Und dann war es fertig, <strong>und</strong> ich bin hier<br />

geblieben.“ Daniel S. leitete anschliessend in der Funktion <strong>des</strong> Leitenden<br />

Arztes seinen Fachbereich am Kantonsspital, was sich aus der damaligen Dreibein-Struktur<br />

<strong>des</strong> Spitals ergab. Während seiner Jahre als Leitender Arzt habilitierte<br />

Daniel S. Die Habilitation wird heute von der Mehrheit der Ärzteschaft<br />

als Bedingung für das spätere Erlangen eines Chefarztpostens erachtet. Die<br />

Klinik der Inneren Medizin, <strong>die</strong> von zwei Co-<strong>Chefärzte</strong>n geleitet wurde, summierte<br />

unter einem Dach unterschiedlichste Fachbereiche, <strong>die</strong> mehrheitlich<br />

durch Leitende Ärzte geführt wurden. Die Spezialisierung <strong>des</strong> Arztberufs<br />

schritt voran, <strong>und</strong> eine merkliche Vergrösserung gewisser Fachbereiche zeichnete<br />

sich ab, was dazu führte, dass <strong>die</strong> Leitung <strong>des</strong> Klinikbetriebs nicht mehr<br />

auf <strong>die</strong>selbe Weise weitergeführt werden konnte. Eine Umstrukturierung folgte,<br />

woraus aus dem Dreibein eine CEO-Struktur resultierte <strong>und</strong> <strong>die</strong> Fachbereiche<br />

gebündelt in Departemente (Medizin, Chirurgie, Spezialkliniken, Insitute)<br />

zusammengefasst wurden. Je ein Chefarzt steht heute einem Departement vor<br />

<strong>und</strong> ist gleichzeitig Teil der Geschäftsleitung. Die im Departement Medizin<br />

summierten Fachbereiche wurden auf fünf Bereiche aufgeteilt, <strong>die</strong> durch Bereichsleiter<br />

bzw. <strong>Chefärzte</strong>, ehemalige Leitende Ärzte, <strong>die</strong> im Laufe der Umstrukturierung<br />

ernannt wurden, geleitet werden. Zu <strong>die</strong>sen ernannten <strong>Chefärzte</strong>n,<br />

<strong>die</strong> als Bereichsleiter einer der fünf Bereiche (<strong>des</strong> Departements Medizin)<br />

leiten, gehörte auch Daniel S. Die Ernennung zum Chefarzt erfolgte knapp<br />

fünfzehn Jahre nach seinem Eintritt ins Kantonsspital. Dass <strong>die</strong> Ernennungen<br />

von Leitenden Ärzten zu <strong>Chefärzte</strong>n im Zuge <strong>die</strong>ser Neustrukturierung nicht<br />

nur Gewinner zur Folge hatte, zeigt das Porträt von Adrian L., der einer <strong>die</strong>ser<br />

424


Leitenden Ärzte war: „Und <strong>die</strong> Gründe? Ich war fast 50, 48 konkret,<br />

47? Und ich fand dann, entweder bleibe ich Leitender<br />

Arzt am Kantonsspital bis ich 65 bin. Das hätte ich ja<br />

bleiben können, <strong>die</strong>se Zusage hatte ich. Oder ich wechsle<br />

nochmals <strong>und</strong> mache noch einmal etwas Neues.“ Adrian L. erhielt im<br />

Laufe <strong>die</strong>ser Umstrukturierung am Kantonsspital zwei Angebote seitens <strong>des</strong><br />

benachbarten Privatspitals. Das erste, das er im selben Jahr erhielt als Daniel S.<br />

den Chefarztposten annahm, schlug er aus, das zweite Angebot jedoch, das ihn<br />

ein knappes halbes Jahr später erreichte, nahm er an. Möglicherweise besteht<br />

eine Korrelation zwischen den beiden Anfragen <strong>und</strong> den Umstrukturierungsmassnahmen,<br />

da <strong>die</strong> Privatklinik sich Abwerbungschancen bei denjenigen<br />

Ärzten erhoffte, <strong>die</strong> sich mit den neuen Strukturen nicht einverstanden zeigten.<br />

Vermutlich stand <strong>die</strong>ser aktive Abwerbungsprozess aber auch im engen Zusammenhang<br />

mit der zur selben Zeit stattfindenden Übernahme der benachbarten<br />

Klinik, <strong>die</strong> knapp h<strong>und</strong>ert Jahre zuvor durch Ordensschwestern gegründet<br />

wurde, seitens der grössten Schweizer Privatspitalgruppe, wodurch auch neue<br />

Stellen geschaffen wurden. Gemäss Adrian L. habe <strong>die</strong> Ernennung der Bereichsleiter<br />

zu <strong>Chefärzte</strong>n nur stattgef<strong>und</strong>en, damit <strong>die</strong>se hierarchisch nicht auf derselben<br />

Stufe wie <strong>die</strong> Leitenden Ärzte stünden. Adrian L. rechnete sich aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>ser Umstrukturierung keine grossen Chancen auf einen Chefarztposten aus:<br />

„Nicht im Sinne von Chefarzt in meinem Fachbereich. Am Kantonsspital<br />

hatten sich zu <strong>die</strong>ser Zeit schon Veränderungen<br />

ergeben ...“ Aber in seiner Aussage schwingt auch <strong>die</strong> Enttäuschung über<br />

<strong>die</strong> nicht erfolgte Weihe zum Chefarzt mit: „Ob ich da eine Chance gehabt<br />

hätte, das weiss ich nicht. Ich habe natürlich von<br />

Anfang an gesagt, dass <strong>die</strong>s ein System ist, das ich nicht<br />

unterstützen kann. (…) Das ist ein Gr<strong>und</strong>, von welchem ich<br />

sagen würde, dass <strong>die</strong>ser auch eine Rolle gespielt hat, dass<br />

ich fand, was soll denn das? Wir mussten schon bei <strong>die</strong>sem<br />

System schauen, dass man <strong>die</strong> Sachen, <strong>die</strong> man umsetzen wollte,<br />

auch umsetzen konnte, da sich ja immer wieder Leute<br />

eingemischt haben.“ Im Gegensatz zu Adrian L. war <strong>die</strong> Laufbahn von<br />

Daniel S. bereits merklich fortgeschritten, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s sowohl im klinischen als<br />

auch im akademischen Bereich. Daniel S. hatte bereits sieben Jahre am Kantonsspital<br />

<strong>die</strong> Funktion <strong>des</strong> Leitenden Arztes inne, als Adrian L. seine Funktion<br />

als Leitender Arzt im selben Kantonsspital antrat.<br />

Daniel S. faszinierte am Beruf <strong>des</strong> Arztes einerseits das immense Forschungs-<br />

425


spektrum, das <strong>die</strong> Wissenschaft der Medizin bereithält, <strong>und</strong> andererseits nährte<br />

er sein detektivisches Interesse, das bereits Beat U. exemplarisch beschrieb. Das<br />

Eruieren von Ursachen anhand von Symptomen <strong>und</strong> Messwerten hebt Daniel<br />

S. besonders hervor. Daniel S. schätzt <strong>die</strong> Zusammenarbeit im Team <strong>und</strong> gibt<br />

sein Wissen im Rahmen seiner Teachingtätigkeit gerne an den Nachwuchs<br />

weiter. Er geniesst ein hohes Ansehen bei seinen Kollegen, was auf seine hohe<br />

fachliche Kompetenz zurückzuführen ist, <strong>und</strong> fühlt sich dem Spital <strong>und</strong> seiner<br />

Spezialität, <strong>die</strong> sich im Laufe der Jahre immer stärker zur Notfalldisziplin ent-<br />

wickelte, verpflichtet: „Mein Fachgebiet wurde extrem zu einer<br />

Notfalldisziplin. Früher, als ich noch in der Ausbildung<br />

war, Anfang der Achtzigerjahre, war es eine hochselektive<br />

Disziplin. Und heute ist es wieder etwas ruhiger, da wir<br />

seit ein, zwei, drei Jahren bessere Pharmaka haben. In den<br />

letzten Jahren bin ich sicherlich zwei bis drei Mal wöchentlich<br />

aufgestanden <strong>und</strong> ans Spital arbeiten gegangen.<br />

Folglich wurde es zu einer Notfalldisziplin, was mir an<br />

sich gefällt.“ Dass seine Karriere sich aber auch merklich auf sein Privatleben<br />

auswirkt, offenbart folgende Aussage: „Vor allem für meine Frau<br />

war das schon belastend. Für mich auch, aber ob ich nun<br />

zwei bis drei St<strong>und</strong>en weniger oder mehr Schlaf habe, ist<br />

mir eigentlich gleich (…). Das ging mir nicht so wahnsinnig<br />

ans Eingemachte. Ich fand es eigentlich gut <strong>und</strong> interessant,<br />

auch in der Nacht den Dienst so sicherzustellen <strong>und</strong><br />

sagen zu können, komme was wolle, wir machen das einfach.<br />

Das ist der Auftrag, den ich tätige, <strong>und</strong> ich mache das.“<br />

Daniel S. hat den asketischen Habitus <strong>des</strong> Arztes vollständig inkorporiert <strong>und</strong><br />

ist bereit, sowohl körperlich als auch geistig an seine Grenzen zu gehen. Er stellt<br />

sowohl an sich als auch an sein Team hohe Anforderungen, <strong>die</strong> ein ehemaliger<br />

Mitarbeiter von ihm, Victor H., der bei ihm eine Oberarztstelle inne hatte <strong>und</strong><br />

heute in einer Privatklinik tätig ist, folgendermassen beschreibt: „Ich hatte<br />

ihn immer als Lustigen eingeschätzt <strong>und</strong> habe gerne mit ihm<br />

zusammengearbeitet. Er ist schon sehr speziell, man muss<br />

schon mit zusammenarbeiten können. (…) Mit gewissen kam er<br />

überhaupt nicht aus, <strong>die</strong> hat er dann immer zusammengestaucht.<br />

(…) Mit anderen kam er dann wiederum sehr gut aus.<br />

Ich war eigentlich immer einer, der einen guten Draht zu<br />

ihm hatte. Er konnte ab <strong>und</strong> an auch ausrasten, schimpfen<br />

<strong>und</strong> davon laufen. Dies war für gewisse Menschen etwas<br />

schwer verdaulich. (…) Aber wir hatten es eigentlich dort<br />

426


gut <strong>und</strong> ich habe mich eigentlich auch darauf eingerichtet<br />

dort gr<strong>und</strong>sätzlich länger zu bleiben.“ Für Victor H. ist Daniel S.<br />

ein Arzt, der seine Mitarbeiter fördert, aber auch einer, der ungeduldig sein<br />

konnte <strong>und</strong> nicht immer als Diplomat seinem Team entgegentrat. Victor H.<br />

schätzt ihn als Vorgesetzten aber immer, was sowohl mit seiner hohen Fachkompetenz<br />

als auch mit dem Einsatz, den er für seine Patienten <strong>und</strong> sein Team<br />

leistet, zusammenhängt. Seine Tagesabläufe scheinen unter hohem zeitlichem<br />

Druck minutiös strukturiert zu sein, was zur Folge hatte, dass das gemeinsame<br />

Interview nicht länger als zwanzig bis dreissig Minuten dauern durfte. Das<br />

Interview dauerte schliesslich vierzig, im Anschluss an <strong>die</strong>ses aber folgten zahlreiche<br />

E-Mails, in welchen er nochmals ausführlicher zu den noch offenen Fragen<br />

Stellung nahm.<br />

Von Beginn seiner Ausbildung <strong>und</strong> späteren Karriere an war sich Daniel S. über<br />

eine Sache im Klaren, er wollte nicht ausschliesslich in der Praxis tätig sein, da<br />

ihn <strong>die</strong> akademische Tätigkeit genauso begeisterte wie <strong>die</strong> klinische. Und obwohl<br />

er sich in seinen beruflichen Anfängen eine Tätigkeit in einem Privatspital<br />

vorstellen konnte, folgte er nie den zahlreichen Rufen seitens der Privatklinik,<br />

<strong>die</strong> ihn vor allem während seiner Jahre als Leitender Arzt <strong>und</strong> Leiter seines<br />

Fachbereichs am Kantonsspital erreichten. Weshalb er <strong>die</strong> Angebote ausschlug,<br />

erklärt er folgendermassen <strong>und</strong> betont gleichzeitig, dass er nicht wisse, ob <strong>die</strong>s<br />

heute noch genauso sei: „Einerseits habe ich Leute gekannt, <strong>die</strong><br />

mich dort auch vorgestellt haben. Man ist zu gesellschaftlichen<br />

Anlässen gegangen, zum Nachtessen, wo man sich einfach<br />

kannte. Ich war dann aber eigentlich enttäuscht, da<br />

man nur über das Auto <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ferien sprach, also Status<br />

<strong>und</strong> Geld, aber in keiner Sek<strong>und</strong>e nur spürbar eine Diskussion<br />

über irgendeine Krankheit aufkam. Das hat mich gar nicht<br />

fasziniert <strong>und</strong> mich auch geschaudert. Diese falsche Fre<strong>und</strong>lichkeit<br />

<strong>und</strong> Höflichkeit, da ja jeder im eigenen Profitcenter<br />

in seinen eigenen Sack hinein arbeitet. Gleichzeitig<br />

ist man aber fre<strong>und</strong>lich, eigentlich ist es aber ein Kampf<br />

mit dem Messer, wer den Patienten machen kann, der ver<strong>die</strong>nt.<br />

Dies hat mich im höchsten Mass angewidert. Das war<br />

<strong>die</strong> eine Vorstellung, ob sie stimmt oder nicht.“ Anhand seiner<br />

Aussagen wurde deutlich, dass eine Tätigkeit an einer Privatklinik sowohl<br />

früher keine reale Option für ihn darstellte als auch inskünftig keine darstellen<br />

wird, was nicht zuletzt auf das Patientengut zurückzuführen ist, <strong>die</strong> er in <strong>die</strong>ser<br />

427


Breite <strong>und</strong> Vielfältigkeit nur in einem öffentlichen Spital vorfindet: „An einem<br />

öffentlichen Spital sieht man alles, ,Kraut <strong>und</strong> Rüebli‘,<br />

bunt gemischt, sei es von der sozialen Schicht oder vom<br />

Alter oder von der Versichertenklasse oder von der Pathologie<br />

her. Man ist sehr viel mehr in den Notfallbetrieb eingeb<strong>und</strong>en.“<br />

Und er fügt hinzu: „Da viele von ihrem Schicksal nicht<br />

verwöhnt sind <strong>und</strong> es einfach durchstehen müssen. Das habe<br />

ich nicht immer so gesehen. Ich dachte, dass jeder irgendwohin<br />

kommt, wenn er nur etwas will <strong>und</strong> leisten möchte. Und<br />

nicht jammern, sondern arbeiten.“ Daniel S. ist bereits seit über<br />

zwanzig Jahren am Kantonsspital tätig <strong>und</strong> wird es noch weitere fünf bis sechs<br />

Jahre bleiben. Inwiefern er ein „Fade out“, <strong>die</strong> Anstellung über das Rentenalter<br />

hinaus, für sich als valide Möglichkeit erachtet, ist unklar. Diese Form der Anstellung,<br />

<strong>die</strong> möglicherweise auch als Antwort auf <strong>die</strong> Abwanderung aus Altersgründen<br />

erachtet werden kann, wird in öffentlichen Spitälern anhand einiger<br />

Exempel ausprobiert <strong>und</strong> soll denjenigen Kaderärzten, <strong>die</strong> weiterhin im<br />

Krankenhaus tätig sein möchten, den langsamen Rückzug in den Ruhestand<br />

ermöglichen. „Fade out“ wird auch als Massnahme gegen den abrupten Abschied<br />

aus dem arbeits- <strong>und</strong> zeitintensiven Alltag eines Arztes erachtet, da vor<br />

allem <strong>die</strong>jenigen Kaderärzte, <strong>die</strong> sich mit Leib <strong>und</strong> Seele der Patientenbetreuung,<br />

der Nachwuchsausbildung <strong>und</strong> der Spitalleitung widmen, vermehrt mit<br />

psychischen Schwierigkeiten nach dem Austritt aus dem klinischen Berufsalltag<br />

zu kämpfen haben.<br />

5.1.2.1 Der Karriereverlauf <strong>und</strong> seine Etappen<br />

Die Karriereverläufe der Probanden sind keine rein individuell geplanten bzw.<br />

planbaren, geradlinigen beruflichen Laufbahnverläufe, sie sind sowohl durch<br />

Brüche gekennzeichnet, als auch durch Karrieresprünge, <strong>die</strong> von den Probanden<br />

meist als Glück oder als Zufallsmomente bezeichnet werden, so auch von<br />

Klaus K.: „Es ging relativ homogen vor sich, obwohl <strong>die</strong>s nicht<br />

geplant war. Dies war Glück, Zufall, Schicksal. Es ging<br />

dann einfach so.“ Und Joachim A. stimmt ihm zu: „Ich hatte ein<br />

paar Mal auch Glück, dass ich <strong>die</strong>sen Weg auch zügig so beschreiten<br />

konnte.“ Die eigene berufliche Laufbahn als Karriere zu bezeichnen,<br />

davon distanziert sich <strong>die</strong> Mehrheit der Probanden. Sie gelangen zur<br />

Schlussfolgerung, dass eine Karriereplanung im Arztberuf nicht möglich sei, da<br />

zumeist nicht planbare Ereignisse eintreffen, wie der nicht Erhalt einer ge-<br />

428


wünschten Assistenzarzt- <strong>und</strong> Oberarztstelle aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> nicht Vorhandens-<br />

eins einer Vakanz oder <strong>die</strong> Aufrechterhaltung patriarchalischer Führungsstruk-<br />

turen, <strong>die</strong> geschlechterspezifische Diskriminierungen zur Folge haben können,<br />

wie folgen<strong>des</strong> Beispiel von Karl K. zeigt: „Meine Vorgängerin in der<br />

Abteilung am Universitätsspital wurde schwanger, folglich<br />

konnte ich ihren Weiterbildungsplatz erhalten. Der Chef<br />

dazumal war nicht so fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> teilte ihr mit, dass er<br />

sie nach dem Urlaub nicht mehr anstellen werde <strong>und</strong> teilte<br />

ihr weiter mit, dass er nicht wolle, dass sie eine Teilzeitausbildung<br />

mache.“ Oder wie Lena C. anhand einer ihrer Erfahrungen<br />

verdeutlicht: „Und dann sagte mein Chef, also Frauen werden<br />

nie Oberarzt. Dann habe ich gesagt, wir sind nicht dümmer<br />

als Männer. Und dann hat er gesagt, aber <strong>die</strong> bringt man<br />

nicht los, wörtlich. Also, dass <strong>die</strong>, dass wenn man <strong>die</strong> als<br />

Oberarzt einstellt, werden <strong>die</strong> nicht zum Chef gewählt. Die<br />

hatten eben an <strong>die</strong>sem Spital ganz viele, <strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong> wurden,<br />

<strong>und</strong> dann hatte er das Gefühl, dass Frauen als Chefärztinnen<br />

nicht gewählt werden, <strong>und</strong> demzufolge bleiben <strong>die</strong> bei<br />

ihm hängen.“ Derselbe Chef ermunterte sie Jahre später, sich auf den Chefarztposten<br />

zu bewerben, den sie heute innehat. Martin A. hingegen vertritt eine<br />

sehr dezi<strong>die</strong>rte Meinung zur vermeintlichen Karriereplanung eines Arztes. Sein<br />

äusserst kritischer Standpunkt gewährt einen guten Einblick in bzw. Überblick<br />

über eine exemplarische berufliche Laufbahn, <strong>die</strong> zahlreiche Parallelen mit den<br />

Karriereverläufen einer grossen Mehrheit der befragten Kaderärzte aufweist:<br />

„Früher kannten sich natürlich <strong>die</strong> grossen Chefs <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

grossen Mediziner <strong>und</strong> wussten beispielsweise, dass wenn sie<br />

über irgendwas forschen wollten, über Schilddrüsen oder so,<br />

dann wusste man genau, dass <strong>die</strong>s der Schilddrüsenspezialist<br />

in Paris ist oder irgendwo. Die kannten einander. Und wenn<br />

sie dann einen Götti haben oder einen Chef, der für sie<br />

schaut, dass sie dorthin kommen, dann ist <strong>die</strong>s Karriereplanung.<br />

Man musste also <strong>die</strong> ersten paar Jahre absitzen, wie<br />

alle anderen Assistenten hier, dann musste man schauen,<br />

dass man das Spezialgebiet irgendwo erlernen konnte, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s brauchte eine Empfehlung, da wenn ich dem einfach<br />

schreibe, dass ich gerne zu ihm kommen würde, da mich <strong>die</strong>s<br />

interessiert, dann wird <strong>die</strong>ser sagen, das ist einer von<br />

h<strong>und</strong>ert, den kann ich gar nicht brauchen. Wenn aber der<br />

Kollege aus der Schweiz oder aus Amerika anruft <strong>und</strong> sagt,<br />

du ich hab da einen, der würde gerne dringend <strong>und</strong> er ist<br />

429


gut <strong>und</strong> so, kannst du nicht schauen, dass <strong>die</strong>ser eine Ausbildung<br />

machen könnte, dann bekam man eine. Hinzukommt dann<br />

natürlich der soziale Aspekt, dass wenn man nach zwei Jahren<br />

zurückkommt, dass man dann auch wieder eine Stelle hat<br />

<strong>und</strong> dort wieder weiterarbeiten kann <strong>und</strong> so. Eben Ausbildungszeit<br />

als Assistent, dann Spezialausbildung, dann ein,<br />

zwei, drei Jahre in einem Forschungsprojekt, das sich häufig<br />

im Ausland befindet, meistens muss es Englisch sprechend<br />

sein, <strong>des</strong>halb ist Amerika sehr beliebt. Dann zurückkommen,<br />

eine Zeit lang als Oberarzt arbeiten <strong>und</strong> dann <strong>die</strong><br />

Habilitationsarbeit schreiben, <strong>die</strong>s ist eigentlich der<br />

Schritt. Das Ende der Karriereplanung ist, dass man dann<br />

irgendwo auch als Chef gewählt wird <strong>und</strong> auch <strong>die</strong>s benötigt<br />

... Das ist wie eine Mafia bei <strong>die</strong>sen Medizinern, dann<br />

weiss man, dass <strong>die</strong>ser <strong>und</strong> jener in ein paar Jahren pensioniert<br />

wird, dann könnte etwa derjenige oder <strong>die</strong>jenige infrage<br />

kommen, <strong>und</strong> dann werden <strong>die</strong>se empfohlen <strong>und</strong> darauf<br />

getrimmt. So läuft das.“ Anhand <strong>des</strong> Vergleichs der Laufbahn von<br />

Daniel S. mit der von Martin A. exemplarisch dargestellten Arztkarriere wird<br />

ersichtlich, dass Letztere nicht weit von der Realität entfernt ist. Die Verdichtung<br />

der Zeugnisse der Probanden haben folgende zentrale Meilensteine einer<br />

ärztlichen Karriere zum Vorschein gebracht. Obwohl <strong>die</strong> befragten Kaderärzte<br />

sich von einer expliziten Karriereplanung distanzieren, offenbart folgende Aussage<br />

von Walter I., dass auch der Bruch mit dem öffentlichen Spital zum richtigen<br />

bzw. zu einem erwählten Zeitpunkt zu erfolgen hat: „Es ist doch einfach<br />

so, dass wenn man eine Karriere am Universitätsspital<br />

macht, dass man dann auch mal Chefarzt werden möchte. (…)<br />

Aus einer Position als Leitender Arzt an der Uni direkt in<br />

eine Privatpraxis wäre auch etwas unüblich, dann wäre auch<br />

<strong>die</strong> eigene Investition, <strong>die</strong> man geleistet hat, verpufft.<br />

Das ist klar, dass man sich nach der Uni möglichst in eine<br />

Chefposition wählen lässt, was mich auch glücklich gemacht<br />

hat <strong>und</strong> ich sehr schön fand.“ Mit Investition meint er <strong>die</strong> hohe Belastung<br />

durch den zeit- <strong>und</strong> arbeitsintensiven Alltag, der zur Entstehung eines<br />

asketischen Habitus bei der Mehrheit der befragten Kaderärzte beiträgt. Hinzukommt<br />

das symbolische Kapital in Form von Ansehen <strong>und</strong> Prestige, das einem<br />

Kaderarzt zukommt <strong>und</strong> durch einen Chefarztposten umso stärker an Wirkkraft<br />

entfaltet. Möglicherweise spricht aber Walter I. auch seine Pflicht zur<br />

Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses, <strong>des</strong> sogenannten Teachings, an, wodurch er sein<br />

Wissen nicht nur mit den angehenden Ärzten teilt, sondern mittelbar auch den<br />

430


Patienten zukommen lässt. Eine Pflicht, der er im Privatspital nicht mehr nach-<br />

zukommen hat. Dass aber auf einen Karrierestart im Universitätsspital nicht<br />

zwangsläufig <strong>die</strong> Erlangung eines Chefarztpostens erfolgt, musste Bernd A. im<br />

Laufe seiner Karriere feststellen. Während der Assistenzarztzeit, spätestens<br />

aber im Laufe der Oberarztzeit muss der Entscheid für eine akademische oder<br />

eine klinische Laufbahn getroffen werden, wie <strong>die</strong>s auch Bernd A. zu spüren<br />

bekam <strong>und</strong> sich ihm, nach eigenen Aussagen, nach der fünf- bzw. sechsjährigen<br />

Tätigkeit als Oberarzt in einem Universitätsspital, schliesslich als einzige Alter-<br />

native eine Stelle im Privatspital bot: „Ich habe nicht habilitiert,<br />

also hatte ich als Oberarzt nur eine Anstellungsdauer von<br />

sechs Jahren gehabt, dann musste ich gehen.“ Gegen Mitte bzw.<br />

Ende der Assistentenjahre steht oft <strong>die</strong> Wahl <strong>des</strong> Fachbereichs bzw. der Spezia-<br />

lität an, in welcher später der Fachausweise FMH erlangt werden soll. Im Laufe<br />

der Karriere entschieden sich beispielsweise Andreas L. oder auch Lena C. für<br />

einen zweiten Fachausweis. Lena C. begründete <strong>die</strong>s folgendermassen: „Und<br />

<strong>des</strong>halb habe ich dann auch das bereits angesprochene, andere<br />

Fachgebiet (Fachgebiet wird im Interview genannt, im<br />

Sinne der Anonymisierung aber weggelassen) gemacht, damit<br />

man irgendwo ein Hobby hat, weil <strong>die</strong> ganze Medizin ist natürlich<br />

sehr, sehr breit. Und dann gibt es natürlich immer<br />

<strong>die</strong> Spezialisten, <strong>die</strong> von allem mehr verstehen, also müssen<br />

sie irgend ein Hobby haben, damit sie sagen können, da kann<br />

ich auch mitreden. Kurzum, ich habe also dann das andere<br />

Fachgebiet noch gemacht <strong>und</strong> ging dann nach Amerika.“ Von<br />

Vorteil ist eine Oberarztstelle in einem Universitätsspital, parallel zur Suche<br />

einer Oberarztstelle wird zumeist auch Ausschau gehalten nach einer Stelle als<br />

Research Fellow in England oder in den Staaten, zumeist ergibt sich <strong>die</strong>se aber<br />

auch aus der Oberarztanstellung, vor allem wenn <strong>die</strong>se an einem Universitätsspital<br />

absolviert werden kann. Sowohl bei der Suche der Oberarztstelle als auch<br />

bei der Suche eines Postens im Ausland kommt dem Vorgesetzten als Förderer<br />

eine zentrale Rolle zu. Während den Auslandsjahren wird oft Forschung getätigt,<br />

<strong>die</strong> für <strong>die</strong> spätere Habilitation von Relevanz sein wird, damit bei der<br />

Rückkehr in <strong>die</strong> Schweiz auf Stufe Oberarzt sogleich mit der Habilitation begonnen<br />

werden kann. Kurz vor oder gleich im Anschluss an <strong>die</strong> Forschungstätigkeit<br />

im Ausland erlangen <strong>die</strong> Oberärzte den Fachausweis FMH für ihr Spezialgebiet.<br />

Im Gegensatz zu früher herrscht heute <strong>die</strong> Meinung vor, dass das<br />

Erlangen einer Chefarztstelle ohne Habilitation eine Unmöglichkeit darstellt.<br />

431


Als eine der zentralen Vorstufen zur späteren Weihe zum Chefarzt galt <strong>die</strong><br />

Ernennung zum Leitenden Arzt, <strong>die</strong> in Kantonsspitälern durch eine Volksab-<br />

stimmung vollzogen wird, wie <strong>die</strong>s bei Daniel S. der Fall war: „Bin dann für<br />

<strong>die</strong>sen Fachbereich durch eine Volksabstimmung hindurch.“ Die<br />

Ernennung zum Chefarzt durch den Vorgesetzten oder der Erhalt eines Stellen-<br />

angebots seitens eines Kollegs oder <strong>des</strong> noch amtierenden Chefarztes stellt ein<br />

wesentlicher Weiheakt dar, durch welchen <strong>die</strong> Mehrheit der befragten Chefärz-<br />

te <strong>des</strong> öffentlichen Spitals geweiht wurde.<br />

5.1.2.2 Karrierebrüche <strong>und</strong> Entweihungen<br />

Ein Karrierebruch kann dann eintreten, wenn der Karrieresprung von der Posi-<br />

tion <strong>des</strong> Leitenden Arztes zum Chefarzt am öffentlichen Spital nicht möglich ist<br />

bzw. durch <strong>die</strong> jeweiligen Rahmenbedingungen nicht ermöglicht wird <strong>und</strong><br />

nach Alternativen Ausschau gehalten werden muss. Demzufolge kann zu einem<br />

Bruch auch <strong>die</strong> Abwanderung aus einem öffentlichen Kantonsspital in ein<br />

Privatspital führen, was anhand <strong>des</strong> Porträts von Bernard S. exemplarisch ersichtlich<br />

wurde. Bernard S. wurde, als er Leitender Arzt an einem kleineren<br />

Kantonsspital war, <strong>die</strong> Übernahme eines Chefarztpostens angeboten. Ein Posten,<br />

der als gesicherte Stelle bis zum Rentenalter gilt, als Weihung seitens <strong>des</strong><br />

Chefarztes bzw. Vorgesetzten erachtet wird, mit der auch <strong>die</strong> Festigung <strong>des</strong><br />

speziellen „Amtscharismas“ eingeläutet wird. Dieses Angebot schlug er jedoch<br />

aus, einerseits, da er sich der Führungsfunktion nicht gewachsen fühlte, <strong>und</strong><br />

andererseits, da er Zweifel an der Zusammensetzung <strong>und</strong> Orientierung <strong>des</strong><br />

ärztlichen Teams hegte. Weshalb er <strong>die</strong>se Chance, <strong>die</strong> ihm von seinem damaligen<br />

Vorgesetzten <strong>und</strong> Chefarzt angeboten wurde, ausschlug, erläutert er folgendermassen:<br />

„Mein Hauptmotiv war, dass ich Arzt <strong>und</strong> Spezialist<br />

bleiben <strong>und</strong> nicht Management <strong>und</strong> Führung machen wollte<br />

<strong>und</strong> mich nicht mit <strong>die</strong>sen Leuten zusammentun mochte, <strong>die</strong><br />

vernetzt <strong>und</strong> verbandelt waren <strong>und</strong> <strong>die</strong> Hierarchie unterminieren<br />

würden, einfach dadurch, da sie in <strong>die</strong>sem Spital<br />

persönlich vernetzt waren, was zu Seilschaften führte, innerhalb<br />

welcher man als Chef keine Chance hatte, <strong>die</strong>s irgendwie<br />

zu unterbinden.“ Er wollte getreu seiner inkorporierten „totalen<br />

sozialen Rolle“ keinen ökonomischen Handlungsmaximen unterliegen <strong>und</strong><br />

hielt <strong>die</strong>jenigen Handlungsmaximen hoch, denen er sich als Humanmediziner<br />

verpflichtet fühlte. Was das Ausschlagen eines solchen Angebots bedeutet,<br />

realisierte er erst, als seine Meinung bei der Anstellung eines neuen Chefarztes,<br />

432


mit welchem er eng zusammenarbeiten sollte, nicht mehr gefragt war oder der<br />

Austausch mit der Spitalleitung unterb<strong>und</strong>en wurde, da <strong>die</strong>se den Austausch<br />

als nicht mehr vonnöten erachtete. Bernard S. fühlte sich zusehends auf <strong>die</strong><br />

Outsider-Position gedrängt, was seinerseits zu Unmut führte. Als Ausweg<br />

erachtete er den Austritt <strong>und</strong> folgte dem Ruf seitens eines Kollegen aus der<br />

Privatklinik. Da Bernard S. keine Praxisbewilligung erhielt, was während den<br />

Jahren <strong>des</strong> Ärztestopps keine Seltenheit, sondern <strong>die</strong> Regel darstellte, ernannte<br />

ihn sein Kollege zu seinem Assistenzarzt. Bernard S., eine ehemaliger Leitender<br />

Arzt, dem von seinem Vorgesetzten <strong>die</strong> Qualitäten eines Chefarztes zugesprochen<br />

wurden, wurde erneut zum Assistenten, was ihn gemäss eigener Aussagen<br />

auch nicht weiter zu stören schien, eine Degra<strong>die</strong>rung war es dennoch. An<br />

den Gehältern, <strong>die</strong> am Privatspital erwirtschaftet werden konnten, störte sich<br />

Bernard S. jedoch, da er <strong>die</strong>se als massiv überhöht empfand. Bernard S. ver<strong>die</strong>nte<br />

nach eigenen Aussagen 350‘000 Schweizer Franken am Privatspital, sein<br />

Kollege das Doppelte. Die Höhe prangerte er an, da er <strong>die</strong>se in Anbetracht der<br />

Tatsache, dass er folgende Aufgaben zu erfüllen hatte, als ungerechtfertigt<br />

empfand: „... es ist rein durch assistieren, also Sprechst<strong>und</strong>e,<br />

Visite, gelangt man in <strong>die</strong>se Preisklasse, in <strong>die</strong>se<br />

Lohnklasse hinein, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ist einfach zu viel.“ Bernard S.<br />

räumte ein, dass er <strong>und</strong> sein Kollege lange Arbeitstage zu absolvieren hatten,<br />

<strong>und</strong> dennoch war <strong>die</strong> monetäre Entlohnung, dabei vergleicht er sein damaliges<br />

Gehalt mit dem seiner Frau, <strong>die</strong> im pädagogischen Bereich tätig ist, zu hoch. Als<br />

er sich nach wenigen Monaten wieder für einen Weggang entschied, empfand<br />

sein Kollege im Privatspital <strong>die</strong>s als Affront gegen ihn. Vermutlich fühlte er sich<br />

auch von ihm verraten, da Bernard S. mit dem Blick hinter <strong>die</strong> Kulissen erkannte,<br />

dass <strong>die</strong> Realität fern vom Bildnis war, das er sich gemeinhin vom Privatspital<br />

machte. All <strong>die</strong>s hatte zur Folge, dass er sich erneut nach einer Alternative<br />

umschauen musste. Am Anschluss an das Interview berichtete er, dass der erste<br />

Schritt seiner Kollegen am Privatspital nach einem operativen Eingriff nicht<br />

derjenige zum Patienten war, sondern derjenige an den Computer, um <strong>die</strong><br />

Leistungserfassung vorzunehmen, wofür Bernard S. kein Verständnis aufbringen<br />

konnte. Bernard S. schildert den Gr<strong>und</strong> für seinen Weggang folgendermassen:<br />

„Es war nicht der materielle Aspekt, der mich dazu bewogen<br />

hat, <strong>die</strong>ses Experiment so rasch als möglich wieder<br />

abzubrechen, sondern erstens bin ich in einen ganz schweren<br />

Konflikt zwischen ihm <strong>und</strong> einer Ärztegruppe geraten. (…)<br />

Als ich dann hineinkam, habe ich realisiert, dass sie einen<br />

433


iesigen Krach hatten, <strong>und</strong> man nur über Anwälte <strong>und</strong> Juristen<br />

miteinander stritt <strong>und</strong> sprach. (…) In der ersten Woche<br />

sass ich mit ihnen im Sitzungsraum <strong>und</strong> da wurde klar gesagt,<br />

dass sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wollen. Das<br />

ist natürlich eine absolute Katastrophe. Man arbeitet Türe<br />

an Türe, aber man sagt einem von Angesicht zu Angesicht,<br />

dass man mit <strong>die</strong>sem nichts mehr zu tun haben will. Wenn ich<br />

einen Arzt benötige, der <strong>die</strong>ses <strong>und</strong> jenes Leiden <strong>des</strong> Patienten<br />

betrachtet, ein Leiden für welches er der Spezialist<br />

wäre, dann schicke ich <strong>die</strong>sen nicht mehr zu dir, sondern<br />

ich suche mir jemand anders. Das ist eine Katastrophe.“ Das<br />

nach aussen propagierte Bild von Expertenteams, wo zahlreiche Spezialisten<br />

<strong>des</strong>selben Fachbereichs zusammenarbeiten, entsprach nicht annähernd der<br />

Realität: „Als Aussenstehender hatte ich das Gefühl, dass <strong>die</strong>s<br />

super sei, dass es dabei tatsächlich nur um <strong>die</strong> Sache, um<br />

ein spezifisches Leiden ging.“ Die Realität war geprägt von massiven<br />

Konkurrenzbeziehungen <strong>und</strong> Ausgrenzungsmechanismen, was Bernard S.<br />

zutiefst abschreckte <strong>und</strong> <strong>des</strong>illusionierte. Die Realität beschrieb er folgendermassen:<br />

„Es ist eine schöne Adresse, ein schönes Label, ein<br />

schönes Logo, aber in Tat <strong>und</strong> Wahrheit sind alle Einzelkämpfer<br />

<strong>und</strong> versuchen für sich das Ganze zu optimieren <strong>und</strong><br />

sorgen nicht für eine effiziente <strong>und</strong> optimale Behandlung<br />

der Patienten.“ Zum Zeitpunkt <strong>des</strong> Interviews erfüllte Bernard S. neu den<br />

Posten eines Leitenden Arztes im selben Kantonsspital, wo auch Daniel S. <strong>und</strong><br />

Lena C. tätig sind, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s auf Teilzeitbasis. Die Abwanderung <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rückkehr<br />

resultierte in einem Karrierebruch, an dem sich Bernard S. heute nicht zu<br />

stören scheint <strong>und</strong> sich froh über <strong>die</strong> Neuanstellung im öffentlichen Spital zeigt.<br />

Karl K., der zweite interviewte Rückkehrer, der eine Anstellung in einer Privatklinik<br />

in Deutschland inne hatte, konnte <strong>die</strong>sen Bruch umgehen, was vermutlich<br />

auch mit dem Alter, in welchem <strong>die</strong> Abwanderung vollzogen wurde, zusammenhängt.<br />

Die Altersdifferenz zwischen beiden beträgt nur drei Jahre. Karl<br />

K., der heute anfangs fünfzig ist, entschied sich aber bereits vor über zehn Jahren<br />

für seine heutige Stelle am Kantonsspital, Bernard S. hingegen entschied<br />

sich erst mit fünfzig Jahren gegen <strong>die</strong> Chefarztstelle im öffentlichen Spital <strong>und</strong><br />

ein bis anderthalb Jahre später gegen das Privatspital. Als Karl K. <strong>die</strong> Privatklinik<br />

verliess, war er Mitte vierzig <strong>und</strong> konnte sich nochmals neu orientierten.<br />

Die Situation am Privatspital schilderte er folgendermassen: „Ich habe dann<br />

in Deutschland eine gute Chance gesehen, das war eine Pri-<br />

434


vatklinik mit dem Schwerpunkt auf einen meiner Spezialbereiche,<br />

also genau das, was mir zusagte. Das war ein Einzelunternehmer<br />

<strong>und</strong> der hat sich zur Maxime gemacht, Spitzenmedizin<br />

in einer Spitzenumgebung anzubieten, das war so<br />

sein Logo. Ich habe mich von dem gut angesprochen gefühlt<br />

<strong>und</strong> hatte das Gefühl, dass <strong>die</strong>s gut ist. Auf Qualität wurde<br />

grössten Wert gelegt <strong>und</strong> er wollte, dass all <strong>die</strong>s in einer<br />

sehr angenehmen Umgebung geschieht, wofür man auch Privatpatienten<br />

gewinnen konnte. Ich habe <strong>die</strong>s dann gemacht, es<br />

hat aber einige Hindernisse gegeben. (…) Die Klinik wurde<br />

dann verkauft. Derjenige, dem sie gehört hatte, ist gestorben<br />

<strong>und</strong> hat sie seinem Sohn vermacht. Der Sohn hat zu seinem<br />

fünfzigsten Geburtstag auf dem Klinikgelände einen Baum<br />

gepflanzt, hat sich von seiner Frau getrennt <strong>und</strong> ist nach<br />

In<strong>die</strong>n in einen Schrein gegangen. (…) Diejenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Klinik gekauft haben, waren drei unsympathische Typen aus<br />

dem Bankengeschäft, <strong>die</strong> dann in dem Ganzen lediglich eine<br />

Gewinnmaximierung sahen, <strong>und</strong> so handelte <strong>die</strong> erste Sitzung<br />

eigentlich nur von Gewinnmaximierung, Kostenreduzierung <strong>und</strong><br />

weiter wurde auch vielen Leuten gekündigt. Man hat dann den<br />

Physiotherapeuten gekündigt <strong>und</strong> arbeitslose Sportlehrer<br />

eingestellt, <strong>die</strong> es damals in <strong>die</strong>ser Gegend massenhaft gab.<br />

(…) Ich habe mich dann richtig mit denen angelegt <strong>und</strong> ihnen<br />

gesagt, dass es so einfach nicht mehr gehe, folglich haben<br />

sie mich auch schnell suspen<strong>die</strong>rt, <strong>und</strong> dann war es klar.<br />

Sie haben dann aber bemerkt, dass <strong>die</strong>s nicht so gut geht,<br />

da ich dann bereits eine grosse Klientel an Patienten hatte,<br />

sehr gute Patienten, <strong>die</strong> dann eben auch nicht mehr kamen,<br />

als ich nicht mehr da war. Das dauerte etwa einen Monat<br />

<strong>und</strong> nach einem Monat haben sie mich dann wieder geholt.<br />

Ich musste dann zur Geschäftsleitung gehen, sie haben dann<br />

gefragt, zu welchen Bedingungen ich denn bereit wäre hier<br />

weiterzumachen. Und dann habe ich gesagt, wenn sie nicht<br />

mehr da seien, wenn <strong>die</strong> Geschäftsleitung ausgewechselt werde,<br />

dann komme ich wieder. Sie haben dann gefragt, wie ich<br />

<strong>die</strong>s denn meine, woraufhin ich geantwortet habe, dass ich<br />

es genauso meine, wie ich es gesagt habe.“ Karl K. musste anschliessend<br />

als Zeuge gegen <strong>die</strong> Privatklinik aussagen, da <strong>die</strong>se wegen Kunstfehlern<br />

verklagt wurde. Karl K. scheint ein über <strong>die</strong> Lan<strong>des</strong>grenzen hinweg<br />

angesehener Spezialist innerhalb seines Fachbereichs zu sein. Kurz nach seinem<br />

Austritt erfuhr er von einer Kollegin, <strong>die</strong> von einem seiner heutigen Kollegen<br />

435


<strong>die</strong> Anfrage erhielt, Karl K. zu einer Bewerbung an seinem Kantonsspital zu<br />

motivieren, über <strong>die</strong> Ausschreibung seiner heutigen Stelle. Karl K. bewarb sich<br />

<strong>und</strong> qualifizierte sich für <strong>die</strong> Stelle <strong>des</strong> Chefarztes seines Fachbereichs innerhalb<br />

der Inneren Medizin. Der Erhalt eines Stellenangebots <strong>und</strong> <strong>die</strong> nicht eigens<br />

initiierte Bewerbung auf einen Chefarztposten ist nicht nur für <strong>die</strong> Laufbahn<br />

von Karl K. kennzeichnend, sondern auch für <strong>die</strong> von Lena C., Daniel S., Hans<br />

S., Karl K., Petra S. <strong>und</strong> Otto K. Bei Joachim A. bewirkte ein Stellentausch, dass<br />

er seine heutige Stelle innehat. Ein Päckchen, das er mit einem Kollegen ge-<br />

schnürt hätte, habe zum Erhalt seiner heutigen Stelle beigetragen. Seitens der<br />

Leaver spricht nur Adrian L. von einem Angebot, das er seitens <strong>des</strong> Privatspit-<br />

als erhielt. Victor H. hat <strong>die</strong> Stelle in einem Privatspital bewusst gesucht, Bernd<br />

A. hingegen hätte sich auch eine Stelle im Kantonsspital vorstellen können, aber<br />

auch er bewarb sich aus eigenem Antrieb am Privatspital. Bei Yann S., Walter I,<br />

Xavier R. <strong>und</strong> Christian N. ist unklar, wie sie zu ihrem Posten im Privatspital<br />

kamen, vorstellbar ist eine Abwerbung seitens der Spitaldirektion oder seitens<br />

eines Kollegen, der den Übertritt bereits vollzogen hatte. Alle vier, bis auf <strong>die</strong><br />

Stelle von Xavier R., obwohl <strong>die</strong>se als Äquivalent zu einem Chefarztposten<br />

erachtet werden kann, hatten Chefarztfunktionen inne <strong>und</strong> genossen hohes<br />

Ansehen unter den Kollegen. Bei <strong>Chefärzte</strong>n, <strong>die</strong> <strong>die</strong> unterschiedlichsten Institutionen<br />

der Weihe absolvierten, sich gegen <strong>die</strong> Konkurrenz durchsetzten, <strong>die</strong><br />

Reproduktion unter anderem durch <strong>die</strong> Lehre gewährleisten <strong>und</strong> anschliessend<br />

durch geweihte Vorgesetzte, <strong>die</strong> „Priester“, zum Chefarzt gekürt werden, spielen<br />

andere Kräfte eine Rolle, <strong>die</strong> sie zur Abwanderung bewegen. Insbesondere<br />

beim Übertritt aus einer geweihten Position, der hohes Ansehen gebührt, eine<br />

charismatische Herrschaft zugesprochen wird <strong>und</strong> Privilegien zugestanden<br />

werden, da der Inhaber <strong>die</strong>ser Position seinem beruflichen Stand entsprechend<br />

dem Markt den Rücken kehrt <strong>und</strong> sich der Allgemeinheit verpflichtet, ist <strong>die</strong><br />

Rückkehr nahezu ausgeschlossen. Beim Übertritt von einem öffentlichen Spital<br />

in ein Privatspital spielt <strong>die</strong> Anfrage bzw. das Stellenangebot seitens der Privatklinik<br />

<strong>und</strong> folglich der aktive Akt <strong>des</strong> Abwerbens eine nicht unbedeutende<br />

Rolle, wie beispielsweise Klaus K. treffend erläutert: „Das System ist sehr<br />

<strong>und</strong>urchsichtig <strong>und</strong> unterschiedlich. Der Vorteil ist, dass<br />

wenn man dorthin geht, dass man verhandeln kann. Vor allem<br />

wenn sie einen wollen <strong>und</strong> sie ins System hinein passen,<br />

können sie zu verhandeln beginnen. Je mehr sie einen wollen,<br />

<strong>des</strong>to mehr kann man für sich rausholen. Umso mehr kann<br />

man sagen, ob man als Belegarzt tätig sein möchte oder eben<br />

436


als Angestellter, was seitens <strong>des</strong> Spitals zusehends der<br />

Fall ist. Es kommt auf das Bedürfnis <strong>des</strong> Spitals an, <strong>und</strong><br />

gleichzeitig sind sie eben auch sehr flexibel. Sie können<br />

so oder so oder so anstellen.“ Auch Martin A. sieht einen Unterschied<br />

zwischen einer Anfrage seitens <strong>des</strong> Spitals <strong>und</strong> einer aktiven Bewerbung,<br />

was vermutlich mit dem von Klaus K. genannten Verhandlungspotenzial<br />

zusammenhängt: „Aber es ist ein Unterschied, ob sie angefragt<br />

werden: Wollen sie zu uns kommen, wir suchen einen, oder<br />

wenn sie nicht angefragt werden. Ich hätte mich jetzt nie<br />

aktiv um einen Job in irgendeiner Privatklinik bemüht. Darin<br />

hätte ich in dem Sinne keinen Vorteil gesehen. Wenn<br />

aber natürlich ein Angebot gekommen wäre, dann hätte <strong>die</strong>s<br />

anders getönt. Dann hätte man sich <strong>die</strong>s wahrscheinlich<br />

überlegt. Ob ich je gewechselt hätte, das ist eine ganz<br />

andere Frage.“ Martin A. weist explizit auf den Unterschied hin, der sich<br />

aus dem Umstand ergibt, ob ein Arzt gerufen bzw. berufen wird oder sich selber<br />

aktiv <strong>und</strong> strategisch durchdacht um eine Stelle im Privatspital bewirbt. Das<br />

„Gerufen werden“ erhöht <strong>die</strong> eigene Attraktivität auf dem Markt, was dem<br />

Betreffenden schmeichelt <strong>und</strong> ihm auch gleichzeitig <strong>die</strong> Möglichkeit offen lässt,<br />

dankend abzulehnen. Dem angefragten Arzt kommt dadurch eine hohe Legitimität<br />

zu, wohingegen für denjenigen, der sich aktiv um eine Stelle bewirbt,<br />

immer das Risiko besteht, abgelehnt zu werden <strong>und</strong> dadurch seine Bemühungen<br />

in einem Misserfolg resultieren. Dieser wiegt umso schwerer, als mit der<br />

Selbstbewerbung aus dem öffentlichen Krankenhaus heraus, mit dem Zweck<br />

einer Anstellung im privatwirtschaftlich ausgerichteten Ges<strong>und</strong>heitsmarkt,<br />

stillschweigende Tabus <strong>und</strong> Grenzen gebrochen werden. Der Status <strong>des</strong> Verführten<br />

kann von all denjenigen beansprucht werden, <strong>die</strong> von den Sirenen <strong>des</strong><br />

Marktes angelockt wurden <strong>und</strong> ihren Verheissungen erlegen sind. Diesen Status<br />

kann der Selbstbewerber nicht für sich beanspruchen, da <strong>die</strong> aktive Anfrage<br />

eine klare Nachfrage nach dem Eldorado darstellt, wodurch <strong>die</strong> Profitorientierung<br />

<strong>und</strong> der Utilitarismus <strong>des</strong> eigenen Handels offenk<strong>und</strong>ig werden. Emil E.<br />

<strong>und</strong> Hans S. gehören zu denjenigen, <strong>die</strong> von Privatspitälern angefragt wurden<br />

bzw. abgeworben werden sollten. Beide leisteten aus unterschiedlichen Gründen<br />

den Sirenenrufen nicht Folge. Hans S. äussert sich hierzu folgendermassen:<br />

„Ich bin in meiner Zeit bis etwa vor zehn Jahren x-mal von<br />

Leuten einer Privatklinikgruppe <strong>und</strong> auch vom CEO angefragt<br />

worden, ob ich in einer ihrer Kliniken in der Schweiz arbeiten<br />

möchte. Ich kenne <strong>die</strong>se Leute alle relativ gut. Und<br />

437


so stand ich immer wieder vor der Entscheidung, soll ich<br />

oder soll ich nicht. Und auch hier ist einer der Gründe,<br />

weshalb ich nie ging <strong>und</strong> ich es auch nicht bedauert habe:<br />

eine gewisse Verb<strong>und</strong>enheit mit dem Konzept <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Spitals, der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung, wie wir sie in der<br />

Schweiz haben <strong>und</strong>, dass <strong>die</strong> Basisversorgung in einem öffentlichen<br />

Spital gewährleistet werden muss <strong>und</strong> so weiter.<br />

Dass man eine Gr<strong>und</strong>versorgung der Bevölkerung zu garantieren<br />

hat <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Das ist ein ges<strong>und</strong>heitspolitisches<br />

Konzept, das mir einleuchtet, <strong>und</strong> welches ich aufgr<strong>und</strong> meiner<br />

politischen Einstellung auch unterstütze. Die Frage ist<br />

einfach, wie hoch der Preis ist, wenn man bleibt.“ Die Aussage<br />

von Hans S. steht exemplarisch für sein berufsständisches Ethos, das versucht<br />

den Glauben an <strong>die</strong> Institution <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses aufrechtzuerhalten,<br />

wodurch er sich auch deutlich von den Leavern seiner Generation<br />

abgrenzt. Die nachfolgende Aussage von Hans S. verdeutlicht jedoch eine Toleranz<br />

bzw. ein Verständnis für seine jungen Oberärzte, <strong>die</strong> den Lockrufen <strong>des</strong><br />

Privatspitals folgen, womit gewissermassen eine Schwächung seines moralischen<br />

Zeigefingers einhergeht: „Ich unterstütze meine Leute dabei,<br />

dass sie gehen. Ich kann niemandem sagen: Arbeite hier für<br />

zweih<strong>und</strong>erttausend Franken oder h<strong>und</strong>ertfünfzig, wenn du<br />

dort das Dreifache ver<strong>die</strong>nen kannst. Du hast kleine Kinder,<br />

hast eine Familie, du musst auch zu dir schauen. Hinsichtlich<br />

<strong>des</strong>sen sind wir einfach nicht konkurrenzfähig.“ Seine<br />

Unterstützung rührt unter anderem daher, dass er kein Verständnis für das<br />

massive Gehaltsgefälle zwischen dem öffentlichen <strong>und</strong> dem privaten Spital<br />

aufbringt, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s aufgr<strong>und</strong> folgender Tatsache verdeutlicht: „Meine Vorstellung<br />

ist, dass wenn ein öffentliches Spital wirklich<br />

funktionieren soll <strong>und</strong> <strong>die</strong>s mit qualifiziertem, medizinischem<br />

Personal beispielsweise auf der Stufe Leitender Arzt<br />

<strong>und</strong> mit langfristigen Teams, <strong>die</strong>s nur unter folgenden Umständen<br />

geschehen kann: Die öffentlichen Spitäler müssen<br />

<strong>die</strong>sen Ärzten einen Lohn beziehungsweise eine Gesamtsumme<br />

bezahlen, <strong>die</strong> konkurrenzfähig ist. Und zwar konkurrenzfähig<br />

zu einer gut laufenden Praxis. Ein Spital muss <strong>die</strong>s bieten<br />

können, ansonsten haben wir immer <strong>die</strong> zweite oder dritte<br />

Wahl. Da alle anderen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Möglichkeit haben, gehen.<br />

Das hat das öffentliche Spital noch nicht wahnsinnig umgesetzt.<br />

Ich kämpfe für <strong>die</strong>se monetäre Gleichstellung für<br />

unsere Leute, seit ich hier bin. Ich bin noch nicht sehr<br />

438


weit gekommen.“ Das Lohngefälle birgt gemäss Hans S. <strong>die</strong> Gefahr, dass<br />

gutausgebildete Ärzte von einer Anstellung in einem öffentlichen Spital abse-<br />

hen, womit längerfristig auch Qualitätsverluste einhergehen: „Dabei geht<br />

es nicht um ein paar Millionen pro Jahr, sondern um einen<br />

guten Lohn, der in einer Praxis um <strong>die</strong> dreih<strong>und</strong>ert-, dreih<strong>und</strong>ertfünfzigtausend<br />

ist. Davon spreche ich. Wenn das öffentliche<br />

Spital <strong>die</strong> Möglichkeit hätte <strong>die</strong>s so anzubieten,<br />

dann hätte man hier eine Kontinuität guter Leute. Das Interesse<br />

scheint aber offensichtlich nicht da zu sein.“ Hans S.<br />

fordert eine Lohngerechtigkeit, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Angleichung der Gehaltsstrukturen<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses an <strong>die</strong> <strong>des</strong> Privatspitals institutionalisiert<br />

werden soll, womit eine Gleichstellung gefordert wird, <strong>die</strong> mit einer Angleichung<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Dienstes an den Markt einhergeht, <strong>und</strong> den Marktpreis<br />

zum Richtwert erklärt. Hans S. gewährt sich, durch <strong>die</strong> Verteidigung seines<br />

Nachwuchses, <strong>die</strong> den Sirenen erliegen, nicht aus seiner Position als Chefarzt,<br />

sondern aus der Position <strong>des</strong> Vorgesetzten <strong>und</strong> Lehrenden, <strong>die</strong> monetäre Entlohnung<br />

zu thematisieren. In der Position <strong>des</strong> Chefarztes hält er seinen inkorporierten<br />

Habitus <strong>und</strong> <strong>die</strong> „Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>, <strong>die</strong> Verkennung <strong>des</strong> Ökonomischen,<br />

hoch. Die Argumentation aus der Perspektive <strong>des</strong> Vorgesetzten ermöglicht<br />

ihm, seine Forderung nach einer Angleichung der Gehaltsstrukturen an<br />

<strong>die</strong> <strong>des</strong> Privatspitals hervorzubringen, ohne, dass er selber in den Verruf<br />

kommt, den Arbeitsplatz nach der Entlohnung auszulesen bzw. den Markt als<br />

das Mass aller Dinge zu erachten.<br />

Auch Daniel S. sieht <strong>die</strong>se Gefahr der geringeren Entlohnung an öffentlichen<br />

Spitälern <strong>und</strong> <strong>die</strong> trotzdem bestehende Hoffnung, <strong>die</strong> Elite der Ärzteschaft am<br />

öffentlichen Spital vorzufinden: „Im öffentlichen Spital fürchtet<br />

man zu viel Innovation, denn <strong>die</strong>s kann teuer werden, <strong>und</strong><br />

umgekehrt will man <strong>die</strong> Spitze haben, etwas was beinahe<br />

nicht geht, Elite <strong>und</strong> günstig. Die Lehrstühle sind heute<br />

nur noch selten von Kollegen der Schweiz besetzt. Wir werden<br />

beinahe 40 bis wir habilitiert sind, <strong>und</strong> sind dann<br />

meistens für eine öffentliche Pensionskasse teurer als ein<br />

Kollege aus Deutschland, der anfangs 30 bereits eine Professur<br />

hat.“ Daniel S. erhielt selber mehrmals Angebote von Privatkliniken,<br />

nahm aber keines an. Emil E. äussert sich zu seinem damaligen Angebot, das<br />

auch er ausschlug, folgendermassen: „Das hat am Schluss nicht gepasst.<br />

Die wollten mich auch relativ billig. Das habe ich<br />

439


dann irgendwann bemerkt. Sie haben ein Arbeitstier gesucht,<br />

das ich eigentlich schon bin ...“ Das Gehalt, das man ihm anbot,<br />

war das Doppelte seines damaligen Oberarztgehalts, das inkl. Poolanteil bzw.<br />

Honorare aus der Behandlung von Zusatzversicherten 180‘000 Schweizer Franken<br />

betrug. Folglich hätte Hans S. durch das Angebot ein Salär von ca. 360‘000<br />

Schweizer Franken erwirtschaften können, da er aber Kollegen am Privatspital<br />

kannte, <strong>die</strong> ungefähr eine halbe Million am Privatspital ver<strong>die</strong>nen, fühlte er sich<br />

<strong>und</strong> seine Fachkompetenz zu wenig geschätzt <strong>und</strong> schlug das Angebot aus.<br />

Emil E. gehört zu den wenigen Probanden, <strong>die</strong> offen über ihr Salär sprechen<br />

<strong>und</strong> den monetären Anreiz, der <strong>die</strong> Alternative Privatspital bietet, <strong>und</strong> damit ist<br />

klar, dass der ökonomische Beweggr<strong>und</strong> nicht mehr länger verkannt wird. Bei<br />

Emil E. ergibt sich eine Korrelation zwischen seiner unverschleierten Deutlichkeit,<br />

mit welcher er den ökonomischen Anreiz thematisiert, <strong>und</strong> seiner Doppelfunktion<br />

als Co-Chefarzt <strong>und</strong> gleichzeitiger Leiter der Unternehmensentwicklung<br />

<strong>des</strong> Kantonsspitals. Wie bereits im Kapitel zur sozialen Herkunft erläutert<br />

wurde, hat Emil E., der ein MBA an einer Schweizer Universität absolviert hat,<br />

den Jargon <strong>des</strong> homo oeconomicus bereits internalisiert, hat sich durch seine<br />

betriebswirtschaftliche Ausbildung <strong>und</strong> dem steten Austausch mit der Spitalverwaltung<br />

ein betriebswirtschaftliches Fachwissen angeeignet <strong>und</strong> offenbart in<br />

seinen Äusserungen <strong>die</strong> nackte Wahrheit, wie auch <strong>die</strong>se Aussage zeigt: „Die<br />

kaufen einfach den Markt. In bestimmten Bereichen kauft<br />

sich <strong>die</strong> berühmteste Schweizer Privatklinikgruppe einfach<br />

den Markt. Sie haben nun beispielsweise aus einem Stadtspital<br />

eine gute Gruppe von Spezialisten abgeworben. Die Privatklinik<br />

hat ihre Beziehungen, <strong>und</strong> dann kauft sie <strong>die</strong>se<br />

Gruppe einfach. Sie kauft einfach den Markt.“ Sagt er damit aus,<br />

dass <strong>die</strong> Ärzteschaft ebenso käuflich ist wie der homo oeconomicus <strong>und</strong> setzt<br />

sich <strong>und</strong> seine Kollegen mit ihm gleich? Obwohl er den ökonomischen Anreiz<br />

nicht verleugnet, seiner Fachkompetenz gewährt Emil E. den Hauch <strong>des</strong> Ausseralltäglichen,<br />

was folgen<strong>des</strong> Zitat zeigt: „Ich habe natürlich das Privileg,<br />

dass ich es nicht machen muss <strong>und</strong> folglich sagen<br />

kann, ich sehe es so oder ansonsten lasse ich es bleiben.<br />

Dieses Privileg hat vielleicht ein Hausarzt nicht. Das ist<br />

das eine Privileg <strong>und</strong> das andere ist, dass wenn mich jemand<br />

fragt, dann vertraut er auf meine Expertise, dann kann ich<br />

mich auch so aufführen. (…) Letztlich sind unsere Patienten<br />

extrem gutmütig <strong>und</strong> auch nicht schwierig. Es ist nicht ein<br />

Verein von komplizierten Nörglern, sondern sie sind eigent-<br />

440


lich gut zu führen. Teilweise gibt es dann mal einen, der<br />

aus der Reihe fällt. Dann ist es aber eine Frage der Seniorität,<br />

ob sie <strong>die</strong>se ausleben wollen, zur Not müssen sie<br />

dann eben mal. Es gibt einen Standardspruch, den ich benutze,<br />

wenn ich mit schwierigen Patienten, <strong>die</strong> wirklich mühselig<br />

sind, umgehe. Wissen Sie, welches der Unterschied zwischen<br />

Ihrem Friseur <strong>und</strong> mir ist? Ihrem Friseur können sie<br />

sagen, was er zu tun hat.“ Bei Emil E. verdeutlicht sich <strong>die</strong> Anpassung<br />

seines Jargons <strong>und</strong> teilweise auch seiner Denk-, Handlungs- <strong>und</strong> Wahrnehmungsschemata<br />

an dem ökonomisch induzierten Transformationsprozess <strong>des</strong><br />

Krankenhauswesens. Gleichzeitig offenbaren sich bei ihm moralische Dissonanzen,<br />

da er sich einerseits bewusst ist, dass einige seiner Kollegen dem monetären<br />

Reiz erlegen sind, ganz nach dem Motto „wenn der Preis stimmt“, gehe<br />

ich. Auch er selbst war versucht, dem Reiz nachzugeben. Andererseits möchte<br />

er seine Fachkompetenz, <strong>die</strong> er selbst als hoch einschätzt <strong>und</strong> wodurch er sich<br />

auch gegenüber anderen Kollegen abhebt, einer breiten Patientengruppe zukommen<br />

lassen.<br />

Wie bereits zu Beginn <strong>die</strong>ses Unterkapitels erläutert wurde, kann <strong>die</strong> Tatsache,<br />

dass nicht jeder Leitende Arzt zum Chefarzt ernannt wird, in einem Karrierebruch<br />

resultieren <strong>und</strong> damit auch zu einem wichtigen Motiv für den Weggang<br />

aus dem öffentlichen Sektor werden. Victor H., ein Leaver <strong>und</strong> ehemaliger<br />

Leitender Arzt an einem Stadtspital, bestätigt, dass eine Karriereplanung<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich möglich ist, musste aber bei seiner eigenen Karriere erkennen,<br />

dass eine Stelle als Leitender Arzt nicht unbedingt <strong>die</strong> Vorstufe zur Übernahme<br />

eines Chefarztpostens darstellt: „Man kann zwar eine Karriereplanung<br />

machen, in dem Sinne, dass man sagt, man würde gerne <strong>die</strong>s<br />

<strong>und</strong> jenes machen, aber man kann das nicht wirklich so aufstellen<br />

<strong>und</strong> auf Teufel komm raus durchziehen. Weil sie dann<br />

vielleicht irgendwann <strong>die</strong> Karriere einfach umplanen müssen.<br />

Das ist wahrscheinlich noch in vielen Berufen so, aber in<br />

der Medizin sicherlich noch ganz besonders, da sie irgendwann<br />

einfach anstossen <strong>und</strong> sehen, dass sie dort nicht weiterkommen.“<br />

Victor H. spricht im Zusammenhang mit seinem vermeintlichen<br />

Karriereende im öffentlichen Spital einen weiteren Faktor an, den Daniel S.<br />

auch als Altersguillotine bezeichnete, <strong>und</strong> der im Rahmen der Abwägung zwischen<br />

Verbleib oder Weggang eine bedeutende Rolle spielt: „Ich habe natürlich<br />

dann begonnen mir Gedanken darüber zu machen, was<br />

sein wird, wenn der Chef mal geht. Wenn der Chef geht, dann<br />

441


kommt dann mal ein neuer Chef, welcher dann nota bene jünger<br />

sein wird, als man selber ist. Ist dann <strong>die</strong>s attraktiv<br />

unter einem neuen Chef, der jünger ist, bis zur Pensionierung<br />

weiterzuarbeiten? Dann habe ich mir gesagt, dass <strong>die</strong>s<br />

wahrscheinlich nicht attraktiv ist. Dies auch aus dem<br />

Gr<strong>und</strong>, dass er zum einen ein guter Chef sein könnte, mit<br />

welchem man auch gut auskommen könnte, es aber auch sein<br />

kann, dass er einer ist, der alles anders machen möchte.<br />

Möchte er alles anders machen, so befindet man sich dann in<br />

einer ungünstigen Position, in einer Sackgassenstelle, <strong>und</strong><br />

folglich muss man dann, vor allem wenn man über fünfzig<br />

ist, bleiben. Was wollen sie denn schon machen, wenn sie<br />

über fünfzig sind?“ Insbesondere bei denjenigen, <strong>die</strong> mit Mitte Fünfzig<br />

den Entscheid fällen, das öffentliche Spital zu verlassen, wie <strong>die</strong>s vermutlich bei<br />

Yann S., Walter I. <strong>und</strong> Xavier R. der Fall war, spielt das Alter eine nicht irrelevante<br />

Rolle. Victor H. erreichte <strong>die</strong> Grenze seiner Karriere am öffentlichen Spital,<br />

<strong>die</strong> neben dem soeben genannten Altersfaktor, vor allem auch durch <strong>die</strong><br />

nicht vorhandene Möglichkeit eines hierarchischen Aufstiegs gesetzt wurde:<br />

„Von daher bin ich dann an einem Punkt angelangt, an welchem<br />

ich mich entscheiden musste, ob ich nun hier bleibe<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s bis zu meiner Pensionierung weitermache oder ...<br />

Ich war mit meiner leitenden Position an <strong>die</strong>sem öffentlichen<br />

Spital eigentlich an einem Karriereende angelangt, da<br />

es klar war, dass man nicht Chefarzt wird. Folglich bleibt<br />

man das, was man war, was in meinem Falle Leitender Arzt<br />

war. Also entweder konnte ich in <strong>die</strong>ser Position, <strong>die</strong> mir<br />

eigentlich ganz gut gefiel, bleiben, oder musste mir Gedanken<br />

machen, noch etwas Anderes zu machen. Als ich vierzig<br />

war, habe ich tatsächlich begonnen mir <strong>die</strong>se Gedanken zu<br />

machen <strong>und</strong> habe begonnen umher zu schauen, was es überhaupt<br />

für Alternativen gibt. Dann wurde klar, dass es eigentlich<br />

nur eine Alternative gibt, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se war <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> ich<br />

jetzt habe.“ Die Alternative stellte das Privatspital dar, was früher keine<br />

Alternative darstellte, da sie inexistent war. Nun aber existierte <strong>die</strong> Ausweichmöglichkeit,<br />

<strong>und</strong> nebst Victor H. nahmen sie Yann S., Walter I., Adrian L.,<br />

Bernd A., Xavier R. <strong>und</strong> Christian N. wahr, wobei nur Victor H. explizit von<br />

einem Karriereende am öffentlichen Spital sprach <strong>und</strong> als Gr<strong>und</strong> Folgenden<br />

nannte: „Ohne Habilitation sicherlich keine Chance <strong>und</strong> als<br />

Interner als Chef nachzurücken ... Mein damaliger Chef wäre<br />

dann etwa in zehn Jahren, folglich jetzt dann, zur Pensio-<br />

442


nierung angestanden. Ich wäre dann auch schon deutlich über<br />

fünfzig gewesen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Chance, dass ein Interner, selbst<br />

wenn er habilitiert ist, nachrückt, ist eher gering. Die<br />

Chance, dass ein jüngerer Externer von der Uni <strong>die</strong> Stelle<br />

kriegt, ist einfach grösser, was auch <strong>die</strong> Erfahrung zeigt.“<br />

Adrian L., der wie auch Victor H. nicht habilitiert ist <strong>und</strong> das erste Angebot<br />

seitens der Privatklinik ausschlug <strong>und</strong> ein halbes Jahr später das zweite Angebot<br />

annahm, scheint aber mit einer ähnlichen Situation konfrontiert gewesen zu<br />

sein: „Dann habe ich zum ersten Mal jemanden gesehen, wir<br />

haben ein Treffen vereinbart, damit ich mal höre, was das<br />

eigentlich ist, um was es geht. Und so hat sich <strong>die</strong>s entwickelt.<br />

Und <strong>die</strong> Gründe? Ich war fast 50, 48 konkret, 47? Und<br />

ich fand dann, entweder bleibe ich Leitender Arzt am Kantonsspital<br />

bis ich 65 bin. Das hätte ich ja bleiben können,<br />

<strong>die</strong>se Zusage hatte ich. Oder ich wechsle nochmals <strong>und</strong> mache<br />

noch einmal etwas Neues.“ Dieser Entscheid fiel er, als das Kantonsspital,<br />

an welchem Adrian L. als Leitender Arzt tätig war, einer Umstrukturierung<br />

unterzogen wurde, im Laufe <strong>des</strong>sen einige wenige seiner Kollegen zu <strong>Chefärzte</strong>n<br />

ernannt wurden, er <strong>und</strong> andere Kollegen jedoch nicht. Adrian L. sah durch<br />

<strong>die</strong> Umstrukturierung bewirkten steileren Hierarchie <strong>und</strong> den längeren Entscheidungswegen<br />

keine Zukunft mehr am Kantonsspital. Hinzukommt, dass<br />

vermutlich auch Kränkung <strong>und</strong> das durch seine Nichternennung erwirkte vermeintliche<br />

Karriereende massgeblich zum Entscheid <strong>des</strong> Weggangs beitrugen.<br />

Im Hinblick auf <strong>die</strong> Betrachtung der berufsbiographischen Umorientierung<br />

stellt das Lebensalter einen wichtigen Faktor dar, den es gilt zu berücksichtigen<br />

<strong>und</strong> der wesentlich zur Abwanderung aus dem öffentlichen Spitalwesen beitragen<br />

kann. Auch bei der Karriere <strong>des</strong> Krankenhausarztes kann man, wie bei<br />

anderen Berufen, von einer Art idealtypischen Standardbiographie ausgehen,<br />

<strong>die</strong> man in ihrer Reinform so nie antrifft, <strong>die</strong> aber als Orientierungsmuster für<br />

<strong>die</strong> Beurteilung <strong>des</strong> eigenen Stan<strong>des</strong> im Hinblick auf <strong>die</strong> „Normalität“ erachtet<br />

werden kann. Kann eine gewisse Karrierestufe bis zu einem gewissen Lebensalter<br />

nicht erreicht werden, so sinkt <strong>die</strong> Chance, nach der in <strong>die</strong>sem Berufsfeld<br />

geltenden <strong>und</strong> geteilten Common-sense-Auffassung, <strong>die</strong>se noch zu erreichen.<br />

Im Falle von Adrian L. waren das Abwägen <strong>des</strong> altersspezifischen Risikos <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Tatsache, dass das Privatspital im richtigen Moment Abwerbungsmassnahmen<br />

tätigte, ausschlaggebend für den Weggang aus dem öffentlichen Krankenhaus,<br />

was auch folgende Worte offenbaren: „Die Anfrage kam nicht<br />

443


von der Privatklinik selber, sondern über das Head Office<br />

der Privatklinikgruppe. Ich weiss nicht, inwieweit <strong>die</strong> Privatklinik<br />

vor Ort damals schon involviert war. Ich hatte<br />

das Gefühl, dass es eher über das Head Office lief.“ Adrian<br />

L. fühlte sich durch <strong>die</strong>se Anfrage sichtlich in seiner Fachkompetenz bestätigt<br />

<strong>und</strong> sah in ihr, dass er als Facharzt wahrgenommen wird <strong>und</strong> erwünscht ist. Sie<br />

eröffnete ihm eine neue Möglichkeit, sich zu verwirklichen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s als ärztlicher<br />

Entrepreneur. Bernd A. musste nach vierzehn Jahren am Universitätsspital<br />

<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der zeitlich begrenzten Oberarztstelle, <strong>die</strong> nach sechs Jahren<br />

einen Stellenwechsel bedingte oder in eine sogenannte beamtete Stelle (Oberarztposten<br />

ohne zeitliche Befristung) hätte umgewandelt werden können oder<br />

auf welche eine Ernennung zum Leitenden Arzt hätte folgen können, sich nach<br />

einer neuen Stelle umschauen. Er hätte sich sowohl eine Stelle in einem öffentlichen<br />

Krankenhaus als auch eine in einem Privatspital vorstellen können, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s auf Stufe Leitender Arzt oder Chefarzt. Und obwohl er ein breites Fachwissen<br />

vorweisen konnte, konnte sein Chef im Universitätsspital keine beamtete<br />

Stelle oder eine Kaderfunktion für ihn erwirken, auch das öffentliche Spital, an<br />

welchem er sich zeitgleich wie am Privatspital bewarb, entschied sich für einen<br />

anderen Mitbewerber. Am Privatspital wurde Bernd A. schliesslich genommen:<br />

„Also, ich bin zu <strong>die</strong>ser Stelle gekommen, da ich an der Uni<br />

weggehen musste, habe aber keine leitende oder Chefstelle<br />

gef<strong>und</strong>en, <strong>die</strong> absolut auch in Frage gekommen wäre, beispielsweise<br />

am nahen Kantonsspital (…). Zeitgleich habe ich<br />

dann aber hier begonnen zu arbeiten, da sie hier eine neue<br />

Stelle für meinen Fachbereich geschaffen haben. Also ich<br />

ging nicht, da ich <strong>die</strong>s gesucht habe, sondern es hat sich<br />

so ergeben.“ Bei Walter I., einem ehemaligen Chefarzt an einem grossen<br />

Kantonsspital <strong>und</strong> der unter den befragten Leavern zuletzt Abgewanderte,<br />

spielt <strong>die</strong> Work-Life-Balance, <strong>die</strong> er sich durch <strong>die</strong> neue Anstellung erhoffte,<br />

eine wesentliche Rolle. Bestimmt spielte das Bild <strong>des</strong> Entrepeneurs auch bei<br />

Yann S., einem ehemaligen Chefarzt eines Fachbereichs der Inneren Medizin an<br />

einem grossen Kantonsspital, eine relevante Rolle, als Abwanderungsgr<strong>und</strong><br />

nannte er <strong>die</strong> Politiker, <strong>die</strong> sich als Fachfremde in sein Fachgebiet <strong>und</strong> Metier<br />

einmischten: „In der Mannschaft der Privatspitäler bin ich<br />

einfach ein selbstständiger Kleinunternehmer, ich entscheide<br />

selber <strong>und</strong> <strong>die</strong>s gefällt mir besser. Das ist der Hauptgr<strong>und</strong>.<br />

Die Abhängigkeit von Leuten, <strong>die</strong> von der Materie<br />

viel weniger verstehen, aber einfach glauben, dass sie nun<br />

444


ihren Einfluss geltend machen müssen.“ Wie anhand <strong>des</strong> Porträts<br />

von Xavier R. bereits ersichtlich wurde, führte eine Fülle von Faktoren zur<br />

Abwanderung von Xavier R. Er selber argumentiert, dass schikanöses Verhal-<br />

ten von seinen Vorgesetzten, <strong>die</strong> veralteten <strong>und</strong> verkrusteten Hierarchien <strong>und</strong><br />

Qualitätsmängel zu seiner Abwanderung beigetragen hätten. Kollegen sind<br />

hingegen der Meinung, dass das Verhältnis zwischen ihm <strong>und</strong> seinem neuen<br />

Vorgesetzten sich schwierig gestaltete, was zu seinem Weggang beigetragen<br />

hätte. Die Expansionspolitik der Privatklinik <strong>und</strong> das damit einhergehende<br />

aktive Abwerben lässt <strong>die</strong> Vermutung zu, dass <strong>die</strong>se Form der Abwerbungspo-<br />

litik durch Spitalleitung oder bereits konvertierte Kollegen, nebst den persönli-<br />

chen Gründen, bedeutend zum Weggang von Xavier R. <strong>und</strong> seinem Team bei-<br />

getragen hat. Christian N., ehemaliger Chefarzt eines Kantonsspitals <strong>und</strong><br />

Leaver, der auf den längsten Erfahrungszeitraum im privaten Krankenhaus<br />

zurückblicken kann, da er bereits seit fünfzehn Jahren am Privatspital tätig ist,<br />

nennt unzählige Gründe für seinen damaligen Weggang. Besonders störte er<br />

sich an den Politikern <strong>und</strong> den sich stetig verändernden Gehaltsstrukturen,<br />

hinsichtlich der Politik lässt er folgenden Wortlaut verlauten: „Der Vorgänger<br />

<strong>des</strong> jetzigen Regierungsrates sagte, dass er der höchste<br />

Mediziner im Kanton sei, also solle ein Chefarzt nicht mehr<br />

ver<strong>die</strong>nen als er. Das ist auch ein Argument, nicht wahr?“<br />

Als einziger der zwanzig befragten Kaderärzte stellt Christian N. <strong>die</strong> Pflege auf<br />

<strong>die</strong>selbe Stufe wie <strong>die</strong> Spitalverwaltung <strong>und</strong> erachtet beide als Kostenfaktoren,<br />

wo Einsparungsmassnahmen in Form von Personalkürzungen angesetzt werden<br />

sollten: „Ich würde <strong>die</strong> aufgebauschten Hierarchiestrukturen<br />

abbauen. Ich würde möglichst bei der Verwaltung abspecken,<br />

bei den Schwestern abspecken. Was <strong>die</strong> Patienten heute monieren,<br />

ist, dass sie <strong>die</strong> Schwester nicht mehr sehen, weil<br />

sie am Kardex ist. Diejenige, <strong>die</strong> sie am meisten sehen, ist<br />

<strong>die</strong> Putzfrau oder <strong>die</strong> Hilfsschwester, da sie ihnen den Kaffee<br />

serviert. Ich wünsche mir, dass man wieder mehr selber<br />

macht <strong>und</strong> dass <strong>die</strong> ganze Administration abgebaut wird, <strong>und</strong><br />

dass man <strong>die</strong> Ärzte von mehr oder weniger allem Administrativem<br />

entlastet <strong>und</strong> ihnen wieder mehr Freiheiten gibt, um<br />

ihre Kliniken selber zu führen.“ Christian N. ist ein Traditionalist,<br />

der an den klassischen Chefarztstrukturen festhält <strong>und</strong> sich <strong>die</strong> alleinige Macht<br />

der <strong>Chefärzte</strong> zurückwünscht. Eine Aussage, <strong>die</strong> verw<strong>und</strong>ert, da <strong>die</strong> von ihm<br />

erwünschte Alleinherrschaft von seinen abgewanderten Kollegen keineswegs<br />

445


ersehnt wird. Insbesondere <strong>die</strong> geringen Führungsaufgaben, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Leaver zu<br />

erfüllen haben, werden geschätzt, wie Walter I., ein ehemals erfolgreicher Chef-<br />

arzt eines Kantonsspitals, exemplarisch verdeutlicht: „Sie müssen sich in<br />

dem Sinne mit demjenigen Packet, welches sie hier haben,<br />

zufriedenstellen. Hier habe ich keine Führungsfunktion<br />

mehr. Das Einzige, das ich hier führe, ist meine Sekretärin.<br />

Ansonsten habe ich keine Führungsaufgabe.“ Die Selbstständigkeit<br />

im eigenen Fachbereich ist sicherlich am Privatspital höher als im öffentlichen<br />

Spital, <strong>die</strong>s aber nur, solange <strong>die</strong> Einnahmen für das Spital zufriedenstellend<br />

bzw. gewinnerzielend sind. Beachtet man jedoch <strong>die</strong> Konkurrenzsituation<br />

innerhalb der Fachzentren in Privatspitälern, wie sie Bernard S. oder auch<br />

Walter I., als Neuling unter den Leavern, verdeutlicht hat, so geht das Mitspracherecht<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Machterhaltung mit der exponentiellen Generierung von<br />

Einnahmen einher, <strong>die</strong> nebst der Akquisition von Patienten auch mit der Kostenminimierung<br />

seitens der Ausgaben, <strong>die</strong> für gemeinschaftlich genutzte Infrastruktur<br />

getätigt werden müssen, erzielt werden können. Andreas L. beschreibt<br />

<strong>die</strong> Konkurrenz an Privatspitälern folgendermassen: „Sie gelangen dann<br />

auch in ein Umfeld, in welchem jeder dem anderen das Bauchweh<br />

neidisch ist. Der Andere, der das gleiche macht, ist<br />

Ihr Konkurrent.“ Auch Emil E. erachtet <strong>die</strong> Kultur an gewissen Privatspitälern<br />

als kritisch: „Pensum etwa gleich, <strong>die</strong> Kultur schlecht, da<br />

sie untereinander einen riesigen Krach hatten. Untereinander<br />

<strong>und</strong> gegen <strong>die</strong> Chirurgen.“ Tobias F., der CEO eines Kantonsspitals,<br />

der zuvor als Arzt tätig war, fügt hinzu: „Sie vertrauen ja dann niemandem<br />

mehr. Hier können sie nebenan anklopfen <strong>und</strong> wissen,<br />

dass er mir nichts wegnehmen wird, da er höchstwahrscheinlich<br />

sogar noch <strong>die</strong>selbe Intention hat, <strong>die</strong>jenige etwas<br />

Gescheites zu machen.“ Tobias F. verdeutlicht hiermit eine Gefahr, <strong>die</strong><br />

aus der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> ärztlichen Handelns <strong>und</strong> <strong>des</strong> strukturellen Umfel<strong>des</strong><br />

hervorgeht, <strong>und</strong> <strong>die</strong> anhand der nachfolgenden Ausführungen veranschaulicht<br />

wird. Walter I. kennt <strong>die</strong> Konkurrenzverhältnisse am Privatspital, <strong>die</strong> ihm<br />

besonders als Neuling Schwierigkeiten bereiten <strong>und</strong> dazu führen, dass er seinen<br />

Posten gegenüber seinen Kollegen verteidigen muss. Eine Situation, <strong>die</strong> er<br />

am Kantonsspital nicht kannte <strong>und</strong> der er sogleich etwas Gutes abzugewinnen<br />

versucht. Damit einher geht auch eine deutliche Distanzierung von seiner alten<br />

Funktion als Chefarzt: „Ich bin natürlich dadurch in einem gewissen<br />

Sinne in den Möglichkeiten gefangen, <strong>die</strong> hier gegeben<br />

446


sind. Und auch unter Druck durch <strong>die</strong> Konkurrenz. Wenn sie<br />

sich selbstständig machen, dann müssen sie sich gegen solche,<br />

<strong>die</strong> bereits etabliert sind, durchsetzen. Das haben sie<br />

als Chefarzt weniger, da haben sie ihren Thron. Was natürlich<br />

Privatpatienten anbelangt, müssen sie sich auch ein<br />

wenig gegen andere durchsetzen. Es ist eine sichere Burg,<br />

wenn sie Mist bauen, dann kann ihnen fast nichts passieren.<br />

Hier kann ich unter Umständen schlimmstenfalls in einen<br />

Skandal hineinlaufen <strong>und</strong> komme mit weiss der Teufel was für<br />

einer Geschichte in der Zeitung. Ich bin danach dann längere<br />

Zeit auf einer Durststrecke, da mir dann niemand mehr<br />

was zuweist. So ein Risiko laufe ich in einem öffentlichen<br />

Spital nicht. Aber es ist effektiv ein anderes Paket <strong>und</strong><br />

ich habe dafür viel mehr Freiheiten.“ Diese Form von Vorwurf<br />

liess nicht nur Walter I. verlauten, sondern auch andere seiner Leaverkollegen.<br />

Victor H., ein Kollege von Walter I., betrachtet <strong>die</strong> Situation etwas differenzierter:<br />

„Wenn man es aber zu sehr ökonomisiert, ... ich habe<br />

beim CEO oder bei der Geschäftsleitung bereits gewisse Ansätze<br />

gesehen, dass man das Gefühl hat, dass man <strong>die</strong>ses<br />

Spital wie irgendein Elektrounternehmen oder ein Maschinenunternehmen<br />

führen kann. So kann man aber ein Spital letzten<br />

En<strong>des</strong> nicht führen. Man kann <strong>die</strong> Leistungen auch nicht<br />

beliebig ausweiten, da es für einen medizinischen Eingriff<br />

eine Indikation braucht, <strong>und</strong> falls man <strong>die</strong>se Indikation<br />

einigermassen seriös stellt, dann ergibt sich einfach eine<br />

Anzahl an Untersuchungen, <strong>die</strong> man nicht beliebig vermehren<br />

kann, ausser man stellt Indikationen, wo es keine Indikation<br />

gibt <strong>und</strong> macht Sachen, <strong>die</strong> eigentlich nicht nötig sind<br />

<strong>und</strong> nur gemacht werden, um Geld zu ver<strong>die</strong>nen. (…) Natürlich<br />

sollte man versuchen ein Unternehmen wirtschaftlich zu führen,<br />

aber man muss aufpassen, da das Spital oder das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

nicht wie irgendein anderer Betrieb ist. Wie<br />

gesagt, wir haben es in der Hand unsere Leistungen zu erweitern,<br />

wenn ich einem Patienten sage, hören Sie mal, Sie<br />

brauchen <strong>die</strong>se <strong>und</strong> jene Untersuchung, dann glaubt der Patient<br />

mir <strong>die</strong>s, falls ich ihm <strong>die</strong>s gut erzähle. Er weiss ja<br />

nicht, ob ich eine gute Indikation gestellt habe, <strong>die</strong>s<br />

überprüft ja niemand, weder am öffentlichen noch am privaten<br />

Spital. Mit <strong>die</strong>sem Verhalten könnte man rein theoretisch<br />

eine Mengenausweitung machen. Wenn man beginnt, solche<br />

Sachen aus einer wirtschaftlichen Überlegung heraus zu<br />

machen, dann wird es einfach gefährlich. Sei es aus wirt-<br />

447


schaftlichen Überlegungen für mich, ich ver<strong>die</strong>ne ja eins zu<br />

eins daran, oder sei es aus wirtschaftlichen Überlegungen<br />

für das Spital. Betrachtet man <strong>die</strong>s nun mal kritisch, so<br />

ist <strong>die</strong> Versuchung grösser, wenn man in einer Position<br />

sitzt, in welcher ich hier sitze, als <strong>die</strong>s in einem öffentlichen<br />

Spital der Fall ist. Wenn sie in einem öffentlichen<br />

Spital eine Untersuchung indizieren, dann können sie nicht<br />

eins zu eins den Profit daraus ziehen, weil sie einen Lohn<br />

<strong>und</strong> vielleicht ein paar Poolsachen haben, aber der grosse<br />

Teil <strong>des</strong> Gewinns, der daraus erwirtschaftet wird, geht ans<br />

Spital. Von daher hat der Doktor dort nicht <strong>die</strong> gleiche<br />

Interessenlage wie ein Arzt, der privat arbeitet.“ Obwohl<br />

Victor H. nicht konkret auf <strong>die</strong> Kontrollmechanismen in öffentlichen bzw. privaten<br />

Krankenhäusern in Bezug auf <strong>die</strong> Verifikation ärztlicher Handlungen<br />

<strong>und</strong> medizinischer Indikationen eingeht, räumt er ein, dass Mengenausweitungen<br />

<strong>und</strong> möglicherweise auch teils unnötig gestellte medizinische Indikationen<br />

an Privatspitälern eher eine Gefahr darstellen als an öffentlichen Krankenhäusern.<br />

Als Ursache nennt Victor H. <strong>die</strong> Gehaltsstruktur an Privatspitälern, welche<br />

zusehends Modifikationen unterzogen werden. Dem Belegarztprinzip entsprechend<br />

erhielten <strong>die</strong> Ärzte privater Krankenhäuser bisher ihre Einnahmen<br />

direkt von den Zusatzversicherern <strong>und</strong> bezahlten damit <strong>die</strong> Fixkosten, wie<br />

Miete der Praxisräumlichkeiten, Gehälter der Pflege, Benutzung der Infrastruktur<br />

etc. an das Krankenhaus. Klaus K. berichtet von neuen, zunehmend auf<br />

Festanstellungen ausgelegte Gehaltsstrukturen <strong>und</strong> über <strong>die</strong> Erfahrungen seiner<br />

Frau an einem Privatspital, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sem Wandel ausgesetzt war: „Im Unterschied<br />

zur Privatklinik, wo ein Belegarztsystem<br />

herrscht, beim Belegarztsystem spielt der Umsatz eine Rolle.<br />

Dort geht nur ein Teil ... Die nahe gelegene Privatklinik<br />

hat gesagt, du musst für deinen Patienten etwas abliefern.<br />

Du erhältst alles, aber du musst dafür, dass er hier<br />

liegen darf, etwas abliefern. Die Rechnung hat der Arzt<br />

gestellt <strong>und</strong> davon etwas an das Spital abgegeben. Das Interessante<br />

ist nun aber, dass an <strong>die</strong>sem Privatspital nun dasselbe<br />

passiert. Sie stellen nun immer mehr Ärzte an <strong>und</strong><br />

bezahlen dann den Arzt. Folglich nicht mehr, dass der Arzt<br />

das Spital bezahlt. (…) das Spital hat <strong>die</strong> Kostenkontrolle,<br />

hat <strong>die</strong> Übersicht <strong>und</strong> hat es ganz einfach mehr im Griff.<br />

Das Spital hat das Geld, das es ausgeben kann. Es erhält es<br />

nicht mehr von den Ärzten, sondern gibt es in Form eines<br />

Lohnes ab (…) Es gab dann eben gewisse Mischsysteme, in<br />

448


welchen gewisse Ärzte angestellt <strong>und</strong> andere als Belegärzte<br />

tätig waren. Innerhalb der Spezialität, in welcher meine<br />

Frau tätig ist, <strong>die</strong>s weiss ich sehr gut, da meine Frau dort<br />

gearbeitet hat, war es so, dass sie beispielweise angestellt<br />

war, andere hatten eine Umsatzbeteiligung. Obwohl<br />

man das Gleiche tat, gab es dennoch x verschiedene Verträge.“<br />

Vor allem in medizinischen Fachbereichen wie Anästhesie oder in der<br />

Labormedizin, <strong>die</strong> teils auch als Dienstleister seitens der Probanden bezeichnet<br />

wurden, scheinen Festanstellungen populär. Emil E., der selbst in einer <strong>die</strong>ser<br />

sogenannten „Dienstleister“-Disziplinen tätig ist, kennt <strong>die</strong> Gefahr, <strong>die</strong> sich<br />

hinter unterschiedlichen Entlohnungssystemen verbergen, für Kollegen, <strong>die</strong> an<br />

Privatspitälern tätig sind: „Ich glaube, dass es auch wieder eine<br />

Frage <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> war. In der einen Klinik der Privatklinikgruppe<br />

damals, sie gehörte noch nicht sehr lange zur Privatklinikgruppe,<br />

gab es sehr viele mediokre Chirurgen, <strong>die</strong><br />

sich aufgeführt haben wie <strong>die</strong> Säue. Das ist ein schlechtes<br />

Arbeiten. Wissen Sie, ich kann hier einem Chirurgen locker<br />

sagen, dass wir das nicht machen, <strong>und</strong> er akzeptiert <strong>die</strong>s.<br />

In der Privatklinik hätte er Ihnen gesagt: du machst <strong>die</strong>s<br />

nun, ansonsten kannst du gleich gehen, ... mit dem Patienten<br />

bringe ich das Geld. Das ist auf Dauer etwas, das ich<br />

nicht hätte haben wollen. Ich habe dann einfach bemerkt,<br />

dass <strong>die</strong> Gruppe untereinander einen riesigen Krach hatte.<br />

Ein solches Betriebsklima brauche ich nicht. Wenn ich höre,<br />

was gewisse Kollegen aus meinem Fachgebiet an Privatkliniken<br />

erzählen <strong>und</strong> ich vergleiche, wie es denen geht, dann<br />

geht es denen echt blöd, da sie aufgr<strong>und</strong> ihres Fachgebietes<br />

als Dienstleister betrachtet werden.“ Wie anhand <strong>die</strong>ses Zitates<br />

ersichtlich wird, haben <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Spitalverwaltung gesetzten Anreize in<br />

Form unterschiedlicher Entlohnungssysteme zur <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Handelns <strong>und</strong> zur Rivalität innerhalb der Ärzteschaft beigetragen. Der<br />

Stayer Andreas L. scheint Vorwürfe, wie <strong>die</strong> von Walter I., zu kennen <strong>und</strong><br />

nimmt folgendermassen dazu Stellung: „Hingegen kann ich in einer<br />

Privatpraxis machen was ich will, ich werde nicht unbedingt<br />

kontrolliert. Ich werde nicht hinterfragt <strong>und</strong> folglich auch<br />

nicht so stimuliert.“ Auch Emil E. erachtet den dem öffentlichen Spital<br />

zukommenden Lehrauftrag als wichtiges Kontrollsystem: „Auch kulturell<br />

gesehen, haben wir im Lehrspital durchaus auch professionelle<br />

Korrekturmechanismen.“ Victor H. <strong>und</strong> Emil E. haben einen wesentlichen<br />

Faktor der <strong>Ökonomisierung</strong> angesprochen, nämlich den <strong>des</strong> Abwä-<br />

449


gens zwischen eigener Bereicherung <strong>und</strong> medizinischer Notwendigkeit. Die<br />

Aussagen von Walter I. verdeutlichen, dass er als neuer Insider seitens <strong>des</strong><br />

Privatspitals <strong>und</strong> Outsider seitens <strong>des</strong> öffentlichen Spitals seine Abwanderung<br />

sowohl gegenüber dem Gesprächspartner, als auch gegenüber sich selber, ver-<br />

sucht zu legitimieren. Einerseits spricht Walter I. von den Freiheiten, <strong>die</strong> ihm<br />

Dank der Anstellung am Privatspital ermöglicht werden, <strong>und</strong> andererseits von<br />

einem Paket, mit welchem er sich am Privatspital zufriedengeben muss. Diese<br />

Freiheiten werden jedoch durch Spielregeln beschränkt, denen wesentliche<br />

Instrumente der <strong>Ökonomisierung</strong> zugr<strong>und</strong>e liegen, wie der Wettbewerb inner-<br />

halb der Fachzentren <strong>und</strong> demzufolge innerhalb der Ärzteschaft <strong>des</strong>selben<br />

Fachbereichs oder der Anreiz durch ökonomisches Kapital in Form von Ge-<br />

haltsstrukturen, <strong>die</strong> zu einer Bereicherung <strong>des</strong>jenigen mit dem grössten „Pati-<br />

entenportfolio“ führen. Sowohl Victor H. als auch Emil E. haben aufgezeigt,<br />

dass solche Strukturen zu Handlungen beitragen, <strong>die</strong> dem berufsethischen<br />

Verständnis <strong>des</strong> Arztberufs zweifellos widerstreben.<br />

Die beiden CEOs Tobias F. <strong>und</strong> Louis B. blicken auf einen Karriereverlauf, der<br />

heute nicht mehr dem eines Humanmediziners, sondern dem eines Ökonomen<br />

mit humanmedizinscher Vorbildung gleicht. Tobias F. entschied sich mit vierzig<br />

Jahren für eine Neuorientierung, bildete sich im Bereich Management im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen weiter, erlangte einen Masterabschluss <strong>und</strong> bewarb sich auf<br />

eine Stabstelle der Spitalleitung: „Habilitieren hat mich aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong><br />

relativ engen Spektrums nicht so interessiert. Ich habe<br />

dann eine Zusatzausbildung im Bereich ,Management im Ges<strong>und</strong>heitswesen‘<br />

gemacht, wobei <strong>die</strong> Ausbildung mit einem<br />

fünfwöchigen Kurs in England begonnen hat.“ Tobias F. hat den<br />

Schritt in <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitsökonomie nie bereut, <strong>und</strong> auch der Kontakt mit den<br />

Patienten fehlt ihm nicht: „Aber es ist nicht der Patiententeil,<br />

also der strenge Teil, den sie unter Medizin verstehen. Ich<br />

war ja auch vorher nur eher konsiliarisch tätig, primäre<br />

Patientenbetreuung habe ich nie gemacht. Das hat mir nicht<br />

wirklich so gefehlt. Was mir fehlte war, was ich mir von<br />

der Medizin gewohnt war, dass man <strong>die</strong> Sachen noch wirklich<br />

sauber <strong>und</strong> von Gr<strong>und</strong> auf analysiert. Und das ist im Management<br />

nicht immer möglich. Das ist häufig dann ein abgekürztes<br />

Verfahren.“ Obwohl Tobias F. wie <strong>die</strong> anderen Probanden auch Medizin<br />

stu<strong>die</strong>rt hat <strong>und</strong> sowohl in den Staaten als auch in England Fortbildungen<br />

absolvierte, fällt ein Vergleich mit den anderen Probanden schwer, da Tobias F.<br />

450


nicht im klinischen Bereich tätig war <strong>und</strong> der Kontakt mit den Patienten nicht<br />

im selben Umfang von Bedeutung war, wie bei den befragten Kaderärzten, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Patientenbetreuung mehrheitlich als ihren Antrieb für ihre alltägliche ärztli-<br />

che Berufstätigkeit erachten. Der Vergleich wird auch dadurch erschwert, da<br />

Tobias F. eine akademische Laufbahn einschlug, <strong>die</strong>, wie bereits erwähnt, von<br />

einer klinischen Laufbahn massgeblich divergiert. Mit der Masterausbildung im<br />

Bereich Health Administration <strong>und</strong> dem vor über zehn Jahren erfolgten Stellen-<br />

antritt in der Spitalverwaltung eines Kantonsspitals legte er den Gr<strong>und</strong>stein für<br />

seine Karriere im Bereich der Spitalverwaltung. Vor fünf Jahren wurde er zum<br />

Stellvertreter <strong>des</strong> Spitals ernannt <strong>und</strong> vor gut zwei Jahren zum CEO <strong>des</strong> Kan-<br />

tonsspitals. Trotz der Tatsache, dass er den Schritt in <strong>die</strong> Ökonomie nie bereut<br />

hat, schätzt er auch heute noch <strong>die</strong> dem Mediziner zugesprochene Eigenschaft<br />

der klaren <strong>und</strong> durchdachten Analyse. Ein Merkmal, von welchem er in seinem<br />

heutigen beruflichen Alltag profitiert <strong>und</strong> welches er sich von Ökonomen ver-<br />

mehrt zu wünschen scheint. Die folgende Aussage von Tobias F.: „Sie haben<br />

einfach das Gefühl, dass wenn Sie zum Arzt gehen, dass er<br />

etwas Gutes für Sie tut, vielleicht tut er aber primär etwas<br />

Gutes für sich, das könnte auch sein. Vom Autohändler<br />

erwarten Sie nichts anderes“, erinnert an den folgenden Wortlaut<br />

seitens Louis B.: „Das ist bei jeder anderen Versicherung auch,<br />

da ist <strong>die</strong> normale Kaskoversicherung für dein Fahrzeug,<br />

wenn du halt irgendwo dagegen donnerst, dann musst du es<br />

eben selber zahlen, wenn du aber <strong>die</strong> Vollversorgung haben<br />

<strong>und</strong> immer in <strong>die</strong> Markenwerkstatt gehen möchtest, dann musst<br />

du es zusätzlich versichern.“ Beide vergleichen das Krankenhaus mit<br />

einem Unternehmen der Privatwirtschaft <strong>und</strong> den Arzt mit keinem geringerem<br />

als dem homo oeconomicus. Mit <strong>die</strong>sem offenk<strong>und</strong>igen Vergleich, der <strong>die</strong> nackte<br />

Wahrheit durch Metaphern zu verbergen weiss, lassen sie verlauten, dass <strong>die</strong><br />

Spielregeln im Krankenhauswesen nicht wesentlich von denen divergieren, <strong>die</strong><br />

in der Privatwirtschaft gelten.<br />

5.1.2.3 Die Etappen der Konsekration <strong>und</strong> ihr institutioneller Rahmen<br />

Die Ernennung zum Chefarzt durch Vorgesetzte, <strong>die</strong> Spitalleitung <strong>und</strong> in Kantonsspitälern,<br />

teils auch durch Volksabstimmungen, ähnelt einem Akt der Weihe<br />

<strong>und</strong> offenbart eine Analogie mit dem religiösen Feld. In Anlehnung an das<br />

religiöse Feld nach Bour<strong>die</strong>u, könnten <strong>die</strong> Stayer als <strong>die</strong> „Priester“ im Feld<br />

erachtet werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Leaver als <strong>die</strong> „Propheten“. Um das spezifische sym-<br />

451


olische Kapital <strong>und</strong> das „Amtscharisma“, <strong>die</strong> dem Arzt <strong>und</strong> insbesondere dem<br />

Chefarzt durch <strong>die</strong> Weihe zukommen bzw. zugesprochen werden, aufrecht-<br />

erhalten zu können, wird das öffentliche Krankenhauswesen benötigt, das der<br />

Erhaltung der „Illusio“, der Verleugnung <strong>des</strong> Ökonomischen, <strong>und</strong> <strong>des</strong> Glau-<br />

bens an <strong>die</strong> Uneigennützigkeit <strong>des</strong> ärztlichen Handelns <strong>die</strong>nt; hierzu eine An-<br />

lehnung an <strong>die</strong> Institution Kirche: „Die dauernde Verwaltung <strong>des</strong> Vorrats an<br />

religiösem Kapital, (…), <strong>und</strong> <strong>die</strong> notwendige religiöse Arbeit, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Ge-<br />

währleistung der Fortdauer <strong>die</strong>ses Kapitals durch <strong>die</strong> Gewährleistung der Wah-<br />

rung <strong>und</strong> Wiederherstellung <strong>des</strong> symbolischen Marktes, auf dem es gültig ist,<br />

nötig ist, können nur durch einen bürokratischen Apparat erbracht werden,<br />

der, wie <strong>die</strong> Kirche, dauerhaft zum Vollzug <strong>des</strong> zur Sicherung seiner eigenen<br />

Reproduktion notwendigen kontinuierlichen, d.h. gewohnheitsmässigen Han-<br />

delns imstand ist.“ (Bour<strong>die</strong>u, 2011b, S. 65) Durch <strong>die</strong> Wahrung <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Gutes Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verkennung <strong>des</strong> Ökonomischen wurde bis anhin <strong>die</strong><br />

Reproduktion <strong>und</strong> Aufrechterhaltung <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses gewähr-<br />

leistet, damit einher ging gleichzeitig <strong>die</strong> Reproduktion der Weihenden, der<br />

„Priesterschaft“, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Veralltäglichung <strong>des</strong> „Amtscharismas“. Die „Priester“<br />

hegen ein Interesse an der Aufrechterhaltung <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauswe-<br />

sens, durch welches sie geweiht <strong>und</strong> ihr Ansehen sowie ihre Privilegien legiti-<br />

miert werden. Und halten, um <strong>die</strong> Reproduktion der Institution <strong>und</strong> ihrer<br />

„Priester“ zu gewährleisten <strong>und</strong> den Glauben an sie aufrechtzuerhalten, auch<br />

an der Verkennung <strong>des</strong> Ökonomischen ihrer ärztlichen Tätigkeit <strong>und</strong> der „Illu-<br />

sio“, dem Menschen etwas Gutes tun, fest, da beide gleichzeitig auch konstitu-<br />

tiv sowohl für <strong>die</strong> Institution als auch den ärztlichen Habitus sind. Die „Prophe-<br />

ten“ als unabhängige Heilsunternehmer, wie Bour<strong>die</strong>u sie nennt, produzieren<br />

<strong>und</strong> verbreiten neuartige Heilsgüter, <strong>die</strong> dazu <strong>die</strong>nen <strong>die</strong> alten zu diskreditie-<br />

ren, <strong>und</strong> <strong>des</strong>akralisieren das Sakrale (Bour<strong>die</strong>u, 2011b, S. 66). Mit dem Sakralen<br />

kann einerseits das öffentliche Gut, das allen jederzeit <strong>und</strong> vollumfänglich zur<br />

Verfügung zu stehen hat, gemeint sein oder <strong>die</strong> Verkennung der monetären<br />

Entlohnung der Produktion öffentlicher Güter. Mit der Desakralisierung kann<br />

beispielsweise <strong>die</strong> Kommodifizierung <strong>des</strong> Gutes Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Manageri-<br />

alisierung der ärztlichen Denk- <strong>und</strong> Handlungsschemata gemeint sein. Die<br />

„Propheten“, <strong>die</strong> Leaver, machen kein Hehl daraus, dass ihr Fachwissen über-<br />

wiegend Zusatzversicherten zukommt <strong>und</strong> sie ihr höheres Entgelt der selek-<br />

tiven Patientenauswahl bzw. K<strong>und</strong>enselektion verdanken. Im Werdegang der<br />

Probanden lassen sich vereinzelt Differenzen bzw. merkliche Abweichungen<br />

452


der idealtypischen Standardbiographie erkennen, wozu beispielsweise <strong>die</strong> nicht<br />

ermöglichte Weihe zum Chefarzt im öffentlichen Krankenhaus zählt. Beachtet<br />

werden muss, dass alle Probanden im öffentlichen Krankenhauswesen bis zum<br />

vermeintlichen Ende der Oberarztzeit aus- <strong>und</strong> weitergebildet wurden <strong>und</strong><br />

demzufolge auch an <strong>die</strong> in <strong>die</strong>sem System vollzogenen Rituale der Weihe<br />

glaubten. Erst wenn <strong>die</strong> eigene Weihung durch einen „Priester“ nicht vollzogen<br />

wird, kommen Zweifel an den Spielregeln auf <strong>und</strong> <strong>die</strong> Abwanderung in das<br />

Privatspital wird zur reellen beruflichen Alternative. Wesentliche Differenzen<br />

im Habitus ergeben sich zumeist erst durch den Übertritt ans Privatspital, wo<br />

<strong>die</strong> ehemaligen Kaderärzte neuen Spielregeln ausgesetzt werden <strong>und</strong> ein Inte-<br />

resse an der Aufrechterhaltung <strong>die</strong>ser Institution, ihrer Mechanismen der Legi-<br />

timierung <strong>und</strong> der darin herrschenden Kapitalien hegen.<br />

Die Karriereverläufe von ausschliesslich akademisch tätigen Kaderärzten, <strong>die</strong><br />

mehrheitlich an Universitätsspitalern beschäftigt sind <strong>und</strong> ihren beruflichen<br />

Schwerpunkt auf <strong>die</strong> Forschung, Entwicklung <strong>und</strong> Lehre legen, unterscheiden<br />

sich, wie bereits erwähnt, massgeblich von den Laufbahnverläufen der Kader-<br />

ärzte, <strong>die</strong> sich für eine klinische Tätigkeit in einem öffentlichen Spital, wo <strong>die</strong><br />

Gr<strong>und</strong>versorgung einer Region gewährleistet wird, oder einem Privatspital<br />

entschieden haben. Die Mehrheit der Probanden wusste bereits zu Beginn ihrer<br />

Assistenzarztjahre, dass sie klinisch tätig sein möchten, zumeist glaubten sie<br />

auch zu wissen, ob sie eine Praxistätigkeit der stationären Versorgung vorzie-<br />

hen oder ob für sie ausschliesslich eine Stelle im stationären Sektor infrage<br />

kommt. Für Daniel S. kam eine Praxis beispielsweise nie in Frage: „Ich muss<br />

aber ehrlicherweise auch sagen, dass mich <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

in der Medizin fasziniert hat. Ich habe eine naturwissenschaftliche<br />

Dissertation gemacht <strong>und</strong> konnte mir nicht vorstellen,<br />

dass ich in <strong>die</strong> Praxis gehen werde, sondern, dass<br />

ich meine Funktion mit einer gewissen akademischen Einbindung<br />

im Spital finden werde.“ Joachim A. hingegen suchte <strong>die</strong> praktische<br />

Tätigkeit, konnte sich jedoch keine akademische Laufbahn vorstellen: „Die<br />

Uni stellt ein gewisses Sprungbrett dar, vor allem wenn man<br />

in einer Spezialität tätig ist. Hat man einen gewissen<br />

Punkt erlangt, muss man dann wieder schauen, was man machen<br />

möchte. Entweder man geht in <strong>die</strong> Praxis, für mich aber kam<br />

es nicht in Frage Wissenschaft zu machen. Ich bin kein Wissenschaftler.<br />

Nie. (…) Nein, ich bin überhaupt kein Forscher.<br />

Ist auch nicht meine Befähigung, dafür bin ich nicht<br />

453


talentiert. Das ist nicht mein Business. Mein Business ist<br />

<strong>die</strong> Klinik <strong>und</strong> <strong>die</strong> manuelle Tätigkeit. Direkte manuelle<br />

Tätigkeit vom Morgen bis am Abend. Dass ich nicht aufgefressen<br />

werde, dafür sorge ich.“ Auch <strong>die</strong> Kombination Praxis <strong>und</strong><br />

Privatspital wäre für Joachim A. infrage gekommen: „Das Kantonsspital<br />

hier war nicht in meinem Scope, für <strong>die</strong>se Stelle hatten<br />

sich auch noch einige andere beworben. Ich hatte eigentlich<br />

bereits meine Praxispläne. Ich hätte dann mit der nahen<br />

Privatklinik zusammengearbeitet. Am Universitätsspital gab<br />

es auch einen Wandel <strong>und</strong> so war <strong>die</strong> Stelle hier am Kantonsspital<br />

auf einmal ausgeschrieben, <strong>und</strong> plötzlich hat es<br />

mich gepackt.“ Heute könnte er sich <strong>die</strong>se Kombination nicht mehr vorstellen.<br />

Petra S. hingegen wollte den Spuren ihres Vaters folgen: „Ich wollte<br />

immer Hausarzt werden, wie mein Vater. Ich wollte immer<br />

eine Praxis.“ So auch Lena C., <strong>die</strong> zu Beginn ihrer ärztlichen Laufbahn <strong>die</strong><br />

Tätigkeit in einer Praxis anvisierte: „Ich habe aber nicht gemeint, als<br />

ich zu stu<strong>die</strong>ren begann, ich werde einmal habilitieren <strong>und</strong><br />

Chef, sondern ich habe gedacht, ich gehe dann mal irgendwann<br />

in eine Praxis oder so.“ Ihre Kommilitonen rieten ihr von <strong>die</strong>sem<br />

Schritt jedoch ab, worüber sie zuerst verärgert war, anschliessend musste<br />

sie ihnen zustimmen. Lena C. schätzt <strong>die</strong> Arbeit im Team <strong>und</strong> den Austausch<br />

mit ihren Patienten, was anhand ihrer offenen, fre<strong>und</strong>lichen <strong>und</strong> optimistischen<br />

Art <strong>und</strong> ihres zielstrebigen <strong>und</strong> durchsetzungsstarken Willens ersichtlich wird.<br />

Für Klaus K. wäre eine akademische Laufbahn nie infrage gekommen: „Ziel<br />

war nie in Richtung Forschung zu gehen, mein Ziel bestand<br />

darin Arzt zu werden, um Arzt zu sein <strong>und</strong> Patienten betreuen<br />

zu können. (…) Ist man an der Universität, ist <strong>die</strong><br />

gesamte Karriere auf der Forschung aufgebaut, nicht auf der<br />

Lehre, nicht auf dem Wissen der Medizin – es ist Forschung.<br />

Auch wenn <strong>die</strong> Kollegen der Uni widersprechen, aber für mich<br />

ist klar, dass an der Uni auf <strong>die</strong> Forschung geachtet wird –<br />

impact factor usw.“ Und genauso auch nicht für Martin A.: „Kontakt<br />

zu den Patienten, Kontakt zu den Kollegen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Arbeit<br />

mit den Patienten, <strong>die</strong>se Untersuchungen <strong>und</strong> so, das hat<br />

mich schon immer gereizt, das wollte ich nie aufgeben. Ich<br />

könnte mir also nie vorstellen mit Mäuschen arbeiten zu<br />

gehen oder so irgendwas, um eine spezielle Fragestellung<br />

wie Transplantation oder so zu erforschen, das hätte ich<br />

nie gewollt.“ Sowohl Victor H. als auch Yann S. hätten sich eine akademische<br />

Karriere nicht vorstellen können, hierzu Victor H.: „Das hat mich<br />

454


eigentlich nie wahnsinnig begeistert, mich hat mehr <strong>die</strong><br />

praktische Arbeit, der Arztberuf an <strong>und</strong> für sich sowie das<br />

Arbeiten mit dem Patienten interessiert.“ Auch eine Kombination<br />

von Forschung <strong>und</strong> klinischer Tätigkeit wäre für ihn nicht infrage gekommen:<br />

„Man musste einfach was zusammenstellen, damit man auf<br />

dem nächsten Kongress was präsentieren konnte. Ich fand<br />

dann, dass wenn man schon Wissenschaft betreiben möchte,<br />

dann sollte man <strong>die</strong>s doch etwas seriöser tun.“ Yann S. hätte der<br />

Kontakt mit den Patienten, <strong>die</strong> nach ihm genannte Front, gefehlt: „Einfach<br />

der Kontakt mit den Menschen, <strong>und</strong> dass man eben direkt dem<br />

Patienten etwas anbieten kann, sei <strong>die</strong>s mit den Operationen<br />

oder mit der Wahl einer Behandlung. In der Forschung ist<br />

<strong>die</strong>s natürlich alles viel langfristiger, <strong>und</strong> es ist auch in<br />

einem gewissen Sinne unsicher, was denn hier jemals herauskommen<br />

wird. Ich finde, dass es eine gute Erfahrung ist,<br />

ich hätte aber nun nicht das ganze Leben im Labor bleiben<br />

wollen.“<br />

Als optimale Plattform für eine Habilitation erachtete <strong>die</strong> Mehrheit der Probanden<br />

<strong>die</strong> Oberarztstelle an einem Universitätsspital in Kombination mit einem<br />

Auslandsaufenthalt. Von den befragten zwanzig Kaderärzten haben von den an<br />

den drei erforschten Kantonsspitälern tätigen zehn <strong>Chefärzte</strong> inkl. dem einen<br />

Co-Chefarzt vier keine Habilitation (Emil E. [Co-Chefarzt], Hans S., Joachim A.,<br />

Karl K.). 63 Unter den sieben Leavern lassen sich drei ehemalige Leitende Ärzte<br />

oder Oberärzte ohne Habilitation (Victor H., Adrian L., Bernd A.) finden, von<br />

den übrigen vier hatten drei vor ihrem Eintritt ins Privatspital eine Chefarztstelle<br />

(Yann S., Walter I., Christian N.) inne. Die beiden CEOs sind nicht habilitiert.<br />

Victor H. erachtet <strong>die</strong> Habilitation als notwendiger Eintrittspass in <strong>die</strong> Liga der<br />

<strong>Chefärzte</strong>, ohne <strong>die</strong>ser sei ein solcher Übertritt heute nicht möglich: „Heutzutage<br />

ist es klar, dass sie ohne Habilitation keine Chefarztposition<br />

in einer grösseren Klinik erhalten. Damals war<br />

es zwar möglich, da es einige <strong>Chefärzte</strong> gab, <strong>die</strong> nicht habilitiert<br />

waren, aber heute ist <strong>die</strong>s absolut <strong>und</strong>enkbar.<br />

Auch bereits am Ende meiner Ausbildung war es <strong>und</strong>enkbar.“<br />

Aus seiner Sicht verschlossen sich durch <strong>die</strong> Tatsache, dass er nicht habilitiert<br />

war, weitere Karrieretappen im öffentlichen Spital, was in einem Karriereende<br />

63 Lena C., Beat U., Daniel S., Andreas L., Petra S. <strong>und</strong> Otto K. sind <strong>die</strong>jenigen <strong>Chefärzte</strong> mit einer Habilitation. Klaus K.<br />

<strong>und</strong> Martin A. sind Leitende Ärzte ohne Habilitation, so auch der Rückkehrer Bernard S.<br />

455


auf Stufe Leitender Arzt resultierte: „Ohne Habilitation sicherlich<br />

keine Chance <strong>und</strong> als Interner als Chef nachzurücken ... (…)<br />

Die Chance, dass ein jüngerer Externer von der Uni <strong>die</strong><br />

Stelle kriegt, ist einfach grösser, was auch <strong>die</strong> Erfahrung<br />

zeigt.“ Und er fügt hinzu: „Wie sie ja gesehen haben, habe ich<br />

eine lange Spitalkarriere gemacht. Die Habilitation <strong>und</strong><br />

folglich eine Chefarztposition in einer grösseren Klinik,<br />

Uniklinik etc. anzustreben, gehörte für mich aber nie zu<br />

einem erstrebenswerten Ziel.“ Petra S., Chefärztin an einem Kantonsspital,<br />

bestätigt <strong>die</strong> Aussage von Victor H. Auch sie <strong>und</strong> drei weitere Kollegen<br />

wurden im Laufe einer Umstrukturierung <strong>des</strong> Kantonsspital zu <strong>Chefärzte</strong>n<br />

ernannt, wobei <strong>die</strong> Bedingungen, <strong>die</strong> als konstitutiv für <strong>die</strong> Ernennung galten,<br />

von vornherein klar waren: „Dementsprechend brauchte man <strong>Chefärzte</strong>,<br />

man muss habilitiert sein als Chefarzt <strong>und</strong> meine Spezialität<br />

ist ein sehr grosses Fach <strong>und</strong> ein sehr wichtiges.<br />

Folglich hat man dann entschieden, dass <strong>die</strong> Spezialisten<br />

aus vier Hauptabteilungen folglich vier <strong>Chefärzte</strong> werden.<br />

Ich wurde dann folglich Chefärztin.“ Auch Bernd A. musste nach<br />

dem Ablauf seiner sechsjährigen Tätigkeit als Oberarzt das Universitätsspital<br />

verlassen, da er nicht habilitiert war: „Ich war etwa vierzehn Jahre am<br />

Universitätsspital. Ich war in einem grossen Haus mit vielen<br />

Fachgebieten <strong>und</strong> habe mein Fachgebiet auf hohem Niveau<br />

getätigt. Ich habe nicht habilitiert, also hatte ich als<br />

Oberarzt nur eine Anstellungsdauer von sechs Jahren gehabt,<br />

dann musste ich gehen.“ Weshalb er keine Habilitation anstrebte, ist<br />

nicht klar. Er definiert sich als Praktiker, <strong>und</strong> als <strong>die</strong>ser schätzte man ihn am<br />

Universitätsspital. Auch der Lehre konnte er nachgehen, jedoch war er sich im<br />

Klaren darüber, dass ihm dazu <strong>die</strong> nötige Legitimation, <strong>die</strong> Habilitation, fehlte:<br />

„Es interessiert mich schon, ich habe eine Menge an Fortbildungen<br />

gemacht <strong>und</strong> hatte Studenten <strong>und</strong> das <strong>und</strong> jenes.<br />

Ich habe auch Vorlesungen gehalten, wenn <strong>die</strong> anderen nicht<br />

konnten. Wobei ich meine Fixvorlesung je<strong>des</strong> Jahr auch hatte,<br />

wie bei den ... Ich habe <strong>die</strong>s doch auch immer gemacht,<br />

aber ich war quasi nicht dazu legalisiert gewesen, aber es<br />

war spannend.“ Möglicherweise trug seine damalige Insider-Rolle, <strong>die</strong> jedoch<br />

keine von Dauer war, da er aufgr<strong>und</strong> der fehlenden Habilitation dem<br />

Universitätsspital nicht erhalten bleiben konnte, zur folgenden Antwort bei:<br />

„Aber ich würde schauen, dass ich mich habilitieren könnte,<br />

dass ich schliesslich Professor werden könnte. Dies nicht,<br />

456


da ich im öffentlichen Haus bleiben möchte, das ist nicht<br />

<strong>die</strong> Bedingung, da <strong>die</strong> Privatklinik natürlich perfekt ist,<br />

da ich es hier so machen kann, wie ich es will.“ Mit <strong>die</strong>sen<br />

Worten antworte er auf <strong>die</strong> Frage, ob den Arztberuf nochmals wählen würde.<br />

Im Falle der akademischen Laufbahn stellt das Universitätsspital <strong>die</strong> zentrale<br />

Weiheanstalt dar, wobei auch bei klinisch tätigen Ärzten das Universitätsspital<br />

als zentrale Etappe der späteren Weihe erachtet wird, da dort <strong>die</strong> Weichenstellung<br />

für <strong>die</strong> spätere Habilitation gesetzt <strong>und</strong> zumeist auch <strong>die</strong> Möglichkeit für<br />

ein Auslandssemester bzw. Auslandsjahr geboten wurde. Das Universitätsspital<br />

stellte für einige Probanden ein sehr relevantes Sprungbrett dar, so beispielsweise<br />

für Lena C., Daniel S., Petra S., Otto K., Walter I., Xavier R. <strong>und</strong><br />

Christian N. oder aber auch für Joachim A., der vom Oberarzt am Universitätsspital<br />

sogleich zum Chefarzt am Kantonsspital ernannt wurde: „Wie es aber<br />

immer so ist, so fängt es dann an einer Universitätsklinik<br />

mal an zu ziehen, so wurde ich dann auch Oberarzt an der<br />

Medizinischen Klinik <strong>die</strong>ses Universitätsspitals.“ Joachim A.<br />

erachtet das Universitätsspital als Bewährungsetappe, <strong>die</strong> ein angehender<br />

Oberarzt zu leisten hat: „Wenn sich einer als Assistenzarzt bewährt<br />

hat, dann muss man ihn anschliessend ins Zentrum<br />

schicken, damit er danach wieder als Oberarzt zurückkommen<br />

kann. Das läuft einfach so.“ Auch Bernd A. erachtet das Universitätsspital<br />

als zentrale Institution, durch welche <strong>die</strong> Oberärzte, egal ob sie nun später<br />

klinisch oder akademisch tätig sein werden, hindurch gehen müssen: „Das<br />

muss so sein, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Oberärzte müssen dann quasi im Durchlauferhitzer<br />

durchgehen <strong>und</strong> wieder raus. Die müssen dann in<br />

ein Kantonsspital, welches kleiner ist, oder sie müssen<br />

dann in eine Privatpraxis oder in ein Privatspital.“ Joachim<br />

A. erachtet im Zusammenhang mit der Entscheidung, klinische oder akademische<br />

Laufbahn, das Universitätsspital als zentrale Instanz: „Mit anderen<br />

Worten ausgedrückt ist <strong>die</strong> Universität bis man ca. vierzig<br />

Jahre alt ist gut, da kommt man auch weiter. So kann man<br />

immer sagen, dass man bis vierzig oder etwas drüber bleibt,<br />

aber sicherlich nicht länger, da es ansonsten eine wissenschaftliche<br />

Karriere wird. Das war aber gar nicht meines,<br />

<strong>die</strong>s war nie mein Ziel. Mit vierzig wäre ich entweder in<br />

<strong>die</strong> Praxis gegangen, hatte sogar schon Räume am Ort, wo ich<br />

früher am Kantonsspital war, dann wurde aber <strong>die</strong>se Stelle<br />

hier frei. Man hat einen gewissen Punkt in seiner Karriere<br />

457


zw. Ausbildung erreicht (…).“ Für Oberärzte, <strong>die</strong> keine akademische<br />

Karriere anstreben, wird nach fünfjähriger Oberarzttätigkeit am Universitäts-<br />

spital der Moment eingeläutet, wo nach einer neuen Oberarzt- bzw. Leitender<br />

Arztstelle Ausschau gehalten werden muss, <strong>die</strong>se Erfahrung machte auch Klaus<br />

K., der als nächste Etappe <strong>die</strong> Funktion <strong>des</strong> Leitenden Arztes anstrebte: „Ich<br />

habe nach den drei Jahren überlegt, was ich tun kann. Um<br />

sich qualifizieren zu können, musste man auch eine gewisse<br />

Zeit Oberarzt sein <strong>und</strong> eine gewisse Führungserfahrung vorweisen<br />

können. Aber so nach zwei, drei Jahren hat man dann<br />

begonnen zu suchen. Da irgendwann <strong>die</strong> fünf Jahre dann auch<br />

um sind.“ Sowohl Petra S. als auch Joachim A. berichten von guten Erfahrungen,<br />

<strong>die</strong> sie während ihrer Tätigkeit am Universitätsspital gemacht haben. Als<br />

jedoch ein Führungswechsel in der Klinik, wo Petra S. tätig war, anstand, wollte<br />

sie gehen, <strong>und</strong> Joachim A. war sich im Klaren darüber, dass er klinisch tätig<br />

sein möchte, weshalb auch er sich eine neue Stelle suchte. Dass aber das Umfeld<br />

am Universitätsspital nicht nur von Kollegialität <strong>und</strong> Leistungsförderung gekennzeichnet<br />

war, zeigt Otto K. anhand seiner Beschreibung der erschwerten<br />

Bedingungen, <strong>die</strong> nebst den bürokratischen Strukturen <strong>des</strong> Spitals auch mit der<br />

darin herrschenden Konkurrenzierung zusammenhing: „Das Universitätsspital<br />

ist immer in einer Mühle zwischen Fakultät, Erziehungsdirektion<br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsdirektion <strong>und</strong> da gibt es<br />

durchaus Kräfte, wo nicht alle am gleichen Strick ziehen.<br />

Also <strong>die</strong> Fakultät habe ich immer als mühsam erlebt, da waren<br />

häufig immer Eigeninteressen im Spiel <strong>und</strong> ganze Machtspiele,<br />

<strong>die</strong> abliefen. Das Universitätsspital per se, das ja<br />

eine Stiftung gewesen ist, war immer im Klinsch mit der<br />

Fakultät, dadurch sind häufig Sachen blockiert worden. Wenn<br />

man es austricksen wollte, so hat man es direkt in <strong>die</strong> Direktion<br />

gegeben. Ansonsten ist man quasi vom Spitalbetrieb<br />

in <strong>die</strong> medizinische Fakultät, in <strong>die</strong> Erziehungsdirektion<br />

<strong>und</strong> in <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitsdirektion gegangen. Dann hat man in<br />

der Regel gewusst, nun passiert nichts mehr. Also unternehmerisch<br />

gesehen, war es immer ein Glücksfall, wenn Sachen<br />

gut liefen. Sehr häufig gab es Leute, <strong>die</strong>, wenn sie es<br />

nicht wollten, es auch boykottieren konnten. Entweder auf<br />

der Ebene Fakultät, Spital oder dann eben Erziehungsdirektion.“<br />

Und er betont gleichzeitig <strong>die</strong> hohe Relevanz der Kantonsspitäler im<br />

Rahmen der Ausbildung der angehenden Ärzte: „Wenn sie heute an ein<br />

Universitätsspital in Zürich oder Bern gehen, dann erzählen<br />

mir meine Chefarztkollegen, dass der normale Lungenkrebspa-<br />

458


tient nicht mehr zu ihnen komme. Sie hätten nur noch <strong>die</strong>se<br />

mit zwei Bypässen, einem Hirnschlag <strong>und</strong> einer schweren Diabetes.<br />

Alles was <strong>die</strong> Anderen also nicht wollen, schickt man<br />

zu uns. Wir hier sind Gr<strong>und</strong>versorger. Wir sind das Stadtspital,<br />

das Kantonsspital, der Tertiärversorger in der Region.<br />

Der Arzt aus Graubünden, der gerade da war, der<br />

schickt uns alle schwierigen Fälle, bei denen er nicht mehr<br />

weiterkommt oder <strong>die</strong> wirklich ges<strong>und</strong>heitlich prekären Patienten.<br />

Er sagt, dass es gar keinen Sinn macht, dass er <strong>die</strong>se<br />

in Chur behandelt. Wir sollen <strong>die</strong> hier machen. Wir haben<br />

hier auch <strong>die</strong> kritische Grösse, das lohne sich für ihr Spital<br />

gar nicht. Alle <strong>die</strong>se ges<strong>und</strong>heitlich sehr angeschlagenen<br />

Patienten aus <strong>die</strong>ser Region kommen in der Regel zur<br />

Behandlung zu uns, (…) das machen wir alles hier.“ Auch Hans<br />

S. betont <strong>die</strong> Wichtigkeit einer Tätigkeit in einem Universitätsspital während<br />

der Ausbildung zum Oberarzt, da einem dadurch auch <strong>die</strong> Möglichkeit zum<br />

Habilitieren geboten wird, was er als wichtige Voraussetzung für eine spätere<br />

Chefarztposition erachtet: „Ich habe mich nie auf eine Stelle beworben,<br />

sondern wurde immer gefragt, ob ich <strong>die</strong>s machen<br />

würde, von daher hatte ich immer viel Glück <strong>und</strong> gute Leute<br />

in meiner Umgebung. Ich glaube aber, dass alles noch ein<br />

wenig einfacher gewesen wäre, wenn ich mich hätte habilitieren<br />

lassen. Meine persönliche Vergangenheit <strong>und</strong> meine<br />

Herkunft haben mir <strong>die</strong>s verunmöglicht. Ich stamme nicht aus<br />

einer Familie, in welcher es eine Selbstverständlichkeit<br />

ist, dass man solche Ziele hat <strong>und</strong> man <strong>die</strong>se auch anstrebt.<br />

Ich dachte immer, dass <strong>die</strong>s was für andere ist, dass mir<br />

<strong>die</strong>s gar nicht zusteht. Ich dachte immer, ja, ja, ich mache<br />

hier ganz einfache Medizin <strong>und</strong> fand es schon toll, dass ich<br />

<strong>die</strong>s machen kann <strong>und</strong> kam gar nie an den Punkt, an welchem<br />

ich gesagt habe, ich will das. Aber das ist falsch. Junge<br />

Leute, <strong>die</strong> sich mit <strong>die</strong>ser Frage befassen, berate ich heute<br />

ganz anders <strong>und</strong> sage allen, mach, geh <strong>und</strong> versuch <strong>die</strong> akademische<br />

Laufbahn zu machen, du kannst immer wieder aufhören.<br />

Diejenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>s wirklich als Option sehen, unterstütze<br />

ich. Ich finde es wichtig, dass man es macht.“ Hans S.<br />

wurde <strong>die</strong> Chance sich zu habilitieren <strong>und</strong> sich im Ausland weiterbilden zu<br />

lassen, geboten, was folgende Aussage zeigt: „An meinem Stu<strong>die</strong>nort<br />

haben mich <strong>die</strong> Pneumologen, (…) versucht zu motivieren<br />

Pneumologie zu machen, mich dort habilitieren zu lassen,<br />

danach nach Miami, in <strong>die</strong> USA zu gehen <strong>und</strong> zurückzukehren<br />

459


<strong>und</strong> anschliessend eine akademische Karriere auf der Pneumologie<br />

zu machen. Ich bin dann aber irgendwie in meine heutige<br />

Spezialität hineingerutscht.“ Hans S. entschloss sich also für<br />

ein anderes Fachgebiet, wo er gemäss eigenen Aussagen leider auf keine Förderer<br />

mehr stiess. Er genoss jedoch <strong>die</strong>se Entscheidungsfreiheit, <strong>die</strong> der jungen<br />

Generation heute fehlen würde, da sie bereits in jungen Jahren <strong>die</strong> Weichen für<br />

<strong>die</strong> spätere Berufswahl stellen müssen <strong>und</strong> ihnen dadurch auch Entfaltungsfreiheit<br />

genommen werde. Lena C., <strong>die</strong> ursprünglich eine Praxistätigkeit anvisierte,<br />

musste gewisse Hürden bis zur Erlangung der Habilitation in Kauf nehmen.<br />

Die patriarchalen Strukturen waren ihr seit Kin<strong>des</strong>beinen an bekannt, <strong>und</strong><br />

auch später hatte sie ab <strong>und</strong> an wieder mit ihnen zu kämpfen, auch als es um<br />

<strong>die</strong> Einreichung ihrer Habilitation ging. Sie traf auf einen Chefarzt, der Frauen<br />

keine Oberarztstellen zugestand, der ihr aber wenige Jahre später dreimal eine<br />

anbot. Die erste nahm sie an <strong>und</strong> verschob infolge<strong>des</strong>sen ihr Engagement als<br />

Research Fellow in Amerika, <strong>die</strong> zweite schlug sie aus: „(…) <strong>und</strong> dann habe<br />

ich gesagt: Jetzt haben sie mir doch gesagt ich soll zwei<br />

Jahre in Amerika bleiben, ansonsten bringe das nichts. Und<br />

dann hat er gesagt: Ja, wissen sie ... <strong>und</strong> dann habe ich<br />

gesagt: Nein, ich komme nicht. Und danach hat er gesagt:<br />

Ja, dann habe ich dann halt keine Stelle mehr für sie. Dann<br />

habe ich gedacht, aber das mach ich nicht, das ist Macho.<br />

Und danach bin ich nicht gegangen, ich habe dann natürlich<br />

gedacht, jetzt ist meine Karriere in der Inneren Medizin<br />

erledigt <strong>und</strong> ich werde nicht mehr zurück können.“ Das Forschungsprojekt<br />

von Lena C. wurde vom Schweizerischen Nationalfond unterstützt.<br />

Bereits während ihres Forschungsaufenthalts in Amerika arbeitete sie<br />

auf <strong>die</strong> Habilitation hin. Als sie nach ihrer Rückkehr eine Oberarztstelle antrat<br />

<strong>und</strong> ihr Habilitationsprojekt einbringen wollte, teilten ihr <strong>die</strong> Vorgesetzten mit,<br />

dass sie <strong>die</strong>s erst könne, nachdem ihr Oberarztkollege seine Habilitation eingereicht<br />

habe. Daraufhin verliess sie <strong>die</strong> Stelle: „Und wirklich, ich habe<br />

gekündigt <strong>und</strong> bin über den Hauptplatz im Ort gelaufen <strong>und</strong><br />

habe geschluckt <strong>und</strong> gedacht: Mein Gott was machst du nun?<br />

Aber dann habe ich gedacht, man muss <strong>die</strong> Rechnung machen,<br />

damit man am Schluss zufrieden ist mit dem Leben. Und danach<br />

bin ich wieder gegangen, mein Chef hat mich zusammengestaucht,<br />

was mir einfalle <strong>und</strong> ich habe gesagt: Ich gehe,<br />

ich gehe, ich kann hier nicht leben.“ Die Sorgen waren unberechtigt,<br />

denn Lena C. erhielt kurz darauf ein Telefonat <strong>des</strong> Spitals, welches ihr<br />

460


während ihres Forschungsaufenthalts in Amerika eine Stelle anbot, <strong>die</strong> sie aber<br />

ablehnte, nun sagte sie zu, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie dort<br />

habilitieren könne. Diese Bedingung stellte sie wissentlich, da bis zu <strong>die</strong>sem<br />

Zeitpunkt keine Frau je an <strong>die</strong>sem Spital im Bereich der Inneren Medizin zum<br />

Habilitieren zugelassen wurde. Als sie ihre Habilitation ihren Vorgesetzten<br />

präsentierte, reagierten <strong>die</strong>se zögerlich: „Und danach, ich mag mich<br />

noch gut erinnern, <strong>und</strong> danach sagte der eine: Oh, aber wissen<br />

Sie, also wir müssen ganz sicher sein, dass es dann<br />

durch geht. Und dann habe ich gesagt: Ja aber, verglichen<br />

mit dem <strong>und</strong> dem ist es dann also viel mehr.“ Daraufhin ergriff<br />

Lena C. <strong>die</strong> Initiative <strong>und</strong> reichte ihre Habilitation beim Dekanat selber ein <strong>und</strong><br />

stellte <strong>die</strong> Bedingung, dass <strong>die</strong> Arbeit innert der nächsten sechs Monate bearbeitet<br />

werden müsse, da Lena C. sich auf einen Chefarztposten beworben hatte,<br />

der eine abgeschlossene Habilitation voraussetzte. Lena C. habilitierte, wurde<br />

zur Co-Chefärztin ernannt <strong>und</strong> später zur Chefärztin <strong>und</strong> Departementsleiterin.<br />

Wie zentral <strong>die</strong> Verbindung Universitätsspital, Forschungsstelle im Ausland<br />

<strong>und</strong> Habilitation ist, zeigt folgen<strong>des</strong> Zitat von Walter I.: „Habe einfach<br />

meine Forschungsarbeit mit dem Ziel gemacht, dass wenn ich<br />

zurückkomme, ich <strong>die</strong> wissenschaftliche Basis für meine Habilitation<br />

in der Hand habe. Denn wenn sie wieder im klinischen<br />

Betrieb ihrer Mutterklinik sind, (…), dann sind sie<br />

wieder in der Klinik vollbeschäftigt. Wenn sie dann noch<br />

Forschung tätigen möchten, dann können sie <strong>die</strong>s im Prinzip<br />

nur in der Nacht tun. Oder sie müssen wieder ein Timeout<br />

nehmen, was auch wieder schwierig ist. Ziel <strong>und</strong> Zweck war<br />

dort klar: Kontakt mit dem Ausland zu knüpfen, Kontakt mit<br />

einer grossen, ausländischen Transplantationsklinik zu haben<br />

<strong>und</strong> Zeug für <strong>die</strong> Habilitation mit nach Hause zu bringen.“<br />

Ihm gleich taten es auch andere, was anhand <strong>des</strong> nächsten Abschnitts<br />

ersichtlich wird.<br />

Die zunehmende Relevanz der akademischen Tätigkeit, insbesondere in Form<br />

von Forschungsprojekten <strong>und</strong> Publikationen, birgt <strong>die</strong> Gefahr der zunehmenden<br />

Entfernung von der eigentlichen klinischen Tätigkeit, <strong>die</strong> bei einem Krankenhausarzt<br />

konstitutiv ist. Gemäss Martin A. leidet insbesondere das Arzt-<br />

Patienten-Verhältnis, was er anhand folgender Aussage erläutert: „Ich meine,<br />

dass wenn sie sich überlegen, dass ein akademischer<br />

Mediziner einen grossen Teil seiner Zeit forscht, schreibt,<br />

liest, <strong>die</strong>se Zeit hat er weniger am Patienten. Also reine<br />

461


praktische Erfahrung, Patienten anschauen, das <strong>und</strong> das sehen<br />

... er hat wahrscheinlich viel, viel mehr gelesen <strong>und</strong><br />

weiss viel mehr Details, <strong>die</strong>se andere Erfahrung aber fehlt<br />

ihm. Und es gibt immer wieder Situationen, wo eine grosse<br />

Erfahrung sehr wichtig ist. Und ich glaube, dass sich da<br />

eben auch was verändert hat. Die alten Lehrer, <strong>die</strong> wir während<br />

dem Studium hatten, das waren so richtige Kliniker,<br />

<strong>die</strong> haben das alles mal gesehen <strong>und</strong> haben tausende von Patienten<br />

gesehen, <strong>die</strong>s war auch durch <strong>die</strong> längere Arbeitszeit<br />

von früher bedingt, wo sie zwölf, vierzehn St<strong>und</strong>en<br />

hatten, <strong>und</strong> heute ist <strong>die</strong>s ein wenig anders. Wenn heute ein<br />

junger Mann Professor werden möchte, dann muss er einen<br />

grossen Teil seiner Zeit ... er arbeitet auch sehr viel,<br />

aber wahrscheinlich verbringt er eben nicht mehr einen<br />

grossen Teil seiner Zeit direkt am Patienten. (…) Es wird<br />

dann nicht derjenige mit der grössten Erfahrung der klinische<br />

Chef, der dann sagt, wie man nun den Meier zu behandeln<br />

hat, sondern es wird derjenige entscheiden, der fünf<br />

oder zehn Jahre in irgendeinem Labor mit Mäuschen gearbeitet<br />

hat oder sonst was gemacht hat.“ Martin A. verdeutlicht mit<br />

<strong>die</strong>sen Worten, dass der Arzttypus <strong>des</strong> Klinikers, der seinen asketischen Dienst<br />

an der Allgemeinheit ohne zeitliche eigen- oder fremdauferlegte Restriktionen<br />

verrichtet, einen zunehmend schwindenden Arzttypus darstellt, der zunehmend<br />

durch den Arzt mit einer hohen fachlichen Kompetenz, aber wenig Erfahrung<br />

im klinischen Betrieb, abgelöst wird. Diese Gefahr geht einher mit dem<br />

zunehmenden Bedürfnis der jungen Arztgeneration nach einer ausgeglichenen<br />

Work-Life-Balance, <strong>die</strong> gemäss der heutigen Generation der Kaderärzte das<br />

Risiko in sich birgt, den Arztberuf zum Job verkommen zu lassen, was unter<br />

Kapitel 5.3.2.2 ausführlicher erläutert wird. Martin A. gewinnt <strong>die</strong>sem Wandel<br />

auch einen positiven Aspekt ab, wie folgende Aussage verdeutlicht: „Eben<br />

auch ganz ähnlich wie mit dem autoritären Verhalten, da ja<br />

<strong>die</strong>ses heute nicht mehr so ist, braucht es ganz andere Mittel<br />

der Führung. Nicht so militärisch <strong>und</strong> nicht ohne Diskussion.<br />

Wahrscheinlich wird heute mehr Diskussion benötigt,<br />

es braucht Überzeugung, mehr Zeit, was das Führen<br />

auch schwieriger macht oder zumin<strong>des</strong>t zeitaufwendiger. (…)<br />

Und auch, dass man bei den Visiten oder den Weiterbildungen<br />

dann mit Fragenstellen versuchte auf <strong>die</strong> Schwächeren Druck<br />

auszuüben, das hat abgenommen. Es ist jetzt ein viel kollegialeres<br />

Verhältnis geworden, auch mit den neuen grossen<br />

462


Chefs.“ Inwiefern <strong>die</strong>se neuen grossen Chefs ihre Aufgabe der Förderung <strong>und</strong><br />

der Lehre <strong>des</strong> Nachwuchses wahrnehmen, wird sich in einem der nachfolgen-<br />

den Abschnitte zeigen.<br />

Auch Auslandssemester bzw. akademische Forschungstätigkeiten als soge-<br />

nannter Research Fellow oder Postgraduate Fellow stellen einen essentiellen<br />

Bestandteil einer erfolgreichen Karriere als klinisch tätiger Kaderarzt dar, was<br />

anhand <strong>des</strong> Werdegangs der Stayer Lena C., Beat U., Daniel S., Andreas L.,<br />

Petra S., Otto K., <strong>des</strong> CEOs Tobias F. <strong>und</strong> der Leaver Victor H., Yann S., Walter<br />

I., Adrian L. ersichtlich ist. Dass solche Semester bzw. Jahre finanzielle Risiken<br />

darstellen, erläuterten bereits Daniel S. <strong>und</strong> Beat U. Martin A. fehlten <strong>die</strong>se<br />

finanziellen Mittel, da zumeist kein Gehalt für <strong>die</strong> akademischen Tätigkeiten in<br />

einer ausländischen Klinik bezahlt wurde. Das fehlende Gehalt kann mithilfe<br />

von Stipen<strong>die</strong>n überbrückt werden, jedoch ist ihr Erhalt an Bedingungen geknüpft,<br />

<strong>die</strong> nicht jeder Oberarzt erfüllt. Martin A. äusserte sich zu seiner damaligen<br />

Situation folgendermassen: „Ich bin mehrmals im Ausland gewesen,<br />

aber immer nur für so Stages. Als ich anfangs der<br />

Achtzigerjahre in der Ausbildung war, hatte ich einfach<br />

Angst, dass wenn ich jetzt ins Ausland gehen würde, ich<br />

meinen Job nicht mehr hätte, wenn ich zurückkomme. Für eine<br />

Stellenfindung waren <strong>die</strong>s ganz schlimme Jahre. Damals gab<br />

es sehr viele Assistenten <strong>und</strong> sehr viele Studenten, <strong>und</strong> das<br />

war eigentlich der grosse Gr<strong>und</strong>; erstens hatte ich von zu<br />

Hause aus kein Geld, ich musste immer mein Studium, mein<br />

Leben selber ver<strong>die</strong>nen, <strong>und</strong> im Ausland hat man häufig<br />

nichts oder sehr wenig ver<strong>die</strong>nt, <strong>und</strong> folglich hatte ich<br />

Angst, dass wenn ich zurückkomme <strong>und</strong> plötzlich keine Stelle<br />

mehr habe oder keine mehr finde, <strong>die</strong>s war so ein wenig der<br />

Gr<strong>und</strong>, weshalb ich nie mehr richtig ins Ausland ging. (…)<br />

Aber das war schon ein wenig ein wirtschaftlicher Gr<strong>und</strong>,<br />

weshalb ich damals nicht gegangen bin, ich hatte den Mut<br />

einfach nicht, da ich das Geld einfach nicht hatte, um ein<br />

Jahr davon leben zu können <strong>und</strong> <strong>die</strong>se Stiftungen, <strong>die</strong> einem<br />

ab <strong>und</strong> zu halfen, waren dann auch nicht mehr so freigiebig,<br />

dass man einfach alles kriegte, Nationalfonds oder so. Genau.<br />

Und ich musste einfach möglichst schnell meine Ausbildung<br />

hinter mir haben, dass ich möglichst bald ver<strong>die</strong>nen<br />

konnte.“ Andere Kollegen ergriffen <strong>die</strong> Chance <strong>und</strong> gingen <strong>die</strong> finanziellen<br />

Risiken ein. Otto K. blickt gerne zurück auf sein Forschungsjahr in England <strong>und</strong><br />

463


etont, wie stark dort das Teaching <strong>und</strong> <strong>die</strong> Forschung im klinischen Alltag<br />

institutionalisiert sei: „Die englischen Spitäler haben einen Vorteil<br />

gegenüber unseren Spitälern, sie sind zwar sehr bescheiden<br />

gewesen, min<strong>des</strong>tens zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt, was aber<br />

auch heute noch so ist, sie haben aber viel mehr Teaching<br />

als wir. Der englisch, akademische Betrieb ist sehr auf<br />

gutes Teaching aus.“ Wie bereits im Porträt von Beat U. beschrieben<br />

wurde, schätzte auch Otto K. <strong>die</strong> viel empathischere <strong>und</strong> offenere Arzt-<br />

Patienten-Beziehung, <strong>die</strong> in England umgesetzt wurde: „Es ist ein eher<br />

fre<strong>und</strong>schaftliches Verhältnis. Man spricht sich auch mit<br />

dem Vornamen an. Es ist Mary oder John. Ist irgendwie noch<br />

lustig. In anderen Bereichen sind sie dagegen wieder sehr<br />

distanziert. Ich hatte das Gefühl, dass es etwas Paternalistisches<br />

hatte, dass unsere Art umzugehen vielleicht moderner<br />

ist als dort. Es kommt ja alles etwas aus der Charity,<br />

einer Hilfsorganisation, einer Wohltätigkeitsorganisation<br />

heraus. Sehr viele elderly La<strong>die</strong>s, <strong>die</strong> mit Tee <strong>und</strong><br />

Zwieback herumgingen <strong>und</strong> Leute versorgt haben. Wenn man<br />

sich das bei uns vorstellen würde. Dies war dort aber gang<br />

<strong>und</strong> gäbe. So eine gute Stimmung. Man hat bemerkt, wie angenehm<br />

<strong>die</strong> Engländer im Alltag sind.“ Diese Form der Institutionalisierung<br />

der Lehre im Kantonspital, an welchem er Chefarzt ist, umzusetzen,<br />

stellt eines seiner grössten Ziele für <strong>die</strong> Jahre bis zu seiner Pensionierung dar:<br />

„Wir sind eine Mischung aus Dienstleister <strong>und</strong> Forscher <strong>und</strong><br />

Lehrender. (…) Der grösste negative Punkt ist, dass wir<br />

keine Medical School sind. Also wir haben sehr viele Kliniken,<br />

<strong>die</strong> A-Kliniken sind <strong>und</strong> akademisch arbeiten. Aber wir<br />

sind keine Ausbilder. Wir sind nur Mitausbilder. Natürlich<br />

nehmen wir Deutsche <strong>und</strong> Schweizer hier auf, aber es wäre<br />

toll, wenn wir ein Teaching Hospital sein könnten <strong>und</strong> nicht<br />

einfach attached. Dass wir eine Medical School werden, das<br />

ist eine meiner ehrgeizigen Aufgaben in meiner verbleibenden<br />

Zeit, dass wir Studenten im Master ausbilden, dass wir<br />

also <strong>die</strong> klinische Seite der Ausbildung teilweise übernehmen<br />

können. Die Bachelorseite müssen wir nicht machen. Wir<br />

sind ein ideales Ausbildungsspital.“ Auch Walter I. war begeistert<br />

von der Struktur der Lehre: „Was ich am amerikanischen Programm<br />

sehr schön fand <strong>und</strong> was ich sehr bew<strong>und</strong>ert hatte, war, dass<br />

wenn sie als Assistent in ein solches Weiterbildungsprogramm<br />

aufgenommen wurden <strong>und</strong> sich je<strong>des</strong> Jahr wieder qualifiziert<br />

haben, um bleiben zu können, dann hatten sie ein<br />

464


volles Programm bis zur Habilitation. Die Amerikaner können<br />

natürlich mit anderen Quantitäten arbeiten. Nach drei Jahren<br />

Assistentenzeit sind sie zwei Jahre in <strong>die</strong> Forschung,<br />

dann kamen sie als PHD, so nennt sich das dort <strong>und</strong> heisst<br />

so was ähnliches, wie bei uns habilitiert, zurück <strong>und</strong> dann<br />

ging es so weiter. Wenn sie in einer solchen Schule drinbleiben<br />

konnten, dann sind sie mit fünf-, sechs<strong>und</strong>dreissig<br />

als fixfertiger, habilitierter, hochqualifizierter Chirurg<br />

bereitgestanden, um als Leiter für ein Programm irgendwohin<br />

gewählt zu werden. Diese Konsequenz <strong>und</strong> Strategie war in<br />

der Schweiz nicht so transparent. Viel mehr Leute sind gekommen<br />

<strong>und</strong> gegangen oder gekommen <strong>und</strong> geblieben <strong>und</strong> haben<br />

sich dennoch nicht qualifiziert.“<br />

Andreas L. war überrascht, wie stark <strong>die</strong> Spitäler hierarchisiert waren: „Medizinisch<br />

gesehen war es etwa dasselbe, <strong>die</strong> Standards auch.<br />

Der Zugang zum Patienten war anders. Noch hierarchischer<br />

strukturiert. Alles hat sich auf den Chef zugespitzt. Wenn<br />

er da war, lief es, wenn er nicht da war, lief es nicht, da<br />

niemand entschied oder aber man entschied immer im Gedanken,<br />

wie würde nun der Chef entscheiden? Es war extrem hierarchisch<br />

strukturiert. Man hat sehr viel operativ gemacht,<br />

war sehr effizient. Die Patientenbetreuung aber war sehr,<br />

sehr sachlich. Sie war nicht sehr empathisch, sondern man<br />

hat es einfach erledigt. Auch von der Pflege her herrschte<br />

ein ganz anderer Pflegeschlüssel. Man hatte eine Diplomierte,<br />

hier haben wir zwei, drei. Es war ein ganz anderes Niveau.<br />

Wir sind <strong>die</strong>sbezüglich auf einem viel höheren Servicelevel.<br />

Es war so ein wenig ,friss oder stirb‘.“ Andreas<br />

L. erkennt in der zunehmenden Spezialisierung der Medizin <strong>die</strong> Gefahr <strong>des</strong><br />

Verlusts der ganzheitlichen Betrachtung <strong>des</strong> Menschen <strong>und</strong> insbesondere <strong>des</strong><br />

kranken Menschen: „Da sie so spezialisiert sind <strong>und</strong> jeder nur<br />

so <strong>und</strong> so viel kann <strong>und</strong> ist. Die Patientenbetreuung empfand<br />

ich in Amerika viel schlechter als in Deutschland. Für das<br />

lokale Problem waren sie vielleicht sehr gut, für <strong>die</strong> State<br />

of the Art. Hatte er jedoch noch was Zusätzliches, hat es<br />

ihn nicht interessiert, sondern gesagt, frag doch den. Und<br />

so kam dann auch schon der nächste Spezialist, der dann<br />

auch wieder <strong>die</strong>sen <strong>und</strong> jenen Röhrenblick hatte. Hat er eine<br />

Diagnose behandelt, hat ihn der Mensch nie interessiert.<br />

Das höre ich von vielen Gastärzten, von Gastärzten der ganzen<br />

Welt. Ich höre von den Amerikanern oft, dass sie stau-<br />

465


nen, wie wir den gesamten Menschen beachten. Obwohl meine<br />

Spezialität auch schon bereits sehr grob <strong>und</strong> prioritätenstrukturiert<br />

ist. Sie staunen auch hinsichtlich der Art <strong>und</strong><br />

Weise, wie wir den Patienten verstehen <strong>und</strong> behandeln. Das<br />

ist ja das, was uns immer mehr verloren geht. Da ja alle<br />

nur noch auf Superspezialisierung hinsteuern.“ Diese Gefahr, <strong>die</strong><br />

er in Bezug auf seine Erfahrungen in Amerika thematisiert, sieht er auf den<br />

Beruf <strong>des</strong> Arztes insgesamt zukommen <strong>und</strong> gehört unter den Probanden zum<br />

grössten Verfechter einer breiten medizinischen Ausbildung, da <strong>die</strong> zunehmende<br />

Spezialisierung für ihn in einem medizinischen Analphabetismus resultieren<br />

kann.<br />

Vorgesetzte können wesentlich zum Karriereverlauf <strong>und</strong> zu Karrieresprüngen<br />

beitragen. Ihnen kommt analog zur Funktion der „Weihebischöfe“ in der Kirche<br />

eine zentrale Stellung bei der Weihe der Leitenden Ärzte zu <strong>Chefärzte</strong>n zu. Die<br />

Honorierung der Leistung eines Assistenz- oder Oberarztes geschieht auch<br />

durch <strong>die</strong> seitens der Vorgesetzten vorgenommenen Weiterempfehlung an<br />

erwiesene Arztkollegen, womit zumeist auch das Erklimmen einer weiteren<br />

Hierarchiestufe einhergeht. Gemäss Bernard S. sei <strong>die</strong> Aus- bzw. Weiterbildung<br />

eines Arztes sehr stark von der Förderung <strong>des</strong> Vorgesetzten abhängig, jedoch<br />

sei <strong>die</strong>se Abhängigkeit heute im Gegensatz zu früher nicht mehr im selben<br />

Masse ausschlaggebend, was er auch begrüsst: „Ich denke schon, da<br />

letztendlich der Chefarzt oder der Leiter einer Abteilung<br />

darüber entscheidet, ob jemand eine Ausbildung machen kann<br />

oder nicht. Was heute anders ist, ist, dass falls es einem<br />

am Zielort nicht gelingt <strong>die</strong>se <strong>und</strong> jene Ausbildung zu machen,<br />

dann ist man heute viel, viel flexibler. Man ist<br />

heutzutage auch viel mobiler. Man kann an einen anderen Ort<br />

gehen. Wenn es in Zürich nicht geht, dann geht man nach<br />

Bern, <strong>und</strong> wenn es in Bern nicht geht, dann geht man nach<br />

Basel, oder aber man geht ins Ausland, was früher überhaupt<br />

noch kein Thema war.“ Sowohl Lena C. als auch Otto K. verstehen ihre<br />

Funktion <strong>des</strong> Vorgesetzten <strong>und</strong> Chefarztes als <strong>die</strong> eines Förderers, der den<br />

durch sie auserlesenen Nachwuchs mit ihrem breiten Netzwerk an Kontakten<br />

<strong>und</strong> monetären Zuschüssen unterstützt, was auch folgende Worte von Otto K.<br />

offenbaren: „Da hat man schnell gesehen, wer welche Talente<br />

hat. Diese haben wir dann entsprechend auch eingesetzt, <strong>und</strong><br />

sie dann aber auch natürlich dafür entlohnt. Das waren ja<br />

auch wieder Verantwortungen. Damit haben wir unsere Wert-<br />

466


schätzung ausgedrückt <strong>und</strong> ihnen gezeigt, dass wir sie fördern<br />

<strong>und</strong> eben auch belohnen möchten. Dies hat alles auf<br />

eine gute Art <strong>und</strong> Weise stattgef<strong>und</strong>en.“ Lena C. versteht sich auch<br />

heute noch als Förderin ihres Nachwuchses, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Spreu vom Weizen trennt:<br />

„Und, dass sie denen auch ein bisschen helfen können, dass<br />

sie <strong>die</strong>se weiterempfehlen können <strong>und</strong> schauen, dass sie da<br />

unterkommen <strong>und</strong>, dass sie sagen können, das ist nicht einer<br />

wie das Heer, sondern das ist einer, da müsst ihr wirklich<br />

schauen, der macht es sicherlich überdurchschnittlich.“<br />

Auch sie selber gehörte nicht zum Heer, sondern verdankte gewisse Sprünge,<br />

nebst ihrem hohen Anspruch, den sie an sich <strong>und</strong> ihre Leistungen setzte, auch<br />

Vorgesetzten, <strong>die</strong> sie im Laufe ihrer Karriere förderten, weiterempfahlen <strong>und</strong><br />

als Mentoren berieten: „Dieser Chef hat mir danach sehr geholfen,<br />

der hat zum Beispiel, als ich dann in der Schweiz war <strong>und</strong><br />

in Bern meine Habil ... das war eine Riesendiskussion gewesen,<br />

da es da nicht nur um meine Person ging, sondern das<br />

war auch ein wenig <strong>die</strong> Philosophie, ob man <strong>die</strong> Innere Medizin,<br />

da geht es auch darum, wer es einreicht , das ist<br />

manchmal auch politisch <strong>und</strong> nicht einfach nur fachlich gefärbt.<br />

Und damals ist es eigentlich (…) hätte das viel<br />

schneller über <strong>die</strong> Bühne gehen können, <strong>und</strong> dann hat der aus<br />

Amerika, der hat mich danach gefragt <strong>und</strong> hat gesagt: was<br />

geschieht da? Und dann habe ich gesagt: ja, ich musste da<br />

zuerst noch Sachen machen, weisst du, sie wollen das einfach<br />

nicht so rasch durchgehen lassen, <strong>und</strong> dann hat er dann<br />

<strong>die</strong>ser Fakultät geschrieben <strong>und</strong> gesagt: ja also, outstanding<br />

fellow <strong>und</strong> so weiter <strong>und</strong> so fort. Also, in dem<br />

Sinne (…) <strong>und</strong> der hat mir, der hat mir auch, als ich bei<br />

ihm war, gesagt: gehe <strong>die</strong> Methoden lernen, <strong>und</strong> ich konnte<br />

überall hinfliegen, wo ich wollte. Der hat natürlich schon<br />

gemerkt, wenn man was erreichen wollte, <strong>und</strong> das ist so,<br />

wenn man dort gearbeitet hat, dort ist man vorwärts gekommen,<br />

toll, toll. Und <strong>die</strong>s unabhängig von der Farbe oder dem<br />

Geschlecht, das man hatte, einfach(…) es ist gegangen.“ Mit<br />

Chef nimmt Lena C. Bezug auf ihren Vorgesetzten, der sie während ihres Aufenthaltes<br />

als Research Fellow in den Staaten betreute <strong>und</strong> mit welchem sie bis<br />

heute in Kontakt geblieben ist. Auch Daniel S. schätze seine Vorgesetzten, <strong>die</strong><br />

ihn in jungen Jahren förderten: „Also der Gr<strong>und</strong>lohn war relativ<br />

tief, aber <strong>die</strong> Chefs haben dafür gesorgt, dass man doch<br />

vernünftig leben konnte. Es gab es noch ab <strong>und</strong> zu, dass er<br />

467


gesagt hat, du musst nun ein Buch kaufen, ich kauf es, oder<br />

ich war jetzt dort, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s musst du unbedingt auch sehen,<br />

ich organisiere dir ein Ticket. Diese Art von Mentalität<br />

<strong>und</strong> Zuwendung gab es.“ Seine Vorgesetzten, <strong>die</strong> offensichtlich den traditionellen<br />

Chefarztstrukturen entstammten, befreiten ihre Zöglinge von der zunehmenden<br />

Bürokratisierung <strong>des</strong> Arztberufs: „Jetzt müsst ihr <strong>die</strong>se<br />

Scheissberichte noch schreiben, werft doch <strong>die</strong>se Schreibmaschine<br />

auf den Mist, dafür haben wir Sekretärinnen. Wir<br />

gingen ja nicht in <strong>die</strong> Schule oder zum Stu<strong>die</strong>ren, um Büroarbeit<br />

zu verrichten, nehmt es nicht so tragisch. (…) Und<br />

heute müssen sie ko<strong>die</strong>ren, alles schriftlich verordnen,<br />

alles muss gegenkontrolliert werden.“ Heute seien <strong>die</strong> angehenden<br />

Ärzte viel zu sehr durch <strong>die</strong> Bürokratie vereinnahmt, was Daniel S. sehr bedauert<br />

<strong>und</strong> als Schuldige seine Arztgeneration erachtet, <strong>die</strong> dem nicht entgegenwirkte<br />

<strong>und</strong> demzufolge nicht denselben fördernden Einsatz wie ihre damaligen<br />

Vorgesetzten leistete: „Ich <strong>und</strong> meine Generation haben <strong>die</strong>s zugelassen,<br />

anstatt dass wir davor gestanden <strong>und</strong> gesagt hätten:<br />

Halt, sicher nicht, erste Priorität ist, dass sich jemand<br />

dem Patienten als Mensch annimmt, zweitens hat der Mensch<br />

eine Krankheit, <strong>die</strong> wir akademisch betrachten <strong>und</strong> verstehen<br />

wollen, um dann eine Therapie einleiten zu können. Diese<br />

Mentalität haben wir nicht mehr.“ Auch Martin A. bemängelt das<br />

soziale Umfeld der Ärzteschaft, mit welchem sich <strong>die</strong> angehende Generation<br />

von Ärzten auseinandersetzen muss <strong>und</strong> erkennt <strong>die</strong> teils mangelnde Förderung<br />

<strong>des</strong> Nachwuchses: „Das soziale Umfeld hat sich verschlechtert.<br />

Also, Arbeitsbedingungen, Konkurrenzkampf, Karriereplanung<br />

<strong>und</strong> so, das war früher schon ein zentrales Thema,<br />

<strong>und</strong> heute werden <strong>die</strong> meisten jungen Assistenten <strong>und</strong> Oberärzte<br />

mehr oder weniger alleine gelassen. Sie müssen sich<br />

um ihre Weiterbildung kümmern <strong>und</strong> schauen, dass sie es irgendwie<br />

schaffen können.“ Als Gründe für <strong>die</strong> mangelnde Förderung<br />

<strong>des</strong> Nachwuchses erachtet Martina A. <strong>die</strong> zunehmende Konkurrenz innerhalb<br />

der Ärzteschaft <strong>und</strong> das Ungleichgewicht zwischen dem Aufwand der zeitintensiven<br />

Ausbildung <strong>und</strong> ihrer monetären Entlohnung für den Ausbildner: „Es<br />

hat mehr Kandidaten, es ist schwieriger gute Ausbildner,<br />

gute Ausbildungsstellen zu finden. Die Ausbildung selber<br />

ist wahrscheinlich für den so genannten Lehrer nicht sehr<br />

attraktiv, finanziell nicht attraktiv, sehr zeitaufwändig.<br />

Das sind wahrscheinlich <strong>die</strong> Hauptgründe. Auch <strong>die</strong> Lehrer<br />

<strong>und</strong> Professoren haben sich wahrscheinlich gegenüber denen,<br />

468


<strong>die</strong> ich als Student kannte, verändert. Es waren noch wirkliche<br />

Vaterfiguren, <strong>die</strong> sich zur Aufgabe gesetzt haben,<br />

<strong>die</strong>sen Oberarzt werde ich solange begleiten, bis er irgendwo<br />

eine Chefstelle kriegt, oder bis er das <strong>und</strong> das erreicht<br />

hat. Es hat auch weniger Mitarbeiter gehabt, <strong>und</strong> für <strong>die</strong>se<br />

konnte man schauen, relativ gut schauen. Es hat zeitweise<br />

auch mehr freie Stellen gehabt, auf welche man sich bewerben<br />

konnte oder an welche man sich heranarbeiten oder zuarbeiten<br />

konnte. Das ist heute offenbar viel, viel schwieriger.“<br />

Obwohl Hans S. <strong>die</strong> Förderung durch Vorgesetzte als äusserst wichtig<br />

erachtet, bedauert er <strong>die</strong> seiner Meinung nach mangelnde Laufbahnförderung,<br />

<strong>die</strong> er genoss. Dennoch muss es Vorgesetzte gegeben haben, <strong>die</strong> sich seiner<br />

Fachkompetenz bewusst waren <strong>und</strong> ihn weitervermittelt haben, was folgende<br />

Aussage verdeutlicht: „Ja, das braucht es. Das ist etwas, das<br />

unendlich wertvoll ist, <strong>und</strong> das ist etwas, das ich nicht<br />

hatte. Ich hatte keine Leute, <strong>die</strong> mich innerhalb meiner<br />

Laufbahn gefördert haben, ausser dem einen innerhalb der<br />

Pneumologie, der mich in <strong>die</strong>se Laufbahn hineinbringen wollte.<br />

Innerhalb meiner Spezialität hatte ich aber leider keine<br />

Förderer. Ich bin zwischen Stühle <strong>und</strong> Bänke gefallen,<br />

<strong>und</strong> folglich haben sich dann später auch alle gew<strong>und</strong>ert,<br />

dass ich hier am Kantonsspital Chef wurde. Ich hatte immer<br />

Leute um mich herum, mit denen ich gearbeitet habe, <strong>die</strong><br />

mich gekannt haben <strong>und</strong> <strong>die</strong> offensichtlich <strong>die</strong> Qualität meiner<br />

Arbeit <strong>und</strong> meiner Person kannten. Diese haben mir dann<br />

eben immer interessante Jobs angeboten. Laufbahnförderung<br />

hatte ich nie, was ein Mangel war <strong>und</strong> was ich heute mit<br />

meinen Leuten versuche besser zu machen.“ Existieren solche Förderer<br />

jedoch nicht, kann <strong>die</strong>s auch zu Karrierebrüchen beitragen, wie anhand<br />

<strong>des</strong> Unterkapitels 5.1.2.2 ersichtlich wurde. Die Karrieren der Kaderärzte ähneln<br />

sich nicht nur hinsichtlich der zu erreichenden Etappen, sondern auch<br />

hinsichtlich der Intensität, dem der Einzelne in Bezug auf sein Privatleben,<br />

seine Freizeit <strong>und</strong> seine Bedürfnisse ausgesetzt ist.<br />

Der Preis einer ärztlichen Karriere, der <strong>die</strong> Mehrheit der befragten Kaderärzte<br />

in Kauf nehmen musste, setzt sich massgeblich aus dem enormen Zeitdruck<br />

<strong>und</strong> der hohen Arbeitsintensität zusammen, dem junge bzw. angehende Ärzte<br />

vor allem im Laufe ihrer Ausbildung <strong>und</strong> anschliessend auf Stufe Assistenzarzt<br />

<strong>und</strong> Oberarzt ausgesetzt sind. Mit der im Arbeitszeitgesetz verankerten 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche für Assistenz- <strong>und</strong> Oberärzte erhofften sich <strong>die</strong> Befürworter<br />

469


<strong>die</strong>ses Gesetzes <strong>die</strong> angehende Arztgeneration vor einem solchen Preis zu be-<br />

wahren. Was <strong>die</strong> befragten Kaderärzte von einer solchen Regelung halten, wird<br />

im Kapitel 5.3.2 erläutert. Zumeist sind <strong>die</strong> Ärzte <strong>und</strong> ihre Familien <strong>die</strong> Opfer<br />

<strong>des</strong> arbeits- <strong>und</strong> zeitintensiven Werdegangs, was auch Walter I. bestätigt:<br />

„Wenn sie in einer vernünftigen Phase ausreichend Erfahrung<br />

erwerben wollen, dann müssen sie Abstriche bei ihrer persönlichen<br />

Lebensqualität innerhalb einer gewissen Lebensphase<br />

machen. Ich glaube, dass bis sie mal Oberarzt, bis<br />

sie mal Leitender Arzt sind, dass sie bis dahin <strong>die</strong>sen Kompromiss<br />

einfach machen müssen.“ Walter I. hofft, <strong>die</strong>ser Intensität durch<br />

den Weggang an eine Privatklinik zu entkommen: „Bis ich für eine<br />

Chefarztposition fit war, war ich auch bereit, soviel zu<br />

opfern, das muss man auch. Ab fünfzig müssen sie aber eine<br />

vernünftige Lifebalance finden, ansonsten werden sie für<br />

<strong>die</strong> Mitarbeiter <strong>und</strong> <strong>die</strong> Familie unerträglich, das hätte ich<br />

aber im Paket Kantonsspital nicht gesehen. Ich muss nun<br />

wieder eine Lifebalance haben. Wissen Sie, ich habe wahnsinnig<br />

viele Fre<strong>und</strong>e, wenn ich <strong>die</strong>s aber nüchtern analysiere,<br />

dann sind <strong>die</strong>s alles Ärzte. Ist wahr. Ich habe schon<br />

ein paar andere, aber es sind wenige. Das ist, weil ich<br />

mich immer nur im Spital <strong>und</strong> an Kongressen bewege. (…) Das<br />

möchte ich nun schon wieder ein wenig pflegen, erstens da<br />

es mich interessiert <strong>und</strong> zweitens, da irgendwann mal der<br />

Tag kommt, an welchem ich noch viel mehr an <strong>die</strong>sen Leuten<br />

interessiert bin, da es zuhause ansonsten saulangweilig<br />

wird. Das ist wahr. Das ist so. Deshalb möchte ich das ein<br />

wenig pflegen <strong>und</strong> andere Gesichter sehen als nur Spezialisten<br />

<strong>und</strong> Ärzte, was sicherlich auch ein Aspekt ist. Und ein<br />

weiterer Aspekt ist sicherlich auch, <strong>die</strong> Reihenfolge entspricht<br />

nicht den Prioritäten, <strong>die</strong> Familie. Ich sehe meine<br />

Familie wenig.“ Daniel S. scheint <strong>die</strong>ser Intensität auch heute noch ausgesetzt.<br />

Er ist Arzt mit Leib <strong>und</strong> Seele <strong>und</strong> sich bewusst, dass <strong>die</strong>s vor allem für<br />

seine Frau eine grosse Herausforderung darstellt: „In den letzten Jahren<br />

bin ich sicherlich zwei- bis dreimal wöchentlich aufgestanden<br />

<strong>und</strong> ans Spital arbeiten gegangen. Folglich wurde es zu<br />

einer Notfalldisziplin, was mir an sich gefällt. (…) Vor<br />

allem für meine Frau war das schon belastend. Für mich<br />

auch, aber ob ich nun zwei bis drei St<strong>und</strong>en weniger oder<br />

mehr Schlaf habe, ist mir eigentlich gleich (…). Das ging<br />

mir nicht so wahnsinnig ans Eingemachte. Ich fand es eigentlich<br />

gut <strong>und</strong> interessant, auch in der Nacht den Dienst<br />

470


so sicherzustellen <strong>und</strong> sagen zu können, komme was wolle,<br />

wir machen das einfach. Das ist der Auftrag, den ich tätige,<br />

<strong>und</strong> ich mache das.“ Auch Martin A. berichtet von <strong>die</strong>ser Intensität<br />

zu Beginn seiner Laufbahn: „Früher war <strong>die</strong>s schon extrem mit den<br />

zwölf, vierzehn St<strong>und</strong>en. Es hat dann gerade gereicht, um<br />

nach Hause zu gehen <strong>und</strong> zu schlafen. Dann musste man wieder<br />

gehen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s eine ganze Woche lang <strong>und</strong> so, da war man<br />

schon ein wenig neben den anderen Leuten. Man konnte nie<br />

mit jemandem etwas machen, da man dauernd wieder arbeiten<br />

gehen musste mit den vielen Nachtschichten, mit dem Wechsel<br />

auf Tagschichten <strong>und</strong> so weiter.“ Und er bestätigt, dass <strong>die</strong>se Intensität<br />

ansteigt, umso karrierebewusster der Arzt ist: „Die waren relativ<br />

gross <strong>und</strong> vor allem für <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> Karriere machen<br />

wollten, das muss ich schon sagen. Diese mussten noch mehr<br />

von ihrer Freizeit darangeben. Sei <strong>die</strong>s, ob man nun ins<br />

Ausland ziehen musste oder noch nebenbei gewisse Forschung<br />

tätigen oder so, das durchaus. Das ist sicherlich so.“ Auch<br />

Hans S. erfuhr, wie schwierig <strong>die</strong> Gestaltung <strong>des</strong> Privatlebens für seine Frau<br />

<strong>und</strong> ihn war: „Hinsichtlich <strong>des</strong>sen sind wir in unserer Beziehung<br />

durch viele Krisen gegangen. Ich habe drei Kinder.<br />

Während meiner Zeit im öffentlichen Spital am Stu<strong>die</strong>nort<br />

(…) als ich Assistent war, hatten wir eine Tochter. Ich war<br />

Assistent in der Intensivstation mit Zwölfst<strong>und</strong>en-<br />

Schichten, was bedeutet, dass man sieben Tage à zwölf St<strong>und</strong>en<br />

arbeitete. In der ersten Woche arbeitete man am Tag, in<br />

der zweiten Woche in der Nacht <strong>und</strong> in der dritten Woche<br />

hatte man sieben Tage frei, das bedeutete, dass ich während<br />

<strong>die</strong>ser Zeit völlig ausserhalb jeglicher sozialen Normalität<br />

war. Ich habe <strong>die</strong>s dann neun Monate lang gemacht. In <strong>die</strong>ser<br />

Zeit ist man für <strong>die</strong> eigene Beziehungsperson, wenn man in<br />

einer Beziehung lebt, für <strong>die</strong> Kinder, aber auch für <strong>die</strong><br />

weitere soziale Umgebung einfach nicht vorhanden, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

war schwierig.“ Nicht jede Familie konnte <strong>die</strong>sem Druck standhalten. Dies<br />

liess einige Probanden zur Erkenntnis gelangen, weshalb Beziehungen innerhalb<br />

der Ärzteschaft oder zwischen der Pflege <strong>und</strong> der Ärzteschaft keine Seltenheit<br />

darstellen. Die Analogien hinsichtlich der Tagesabläufe, der Nacht- <strong>und</strong><br />

Wochenendeinsätze würden in einem höheren Verständnis für den Alltag <strong>des</strong><br />

anderen resultieren.<br />

471


5.2 Soziale Strukturen der Arbeitswelt<br />

Bezogen auf <strong>die</strong> sozialen Strukturen im Innenleben <strong>des</strong> Krankenhauses lassen<br />

sich drei wesentliche <strong>und</strong> den Arbeitsalltag bestimmende Beziehungsebenen<br />

eruieren: hierarchische Struktur, soziale Rollen <strong>und</strong> Arzt-Patienten-Verhältnis.<br />

Die hierarchischen Strukturen in öffentlichen Kantonsspitälern werden von den<br />

Stayern, Rückkehrern <strong>und</strong> Leavern durchwegs als zu steil empf<strong>und</strong>en, was<br />

insbesondere <strong>die</strong> Entscheidungsfindung behindert <strong>und</strong> bedeutende Investitionen<br />

verzögert, zu Karrierebrüchen beiträgt <strong>und</strong> den Ruf nach einer gr<strong>und</strong>legenden<br />

Neudefinition der Arztrolle im öffentlichen Krankenhaus verstärkt.<br />

Gerade für all jene Leitende Ärzte, <strong>die</strong> den Sprung in <strong>die</strong> Liga der <strong>Chefärzte</strong> aus<br />

diversen Gründen nicht schaffen, <strong>die</strong>se Weihe nicht erfahren <strong>und</strong> schliesslich<br />

erkennen müssen, dass sie im öffentlichen Krankenhaus keine weitere Hierarchiestufe<br />

erklimmen können, stellt <strong>die</strong> Tätigkeit in einem Privatspital eine attraktive<br />

Alternative dar. Im vorhergehenden Unterkapitel wurde anhand der<br />

Ausführungen <strong>des</strong> Leavers Adrian L. verdeutlicht, welche Auswirkungen interne<br />

Umstrukturierungen auf den weiteren Verlauf einer ärztlichen Laufbahn<br />

haben können <strong>und</strong> wie rasch der Bruch mit der Institution <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Spitals erfolgen kann. Diese Entscheidungsfähigkeit steht im engen Zusammenhang<br />

mit der zunehmenden Konkurrenz um kompetente <strong>und</strong> hochqualifizierte<br />

Fachkräfte zwischen Privatkliniken <strong>und</strong> öffentlichen Krankenhäusern,<br />

wobei nur letztere <strong>die</strong> Ausbildung <strong>die</strong>ser Fachkräfte sicherstellt. Nebst der<br />

Frage, inwieweit eine öffentliche Institution wie das Kantonsspital nach marktwirtschaftlichen<br />

Kriterien geführt werden darf <strong>und</strong> dennoch dem an sie gestellten<br />

ethischen Anspruch gerecht werden kann, beschäftigt Stayer, Rückkehrer<br />

<strong>und</strong> Leaver gleichermassen <strong>und</strong> wirft <strong>die</strong> kontrovers diskutierte Frage auf, ob<br />

ein Krankenhaus <strong>und</strong> insbesondere das öffentliche Krankenhaus ein Unternehmen<br />

wie je<strong>des</strong> andere darstellt bzw. darstellen darf? Damit einher geht <strong>die</strong><br />

Frage nach der Legitimität der Besetzung der Spitalleitung durch Ökonomen<br />

<strong>und</strong> ihre berechtigte bzw. unberechtigte Einflussnahme auf den Arbeitsalltag<br />

der Ärzteschaft. Deutlich wird ein Unverständnis gegenüber der zunehmenden<br />

ökonomisch induzierten Durchdringung <strong>des</strong> ärztlichen Berufsalltags anhand<br />

ökonomischer Modelle, Prozesse <strong>und</strong> Strategien <strong>und</strong> <strong>die</strong> teils bereits bewusst<br />

institutionalisierte Angleichung <strong>des</strong> Humanmediziners an den homo oeconomicus.<br />

Gleichzeitig konnte eine teils vollzogene bzw. kontinuierliche Inkorporierung<br />

eines ökonomisch konnotierten Jargons <strong>und</strong> einer der Wirtschaftslogik<br />

472


entstammenden Ausrichtung <strong>des</strong> eigenen Handelns an Rentabilität, Kosteneffi-<br />

zienz <strong>und</strong> Gewinnorientierung festgestellt werden. Hierzu Boltanski <strong>und</strong> Chia-<br />

pello (2006, S. 49): „Nachdem der Utilitarismus in <strong>die</strong> Wirtschaftslehre Eingang<br />

gef<strong>und</strong>en hatte, konnte als selbstverständlich erachtet werden, dass alles, was<br />

für den Einzelnen von Vorteil ist, auch der Gesellschaft nutzt. Analog dazu hat<br />

alles, was Profit abwirft (<strong>und</strong> damit dem Kapitalismus <strong>die</strong>nt), eben auch einen<br />

gesellschaftlichen Nutzen“ (Heilbroner, 1985 zit. in Boltanski & Chiapello, 2006,<br />

S. 49). Die Profitgenerierung wurde im Sinne der Verleugnung der ökonomischen<br />

Dimension der ärztlichen Handlung tabuisiert. Durch <strong>die</strong> in Privatspitälern<br />

vorgenommene offensichtliche Selektion der behandelten Patientengruppe,<br />

<strong>die</strong> nicht in erster Linie auf dem berufsethischen Anspruch der Wiederherstellung<br />

<strong>des</strong> Gemeinwohls oder dem fachlichen Interesse an der Krankheitsursache,<br />

sondern auf der deutlichen Priorisierung zusatzversicherter Patienten<br />

beruht, <strong>und</strong> dem Ziel einer möglichst hohen Einnahmegenerierung für das<br />

Spital <strong>und</strong> den behandelnden Arzt, ist <strong>die</strong> Verleugnung seitens der Ärzteschaft<br />

nicht mehr aufrechtzuerhalten, <strong>und</strong> <strong>die</strong> nackte Wahrheit kommt zum Vorschein.<br />

Der „totalen sozialen Rolle“, der sich der Chefarzt bislang verpflichtet<br />

fühlte, widerfährt gemäss ihrer Träger eine langsame, aber konstante Auflösung,<br />

<strong>die</strong> als Prozess der Deprofessionalisierung bezeichnet wird <strong>und</strong> mit einer<br />

verstärkten Spezialisierung bzw. Professionalisierung <strong>und</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> der<br />

ärztlichen Denk- <strong>und</strong> Handlungsnormen einhergeht. Die Demontage <strong>des</strong><br />

„Halbgottes in Weiss“, <strong>die</strong> einerseits auf <strong>die</strong> zunehmende Skepsis gegenüber<br />

dem Arzt aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> teils mangelnden Vertrauens in seine Fachkompetenz<br />

zurückzuführen ist <strong>und</strong> andererseits auf der <strong>Ökonomisierung</strong> der strukturellen<br />

Rahmenbedingungen <strong>und</strong> <strong>des</strong> berufsethischen Verständnisses <strong>des</strong> Arztes beruht,<br />

hat eine Transformation der Arzt-Patienten-Beziehung eingeläutet, <strong>die</strong><br />

von den befragten Kaderärzten als unkritisch, aber als Herausforderung erachtet<br />

wird. Insbesondere, aber nicht ausschliesslich, wird seitens der Leaver eine<br />

Degra<strong>die</strong>rung <strong>die</strong>ser essentiellen <strong>und</strong> unvergleichlichen Vertrauensbeziehung<br />

zur K<strong>und</strong>enbeziehung vorgenommen. Diese ökonomisch induzierte Degra<strong>die</strong>rung<br />

der essentiellen Vertrauensbeziehung wird jedoch als kritisch erachtet, da<br />

der Qualität der ärztlichen Betreuung <strong>und</strong> Therapie dadurch ein massgeblicher<br />

Schaden widerfährt. Diese Entwertung steht im engen Zusammenhang mit der<br />

flachen <strong>und</strong> auf Selbstständigkeit beruhenden Hierarchie der Privatspitäler, wo<br />

Konkurrenz innerhalb der Ärzteschaft genauso zum beruflichen Alltag gehört<br />

wie <strong>die</strong> K<strong>und</strong>enakquise, <strong>die</strong> <strong>die</strong> leistungsorientierte Entlohnung <strong>und</strong> Einkom-<br />

473


mensgenerierung massgeblich beeinflusst. In den nachfolgenden Kapiteln wer-<br />

den einerseits <strong>die</strong> hierarchischen Unterschiede zwischen den öffentlichen <strong>und</strong><br />

privaten Versorgungsinstitutionen erläutert <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehenden<br />

Implikationen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis. Das Kapitel zur Rollenverteilung<br />

wird einen ersten Einblick in <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> implizierte<br />

Angleichung <strong>des</strong> humanmedizinischen <strong>und</strong> asketischen Habitus <strong>des</strong> Arztes an<br />

den <strong>des</strong> homo oeconomicus gewähren. Im Rahmen <strong>des</strong> Kapitels zu den Spannungsverhältnissen<br />

in der ärztlichen Arbeitswelt werden weitere Implikationen<br />

<strong>des</strong> ökonomischen Transformationsprozesses auf den ärztlichen Habitus folgen.<br />

5.2.1 Hierarchien – Angleichungen <strong>und</strong> Differenzen<br />

Bezogen auf den hierarchischen Aufbau der öffentlichen Krankenhäuser <strong>und</strong><br />

Privatkliniken kommt eine kollektive Identitätskrise zum Vorschein, <strong>die</strong> Stayer,<br />

Rückkehrer <strong>und</strong> Leaver gleichermassen beschäftigt. Auf <strong>die</strong> Angleichungstendenzen<br />

zwischen öffentlichen <strong>und</strong> privaten Krankenhäusern, <strong>die</strong> damit einhergehende<br />

<strong>und</strong> seitens der Leaver geforderte Rückbesinnung <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Krankenhauses auf ihren ethisch-moralischen Anspruch <strong>und</strong> <strong>die</strong> Legimitierung<br />

der profitorientierten Ausrichtung <strong>des</strong> Privatspitals wird im Laufe <strong>des</strong> Kapitels<br />

ausführlich eingegangen. Den steilen hierarchischen Strukturen <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Krankenhauses werden einerseits lange Entscheidungswege <strong>und</strong> andererseits<br />

<strong>die</strong> bis dato anhaltende Einflussnahme politischer Regierungsträger vorgeworfen.<br />

Der CEO eines Kantonsspitals, Tobias F., erachtet <strong>die</strong> politische Einflussnahme<br />

als wenig kritisch, <strong>die</strong> langwierigen Prozesse, <strong>die</strong> der Umsetzung<br />

infrastruktureller Vorhaben vorgehen, empfindet er jedoch als schwierig: „Es<br />

ist nicht mal so schlimm, wir haben ja einen Verwaltungsrat,<br />

wir sind also sehr frei, <strong>die</strong> gesamte Stellenbewirtschaftung<br />

<strong>und</strong> so weiter, wir müssen das Budget <strong>und</strong> den Investitionsrahmen<br />

genehmigen lassen, <strong>und</strong> der Leistungsauftrag<br />

benötigt noch <strong>die</strong> Zustimmung <strong>des</strong> Kantonsrates, also<br />

<strong>die</strong> Kenntnisnahme, da bin ich mir nicht mal sicher, was es<br />

dazu benötigt. Aber das ist nicht schlimm. Aber was natürlich<br />

schlimm ist, ist das Bauen. Bauinvestitionen beim Kanton,<br />

über fünf Millionen müssen sie durch ein parlamentarisches<br />

Verfahren hindurch, über fünfzehn Millionen müssen<br />

sie durch eine Volksabstimmung. Das heisst, dass jede Rennovation<br />

eine Volksabstimmung darstellt, das heisst also<br />

Wettbewerb, parlamentarisches Verfahren mit zwei Lesungen,<br />

Ausarbeiten der Botschaft, parlamentarisches Verfahren,<br />

474


Ausarbeiten <strong>des</strong> Abstimmungstextes, Abstimmung <strong>und</strong> erst dann<br />

darf man offiziell mit dem Planen beginnen. Dadurch gehen<br />

einfach drei bis vier Jahre verloren. (…) Die Herausforderung<br />

für das öffentliche Spital ist das Fertigwerden mit<br />

den langsamen Entscheidungswegen. Da <strong>die</strong> medizinischen Herausforderungen<br />

für alle gr<strong>und</strong>sätzlich gleich sind. Wir haben<br />

langsamere Entscheidungswege, vor allem was das Bauen,<br />

<strong>die</strong> Infrastruktur anbelangt. Nicht mal so sehr, was <strong>die</strong><br />

Management- oder Stellenentscheide anbelangt, sondern wirklich<br />

Bauen <strong>und</strong> Infrastruktur <strong>und</strong> Investitionen teilweise,<br />

was auch wichtig ist.“ Diese Problematik scheint Victor H. im Privatspital<br />

nicht zu kennen, jedoch räumt er ein, dass Vorhaben nur dann zur Umsetzung<br />

gelangen, wenn der wirtschaftliche Nutzen erwiesen ist: „Dann ist<br />

<strong>die</strong>s hier schon wesentlich einfacher, vor allem wenn man<br />

gute Argumente hat. Vor allem hinsichtlich <strong>des</strong> wirtschaftlichen<br />

Bereiches ist es einfacher mit der Klinik zu verhandeln.<br />

Falls wir nun kommen <strong>und</strong> sagen, wir möchten expan<strong>die</strong>ren<br />

<strong>und</strong> brauchen noch <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes, bitte schaut, dass<br />

wir einen Raum oder ein Labor oder <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes kriegen,<br />

dann ist es tatsächlich einfacher. (…) Es muss natürlich<br />

schon eine Vorstellung wirtschaftlicher Art da sein, damit<br />

auch klar ersichtlich wird, dass das Vorhaben nicht defizitär<br />

ist. Wenn man <strong>die</strong>s aber klar vorbringt, dann ist <strong>die</strong><br />

Klinik für solche Sachen relativ offen, da <strong>die</strong> Klinik ja<br />

auch einen expansiven Expansionskurs fährt. Unter Privatkliniken<br />

herrscht ein reger Verdrängungskampf. Die Privatklinikgruppe<br />

hat sich da schon einiges einverleibt. Sie<br />

sind dafür bekannt, dass sie einen relativ aggressiven Expansionskurs<br />

fahren. Von daher wenn man etwas will, das<br />

auch Sinn macht, <strong>und</strong> sie das Gefühl haben, dass <strong>die</strong>s etwas<br />

Gutes ist, dann hat man relativ offene Türen, <strong>die</strong> man einrennt.<br />

In einem öffentlichen Spital ist <strong>die</strong>s um einiges<br />

schwieriger, da der Bewilligungsweg schlussendlich noch<br />

politisch abgesegnet werden muss, was wir auch miterlebt<br />

haben.“ Im Sinne der anhaltenden Konkurrenzierung um zusatzversicherte<br />

Patienten gegenüber öffentlichen <strong>und</strong> öffentlichen subventionierten Krankenhäusern<br />

müssen Privatkliniken nebst einer ausgezeichneten medizinischen<br />

Versorgung, <strong>die</strong> gestützt auf Mengenausweitungsmassnahmen teilweise angezweifelt<br />

wird, weitere Kernkompetenzen entwickeln, um <strong>die</strong> eigene Attraktivität<br />

zu erhöhen <strong>und</strong> um weiterhin schwarze Zahlen schreiben zu können. Insbesondere<br />

letzterer Faktor trägt dazu bei, dass nur jene infrastrukturellen Mass-<br />

475


nahmen realisiert werden, <strong>die</strong> sich als ertragreich herausstellen. Der medizini-<br />

sche Fortschritt führt zu technologischen <strong>und</strong> damit einhergehenden maschinel-<br />

len Erneuerungen, denen sich ein öffentliches Spital nicht entziehen will. Die<br />

zur Anschaffung benötigten monetären Mittel müssen in Abhängigkeit ihrer<br />

Höhe seitens der Spitalleitung <strong>und</strong>/oder der politischen Instanzen, <strong>die</strong> über<br />

grössere Investitionen <strong>und</strong> Anschaffungen <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses<br />

entscheiden, gesprochen werden. Daniel S. räumt ein, dass solche Entscheide<br />

im Privatspital rascher gefasst würden: „Die Medizin entwickelt sich<br />

medizinisch, das ist gar keine Frage. Man muss versuchen<br />

<strong>die</strong>se Schritte ein wenig mitzumachen, um aktuelle Medizin<br />

tätigen zu können. Das ist in einem Privatspital bestimmt<br />

attraktiver, da es viel schneller umsetzbar ist, wenn es<br />

rentabel ist. Wenn es rentiert, wird es gemacht.“ Petra S.,<br />

Chefärztin <strong>und</strong> Mitglied der Geschäftsleitung eines Kantonsspitals, erachtet<br />

insbesondere den Einfluss der Politik auf den Entscheidungsspielraum ihres<br />

Kantonsspitals als problematisch <strong>und</strong> anerkennt hinsichtlich <strong>des</strong>sen dem Privatspital<br />

einen Vorsprung: „Eben beispielsweise <strong>die</strong>se Sachen sind<br />

in einem Privatspital natürlich viel, viel besser. Diese<br />

Rahmenbedingungen. Wenn wir hier beschliessen, dass wir nun<br />

wieder einen Neubau benötigen oder einen Erweiterungsbau<br />

... (…) Bis dann <strong>die</strong>s wieder durch alle politischen Instanz<br />

ging <strong>und</strong> man das Geld hat <strong>und</strong> so. (…) Man plant <strong>und</strong> bis man<br />

dann mal anfängt, was zu realisieren, ist <strong>die</strong> Planung bereits<br />

nicht mehr aktuell.“ Petra S. erachtet <strong>die</strong> unternehmerischen<br />

Gestaltungsmöglichkeiten der Spitalleitung durch <strong>die</strong> Politik massgeblich eingeschränkt<br />

<strong>und</strong> fordert <strong>des</strong>halb im Sinne der unternehmerischen Freiheit den<br />

Verkauf der Immobilien ans Kantonsspital. Petra S. räumt ein, dass ihnen mit<br />

dem Globalkreditsystem einige Freiheiten bereits zugestanden wurden, dennoch<br />

fordert sie ein Mitspracherecht bei der strategischen Ausrichtung der<br />

Spitalregion ein, in welcher das Kantonsspital verankert ist: „Also das<br />

Budget muss man immer aushandeln, es ist im Sinne <strong>des</strong> sogenannten<br />

Globalkreditsystems. Wir haben ein Volumen am Patienten,<br />

mit welchem wir <strong>die</strong> Kosten definieren können. Zuerst<br />

handeln wir mit der Krankenkasse einen Tarif aus, also ihren<br />

Anteil, das ist ganz kompliziert, oder. Die Kasse bezahlt<br />

dann 46 Prozent <strong>des</strong> Aufwan<strong>des</strong> <strong>und</strong> der Rest muss dann<br />

vom Kanton bezahlt werden. Und je höher der Kassenanteil<br />

ist, umso mehr, muss man dann verhandeln. Aber sobald wir<br />

den Globalkredit mal haben, wir haben einen Umsatz von 600<br />

476


Millionen, wir haben <strong>die</strong> Erträge der Kasse <strong>und</strong> der Kantonsbeiträge,<br />

mit welchen wir dann das Budget der 600 Millionen<br />

machen können. Unsere Selbstständigkeit besteht darin, dass<br />

wir mit <strong>die</strong>sen 600 Millionen eigenverantwortlich kutschieren<br />

können. Also mit Investitionen, mit Personal, wir haben<br />

einfach absolute Freiheit. Wenn wir aber natürlich, <strong>und</strong> der<br />

Verwaltungsrat ist ein strategisches Organ der Spitalverb<strong>und</strong>e,<br />

wenn wir nun aber sagen würden, in unserer Spitalregion,<br />

wir haben drei Spitäler, eines schliessen wir, ein<br />

Spital, <strong>und</strong> integrieren dort ein Pflegeheim oder so, <strong>die</strong>s<br />

könnten wir tun, wenn wir ein eigenständiger Spitalverb<strong>und</strong><br />

wären. Eine Regierungsrätin oder Regierungsrat, <strong>die</strong> oder<br />

der im Verwaltungsrat sitzt, kann <strong>die</strong>s natürlich nicht tun,<br />

das ist politisch nicht umsetzbar. Alles was unternehmerisch<br />

sinnvoll ist, wenn nun aber <strong>die</strong> Politik kommt <strong>und</strong><br />

sagt, dass <strong>die</strong>s politisch nicht umsetzbar ist, obwohl es<br />

unternehmerisch gesehen richtig wäre.“ Petra S. plä<strong>die</strong>rt für den<br />

Erhalt <strong>des</strong> Leistungsauftrags seitens <strong>des</strong> Kantons, aber eine unternehmerische<br />

Unabhängigkeit hinsichtlich <strong>des</strong>sen Erfüllung. Petra S. wie ihr Kollege Otto K.<br />

legen hohen Wert auf <strong>die</strong> Sensibilisierung ihrer Kollegen in Bezug auf eine<br />

effiziente Medizin, <strong>die</strong> beispielsweise im Hinblick auf operative Eingriffe auch<br />

den ökonomischen Umgang mit medizinischen Instrumenten, Verbandsmaterial<br />

etc. beinhaltet, wie folgende Aussage verdeutlicht: „Dann sagt man<br />

dort, Superergebnis, Materialverbrauch so, Laborkosten so<br />

<strong>und</strong> dann wird gesagt, dass <strong>die</strong> Leistungserfassung besser<br />

sein muss, mehr sparen <strong>und</strong> so. Und so sensibilisiert man<br />

<strong>die</strong> Leute. Da <strong>die</strong> Leute auch wissen, dass wenn zu viel ausgegeben<br />

wird, eventuell auch Stellen gekürzt werden müssen,<br />

da man kein Geld mehr hat. Jeder ist so sensibilisiert.<br />

Oder auch beim Materialverbrauch bis zum Kleinsten hinunter<br />

wissen sie, dass sie sorgfältig damit umgehen müssen.“ Die<br />

Sensibilisierung scheint mit einer gewissen unternehmerischen Strenge einher<br />

zu gehen. Die von Petra S. eingeforderte Unabhängigkeit <strong>des</strong> Kantonsspitals<br />

von der Politik begründet sie in der allzu starken Orientierung der politischen<br />

Entscheide an den Wünschen möglicher Wählerschaften, auch Yann S. erachtet<br />

<strong>die</strong>se Verbindung als problematisch: „Es ist der Einfluss der Politik.<br />

Ich kann nicht akzeptieren, dass mir als Chefarzt irgendwelche<br />

Adlaten <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitsdepartements immer wieder<br />

vorschreiben, was man nun machen sollte <strong>und</strong> was nicht <strong>und</strong>,<br />

dass man denen immer Rechenschaft ablegen muss. (…) Natür-<br />

477


lich ist es schon ein Problem, dass <strong>die</strong> öffentlichen Spitäler<br />

voll <strong>und</strong> ganz der öffentlichen Politik exponiert sind,<br />

sie können eben schon nicht alleine entscheiden. Jeder Kanton,<br />

jede Region hat ihre Interessen <strong>und</strong> sie wollen ihre<br />

Regionalspitäler <strong>und</strong> ihre Gemein<strong>des</strong>pitäler eben auch betreiben.<br />

Folglich kann sich das Zentrumsspital nicht entsprechend<br />

entwickeln, sondern muss warten oder auf etwas<br />

verzichten, da man am anderen Ort eben auch noch etwas machen<br />

muss. Das ist mühsam, <strong>und</strong> wenn dann <strong>die</strong> Argumente nur<br />

noch rein politisch sind, dann kommt dann irgendwann der<br />

Punkt, an welchem man sagt: also nein, das mach ich nicht<br />

mehr mit.“ Yann S. verdeutlicht im Rahmen der Frage, weshalb er sich für<br />

einen Weggang aus dem öffentlichen Krankenhaus entschieden hat, wie sehr<br />

<strong>die</strong> politische Einflussnahme seinen Entscheidungsspielraum beeinflusst hat<br />

<strong>und</strong> wie wenig Verständnis er für <strong>die</strong> Beeinflussung von Nicht-Medizinern<br />

aufbringen wollte. Bei Petra S. scheint <strong>die</strong> Fachfremdheit schwächer zu ihrem<br />

Unmut beizutragen als der geringe Widerspruch ihrer Kollegen gegenüber den<br />

politischen Instanzen <strong>und</strong> <strong>die</strong> mangelhafte Ausrichtung der operativen <strong>und</strong><br />

strategischen Führung an ökonomischen Werten schürt ihr Unverständnis für<br />

<strong>die</strong> Einflussnahme seitens der Politik: „Die Politik ist immer durch<br />

das Wählerpotential getrieben <strong>und</strong> das ist einfach lästig,<br />

da es dann so im Verwaltungsrat drin ist. Immer. Es gibt<br />

vielleicht ganz gr<strong>und</strong>legende Entscheide, <strong>die</strong> man sicher <strong>und</strong><br />

sowieso mit der Regierung abmachen muss. Sie können sich ja<br />

auch vorstellen, dass wenn ein Verwaltungsrat mit unzähligen<br />

Personen da ist, wenn da noch ein Regierungsrat drin<br />

sitzt <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser dann etwas sagt, dann getraut sich einfach<br />

niemand mehr etwas zu sagen. Aber wenn da ein Laie drin<br />

sitzt, vorher hatten wir einen Unternehmer, einer aus einer<br />

Bank, super, der <strong>die</strong>s hier bei uns geführt hat. (…) Der<br />

Verwaltungsrat hier, wir dort <strong>und</strong> dann hat man wirklich<br />

nach unternehmerischen Kriterien gesagt, ob <strong>die</strong>s gut ist<br />

oder nicht gut ist. Und dann hat man mit ihnen gemeinsam<br />

entschieden. Dann haben alle anderen sich auch getraut, was<br />

zu sagen, dann gab es auch Opposition gegen einen VRP. Wenn<br />

ein Regierungsrat in einem VR sitzt, dann braucht es sehr,<br />

sehr mutige Leute um ein Gegenvotum, ein Gegenargument zu<br />

bringen.“ Klaus K. kennt <strong>die</strong>se Verflechtung, <strong>die</strong> ihm beim Ausbau der infrastrukturellen<br />

Rahmenbedingungen seines Fachbereichs innerhalb <strong>des</strong> Kantonsspitals<br />

in mancher Hinsicht zum Verhängnis wurde: „Es war eben<br />

478


folgendermassen; als meine Stelle ausgeschrieben wurde, hat<br />

<strong>die</strong> Privatklinik in <strong>die</strong>sem Bereich vorwärts gemacht <strong>und</strong><br />

eine AG gegründet. Als ich <strong>die</strong> Stelle hier antrat, haben<br />

sie den erwünschten Bereich eröffnet. Die Konkurrenz war<br />

vollkommen gegenwärtig. Bis ich <strong>die</strong>sen Bereich hier eröffnen<br />

konnte, verging genau ein Jahr. Und <strong>die</strong>s nicht wegen<br />

dem Bau oder der Infrastruktur, sondern wegen der Tatsache,<br />

dass sie politisch Druck ausgeübt haben <strong>und</strong> gesagt haben,<br />

dass kein weiterer solcher Bereich nötig ist. Gewisse Belegärzte<br />

der Privatklinik waren im Regierungsrat vertreten<br />

<strong>und</strong> folglich wurde politisch Druck ausgeübt. Von uns hier<br />

sass niemand im Rat, wir sind ja alle lediglich hier angestellt.<br />

(…) Damals war der Regierungsrat der oberste Chef<br />

<strong>des</strong> Spitals. Aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> politischen Drucks konnte er eben<br />

auch nicht darüber entscheiden. Ich hatte <strong>die</strong> Problematik,<br />

dass im angehängten, kleineren, öffentlichen Spital bereits<br />

ein solcher Bereich existierte. Folglich bestand <strong>die</strong> Angst,<br />

dass wenn ich hier unten was mache, <strong>die</strong> Patienten nicht<br />

mehr dorthin gingen. Andererseits hatten wir nun eine Konkurrenzsituation,<br />

<strong>die</strong> dazu führte, dass <strong>die</strong> Patienten zur<br />

Konkurrenz abwandern <strong>und</strong> nicht in das gemeinsame Unternehmen<br />

oder in eines der kantonalen Spitäler. Ich habe dann<br />

aber mit dem Chefarzt <strong>die</strong>ses kleineren, öffentlichen Spitals<br />

gesprochen <strong>und</strong> eine Lösung gef<strong>und</strong>en, so dass wir <strong>die</strong>s<br />

gemeinsam <strong>und</strong> unter einem Dach machen.“ Klaus K. bestätigt, dass er<br />

sein Vorhaben dennoch vollenden konnte, der zeitliche Rahmen jedoch merklich<br />

ausgeweitet werden musste <strong>und</strong> auch <strong>die</strong> finanziellen Folgen der Expansion<br />

seines Fachbereichs wesentlich bedeutender waren, da <strong>die</strong> Kollegen anderer<br />

Fachbereiche eine Erweiterung ihres Spielraums einforderten.<br />

Klaus K. musste im Laufe <strong>des</strong> Ausbaus seines Fachbereichs unternehmerische<br />

Kenntnisse erlangen <strong>und</strong> fühlte sich zusehends als Unternehmer. Diese Erfahrung<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Tatsache, dass seine medizinischen Indikationen <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit<br />

einhergehenden Entscheidungen einer verstärkte Überprüfung anhand ökonomischer<br />

Kennzahlen Stand halten musste, bewegte Klaus K. zu folgender Aussage:<br />

„Wir befürchten nun, dass wir Angestellte in einer<br />

Maschinerie sind, <strong>und</strong> es eigentlich nur noch darum geht, ob<br />

am Schluss <strong>die</strong> Rechnung stimmt oder nicht.“ Klaus K. verdeutlicht,<br />

dass der Arzt zum Dienstleister verkommt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Spitalleitung mithilfe<br />

ökonomischer Instrumente aus dem Wirtschaftsalltag für <strong>die</strong> nötige Ertragsge-<br />

479


nerierung sorgt. Eine Auffassung, <strong>die</strong> er mit weiteren Arztkollegen teilt, was in<br />

den nächsten Abschnitten ersichtlich wird.<br />

Klaus K. veranschaulicht seine Aussage, indem er einen Vergleich zwischen der<br />

in öffentlichen Spitälern bis vor wenigen Jahren noch institutionalisierten<br />

„Dreibein-Struktur“ anstellt, wo in der Geschäftsleitung Ökonomen, Ärzteschaft<br />

<strong>und</strong> Pflege gewissermassen egalitär vertreten waren <strong>und</strong> als Ablösung<br />

der traditionellen Chefarztstrukturen galt, <strong>und</strong> der neuen CEO-Struktur vornimmt.<br />

Das „Dreibein“ wurde kontinuierlich durch <strong>die</strong> neue CEO-Struktur<br />

ersetzt, wo zumeist ein Betriebswirt <strong>die</strong> Spitalleitung inne hat: „Das frühere<br />

Dreibein … bzw. innerhalb <strong>des</strong> medizinischen Bereichs hatten<br />

<strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong> früher einen wesentlichen Einfluss, <strong>die</strong> Leitenden<br />

Ärzte konnten mehr oder weniger Einfluss nehmen,<br />

aber eben ein wenig unterhalb einfach. Die Verwaltung an<br />

sich hat einen kleineren Teil ausgemacht, welcher wichtig<br />

war, aber auch nur einen Drittel ausgemacht hat. Jetzt hat<br />

das Unternehmen ein Management mit einer Verwaltung, <strong>die</strong> im<br />

Vordergr<strong>und</strong> steht. Hinzu kommt aber, dass hier noch Medizin<br />

getätigt wird. Es gibt einfach noch Ärzte, <strong>die</strong> Medizin tätigen.<br />

Ganz oben wird nur noch über Ökonomie gesprochen.<br />

Dies hatte einen massiven Wandel der Kultur zur Folge, einen<br />

ganz massiven Wandel. Und eine massive Angleichung an<br />

das Privatspital mit allen Konsequenzen. Worauf wir nun<br />

wieder auf das Thema zu sprechen kommen. Einen solchen Wandel<br />

wollten wir nicht.“ Insbesondere <strong>die</strong> Angleichung der Führungsstruktur<br />

eines öffentlichen Spitals an <strong>die</strong> eines Privatspitals goutiert <strong>die</strong> Mehrheit<br />

der Stayer nicht, da, wie in den Porträts bereits erläutert wurde, <strong>die</strong> zugeschriebenen<br />

Insider- <strong>und</strong> Outsider-Rollen auf einer klaren Zugehörigkeit zum<br />

oder einem Ausschluss vom öffentlichen bzw. privaten Spital beruhen. Damit<br />

geht das Festhalten an der traditionellen Chefarzt- bzw. nachfolgenden Dreibeinstruktur<br />

all jener einher, <strong>die</strong> sich dem asketischen Berufsverständnis <strong>des</strong><br />

Arztes <strong>und</strong> der „totalen sozialen Rolle“ verpflichtet fühlen, <strong>und</strong> eine deutliche<br />

Abgrenzung von den abgewanderten Kollegen, <strong>die</strong> dem Ruf der Marktwirtschaft<br />

folgten. Nicht nur Stayer äussern ein unverkennbares Unverständnis<br />

hinsichtlich der Angleichungstendenzen, auch der Leaver Adrian L. verdeutlicht<br />

in seiner Aussage, dass ein solches Vorgehen insbesondere den Institutionen<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Dienstes nicht obliegt: „Wenn ich <strong>die</strong> Ökonomie auf<br />

der Ebene <strong>des</strong> Spitals betrachte, dann geht es genau nach<br />

wirtschaftlichen Gesichtspunkten, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s geschieht in<br />

480


einem Kantonsspital wie auch hier. Die Unterschiede sind<br />

sehr klein. Man versucht sich dort etwas abzujagen, <strong>und</strong><br />

dort versucht man noch was herauszuholen, man versucht Privatpatienten<br />

heranzuholen. Man macht in der neuen Abteilung<br />

<strong>des</strong> Kantonsspitals irgendwelche Events, bei denen es am<br />

Schluss heisst, Wellness-Shop <strong>und</strong> ich weiss nicht was. Also<br />

ganz komische Sachen geschehen da plötzlich, wobei man<br />

merkt, dass es letztlich nur um Marktanteile geht <strong>und</strong> um<br />

nichts anderes. Wie verkaufe ich mein Kind am besten. Da<br />

haben <strong>die</strong> öffentlichen von den privaten Spitälern etwas<br />

abgeschaut <strong>und</strong> versuchen es teilweise sogar besser zu machen.<br />

Die Frage ist dann einfach, wo <strong>die</strong> Geschmacksgrenze<br />

liegt. Das sind dann <strong>die</strong> anderen Probleme <strong>und</strong> <strong>die</strong> Frage<br />

taucht auf, inwieweit darf man das Ges<strong>und</strong>heitswesen bewerben.<br />

Bis jetzt hat man ja eigentlich immer zurückhaltend<br />

beworben, aber jetzt wird <strong>die</strong>s relativ sec beworben.“ Adrian<br />

L. greift eine essentielle Komponente der Transformationsprozesse auf, <strong>die</strong><br />

<strong>des</strong> Erreichens bzw. Überschreitens der Toleranzgrenze in Bezug auf <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong><br />

von Versorgungsinstitutionen, <strong>und</strong> wirft insbesondere dem öffentlichen<br />

Spital eine gefährliche Angleichungssystematik vor, <strong>die</strong> möglicherweise<br />

bereits <strong>die</strong> Grenze überschritten habe. Die Problematik der Bewerbung von<br />

ärztlichen Leistungen bzw. <strong>des</strong> Werbens um Patienten wird im Zusammenhang<br />

mit der Arzt-Patienten-Beziehungen ausführlicher thematisiert, denn <strong>die</strong> Vermarktlichung<br />

<strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens hat sich bereits dahingehend entwickelt,<br />

dass Leaver unverblümt über das Anwerben von K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> <strong>die</strong> dementsprechende<br />

Ausgestaltung <strong>des</strong> Angebots sprechen. Dass Adrian L. unterschiedliche<br />

Massstäbe zwischen öffentlichen <strong>und</strong> privaten Versorgungseinrichtungen ansetzt,<br />

zeigt folgende Aussage: „Wenn Sie wüssten, wo <strong>die</strong> Privatklinikgruppe<br />

gestartet ist, über eines ihrer heutigen Privatspitäler,<br />

dann über eine Schweizer Grossbank, dann über<br />

eine ausländische Investmentgruppe <strong>und</strong> dann wieder zu einer<br />

anderen ausländischen Gruppe zurück, <strong>die</strong> ihrerseits wieder<br />

ein Teil eines Grosskonzerns ist. Das sind alles Aktionäre,<br />

<strong>die</strong> auch wieder ver<strong>die</strong>nen wollen, das ist ganz sicher ein<br />

Problem. Nicht, dass ich <strong>die</strong>s im Alltag spüren würde, das<br />

spüre ich nicht, aber sie… das ist klar, das ist in der<br />

Wirtschaft überall das Gleiche, ob sie nun bei der Nestlé<br />

arbeiten oder ob sie in irgendeinem anderen Konzern arbeiten.“<br />

Die Gewinnmaximierung <strong>und</strong> Profitgenerierung seitens der Privatklinik,<br />

in welcher er tätig ist, legitimiert Adrian L., indem er verdeutlicht, dass <strong>die</strong><br />

481


Trägerschaft sich in erster Linie dem Shareholder-Value verpflichtet fühlt, was<br />

jedoch für den Laien nicht offensichtlich erkennbar ist. In <strong>die</strong>sem Zusammen-<br />

hang darf von einer exemplarischen Heuchelei <strong>und</strong> der Verkennung eines pro-<br />

fitorientierten Interesses gesprochen werden. Gleichzeitig räumt Adrian L.<br />

jedoch ein, dass <strong>die</strong> Marktorientierung im Widerspruch zum ethischen Selbst-<br />

verständnis <strong>des</strong> Arztberufs steht. Dieser Widerspruch beeinträchtige seinen<br />

gegenwärtigen beruflichen Alltag noch nicht. Er bejaht hingegen <strong>die</strong> ökonomisch<br />

orientierte Ausrichtung <strong>des</strong> Privatspitals, <strong>die</strong> exemplarisch für <strong>die</strong> eines<br />

Unternehmens der Wirtschaft steht, eine unausweichlich fortschreitende Entwicklung<br />

darstellt <strong>und</strong> zwingende Konsequenzen für den ärztlichen Berufsalltag<br />

bereithält. Auch Victor H. erachtet <strong>die</strong> Marktgläubigkeit <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit<br />

einhergehenden marktorientierten strategischen Ausrichtungen seines Arbeitgebers<br />

als heikel: „Ich glaube, dass man <strong>die</strong> Medizin nicht zu<br />

sehr kommerzialisieren <strong>und</strong> ökonomisieren darf, da <strong>die</strong>s <strong>die</strong><br />

Gefahr in sich birgt, dass <strong>die</strong> Qualität der Medizin zu leiden<br />

beginnt. Ich bin demgegenüber etwas skeptisch eingestellt,<br />

obwohl ich gerade in <strong>die</strong>sem Umfeld sehe, dass <strong>die</strong><br />

Ökonomie eine Rolle spielt. (…) Wenn man es aber zu sehr<br />

ökonomisiert, ... ich habe beim CEO oder bei der Geschäftsleitung<br />

bereits gewisse Ansätze gesehen, dass man das Gefühl<br />

hat, dass man <strong>die</strong>ses Spital wie irgendein Elektrounternehmen<br />

oder ein Maschinenunternehmen führen kann. So<br />

kann man aber ein Spital letzten En<strong>des</strong> nicht führen.“ Victor<br />

H. sieht in der <strong>Ökonomisierung</strong> der strukturellen Rahmenbedingungen eine<br />

reelle Gefahr hinsichtlich der Qualität der in Privatspitälern erbrachten medizinischen<br />

Leistungen. Auf <strong>die</strong> Qualität, <strong>die</strong> damit einhergehenden Kontrollmechanismen,<br />

<strong>die</strong> ihrer Aufrechterhaltung <strong>die</strong>nen, <strong>und</strong> das Stellen der Indikationen,<br />

das als ein zentrales Instrument der effizienten <strong>und</strong> zielorientierten Medizin<br />

erachtet wird, wird in Kapitel 5.2.1.2 ausführlicher eingegangen. Die zunehmende<br />

Vermarktlichung <strong>des</strong> Privatspitals erachten hingegen einige Kollegen<br />

von Victor H. <strong>und</strong> Adrian L. als unbedenklich, wie folgende Aussage von<br />

Bernd A. zeigt: „Wir müssen einen Gewinn haben. Denn ein Unternehmen,<br />

das keinen Gewinn hat, kann nicht überleben. (…)<br />

Dafür benötigen wir eine Transparenz der Kosten, wir müssen<br />

Kostenstellen haben, wir müssen wissen, wer <strong>die</strong>se Kosten<br />

generiert, wir müssen wissen, wer, was vergütet. (…) Das<br />

ist ein sehr grosses Unternehmen mit etwa 600 Angestellten<br />

(…) <strong>und</strong> muss nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt<br />

482


werden. Ich glaube, dass <strong>die</strong>s alles erklärt.“ Und Yann S.<br />

betont <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> marktwirtschaftliche Ausrichtung <strong>des</strong> Privatspitals ermöglichte<br />

unternehmerische Selbstständigkeit <strong>und</strong> Autonomie, <strong>die</strong> ihm gestattet<br />

sich von der Verwaltung <strong>und</strong> insbesondere den Ökonomen abzugrenzen: „In<br />

der Mannschaft der Privatspitäler bin ich einfach ein<br />

selbstständiger Kleinunternehmer, ich entscheide selber <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s gefällt mir besser. Das ist der Hauptgr<strong>und</strong>. Die Abhängigkeit<br />

von Leuten, <strong>die</strong> von der Materie viel weniger verstehen,<br />

aber einfach glauben, dass sie nun ihren Einfluss<br />

geltend machen müssen.“ Auch Adrian L. geniesst <strong>die</strong>se Form der Selbstständigkeit<br />

<strong>und</strong> fühlt sich durch <strong>die</strong> kürzeren Entscheidungswege <strong>und</strong> den<br />

direkten Zugang zur Spitalleitung sichtlich wertgeschätzt: „Ja, das bin<br />

ich <strong>und</strong> <strong>die</strong>s aus den Gründen, <strong>die</strong> ich genannt habe, ich<br />

habe Eigenverantwortung, ich habe Gestaltungsmöglichkeiten,<br />

<strong>die</strong> Entscheidungswege sind kurz, <strong>die</strong> Hierarchie ist flach,<br />

das ist keine Frage, mein Ansprechpartner ist der Spitaldirektor<br />

<strong>und</strong> nicht noch irgendjemand dazwischen. Insofern hat<br />

es sich erfüllt.“ Dass <strong>die</strong>se propagierte Selbstständigkeit durch einen<br />

klar definierten Rahmen begrenzt wird, erläutert Walter I. exemplarisch <strong>und</strong><br />

verdeutlicht <strong>die</strong> Marktgläubigkeit, <strong>die</strong> sich jeder Facharzt, der sich für <strong>die</strong> Alternative<br />

Privatspital entschieden hat, verpflichtet fühlen muss: „Sie müssen<br />

sich in dem Sinne mit demjenigen Packet, welches sie hier<br />

haben, zufriedenstellen. Hier habe ich keine Führungsfunktion<br />

mehr. Das Einzige, das ich hier führe, ist meine Sekretärin.<br />

Ansonsten habe ich keine Führungsaufgabe. Ich betreibe<br />

hier quasi einen kleinen Laden auf dem freien Markt<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s zusammen mit einer Spezialistengruppe bestehend<br />

aus vier Spezialisten. Wir unterstützen uns wo nötig <strong>und</strong> wo<br />

gewünscht. Ansonsten bin ich ein Spezialist, der seine Produktpalette<br />

auf dem Markt anbietet. Mein Challenge ist,<br />

meine Produkte den Leuten schmackhaft zu machen, damit sie<br />

mir Patienten zuweisen. Dann behandle ich <strong>die</strong> Patienten<br />

hier im Spital. Das Spital stellt mir den OP <strong>und</strong> <strong>die</strong> Pflege<br />

sowie <strong>die</strong> gesamte übrige Infrastruktur zur Verfügung. Das<br />

ist ein kleines Paket, das ich hier bewältige. Ich bin verantwortlich<br />

für <strong>die</strong> Behandlung meiner Patienten <strong>und</strong> für<br />

Datentransparenz gegen aussen. Ansonsten muss ich nichts<br />

machen. Ich muss nicht mehr an zweitägigen Klausurtagungen<br />

über <strong>die</strong> Jahresziele 2011 sprechen. Das muss ich nicht<br />

mehr. Ich kann mit dem Spitaldirektor zusammensitzen <strong>und</strong><br />

sagen, dass es nötig ist, dass wir uns in <strong>die</strong>se <strong>und</strong> <strong>die</strong>se<br />

483


Richtung entwickeln. Was <strong>die</strong>se dann aber machen, ist nicht<br />

mehr meine Sache. Ich bin natürlich dadurch in einem gewissen<br />

Sinne in den Möglichkeiten gefangen, <strong>die</strong> hier gegeben<br />

sind. Und auch unter Druck durch <strong>die</strong> Konkurrenz. Wenn sie<br />

sich selbstständig machen, dann müssen sie sich gegen solche,<br />

<strong>die</strong> bereits etabliert sind, durchsetzen.“ Nebst der zu<br />

befolgenden Spielregel – was Geldeinnahmen generiert, wird gemacht, alles<br />

andere belassen – hat der Leaver sich auch dem Konkurrenzkampf im Innenleben<br />

<strong>des</strong> Spitals auszusetzen, was im Laufe der nachfolgenden Unterkapitel<br />

ausführlicher thematisiert wird. Walter I. hat <strong>die</strong> Begrenztheit der Selbstständigkeit,<br />

<strong>die</strong> Marktkonformität seiner Handlungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> unausweichliche<br />

interne Rivalität exemplarisch erläutert <strong>und</strong> offenbart, wie stark <strong>die</strong> spitalinternen<br />

Strukturen utilitaristischen <strong>und</strong> ökonomischen Gesetzen gehorchen. Der<br />

Rückkehrer Bernard S., der den Alltag im Privatspital miterlebt hat, nimmt zum<br />

administrierten internen Wettbewerb folgendermassen Stellung: „Es ist<br />

eine schöne Adresse, ein schönes Label, ein schönes Logo,<br />

aber in Tat <strong>und</strong> Wahrheit sind alle Einzelkämpfer <strong>und</strong> versuchen<br />

für sich das Ganze zu optimieren <strong>und</strong> sorgen nicht für<br />

eine effiziente <strong>und</strong> optimale Behandlung der Patienten.“<br />

Und offenbart gleichzeitig eine weitere Prämisse, <strong>die</strong> seine Tätigkeit im Privatspital<br />

kennzeichnete: „Möglichst schnell <strong>und</strong> möglichst viel ...“<br />

Mit anderen Worten ausgedrückt, gerät hier das Gr<strong>und</strong>prinzip <strong>des</strong> Respekts<br />

vor dem öffentlichen Gut bzw. Gemeinwohl in den Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> ökonomischen<br />

Interessen, <strong>die</strong> im öffentlichen Spital in den Hintergr<strong>und</strong> verbannt<br />

werden, geraten im Privatspital in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Eines der zentralen Forschungsinteressen <strong>die</strong>ser Arbeit besteht in der Eruierung<br />

der Gründe für <strong>die</strong> Abwanderung von Kaderärzten aus dem öffentlichen Krankenhaussektor.<br />

Auf <strong>die</strong> Frage hin, weshalb Kaderärzte zu Privatkliniken abwandern,<br />

antwortete Andreas L. folgendermassen: „Das eine ist, dass<br />

<strong>die</strong> nächste Karrierestufe nicht erreicht werden kann. Das<br />

zweite ist, dass das Team oder der Chef einem nicht passen,<br />

das kann überall der Fall sein. Und drittens, wenn Sie in<br />

ein Privatspital gehen, dann werden Sie vermutlich <strong>die</strong> gesamten<br />

Ko<strong>die</strong>rungsgeschichten, <strong>die</strong> geringere Anzahl an Hierarchiestufen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Leute, <strong>die</strong> Ihnen sagen, was Sie zu<br />

tun haben, weniger haben. Sie haben eine Praxis, sind Ihr<br />

eigener Chef, haben ein Fräulein, das Sie halten, also eine<br />

Arztgehilfin oder so <strong>und</strong> sind eigentlich Ihr eigener Herr<br />

484


<strong>und</strong> Meister, was auch ein Gr<strong>und</strong> sein kann.“ Die Antwort von<br />

Hans S. auf <strong>die</strong>selbe Frage lautet folgendermassen: „Es ist <strong>die</strong> Frage,<br />

wie gross <strong>die</strong> Autonomie ist, wie stark man eingeb<strong>und</strong>en<br />

wird, wie stark man beschränkt, begrenzt <strong>und</strong> bevorm<strong>und</strong>et<br />

wird <strong>und</strong> so weiter. Das war bestimmt vielerorts ein Problem.“<br />

Insbesondere <strong>die</strong> steilen Hierarchien, <strong>die</strong> kennzeichnend sind für öffentliche<br />

Krankenhäuser, werden als einschränkend, begrenzend <strong>und</strong> fremdbestimmt<br />

empf<strong>und</strong>en, wie bereits anhand <strong>des</strong> vorhergehenden Kapitels ersichtlich<br />

wurde. Der Einfluss politischer Entscheide auf <strong>die</strong> strategische Ausrichtung<br />

<strong>des</strong> Kantonsspitals wird im Hinblick auf <strong>die</strong> anvisierte unternehmerische Führung<br />

öffentlicher Krankenhäuser als hindernd erachtet <strong>und</strong> stösst seitens der<br />

Ärzteschaft auf wenig Verständnis. Die flache Hierarchie in Privatspitälern <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> damit einhergehende propagierte Autonomie birgt eine begrenzte Selbstständigkeit,<br />

deren Rahmen von der Spitalverwaltung festgelegt wird. Tobias F.<br />

verdeutlicht den Irrtum folgendermassen: „Der nächste Gr<strong>und</strong> ist der<br />

Entscheidungsspielraum, den sie wollen, dass <strong>die</strong>ser grösser<br />

wird. Dieser wird meiner Meinung nach völlig falsch eingeschätzt,<br />

ich glaube nämlich, dass <strong>die</strong>ser kleiner wird, wenn<br />

man ins Privatspital geht.“ Auch der Leaver Victor H. räumt ein,<br />

dass flache Hierarchien Vor- <strong>und</strong> Nachteile aufweisen, wobei er insbesondere<br />

<strong>die</strong> Leitung öffentlicher Krankenhäuser durch Machtkonzentration hervorhebt:<br />

„Die Hierarchie hier ist extrem flach, in dem Sinne, dass<br />

sie gar nicht existiert, was Vor- <strong>und</strong> Nachteile hat. Ein<br />

hierarchisch geführter Betrieb ist viel einfacher zu führen,<br />

da einer bestimmt <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen machen müssen.“ Vergleicht<br />

man <strong>die</strong>se Aussage mit derjenigen von Walter I. hinsichtlich <strong>des</strong> „Pakets“,<br />

das das Privatspital bzw. ihre Verwaltung für <strong>die</strong> Ärzteschaft bereithält<br />

<strong>und</strong> mit welchem sie sich ab Eintritt ins Privatspital abzufinden hat, verliert <strong>die</strong><br />

dem öffentlichen Spital <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Leitung vorgeworfene autokratische Führung,<br />

<strong>die</strong> massgeblich zur Abwanderung beitragen soll, an Wirkkraft. Die<br />

Leaver scheinen das Arrangement – Gewinn der begrenzten Selbstständigkeit<br />

zum Preis der Selbstbestimmtheit – zu akzeptieren <strong>und</strong> fühlen sich innerhalb<br />

ihrer Praxis im Privatspital als selbstständige Unternehmer. Der Selbstbestimmtheit<br />

werden jedoch durch das soziale Umfeld, in welche <strong>die</strong> Praxis integriert<br />

ist, Grenzen gesetzt, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Vermarktlichung offenbart sich in einem<br />

stark wettbewerbs- <strong>und</strong> konkurrenzorientierten Umfeld, wo der Patient zum<br />

K<strong>und</strong>en wird, den es gilt von sich <strong>und</strong> seinem Angebot zu überzeugen. Dieses<br />

485


Buhlen um das Patientengut ist nicht jedermanns Sache, <strong>und</strong> gerade Ärzte,<br />

deren Berufsethos noch im „alten Regime“ wurzelt, sehen sich hiervon in ihrer<br />

Würde tangiert. Mitspracherecht in Bezug auf <strong>die</strong> Ausrichtung der Strategie <strong>des</strong><br />

Privatspitals wird der Ärzteschaft vorbehalten, auch <strong>die</strong> Bewilligung von Inves-<br />

titionen geschieht nahezu ausschliesslich anhand <strong>des</strong> Kriteriums der unterneh-<br />

merischen Berechenbarkeit <strong>und</strong> obliegt der Entscheidungskompetenz der Verwaltung.<br />

Diese beiden letztgenannten Merkmale stehen im krassen Widerspruch<br />

zur Forderung <strong>des</strong> Abbaus der hierarchischen Stufen <strong>und</strong> der damit<br />

erhofften Zunahme <strong>des</strong> Mitspracherechts der Ärzteschaft, was insbesondere<br />

von den Leavern im Hinblick auf <strong>die</strong> hierarchische Struktur <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Krankenhauses eingefordert wird. Obwohl eine Mehrheit der Leaver <strong>die</strong> steile<br />

Hierarchie in Kantonsspitälern anprangert <strong>und</strong> als Abwanderungsgr<strong>und</strong> erachtet,<br />

offenbart <strong>die</strong> Realität ihres heutigen Berufsalltags eine begrenzte Selbstständigkeit<br />

<strong>und</strong> ein zumeist ausschliessliches Mitspracherecht im Rahmen ihrer<br />

eigenen Praxistätigkeit, jedoch nicht darüber hinaus. In den Gesprächen mit<br />

den Stayern hat sich ein gespaltenes Bild zur Eroberung der Spitalleitung durch<br />

Ökonomen offenbart, worauf im nachfolgenden Unterkapitel ausführlicher<br />

eingegangen wird.<br />

5.2.1.1 Die Herrschaft der Ökonomen<br />

Wie hinsichtlich der biographischen Laufbahnen bereits erläutert wurde, ist <strong>die</strong><br />

Laufbahn von Adrian L. durch einen Karrierebruch gekennzeichnet, den er auf<br />

<strong>die</strong> Umstrukturierung zurückführt, <strong>die</strong> im Kantonsspital, in welchem er als<br />

Leitender Arzt vor seinem Übertritt tätig war, vollzogen wurde. Im Kantonsspital,<br />

wo Otto K. einen Chefarztposten innehat, wurde eine ähnliche Umstrukturierung<br />

durchgeführt: „Hier haben wir einen gewissen Überblick,<br />

<strong>und</strong> man hat eben auch sehr wenige zu <strong>Chefärzte</strong>n gemacht.<br />

Man hat hier in am Kantonsspital nicht jeden zum Chefarzt<br />

gemacht, sondern es ist relativ eng geblieben. Dies hat man<br />

auch bewusst so gemacht, damit <strong>die</strong> Hierarchie so zu sagen,<br />

auch noch miteinander reden kann <strong>und</strong> überblickbar ist.“ Wie<br />

bereits im Kapitel zu den beruflichen Laufbahnen erläutert wurde, hat vermutlich<br />

nicht <strong>die</strong> vermeintlich steile Hierarchie am Kantonsspital Adrian L. zum<br />

Weggang bewogen, sondern <strong>die</strong> fehlende Anerkennung <strong>und</strong> <strong>die</strong> nicht vollzogene<br />

Weihe zum Chefarzt. Hans S., Victor H. <strong>und</strong> Yann S. offenbaren als weitere<br />

Komponente, <strong>die</strong> vor allem zur Abwanderung der Leitenden Ärzte <strong>und</strong><br />

Oberärzte beitragen könne, <strong>die</strong> fehlende Macht, <strong>die</strong> hauptsächlich den Geweih-<br />

486


ten vorbehalten ist. Hans S. erläutert: „Bis jetzt war es noch nie so,<br />

sei es an einem Universitätsspital oder einem grossen Kantonsspital,<br />

dass sich Leute der mittleren Hierarchiestufe<br />

durchgesetzt haben. Sondern <strong>die</strong> sind, so glaube ich, immer<br />

gegangen.“ Victor H. kommt zum Schluss, dass nur derjenige, der <strong>die</strong> hierarchischen<br />

Machtspiele beherrscht, zum Geweihten wird. Demzufolge würde das<br />

Erlangen der nächsten Karrierestufe nicht in erster Linie mit der fachlichen<br />

Kompetenz <strong>des</strong> Arztes zusammenhängen: „Ja oder derjenige, der<br />

mehr Geschick in <strong>die</strong>sen Machtspielchen zeigt, beziehungsweise<br />

derjenige, der der bessere Machtpolitiker ist. Man<br />

kann es auch so sagen, dass letzten En<strong>des</strong> nicht der bessere<br />

Arzt gewinnt. (…)“ Und Yann S. zufolge kommt <strong>die</strong> Machtposition demjenigen<br />

zu, der über <strong>die</strong> Geldflüsse entscheidet. In der CEO-Struktur kommt<br />

<strong>die</strong>se Aufgabe der Verwaltung bzw. der Spitalleitung zu, <strong>die</strong> zumeist durch<br />

Ökonomen verkörpert werden: „Mein Ziel war es nie ein öffentlich-rechtlicher<br />

Angestellter zu sein, das sind wir aber am<br />

Schluss geworden. Sie haben dann oben einen Betriebswirt,<br />

der das Management macht, sie haben über den Geldfluss<br />

praktisch keine Kompetenz mehr. Es ist nicht nur in der<br />

Medizin so, sondern auch in der Industrie, dass derjenige<br />

der den Geldfluss steuert, auch <strong>die</strong> Macht hat.“ Das geringe<br />

Mitspracherecht, das Kaderärzten bezüglich der Verwendung der monetären<br />

Ressourcen zugestanden wird, erachtet auch Hans S. als problematisch, weshalb<br />

er für eine gerechte Verteilung von Kompetenzen <strong>und</strong> Zuständigkeiten<br />

plä<strong>die</strong>rt, <strong>die</strong> auch der zunehmenden Abwanderungstendenzen entgegenwirken<br />

soll: „Ich kenne Leute, denen ging es nicht darum einen Chefarzt-Titel<br />

zu haben, das war nicht das Problem. Sie wollten<br />

eine eigene Budgetverantwortung, was mit der Hierarchie nur<br />

bedingt was zu tun hat, <strong>die</strong>s hat mit den Strukturen was zu<br />

tun. Und wenn man sagt, dass <strong>die</strong> Hierarchie nun so zu bestehen<br />

hat, dass es einen Bereichsleiter gibt, der <strong>die</strong> Budgetverantwortung<br />

für alle hat, dann hat man vielleicht bessere<br />

Karten, wenn man gut mit <strong>die</strong>ser Person klarkommt ...<br />

Natürlich ist es letztendlich eine Frage der Hierarchie.<br />

Man könnte es aber in einer steilen Hierarchie so verteilen,<br />

dass <strong>die</strong> Verantwortlichkeiten für <strong>die</strong> einzelnen Leute<br />

mehr oder weniger attraktiv sind. Letztendlich ist es eine<br />

Frage der Verteilung von Kompetenzen <strong>und</strong> Zuständigkeiten.“<br />

Dass Kompetenzverteilung <strong>und</strong> Mitspracherecht in Bezug auf medizinische<br />

487


<strong>und</strong> ökonomische Fragestellungen äusserst kontrovers diskutiert werden <strong>und</strong><br />

genauso vielfältige Lösungsvorschläge hinsichtlich ihrer Umsetzung im berufli-<br />

chen Alltag existieren, soll <strong>die</strong>ses Unterkapitel verdeutlichen.<br />

Die Aussagen der Stayer, Rückkehrer <strong>und</strong> Leaver offenbaren ein Verständnis<br />

für <strong>die</strong> zunehmende Besetzung der Verwaltungsebene bzw. der Spitalleitung<br />

mit Ökonomen, dennoch hegen sie Bedenken hinsichtlich ihrer ökonomischen<br />

Instrumente, Kennzahlen <strong>und</strong> Modelle, <strong>die</strong> sie ihren Entscheidungen zugr<strong>und</strong>e<br />

legen. Auch das fehlende medizinische Fachwissen <strong>und</strong> Verständnis für <strong>die</strong><br />

spitalinternen Prozesse erachtet <strong>die</strong> Ärzteschaft als problematisch. Der Stayer<br />

Martin A. äussert sich dazu folgendermassen: „Die Medizin ist eben<br />

auch ein Geschäft geworden, wie eine pharmazeutische Industrie<br />

irgendwie. Wenn ein Ökonom an der Spitze ist, der<br />

von der Medizin nicht sehr viel verstehen kann, da er eine<br />

andere Ausbildung hat, <strong>und</strong> danach führt er <strong>die</strong>ses Geschäft<br />

oder <strong>die</strong>ses Unternehmen nach seinen Kriterien, das sind zum<br />

Beispiel Zahlen, Renommee oder irgend so etwas. Das hat<br />

sich schon verändert.“ Auch Klaus K. hegt Vorbehalte: „Das ist nun<br />

meine persönliche Meinung, dass ein CEO keine medizinische<br />

Ausbildung hat, das kommt nicht gut. Auch wenn man eine<br />

medizinische Ausbildung hat, ist das gesamte Gefüge sehr<br />

komplex, auch alle Zusammenhänge <strong>und</strong> so. Es ist ein besonderes<br />

Unternehmen hier. Es ist aus h<strong>und</strong>erten von verschiedenen<br />

<strong>und</strong> einzelnen Unternehmen aufgebaut, <strong>die</strong> ineinander<br />

greifen sollten <strong>und</strong> zahlreiche Schnittstellen aufweisen.<br />

Extrem viele Schnittstellen! Aber auch wieder Individualitäten.“<br />

Hans S. erachtet bei<strong>des</strong> als Gefahr, <strong>die</strong> Führung eines Spitals durch<br />

<strong>die</strong> Ärzteschaft, <strong>die</strong> ein geringes Wissen über <strong>die</strong> betriebswirtschaftliche Führung<br />

eines Spitals aufweist, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Leitung <strong>des</strong> Spitals durch Ökonomen, <strong>die</strong><br />

wenig Kenntnis über <strong>die</strong> in einem Spital vorherrschende medizinische Fachkompetenz<br />

vorweisen: „Gr<strong>und</strong>sätzlich finde ich das gar nicht<br />

schlecht, nur sollte man <strong>die</strong>s mit den verschiedenen Fachgebieten<br />

gemeinsam machen. Es ist genauso schlecht, wie <strong>die</strong>s<br />

vorgängig geschah, dass <strong>die</strong>s jemand aus der Medizin macht<br />

<strong>und</strong> von Betriebswirtschaft oder Ges<strong>und</strong>heitspolitik keine<br />

grosse Ahnung hat, als wenn <strong>die</strong>s jemand macht der vom Kerngeschäft<br />

eines Spitals <strong>und</strong> einer Klinik keine Ahnung hat<br />

<strong>und</strong> sich auch nicht darum kümmert. Das ist natürlich ein<br />

grosses Risiko <strong>und</strong> kann aus dem Ruder laufen, falls das<br />

Spital gemäss gewisser Kriterien ein sehr gutes Spital ist,<br />

488


aber <strong>die</strong> Leute, <strong>die</strong> dort arbeiten, unter Umständen sehr<br />

unzufrieden sind. Das ist natürlich ein Risiko, dass aber<br />

ökonomisches Know-how in Spitäler gehört, ist überhaupt<br />

keine Frage. Das Ganze müsste aber in enger Zusammenarbeit<br />

geschehen. Wir haben es nicht. Wir sind nicht dafür ausgebildet,<br />

einzelne haben mehr oder weniger was in <strong>die</strong>sem Bereich<br />

gemacht, ich habe auch gewisse Sachen gemacht, aber<br />

es ist nicht das, was mich primär interessiert.“<br />

Nebst Hans S. erachten auch der Leaver Walter I. <strong>und</strong> der Rückkehrer Karl K.<br />

eine enge Zusammenarbeit zwischen der Ärzteschaft <strong>und</strong> den Ökonomen als<br />

mögliche Lösungsstrategie. Für Karl K. gehört <strong>die</strong> Chefarztstruktur nicht mehr<br />

zu den zeitgemässen Führungsstrukturen. Gleichzeitig weist er auf <strong>die</strong> Unvereinbarkeit<br />

<strong>des</strong> ärztlichen Berufsethos mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot hin <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Beharrung <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> <strong>des</strong> Ökonomen auf <strong>die</strong> Durchsetzung <strong>des</strong> eigenen<br />

beruflichen Selbstverständnisses: „Wir Ärzte können <strong>die</strong> Ökonomie<br />

nicht selber machen. Dazu sind wir zu dumm. Das macht auch<br />

keinen Sinn, es ist auch nicht unser Kerngeschäft. Ist es<br />

nicht. Wir müssen uns gute Partner suchen, gute verständige<br />

Partner, <strong>die</strong> uns in der Ökonomie unterstützen <strong>und</strong> nicht<br />

behindern. Ich sehe schon, dass es wichtig ist, dass man<br />

<strong>die</strong> Grenzen auch aufzählt <strong>und</strong> aufzeigt. Es ist aber auch<br />

genauso wichtig, dass sie erkennen, dass man manche Grenzen<br />

auch überschreiten muss <strong>und</strong> manche Grenzen auch flexibler<br />

handhaben muss, damit man auch zum Ziel kommt. Es sind zwei<br />

Welten, <strong>die</strong> dort aufeinander prallen. Es ist einerseits <strong>die</strong><br />

hohe, ethische Verantwortung, <strong>die</strong> man als Arzt hat <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

mit dem Ziel, alles für seinen Patienten zu tun <strong>und</strong> andererseits<br />

der Ökonom, der nur das wirtschaftlich Machbare<br />

sieht. Das kann man aber schon verändern. (…) Wie ich vorhin<br />

schon gesagt habe, es hängt von den jeweiligen Leuten<br />

ab, es muss eine Dialogbereitschaft auf beiden Seiten vorhanden<br />

sein. Ich kann mir vorstellen, dass <strong>die</strong> ältere Ärztegeneration,<br />

<strong>die</strong> noch mit dem Klischee ,Gott in Weiss‘<br />

aufgewachsen ist, darf alles, kann alles <strong>und</strong> macht alles,<br />

damit sicherlich ein Problem hat. Von <strong>die</strong>sem Bild muss man<br />

sich verabschieden. Das ist schon lange vorbei. Ich zähle<br />

mich eher zur neueren Generation <strong>und</strong> sehe es auch anders.<br />

Meine Erfahrung, <strong>die</strong> ich gemacht habe, hat mich auch geprägt.“<br />

Das Beharren auf den vergangenen Chefarztstrukturen erachtet Karl<br />

K. nicht als plausible Antwort, nur <strong>die</strong> Zusammenarbeit zwischen der Ärzte-<br />

489


schaft <strong>und</strong> den Ökonomen führe zu einer effektiven Verständigung. Der Habi-<br />

tus von Walter I., der gemäss eigenen Aussagen das öffentliche Spital in erster<br />

Linie aus familiären Gründen verliess <strong>und</strong> insbesondere <strong>die</strong> chefärztlichen<br />

Führungstätigkeiten als hohe zeitliche Belastung empfand, offenbart nach nur<br />

wenigen Jahren im Privatspital eine deutliche Nähe zum idealtypischen Habi-<br />

tus <strong>des</strong> homo oeconomicus. Diese Nähe wurde im Rahmen <strong>die</strong>ser Arbeit insbe-<br />

sondere anhand seines Jargons ersichtlich, der von einer starken Inkorporie-<br />

rung <strong>des</strong> Wirtschaftlichkeitsgebots zeugt. In der folgenden Aussage offenbaren<br />

sich Widersprüche, <strong>die</strong> kennzeichnend sind für Walter I.: „Und ich glaube<br />

nach wie vor, dass <strong>die</strong> Ärzte am besten <strong>die</strong> Interessen <strong>des</strong><br />

Spitals <strong>und</strong> der Patienten eigentlich kennen. Auf der anderen<br />

Seite sind eben heute <strong>die</strong> Führungsaufgaben im Spital<br />

gegen innen <strong>und</strong> gegen aussen. Heutzutage ist das Spital<br />

viel mehr der Datentransparenz gegenüber dem Kanton verpflichtet.<br />

Alle <strong>die</strong>se Führungsaufgaben gegen innen <strong>und</strong> gegen<br />

aussen können sie als Arzt alleine gar nicht bewältigen.<br />

Sie haben <strong>die</strong> Ausbildung nicht dafür. Deshalb muss man<br />

dort schon ein wenig ein Auge zudrücken <strong>und</strong> sagen, dass es<br />

an den wichtigen Schlüsselstellen ohne Ökonomen <strong>und</strong> auch<br />

ohne nicht-ärztliche Führungspersonen im Spital einfach<br />

nicht geht. Die Entwicklung geht soweit, dass heute aus<br />

vielen Führungsgremien <strong>die</strong> Ärzte mehr <strong>und</strong> mehr herausgedrängt<br />

werden. Es kommen natürlich auch Leute, <strong>die</strong> sagen,<br />

<strong>die</strong> Führung <strong>die</strong>ses Spitals ist hochinteressant, einzig stören<br />

mich <strong>die</strong> Ärzte dabei. Das kann es dann eben auch nicht<br />

sein. Natürlich muss man es akzeptieren <strong>und</strong> auch froh sein,<br />

dass qualifizierte Führungspersonen einem <strong>die</strong>se Arbeit Ende<br />

Jahr abnehmen. Aber es darf natürlich nicht entfremden.“<br />

Einerseits gesteht er der Ärzteschaft eine bessere Spitalführung zu als den Ökonomen<br />

<strong>und</strong> räumt gleichzeitig ein, dass den Ärzten jedoch das nötige ökonomische<br />

Know-how fehle, das für das Spitalmanagement benötigt wird. Andererseits<br />

betont er, dass <strong>die</strong> Führung eines Krankenhauses ohne Ökonomen heute<br />

nicht mehr vorstellbar sei, was jedoch <strong>die</strong> Gefahr einer Entfremdung mit sich<br />

bringt. Er selber hat sich mit der Vormachtstellung der Ökonomen in seinem<br />

gegenwärtigen beruflichen Alltag im Privatspital abgef<strong>und</strong>en. Walter I. legt<br />

gleichzeitig eine resignierte Haltung an den Tag, <strong>die</strong> unter Umständen auf sein<br />

Bewusstsein zurückzuführen ist, wonach sein damaliger Schritt aus dem öffentlichen<br />

Spital auf Stufe Chefarzt <strong>die</strong> Rückkehr nahezu ausschliesst bzw. eine<br />

Rückkehr mit einer vermeintlichen Degra<strong>die</strong>rung auf Stufe Leitender Arzt<br />

490


einhergehen würde.<br />

Die Aneignung ökonomischen Know-hows wird heute, im Gegensatz zu jener<br />

Zeit, als <strong>die</strong> befragten Kaderärzte ihre Ausbildung genossen, massgeblich<br />

dadurch erleichtert, dass zusehends Weiterbildungsprogramme <strong>und</strong> MBA-<br />

Programme im Bereich Healthcare Management, Healthcare Administration<br />

oder Ges<strong>und</strong>heitsökonomie geschaffen werden, <strong>die</strong> augenscheinlich auf <strong>die</strong><br />

Ärzteschaft als K<strong>und</strong>engruppe abzielen. Auch Otto K., der selber an solchen<br />

Weiterbildungskursen teilgenommen hat, berichtet über das grosse manage-<br />

mentorientierte Ausbildungsangebot: „Es ist nicht so, dass der Arzt<br />

es nicht lernt. Es ist auch nicht nur learning by doing. Es<br />

hat schon formale Kurse gegeben, also da, wo ich stu<strong>die</strong>rt<br />

habe, war <strong>die</strong>s noch recht strukturiert. Man musste immer<br />

wieder so Elemente an Kursen absolvieren für Management,<br />

Personalmanagement, um schwierige Gespräche, Kommunikationssachen,<br />

Mitarbeitergespräche führen zu können, dann auch<br />

Accounting, Controlling. Es hat immer wieder so berufsbegleitende<br />

Ausbildungen gegeben. Es hat natürlich auch Chefarzt-Seminare<br />

gegeben, <strong>die</strong> <strong>die</strong> HSG anbietet. Der Hilb,<br />

glaube ich, der hat es dann auf Führungsfunktionen zugeschnitten.<br />

Ich habe meinen Bedürfnissen entsprechend immer<br />

wieder etwas gemacht. Ich hatte natürlich im Bereich Kommunikation<br />

eine gute Ausbildung gehabt. Dies durch meine psychoanalytische<br />

Ausbildung sowie durch das Katathymes Bilderleben,<br />

dort ist relativ viel gelaufen.“ Auch <strong>die</strong> Financial<br />

Times berichtet unter dem Titel „Mediziner zieht es an Management-Schulen“<br />

über <strong>die</strong> Vermehrung von MBA-Programmen, <strong>die</strong> sich massgeblich an Ärzte<br />

richten. Die befragten Ärzte befürworten <strong>die</strong> Programme, da sie durch <strong>die</strong> Aneignung<br />

von Management-Modellen <strong>und</strong> damit einhergehenden Begrifflichkeiten<br />

vermehrt auf Akzeptanz seitens der Ökonomen stossen würden <strong>und</strong> schlagen,<br />

wie beispielsweise auch Yann S., ein sogenanntes „Dr. Light“-<br />

Medizinstudium vor. Diese Form <strong>des</strong> Dr. Light sei insbesondere für all jene<br />

Ärzte gemacht, <strong>die</strong> im Management eines Krankenhauses ihre Zukunft sehen<br />

<strong>und</strong> nicht in der Patientenversorgung (Alterauge, 2012). Auch Yann S. plä<strong>die</strong>rt<br />

für eine Kombination aus einer Gr<strong>und</strong>ausbildung im Bereich der Medizin <strong>und</strong><br />

einer anschliessenden Spezialisierung beispielsweise im Bereich Ges<strong>und</strong>heitsökonomie,<br />

also gewissermassen <strong>die</strong> Quadratur <strong>des</strong> Kreises: „Die Frage<br />

ist, wieviel <strong>die</strong>se Ökonomen noch vom Ges<strong>und</strong>heitswesen verstehen.<br />

Ich glaube, dass der ideale Fall schon derjenige<br />

491


wäre, dass <strong>die</strong>ser eine medizinische Gr<strong>und</strong>ausbildung hat <strong>und</strong><br />

sich danach spezialisiert. Oder, dass man eben <strong>die</strong>se Lehrgänge<br />

etwas verändert. Ich sage immer, dass der Arzt ohne<br />

betriebswirtschaftliche oder finanzielle Weiterbildung<br />

überfordert ist <strong>und</strong> kein grosses Spital mehr führen kann,<br />

das ist schon so. Wenn sie nun aber einfach einen Finanzmann<br />

nehmen, der im Banken- oder Versicherungswesen war,<br />

oder wenn sie einfach einen Manager aus der Pharmaindustrie<br />

nehmen, dann haben <strong>die</strong>se zu wenig Verständnis dafür, was im<br />

Spital so abläuft, worin der Alltag besteht. Ich finde,<br />

dass man schon bei<strong>des</strong> haben müsste.“ Eine solche Massnahme hätte<br />

eine unvergleichliche Verwässerung <strong>des</strong> berufsethischen Selbstverständnisses<br />

<strong>des</strong> Arztes zur Folge. Der Mediziner würde einer kontinuierlichen Transformation<br />

zum Ges<strong>und</strong>heitsmanager unterzogen, <strong>die</strong> ihn einerseits von seiner eigentlichen<br />

ärztlichen Aufgabe im Sinne <strong>des</strong> Gemeinwohls kontinuierlich distanziert<br />

<strong>und</strong> in einem Rollenverständnis resultiert, das dem eigentlichen ärztlichen<br />

Ethos <strong>und</strong> Habitus fremd ist. Die Vormachtstellung der Ökonomen an den<br />

Verwaltungsspitzen der Krankenhäuser verdeutlicht einerseits <strong>die</strong> voranschreitende<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> im Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> andererseits <strong>die</strong> dadurch<br />

verursachte Identitätskrise, in welcher sich <strong>die</strong> heutigen Kaderärzte befinden,<br />

<strong>die</strong> ihre Ausbildung im Rahmen der Chefarztstrukturen genossen <strong>und</strong> sich nun<br />

seit geraumer Zeit mit der steten Ablösung <strong>die</strong>ser traditionellen Strukturen<br />

durch CEO-Strukturen konfrontiert sehen. In der Angleichung ihrer Denk-,<br />

Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Handlungsschemata an <strong>die</strong> <strong>des</strong> homo oeconomicus hoffen<br />

sie einerseits wieder verstärkt auf Gehör seitens der Spitalleitung zu stossen<br />

<strong>und</strong> ihre alte Hegemonie zurückzuerobern. Andererseits wird ihnen durch <strong>die</strong><br />

Alternative <strong>des</strong> Privatspitals <strong>die</strong> Möglichkeit geboten, <strong>die</strong> Transformation ihres<br />

asketischen Habitus <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende voranschreitende Inkorporierung<br />

ihres neuen, dem Management der Wirtschaft entnommenen utilitaristischen<br />

Habitus in einem selbstständigen Unternehmertum zu vollenden.<br />

5.2.1.2 Privatspital versus öffentliches Spital<br />

Insbesondere <strong>die</strong> Frage der Qualitätskontrolle medizinischer Leistungen <strong>und</strong><br />

ärztlicher Indikationsstellung sowie <strong>die</strong> Grenzen der Qualitätsmessung haben<br />

eine klare Trennung zwischen der Gruppe der Stayer <strong>und</strong> Leaver offenbart.<br />

Andreas L. erachtet wie auch Emil E. insbesondere <strong>die</strong> Lehre <strong>und</strong> <strong>die</strong> Weiterbildung<br />

der angehenden Ärzte als wesentlichen Kontrollmechanismus, der<br />

dafür sorgt, dass ärztliche Handlungen überprüft <strong>und</strong> hinterfragt werden.<br />

492


Hierzu Andreas L.: „Hingegen kann ich in einer Privatpraxis<br />

machen was ich will, ich werde nicht unbedingt kontrolliert.<br />

Ich werde nicht hinterfragt <strong>und</strong> folglich auch nicht<br />

so stimuliert. (…) Das ist das Schöne im öffentlichen Spital,<br />

ich als Arzt beispielsweise werde immer kontrolliert<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s von x Menschen. Ich kann nicht alles machen was<br />

ich will. Wenn ich einem auf <strong>die</strong> Füsse stehe <strong>und</strong> er mir<br />

schlecht möchte, kann er mich irgendwo an <strong>die</strong> Öffentlichkeit<br />

zerren. Ich kann hier nicht machen, was ich will.“<br />

Und Emil E.: „Auch kulturell gesehen, haben wir im Lehrspital<br />

durchaus auch professionelle Korrekturmechanismen.“ Gemäss<br />

Walter I. sorgen <strong>die</strong> Instrumente der strukturellen Rahmenbedingungen <strong>des</strong><br />

Privatspitals wie Wettbewerb, K<strong>und</strong>enakquise oder Selbstständigkeit bzw.<br />

Eigenverantwortlichkeit für einen Kontrollmechanismus, der sich massgeblich<br />

von demjenigen <strong>des</strong> öffentlichen Spitals unterscheidet: „Wenn sie sich<br />

selbstständig machen, dann müssen sie sich gegen solche,<br />

<strong>die</strong> bereits etabliert sind, durchsetzen. Das haben sie als<br />

Chefarzt weniger, da haben sie ihren Thron. Was natürlich<br />

Privatpatienten anbelangt, müssen sie sich auch ein wenig<br />

gegen andere durchsetzen. Es ist eine sichere Burg, wenn<br />

sie Mist bauen, dann kann ihnen fast nichts passieren. Hier<br />

kann ich unter Umständen schlimmstenfalls in einen Skandal<br />

hineinlaufen <strong>und</strong> komme mit weiss der Teufel was für einer<br />

Geschichte in der Zeitung. Ich bin danach dann längere Zeit<br />

auf einer Durststrecke, da mir dann niemand mehr was zuweist.<br />

So ein Risiko laufe ich in einem öffentlichen Spital<br />

nicht. Aber es ist effektiv ein anderes Paket <strong>und</strong> habe dafür<br />

viel mehr Freiheiten.“ Gewissermassen unterstellt Walter I., dass<br />

<strong>die</strong> auf Selbstständigkeit beruhende Unternehmensstruktur der Privatklinik,<br />

<strong>die</strong> massgeblich <strong>die</strong> Entlohnung <strong>des</strong> Arztes definiert, eine qualitativ hochstehende<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung garantiert, wonach folglich überspitzt ausgedrückt<br />

der monetäre Anreiz ein Garant für Qualität darstellt: „Sie können<br />

so einen Laden nicht demokratisch führen. Das ist hier in<br />

einer Privatklinik völlig anders. Hier ist jeder eigenverantwortlich<br />

<strong>und</strong> muss in seinem eigenen kleinen Mikrokosmos<br />

genau <strong>die</strong> gleichen Sachen machen, <strong>die</strong> auch der Assistent im<br />

öffentlichen Spital macht, auch <strong>die</strong> grossen Sachen im Operationssaal<br />

beispielsweise. Er ist für seine Patienten im<br />

Mikrokosmos selber verantwortlich. Wenn er <strong>die</strong> Qualität<br />

nicht bringt, dann hat er keine Zuweisung <strong>und</strong> nichts mehr<br />

493


zum Leben. Im öffentlichen Spital hat jeder seinen Fixlohn,<br />

ausser dem Chefarzt, der kriegt von seinen privaten Patienten<br />

noch etwas zusätzlich. Deshalb ist es ihm eigentlich<br />

egal, was der Oberarzt <strong>und</strong> der Assistenzarzt machen. Natürlich<br />

hat er eine ethische Komponente <strong>und</strong> wird nicht jemanden<br />

völlig vergammeln lassen. Seine Welt ist aber eine andere.<br />

Er muss nicht denken, ich muss eine gegen aussen auch<br />

erkennbare Superqualität bieten, damit ihm Patienten zugewiesen<br />

werden.“ Stark bzw. ausschliesslich leistungsabhängige Gehaltsstrukturen<br />

bedingen eine möglichst hohe Zuweisungsrate, <strong>die</strong> gemäss Walter I.<br />

ansteigt, je hochstehender <strong>und</strong> kompetenter der Arzt <strong>die</strong> an ihn gestellten Anforderungen<br />

erfüllt. Mit der Zuweisung zusatzversicherter Patienten ver<strong>die</strong>nt<br />

sowohl der Arzt an der Behandlung <strong>des</strong> einzelnen Patienten <strong>und</strong> auch das<br />

Spital (abhängig von den Anstellungsbedingungen <strong>und</strong> der Gehaltsstruktur),<br />

an welches der behandelnde Belegarzt ein monetäres Entgelten für <strong>die</strong> Inanspruchnahme<br />

der infrastrukturellen Rahmenbedingungen ausbezahlt. Wie im<br />

Kapitel zu den Gehaltsstrukturen ersichtlich ist, besteht aber seitens der Spitalleitung<br />

zusehends das Interesse, <strong>die</strong> Ärzte vertraglich anzustellen bzw. zu binden,<br />

um dementsprechend <strong>die</strong> Verteilung der Einnahmen seitens der Krankenbzw.<br />

Zusatzversicherungen zu zentralisieren <strong>und</strong> selbst zu verteilen. Hinsichtlich<br />

der Zuweisung von Patienten lässt sich <strong>die</strong> Schlussfolgerung ziehen, dass<br />

<strong>des</strong>to leistungsabhängiger <strong>die</strong> Gehälter ausgestaltet sind, umso stärker ist der<br />

Arzt auf Zuweisung von Patienten angewiesen <strong>und</strong> umso deutlicher sei der<br />

Arzt gemäss Walter I. an der Erbringung einer qualitativ guten medizinischen<br />

Leistung interessiert. Walter I. offenbart gleichzeitig, dass nebst dem berufsethischen<br />

Anspruch auch der monetäre Anreiz eine wesentliche Rolle bei der Erbringung<br />

einer ärztlichen Leistung spielt. Dem Kantonsspital unterstellt er, dass<br />

fixe Gehaltsstrukturen wenig Anreiz für qualitativ hochstehende medizinische<br />

Eingriffe schaffen würden, da der monetäre Anreiz aufgr<strong>und</strong> der begrenzt<br />

leistungsabhängigen Entlohnung fehlen würde. Walter I. prangert in seinen<br />

Aussagen den Posten <strong>des</strong> Chefarztes an, den er selber bis vor wenigen Jahren<br />

innehatte, <strong>und</strong> unterstellt seinen Kollegen im Kantonsspital, wieder aus Gründen<br />

<strong>des</strong> fehlenden monetären Anreizes, eine zu geringe Kontrolle der Assistenz-<br />

<strong>und</strong> Oberärzte. Gleichzeitig plä<strong>die</strong>rt er aber in der folgenden Aussage für<br />

eine stark autoritär ausgerichtete Spitalstruktur, <strong>die</strong> gemäss Walter I. ein Garant<br />

für gute Qualität darstelle. Hierbei muss beachtet werden, dass autoritäre Führungsstrukturen<br />

kennzeichnend für das öffentliche Spital sind, das im Gegen-<br />

494


satz zum Privatspital vollumfänglich <strong>die</strong> Ausbildung der angehenden Ärzte<br />

gewährleistet: „Sagen wir auch den Notfall<strong>die</strong>nst. Wenn sie Leute<br />

in den Notfall<strong>die</strong>nst runter verknurren, dann kommen sie<br />

in den Operationssaal <strong>und</strong> müssen unten dann alle Notfälle<br />

anschauen, <strong>die</strong> hineinlaufen. (…) Damit sie <strong>die</strong> Qualität<br />

hochhalten können <strong>und</strong> <strong>die</strong> Leute Aufgaben verrichten, <strong>die</strong><br />

sie nicht gerne machen, muss ein Autoritätssystem gegeben<br />

sein. Sie müssen eine klare Rapportstruktur haben, damit<br />

sie wissen, was, wo läuft. Sie müssen Transparenz haben. Im<br />

Spital schlägt sich am Schluss <strong>die</strong> Qualität immer auf den<br />

Patienten nieder, <strong>des</strong>halb benötigt <strong>die</strong>s alles eine gewisse<br />

Autorität. Sie müssen darüber Kontrolle haben, was wo läuft<br />

<strong>und</strong> ob <strong>die</strong> Leute auch wissen, was sie in welcher Situation<br />

machen müssen. Das können sie eigentlich nur machen, wenn<br />

eine gewisse Autorität vorhanden ist. Ansonsten wird jeder<br />

das machen, was ihn interessiert. Dann bleiben das Zeug <strong>und</strong><br />

unter anderem auch <strong>die</strong> Probleme liegen, was sich auf <strong>die</strong><br />

Qualität niederschlägt.“ Die Anprangerung der Chefarztstruktur <strong>und</strong><br />

ihr scheinbar geringes Bedürfnis nach Qualität zieht Walter I., wenn auch nicht<br />

offenk<strong>und</strong>ig, mit <strong>die</strong>ser Aussage gewissermassen zurück, da <strong>die</strong> Verantwortung<br />

einer autoritären Struktur massgeblich bei den Kaderärzten liegt, welche<br />

sie fern vom ökonomischen Anreizsystem aufrechterhalten <strong>und</strong> demzufolge<br />

wesentlich zur Qualitätskontrolle beitragen. Auch Victor H. erachtet <strong>die</strong> Selbstständigkeit<br />

<strong>des</strong> Arztes im Privatspital <strong>und</strong> seine ganzheitliche Patientenbetreuung<br />

als Garant für gute Qualität: „Ich arbeite wieder mehr direkt am<br />

Patienten. Mache zwar noch immer <strong>die</strong> hochspezialisierten<br />

Sachen aber weniger häufig als am öffentlichen Spital. Dafür<br />

stehe ich für alles, was ich hier mache, mehr eins zu<br />

eins mit meinem Kopf hin. Im öffentlichen Spital hat man<br />

ein ganzes Team, das daran beteiligt ist, was dazu führt,<br />

dass man weniger direkt an der Front steht. Wenn sie aber<br />

hier etwas falsch machen, dann sind sie eins zu eins derjenige,<br />

der etwas falsch gemacht hat, der nicht beim Patienten<br />

angekommen ist oder der den Patienten nicht verstanden<br />

hat. Sie können das hier niemand anderem delegieren oder<br />

abschaufeln, wie auch immer.“ Obwohl er <strong>die</strong> Eigenverantwortlichkeit<br />

als Garant erachtet, räumt er gewissermassen ein, dass sich durch <strong>die</strong> geringere<br />

Anzahl Begutachtungen <strong>und</strong> Betreuungen hochspezialisierter Angelegenheiten<br />

im Privatspital, im Gegensatz zu seiner früheren Tätigkeit im öffentlichen Spital,<br />

der Erfahrungsspielraum eingeschränkt hat. Qualitativ hochstehende Leis-<br />

495


tungen von Medizinern zeichnen sich jedoch auch durch kontinuierliche For-<br />

schung <strong>und</strong> Erweiterung <strong>des</strong> eigenen Erfahrungshorizonts aus. Die Interviews<br />

zeigten, dass insbesondere im Privatspital der Forschung wenig Raum gewährt<br />

wird. Victor H. <strong>und</strong> Walter I. scheinen <strong>die</strong> Meinung zu vertreten, dass <strong>die</strong><br />

Stimmen <strong>des</strong> Marktes bzw. der K<strong>und</strong>en <strong>die</strong> Bürgen für Qualität darstellen. Der<br />

Rückkehrer Karl K. hingegen ist der Meinung, dass <strong>die</strong> Spitalleitung der Privatspitäler<br />

Qualität kontinuierlich überprüfen müsse, <strong>die</strong>se jedoch einen geringen<br />

Anreiz darin sehen, da jeder Arzt eine willkommene Einnahmequelle für das<br />

Privatspital darstelle. Dass mangelhafte Qualität der ärztlichen Leistung sowohl<br />

rufschädigend für den Arzt als auch für das Privatspital sei, in welchem der<br />

Arzt als Belegarzt tätig ist, hätte <strong>die</strong> Spitalleitung jedoch noch nicht erkannt:<br />

„Die kriegen ja auch Patienten von denen, dort machen sie<br />

das Geld, ob der jetzt hochqualitativ arbeitet oder nicht,<br />

das ist völlig Wurst. Der arbeitet selbstständig, eigenverantwortlich<br />

<strong>und</strong> das ist dann seine Verantwortung. Dass es<br />

auf den Ruf der Klinik abfärbt, das haben sie, so glaube<br />

ich, noch nicht begriffen. (...) Das müsste man anders aufbauen.<br />

Es gibt ja innerhalb <strong>die</strong>ser Privatklinikgruppe schon<br />

Kliniken, <strong>die</strong> nach einer ganz anderen Struktur laufen <strong>und</strong><br />

einen wesentlich höheren Anspruch an <strong>die</strong> Qualität haben.“<br />

Victor H. verdeutlicht, dass der monetäre Anreiz, den Walter I. als Garant erachtet<br />

<strong>und</strong> in den Gehaltsstrukturen der Privatspitäler verstärkt verankert ist,<br />

zu Leistungsausweitungen beiträgt <strong>und</strong> zu Fehlindikationen führt: „Man kann<br />

<strong>die</strong> Leistungen auch nicht beliebig ausweiten, da es für<br />

einen medizinischen Eingriff eine Indikation braucht, <strong>und</strong><br />

falls man <strong>die</strong>se Indikation einigermassen seriös stellt,<br />

dann ergibt sich einfach eine Anzahl an Untersuchungen, <strong>die</strong><br />

man nicht beliebig vermehren kann, ausser man stellt Indikationen,<br />

wo es keine Indikation gibt <strong>und</strong> macht Sachen, <strong>die</strong><br />

eigentlich nicht nötig sind <strong>und</strong> nur gemacht werden, um Geld<br />

zu ver<strong>die</strong>nen.“ Victor H. räumt unverblümt ein, dass der Anreiz für solche<br />

Indikationsfehler im Privatspital verstärkt vorzufinden ist, was massgeblich mit<br />

dem leistungsorientierten Entlohnungssystem zusammenhänge: „Betrachtet<br />

man <strong>die</strong>s nun mal kritisch, so ist <strong>die</strong> Versuchung grösser,<br />

wenn man in einer Position sitzt, in welcher ich hier<br />

sitze, als <strong>die</strong>s in einem öffentlichen Spital der Fall ist.<br />

Wenn sie in einem öffentlichen Spital eine Untersuchung<br />

indizieren, dann können sie nicht eins zu eins den Profit<br />

496


daraus ziehen, weil sie einen Lohn <strong>und</strong> vielleicht ein paar<br />

Poolsachen haben, aber der grosse Teil <strong>des</strong> Gewinns, der<br />

daraus erwirtschaftet wird, geht ans Spital.“ Victor H. verdeutlicht,<br />

dass insbesondere der Wettbewerb <strong>und</strong> <strong>die</strong> in Privatspitälern implementierten<br />

Gehaltsstrukturen, <strong>die</strong> einen unvergleichlichen ökonomischen Anreiz<br />

schaffen, den Walter I. exemplarisch erläutert hat, <strong>und</strong> <strong>die</strong> beispielhaft für<br />

<strong>die</strong> Vermarktlichung <strong>des</strong> privaten Versorgungsbereichs stehen, gefährliche<br />

Ausmasse in Bezug auf <strong>die</strong> Indikationsstellung, <strong>die</strong> Leistungsausweitung <strong>und</strong><br />

schliesslich auch auf <strong>die</strong> Qualitätssicherung annehmen können: „Von daher<br />

hat der Doktor dort nicht <strong>die</strong> gleiche Interessenlage wie<br />

ein Arzt, der privat arbeitet. Deshalb muss man schon daran<br />

denken, dass man mengenmässig nicht beliebig ausweitet,<br />

denn wenn sie zwanzig Spezialisten unseres Fachbereichs<br />

hier anstellen, dann werden <strong>die</strong>se zwanzig einfach zu wenig<br />

zu tun haben. Wenn ein Arzt zu wenig zu tun hat, was geschieht<br />

dann? Dann macht man vielleicht gewisse Sachen, <strong>die</strong><br />

nicht nötig sind <strong>und</strong> Geld bringen. Das ist natürlich <strong>die</strong><br />

Gefahr im Ges<strong>und</strong>heitswesen. So wie es jetzt läuft, sind wir<br />

<strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> indizieren <strong>und</strong> folglich aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen<br />

unseren Umsatz steuern können. Wir können einen Haufen unnötiger<br />

Untersuchungen machen <strong>und</strong> ver<strong>die</strong>nen Geld daran, das<br />

ist etwas, das man unbedingt vermeiden sollte. Wenn man zu<br />

sehr nur auf das Ökonomische schaut, dann besteht eine gewisse<br />

Gefahr, dass so etwas dabei herauskommen könnte. Ich<br />

möchte nun aber niemandem etwas unterstellen. Aber <strong>die</strong> Gefahr<br />

ist für jeden, der normal denkt, sichtbar.“ Victor H.<br />

räumt unmissverständlich ein, dass insbesondere <strong>die</strong> sich an marktwirtschaftlichen<br />

Paradigmen orientierte Struktur <strong>des</strong> Privatspitals <strong>die</strong> Qualität medizinischer<br />

Leistungen gefährdet.<br />

Das Einholen von Zweitmeinungen erachtet Daniel S. als essentiellen Kontrollmechanismus,<br />

der gleichzeitig der Qualitätssicherung <strong>die</strong>nen soll <strong>und</strong> auch<br />

inskünftig aufrechterhalten werden muss. Hierbei muss jedoch beachtet werden,<br />

dass <strong>die</strong>ses Recht eigentlich nur Zusatzversicherten zugestanden wird, bei<br />

den Allgemeinversicherten obliegt der Entscheid bei der Krankenversicherung,<br />

<strong>die</strong> über <strong>die</strong> Übernahme der Kosten eines zweiten Gutachtens entscheidet. Im<br />

Zusammenhang mit einer medizinischen Fragestellung, wo er Kollegen im<br />

Privatspital um Rat bat, realisierte er anhand ihrer Verschlossenheit das geringe<br />

Interesse am eigenen Lernprozess: „... vor etwas mehr als einem<br />

497


Jahr in ges<strong>und</strong>heitlichen Fragen zu beraten <strong>und</strong> erlebte <strong>die</strong><br />

unmögliche Verschlossenheit der Kollegen der Privatklinik.<br />

Ich konnte nicht verstehen, dass man nicht darüber froh<br />

ist, wenn jemand eine Zweit- oder Drittmeinung einholt, da<br />

man nur so besser werden kann.“ Und obwohl gemäss Klaus K. der<br />

Vertrauensaufbau zwischen dem Arzt <strong>und</strong> Patienten wesentlich zum Misstrauensabbau<br />

zwischen dem Laien <strong>und</strong> dem Experten beitragen kann, erachtet er<br />

das Einholen von Zweitmeinungen als wesentliches Recht <strong>des</strong> Patienten, das es<br />

gilt einzulösen: „Es ist eine Überzeugungsarbeit. Am Schluss<br />

will er von mir eine Meinung erhalten <strong>und</strong> von mir erfahren,<br />

was das Beste für ihn ist. Andererseits kann er auch heute<br />

noch eine Zweitmeinung einholen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses System ist gefährdet.<br />

Im Spital ist <strong>die</strong>s bis anhin auch schwierig gewesen,<br />

da ein allgemeinversicherter Patient nicht das Recht<br />

hat zwei Meinungen einzuholen. Da kann man nicht wählen.<br />

Dies ist nur dem Privat- <strong>und</strong> Halbprivatpatienten vorbehalten,<br />

interessanterweise wählt <strong>die</strong>ser aber auch nicht. Diesem<br />

ist nur das Zimmer wichtig, <strong>und</strong> er merkt gar nicht, was<br />

er eigentlich für Möglichkeiten hätte. Das ist sehr interessant.<br />

Er weiss, dass er ins Privatspital <strong>und</strong> zu dem Arzt<br />

gehen kann. Früher gab es vielleicht einen, zwei Chef-<br />

Internisten heute aber gibt es x Spezialisten. Der Patient<br />

nützt <strong>die</strong>s aber nicht aus. Er kommt einfach ins Spital <strong>und</strong><br />

denkt, nun werde ich behandelt <strong>und</strong> nun gebe ich mich ab.“<br />

Klaus K. wie auch andere seiner Kollegen räumen ein, dass <strong>die</strong> Qualitätszuschreibung<br />

in der Medizin für <strong>die</strong> Experten, aber insbesondere für den Laien<br />

eine sehr schwierige <strong>und</strong> <strong>und</strong>urchsichtige Angelegenheit darstellt, da <strong>die</strong> Medizin<br />

keine Garantie auf vollständige Heilung geben kann, keine durchwegs <strong>und</strong><br />

ausschliesslich richtige oder falsche Medizin existiert <strong>und</strong> der Patient in seiner<br />

Unwissenheit nur auf <strong>die</strong> Vertrauensbeziehung zwischen ihm <strong>und</strong> seinem Arzt<br />

setzen kann. Klaus K. äussert sich hierzu folgendermassen: „Am Schluss ist<br />

wichtig, dass das Vertrauen besteht. Dieses System funktioniert<br />

schon lange bestens. Das Problem ist nur, dass wenn<br />

man es formalisiert, es nicht besser funktionieren wird.<br />

Wenn man sogenannte Qualitätskontrollen einrichtet, das ist<br />

alles Augenwischerei. Wissen Sie, am Schluss ist <strong>die</strong> Medizin<br />

nicht richtig oder falsch. Im Leben gibt es kein richtig<br />

oder falsch.“ Yann S. verdeutlicht <strong>die</strong> Haftpflichtproblematik <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> aus seiner Sicht teils ungerechtfertigte rechtliche Anklage: „Die ganze<br />

Haftpflichtproblematik wurde viel grösser, man wird in der<br />

498


Medizin viel mehr durch den Dreck gezogen, wenn irgendwas<br />

nicht ganz optimal läuft. Obwohl es nicht einmal falsch<br />

ist, es ist in der Medizin auch nicht ein Schwarz/Weiss,<br />

<strong>und</strong> sie können nie eine Garantie auf einen Erfolg geben.“<br />

Und Adrian L. hebt <strong>die</strong> besondere Arzt-Patienten-Beziehung hervor, <strong>die</strong> vor<br />

allem dann Wirkkraft entfaltet, wenn der Patient sich auf das berufsethische<br />

Selbstverständnis <strong>des</strong> Arztes berufen kann, in der Hoffnung, dass er <strong>die</strong>sem<br />

nachkommt <strong>und</strong> <strong>die</strong> ökonomische Dimension seiner ärztlichen Tätigkeit nicht<br />

vor <strong>die</strong> ethische <strong>und</strong> <strong>die</strong> dem Gemeinwohl verpflichtete stellt: „Für den Patienten<br />

ist beispielsweise ein guter Onkologe derjenige,<br />

der sich engagiert. Die fachliche Qualität können sie nicht<br />

abschätzen, das ist eine Voraussetzung, von welcher sie<br />

annehmen, dass er sie mitbringt. Die andere Voraussetzung<br />

ist <strong>die</strong> menschliche, <strong>die</strong> in unserem Gebiet extrem wichtig<br />

ist. (…) Wenn sie Kardiologe sind <strong>und</strong> den ganzen Tag Katheter<br />

machen, dann ist <strong>die</strong>s nicht so wichtig, wäre aber auch<br />

wichtig. Bei uns ist es aber entscheidend.“ Obwohl auch der<br />

Rückkehrer Bernard S. einräumt, dass <strong>die</strong> Qualität einer medizinischen Leistung<br />

schwer zu bemessen sei, scheint ein Common Sense hinsichtlich einer<br />

angemessenen ärztlichen Leistung zu bestehen. Die Qualität, <strong>die</strong> er am Privatspital<br />

erlebte, schien seinem fachlichen <strong>und</strong> vermutlich auch ethischen Anspruch<br />

nicht gerecht zu werden, weshalb er das Spital schliesslich auch verliess:<br />

„Die Qualität in der Medizin, obwohl eigentlich alle noch<br />

von der Qualität sprechen, <strong>die</strong>se ist sehr subjektiv, man<br />

wird nie sehr eindeutige Parameter definieren können, um<br />

Qualität der medizinischen Behandlungen definieren <strong>und</strong> messen<br />

zu können. Bei meinem Kollegen bin ich von der Qualität<br />

konsterniert gewesen, ich war sehr enttäuscht. Das war dann<br />

auch ein weiterer Gr<strong>und</strong>, weshalb ich gesagt habe, dass ich<br />

nicht dahinter stehen kann.“ Und Emil E. erachtet nebst der Lehrtätigkeit<br />

in einem öffentlichen Spital <strong>und</strong> dem Einholen von Zweitmeinungen<br />

auch den konstanten Vergleich unter Experten als wesentliches Qualitätsmerkmal:<br />

„Ich finde, dass das Erkennen hinsichtlich dem wie gut<br />

<strong>und</strong> wie schlecht man ist, eine wichtige Funktion darstellt,<br />

damit man auch besser werden kann. Wir können alle an einen<br />

Kongress gehen <strong>und</strong> sagen, dass wir <strong>die</strong> Grössten, <strong>die</strong> Besten<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Schönsten sind. Solange ich keine Vergleiche ziehen<br />

kann <strong>und</strong> nicht verglichen werde, ist <strong>die</strong>s ja toll aber blöde.<br />

Ich finde es gut, dass man sich vergleicht <strong>und</strong> Unnöti-<br />

499


ges, Unnützes weglässt, Doppelarbeit vermeidet <strong>und</strong> zielgerichtet<br />

funktioniert.“ Emil E. spricht im Zusammenhang mit der Qualitätskontrolle<br />

auch <strong>die</strong> Rationierung ärztlicher Leistungen, ihre effiziente Erbringung<br />

<strong>und</strong> das Abwägen zwischen Nutzen <strong>und</strong> Kosten einer medizinischen<br />

Leistung an. All <strong>die</strong>s sind Themen auf <strong>die</strong> insbesondere im Zusammenhang mit<br />

der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> <strong>des</strong> Berufsalltags der Ärzteschaft<br />

im Krankenhauswesen eingegangen wurde <strong>und</strong> unter Kapitel 5.3 ausführlicher<br />

thematisiert werden. Nebst der befürchteten mangelnden Kontrolle<br />

der ärztlichen Leistungen im Privatspital stellt <strong>die</strong> Rivalität im Innenleben <strong>des</strong><br />

Krankenhauses <strong>und</strong> insbesondere innerhalb der Ärzteschaft eine Problematik<br />

dar, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> Zusammenarbeit zwischen den Ärzten <strong>und</strong> dementsprechend<br />

wiederum auf <strong>die</strong> Qualität der ärztlichen Leistungen auswirkt.<br />

Die gelebte <strong>und</strong> vermutlich auch seitens der Spitalleitung beabsichtigte <strong>und</strong><br />

inszenierte wettbewerbs- <strong>und</strong> konkurrenzorientierte Struktur <strong>des</strong> Privatspitals<br />

beschäftigt Stayer <strong>und</strong> Leaver gleichermassen. Für Andreas L. stellt sowohl der<br />

Arzt am Privatspital als auch der von ihm behandelte Patient einen K<strong>und</strong>en<br />

dar, wobei der eine <strong>die</strong> infrastrukturellen <strong>und</strong> der andere <strong>die</strong> medizinischen<br />

Dienste beanspruchte: „Im Privatspital sind Sie K<strong>und</strong>e. Sie gehen<br />

in ein Privatspital <strong>und</strong> kriegen beispielsweise im Bereich<br />

der Chirurgie OPs-Kapazität [Anm. d. Verf.: Operations-<br />

Kapazität]. Sie gehen in eine Garderobe <strong>und</strong> haben dort ihr<br />

Kästchen. Vielleicht haben Sie zufälligerweise ihr Büro im<br />

Haus oder sonstwo. Sie sind, wie auch der Patient, K<strong>und</strong>e.<br />

Für mich wäre das überhaupt nicht attraktiv. (…) Sie gelangen<br />

dann auch in ein Umfeld, in welchem jeder dem Anderen<br />

das Bauchweh neidisch ist. Der Andere, der das gleiche<br />

macht, ist Ihr Konkurrent.“ Die starke Konkurrenzierung am Privatspital<br />

hat Bernard S. während seiner Tätigkeit am Privatspital erlebt. Die fehlende<br />

bzw. teils inexistente Zusammenarbeit innerhalb der Ärzteschaft verschlechterte<br />

das Betriebsklima massiv <strong>und</strong> beeinträchtigte <strong>die</strong> Patientenbetreuung:<br />

„Die Stärke der Privatklinik war, dass man unterschiedliche<br />

Spezialisten <strong>des</strong>selben Fachgebietes oder Spezialität,<br />

Subspezialität unter dasselbe Dach oder unter demselben<br />

Namen zusammenfassen konnte, was wirklich sehr gut<br />

funktioniert hat. Als Aussenstehender hatte ich das Gefühl,<br />

dass <strong>die</strong>s super sei, dass es dabei tatsächlich nur um <strong>die</strong><br />

Sache, um ein spezifisches Leiden ging. Als ich dann hineinkam,<br />

habe ich realisiert, dass sie einen riesen Krach<br />

500


hatten <strong>und</strong> man nur über Anwälte <strong>und</strong> Juristen miteinander<br />

stritt <strong>und</strong> sprach. (…) In der ersten Woche sass ich mit<br />

ihnen im Sitzungsraum <strong>und</strong> da wurde klar gesagt, dass sie<br />

mit ihm nichts mehr zu tun haben wollen. Das ist natürlich<br />

eine absolute Katastrophe. Man arbeitet Türe an Türe, aber<br />

man sagt einem Angesicht zu Angesicht, dass man mit <strong>die</strong>sem<br />

nichts mehr zu tun haben will. Wenn ich einen Arzt benötige,<br />

der <strong>die</strong>ses <strong>und</strong> jenes Leiden <strong>des</strong> Patienten betrachtet,<br />

ein Leiden für welches der der Spezialist wäre, dann schicke<br />

ich <strong>die</strong>sen nicht mehr zu dir, sondern ich suche mir<br />

jemand anders. Das ist eine Katastrophe.“ Auf <strong>die</strong> Frage hin,<br />

welche Gründe <strong>die</strong>ser Konkurrenzierung zugr<strong>und</strong>e lagen, antwortet er folgendermassen:<br />

„Nur Geld, nur Geld, nur Geld. Es ist sicherlich<br />

so. Das hat natürlich niemand ehrlich zugegeben. Aber es<br />

ging wirklich nur ums Geld. Die haben ja einen Schlüssel<br />

... Ich bin ja als Angestellter nicht darin, <strong>des</strong>halb weiss<br />

ich auch nicht, wie <strong>die</strong> Verhältnisse waren. Ich weiss auch<br />

nicht, wer mehr Schuld ist oder weniger ... Sicherlich tragen<br />

beide Seiten eine gewisse Verantwortung. Aber es ging<br />

sicherlich nur ums Geld. Die hatten irgendeinen Schlüssel,<br />

<strong>die</strong> gesamte Infrastruktur, wer trägt wie viel zu den Kosten,<br />

also Fixkosten wie Praxis, Sekretariat, Werbung <strong>und</strong><br />

all <strong>die</strong>ses Zeugs bei. Irgendjemand hat dann einfach gesagt,<br />

ich bezahle zu viel. So läuft das. Es ist effektiv so, dass<br />

es nicht nur in <strong>die</strong>sem einen Zentrum zu einem solchen<br />

Knatsch kam, sondern auch in anderen sogenannten Zentren<br />

war es dasselbe. (…) Dies ist lediglich eine schöne Etikette<br />

<strong>und</strong> stimmt überhaupt nicht. Die arbeiten überhaupt nicht<br />

miteinander. Deshalb bin ich aus allen Wolken gefallen, als<br />

ich <strong>die</strong>s realisiert habe.“ Bernard S. verdeutlicht in seiner Aussage<br />

<strong>die</strong> massgebliche Orientierung an der ökonomischen Dimension <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Handelns <strong>die</strong>ser am Privatspital tätigen Ärzteschaft, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kooperationsbereitschaft<br />

<strong>und</strong> Zusammenarbeit zwischen den Fachbereichen vollständig untergräbt<br />

<strong>und</strong> den einzelnen Arzt zum profit- <strong>und</strong> konkurrenzorientierten homo<br />

oeconomicus verkommen lässt, der sein berufsethisches Verständnis masslos<br />

untergräbt. Die weisse Weste <strong>des</strong> Privatspitals beginnt mit Aussagen wie <strong>die</strong>ser<br />

langsam, aber kontinuierlich zu bröckeln <strong>und</strong> offenbart ein sich an der Privatwirtschaft<br />

<strong>und</strong> darin validen Strukturen, Modellen <strong>und</strong> Prozessen orientieren<strong>des</strong><br />

Unternehmen, das sich massgeblich auf Gewinnorientierung ausrichtet <strong>und</strong><br />

ein ebensolches Verhalten von den darin tätigen Akteuren erwartet bzw. impli-<br />

501


ziert. Auch Emil E., dem eine Stelle im Privatspital angeboten wurde, berichtet<br />

von Konkurrenzkämpfen: „Pensum etwa gleich, <strong>die</strong> Kultur<br />

schlecht, da sie untereinander einen riesigen Krach hatten.<br />

Untereinander <strong>und</strong> gegen <strong>die</strong> Chirurgen.“ Tobias F. verdeutlicht,<br />

dass <strong>die</strong>se Form <strong>des</strong> Kampfes um den Patienten das Vertrauen zwischen den<br />

Ärzten beschädigt <strong>und</strong> eine kooperative Haltung vollkommen untergräbt, <strong>die</strong><br />

jedoch für eine umfassende <strong>und</strong> ganzheitliche Betreuung eines Patienten massgeblich<br />

sei: „Sie vertrauen ja dann niemandem mehr. Hier können<br />

sie nebenan anklopfen <strong>und</strong> wissen, dass er mir nichts wegnehmen<br />

wird, da er höchstwahrscheinlich sogar noch <strong>die</strong>selbe<br />

Intention hat, <strong>die</strong>jenige etwas Gescheites zu machen.“ Hierbei<br />

wird deutlich, dass eine Orientierung am Markt eine Konkurrenzierung ihrer<br />

Akteure impliziert <strong>und</strong> dementsprechend <strong>die</strong> Interessen der Gemeinschaft<br />

untergräbt. Tobias F. wirft den medizinischen Fachkräften keine fachliche<br />

Schwäche vor, sondern zeigt auf, inwiefern <strong>die</strong> Spitalleitung durch ökonomisch<br />

induzierte Massnahmen im Sinne der Profitgenerierung <strong>die</strong> Verhinderung von<br />

Kooperation <strong>und</strong> Zusammenarbeit innerhalb der Ärzteschaft bezweckt: „Bei<br />

der Privatklinikgruppe ist der grosse Unterschied das Motiv<br />

oder der Spirit, Philosophie wäre wieder zu viel gesagt ...<br />

dass wir <strong>die</strong> Idee haben, dass wir vor allem über gleich<br />

starke Kooperationspartnerschaften ... Dagegen schätze ich<br />

<strong>die</strong> Privatklinik so ein, dass sie sich ein Marktsegment<br />

aussucht, zwei, drei gute Leute hinstellt, ob <strong>die</strong>se Konkurrenten<br />

sind oder nicht, das ist mir eigentlich egal, sie<br />

müssen einfach das Volumen bringen. Ich glaube aber, dass<br />

sie darin dann gute Medizin machen, aber ich glaube nicht,<br />

dass <strong>die</strong>se Ärzte gut zusammenarbeiten.“<br />

Sowohl Walter I. als auch Victor H. verdeutlichen <strong>des</strong>illusioniert in ihren Aussagen<br />

<strong>die</strong> bereits beim Antritt der neuen Stelle bestehende <strong>und</strong> kontinuierliche<br />

Abgrenzung der Kollegen <strong>des</strong>selben oder eines anderen Fachgebiets. Damit<br />

einher geht <strong>die</strong> Vorstellung, dass der Patient dementsprechend nicht in erster<br />

Linie für den kranken <strong>und</strong> hilfsbedürftigen Menschen steht, sondern für einen<br />

einnahmegenerierenden K<strong>und</strong>en. Walter I. verdeutlicht <strong>die</strong> Rivalisierung unter<br />

den Kollegen folgendermassen: „Ich bin natürlich dadurch in einem<br />

gewissen Sinne in den Möglichkeiten gefangen, <strong>die</strong> hier gegeben<br />

sind. Und auch unter Druck durch <strong>die</strong> Konkurrenz. Wenn<br />

sie sich selbstständig machen, dann müssen sie sich gegen<br />

solche, <strong>die</strong> bereits etabliert sind, durchsetzen.“ Bei Victor<br />

502


H. ist <strong>die</strong> Ernüchterung deutlich herauszuhören: „Erst mit der Zeit hat<br />

sich <strong>die</strong>s herausgestellt. Es hat sich herausgestellt, dass<br />

es am Anfang nicht ganz einfach ist, da einem ja <strong>die</strong> Anderen<br />

hier nichts abgeben. Man kommt einfach hier hinzu, <strong>und</strong><br />

danach muss man schauen, <strong>die</strong>s ist einfach das Private.“<br />

Daniel S., der mehrmals als potenzieller Kandidat seitens <strong>des</strong> Privatspitals erachtet<br />

wurde, schreckte <strong>die</strong>ser Kampf mit dem Messer ab. Oder wie Andreas L.<br />

es nennt, jeder ist dem anderen das Bauchweh neidisch: „Ich war dann<br />

aber eigentlich enttäuscht, da man nur über das Auto <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Ferien sprach, also Status <strong>und</strong> Geld, aber in keiner<br />

Sek<strong>und</strong>e nur spürbar eine Diskussion über irgendeine Krankheit<br />

aufkam. Das hat mich gar nicht fasziniert <strong>und</strong> mich<br />

auch geschaudert. Diese falsche Fre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong> Höflichkeit,<br />

da ja jeder im eigenen Profitcenter in seinen eigenen<br />

Sack hinein arbeitet. Gleichzeitig ist man aber fre<strong>und</strong>lich,<br />

eigentlich ist es aber ein Kampf mit dem Messer, wer den<br />

Patienten machen kann, der ver<strong>die</strong>nt. Dies hat mich im<br />

höchsten Mass angewidert.“ Das Streben nach ökonomischem Kapital,<br />

das sich in der Realität zur unvermeidlichen Rivalität wandelte, widerte Daniel<br />

S. gleichermassen an wie <strong>die</strong> vermeintlich fre<strong>und</strong>liche Stimmung, <strong>die</strong> an Kongressen<br />

herrschte, um teilweise von Seiten der Leaver auch bezweckte Kaderärzte<br />

aktiv abzuwerben.<br />

Dass <strong>die</strong>se Form der Marktvergesellschaftung nicht nur in Privatspitälern anzutreffen<br />

ist, veranschaulicht <strong>die</strong> Aussage von Otto K. Er betont aber gleichzeitig,<br />

dass ein deutlicher Unterschied zwischen seinem heutigen Arbeitsalltag im<br />

Kantonsspital <strong>und</strong> dem am Universitätsspital besteht. Dass Otto K. heute den<br />

Posten eines Chefarztes innehat, darf im Hinblick auf <strong>die</strong> ihm zukommende<br />

Entscheidungskompetenz <strong>und</strong> sein Mitspracherecht aber nicht ausser Acht<br />

gelassen werden: „Der hiesige Direktor ist eben ein sehr unternehmerischer<br />

Typ, sehr offen, äusserst zugänglich. Dann<br />

bin ich hierhin gekommen <strong>und</strong> habe bemerkt, dass ich Sachen<br />

verändern kann, dass ich auch <strong>die</strong> Verantwortung haben kann<br />

<strong>und</strong> auch loslegen kann. Sehr oft konnte ich ihn anrufen <strong>und</strong><br />

ihm sagen: ,Hör mal, ich sehe das so <strong>und</strong> so, ich brauche<br />

aber dein O.K.‘ Dann hat er gesagt: ,Komm morgen um viertel<br />

nach sieben, dann schauen wir <strong>die</strong>s an.‘ Dann konnte er innerhalb<br />

der gleichen Woche grosse Sachen ändern <strong>und</strong> vorwärts<br />

bringen. Das war am Universitätsspital unmöglich. Man<br />

503


konnte einen Antrag stellen, <strong>und</strong> vielleicht ist dann einer<br />

darauf eingegangen. Dann hat ein Anderer wiederum gehört,<br />

dass in der Novembersitzung dann <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes besprochen<br />

wird, wo man dann sicher sein konnte, dass derjenige alles<br />

vorbereiten wird, damit jeder, der nicht einverstanden ist,<br />

kontern konnte. So hatte man bestimmt ,Rückenschüsse‘, damit<br />

man ja nichts ändert, da sie am Schluss vielleicht einen<br />

Nachteil haben könnten. Das war so total anders hier.<br />

Ich konnte so viel machen hier. Es war eine tolle Sache<br />

<strong>die</strong>s zu entwickeln. Ich konnte sehr logisch vorgehen <strong>und</strong><br />

konnte mit Sachen, welche wir gemacht haben, auch argumentieren.<br />

Ich konnte sagen, wir sind nun da <strong>und</strong> da, falls wir<br />

<strong>die</strong>se Entwicklung weitermachen <strong>und</strong> puschen wollen, dann<br />

benötigen wir Ressourcen, <strong>die</strong> dann aber auch wieder etwas<br />

einbringen. Und so haben wir eigentlich innerhalb <strong>des</strong> Departements<br />

eine wahnsinnig gute Entwicklung gemacht.“ Auch<br />

Victor H. spricht eine scheinbar narzisstische Haltung seiner Kollegen im Universitätsspital<br />

an: „Dass es aber sehr schnell anders werden<br />

kann, haben dann <strong>die</strong> Anderen erfahren. Das weiss man auch<br />

von anderen Orten, beispielweise vom Universitätsspital, wo<br />

furchtbare Streitereien herrschten <strong>und</strong> auch immer noch<br />

herrschen. (…) Im Universitätsspital existiert eine grosse<br />

Ansammlung von hochambitionierten Charakteren, wobei es<br />

auch <strong>die</strong> Grösse ganz, ganz schwierig macht, dass <strong>die</strong>se aneinander<br />

vorbeikommen. Hinzukommt das ganze Akademische,<br />

welches auch noch eine Rolle spielt. Es kommen da noch wesentlich<br />

andere Probleme hinzu als in einem nichtuniversitären<br />

Spital.“<br />

Die Diskussionen r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Qualitätskontrolle ärztlicher Leistungen, <strong>die</strong><br />

sowohl im öffentlichen als auch im privaten Spital vollständig gewährleistet<br />

werden muss, scheint <strong>die</strong> Stayer, Rückkehrer <strong>und</strong> Leaver zu spalten, da jeder<br />

seiner Versorgungsinstitution <strong>die</strong> höchste Qualität zuschreiben möchte. Gewisse<br />

Leaver erachten ihre Form der Patientenakquise bzw. der Überzeugung der<br />

Patienten <strong>und</strong> der Zuweiserpraxen hinsichtlich ihrer ärztlichen Kompetenz als<br />

legitimes Instrument, das der Sicherung guter ärztlicher Qualität <strong>die</strong>nen soll<br />

<strong>und</strong> sie als Nachweis für ihre hochstehende Fachkompetenz erachten. Die Akquise<br />

Zusatzversicherter gründet in stark leistungsorientierten Gehältern bzw.<br />

der Selbstständigkeit der Belegärzte an Privatspitälern, <strong>die</strong> zur Sicherung ihrer<br />

Einkommensgenerierung auf <strong>die</strong> Zuweisung angewiesen sind. Dass <strong>die</strong>se enge<br />

504


Kopplung der individuellen monetären Bereicherung, <strong>die</strong> massgeblich durch<br />

<strong>die</strong> tägliche Patientenbetreuung bestimmt wird, auch <strong>die</strong> Gefahr der übermässigen<br />

oder fehlerhaften Indikationsstellung birgt, hat der Leaver Adrian L.<br />

exemplarisch <strong>und</strong> ausführlicher erläutert. Beide Formen der Indikationsstellung<br />

können zu qualitativ minderwertiger ärztlicher Leistung beitragen <strong>und</strong> stellen<br />

eine Gefahr für den Patienten dar. Hierbei kann nur <strong>die</strong> Hoffnung helfen, dass<br />

der ärztliche Berufsethos, der für das Gemeinwohl Sorge zu tragen hat, vor der<br />

individuellen ökonomischen Übervorteilung schützt. Die Arzt-Patienten-<br />

Beziehung, <strong>die</strong> als unvergleichliche Vertrauensbeziehung gilt, <strong>und</strong> das Recht<br />

<strong>des</strong> Patienten auf das Einholen von Zweitmeinungen, das nur Zusatzversicherten<br />

zusteht, soll zum Abbau <strong>des</strong> Misstrauens <strong>und</strong> der Informationsasymmetrie<br />

zwischen dem Experten <strong>und</strong> dem Laien beitragen. Die Qualitätskontrolle innerhalb<br />

<strong>des</strong> Krankenhauswesens obliegt dementsprechend massgeblich den<br />

ärztlichen Experten, der Spitalleitung <strong>und</strong>, wie gewisse Stayer betont haben, auf<br />

der Konstitution <strong>des</strong> Lehrspitals, das nebst der Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses<br />

auch <strong>die</strong> kontinuierliche Kooperation zwischen den Fachgebieten <strong>und</strong> Fachbereichen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Forschung <strong>und</strong> Entwicklung gewährleistet. Die sich manifestierende<br />

wettbewerbsorientierte <strong>und</strong> rivalisierende Haltung <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit implizierte<br />

Transformation <strong>des</strong> berufsethischen Selbstverständnisses <strong>des</strong> Arztes in<br />

Richtung eines sich am Habitus <strong>des</strong> homo oeconomicus angleichenden ärztlichen<br />

Habitus ist im Privatspital wesentlich ausgeprägter vorzufinden als im<br />

öffentlichen Spital. Dies ist massgeblich an <strong>die</strong> Vermarktlichung der ärztlichen<br />

Leistung gekoppelt, <strong>die</strong> von einem profitorientierten Versorgungsunternehmen<br />

seitens ihrer Akteure erwartet wird. Die kontinuierliche Besetzung der Spitalleitung<br />

mit Ökonomen <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich stetig wandelnden Gehaltsstrukturen mit<br />

einer verstärkten Ausrichtung an leistungsorientierten Gehältern verweist auch<br />

im öffentlichen Krankenhauswesen auf eine anhaltende Verankerung ökonomischer<br />

Prinzipien. Inwiefern <strong>die</strong> ökonomischen Transformationsprozesse sich<br />

auf das Rollenverständnis der Ärzteschaft auswirken, wird im nächsten Kapitel<br />

erläutert.<br />

5.2.2 Rollenverteilung – Manager versus Humanmediziner<br />

Der Einblick in <strong>die</strong> hierarchischen Strukturen <strong>des</strong> öffentlichen <strong>und</strong> privaten<br />

Krankenhauses hat eine <strong>Ökonomisierung</strong> der strukturellen Rahmenbedingungen<br />

offenbart, <strong>die</strong> seitens <strong>des</strong> Privatspitals zu einer beabsichtigten <strong>und</strong> starken<br />

Rivalität innerhalb der Ärzteschaft führt, zu einer teils geringen Kooperations-<br />

505


ereitschaft zwischen den unterschiedlichen Fachbereichen beiträgt <strong>und</strong> durch<br />

eine propagierte Selbstständigkeit kaschiert wird. Die Mehrheit der Stayer,<br />

Leaver <strong>und</strong> Rückkehrer musste einräumen, dass <strong>die</strong> durch alle hierarchischen<br />

Stufen hindurch zunehmende <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>die</strong> Qualität der medizinischen<br />

Leistung der Ärzteschaft beeinträchtigt <strong>und</strong> der monetäre Anreiz durch ausschliesslich<br />

leistungsabhängige Gehaltsstrukturen, <strong>die</strong> kennzeichnend für Belegarztstrukturen<br />

sind, <strong>die</strong> Gefahr <strong>des</strong> beabsichtigten fehlerhaften Stellens von<br />

Indikationen birgt.<br />

Hans S. <strong>und</strong> Joachim A. teilen den Glauben an <strong>die</strong> Struktur <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Krankenhauses, obwohl im Hinblick auf <strong>die</strong> Interviews mit den beiden <strong>Chefärzte</strong>n<br />

<strong>die</strong> Verleugnung der ökonomischen Dimension ihres ärztlichen Handelns<br />

keineswegs aufrechterhalten wurde <strong>und</strong> <strong>die</strong> Anzweiflung der Spielregeln<br />

ihres Fel<strong>des</strong> zum Ausdruck kam. Insbesondere Joachim A. betonte, dass <strong>die</strong><br />

Arbeitsstelle eines Arztes an Attraktivität gewinnt, je weiter sich <strong>die</strong> medizinische<br />

Bandbreite, je differenzierter sich das Patientengut <strong>und</strong> je grösser sich <strong>die</strong><br />

Ver<strong>die</strong>nstmöglichkeiten ausgestalten. An Hans S. scheiterten <strong>die</strong> zahlreichen<br />

Abwerbungsversuche seitens <strong>des</strong> Privatspitals; weshalb er keinem davon nachkam,<br />

erläutert er folgendermassen: „Ich bin in meiner Zeit bis etwa<br />

vor zehn Jahren x-mal von Leuten einer Privatklinik Gruppe<br />

<strong>und</strong> auch vom CEO angefragt worden, ob ich in einer ihrer<br />

Kliniken in der Schweiz arbeiten möchte. Ich kenne <strong>die</strong>se<br />

Leute alle relativ gut. Und so stand ich immer wieder vor<br />

der Entscheidung, soll ich oder soll ich nicht. Und auch<br />

hier ist einer der Gründe, weshalb ich nie ging <strong>und</strong> ich es<br />

auch nicht bedauert habe: eine gewisse Verb<strong>und</strong>enheit mit<br />

dem Konzept <strong>des</strong> öffentlichen Spitals, der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung,<br />

wie wir sie in der Schweiz haben <strong>und</strong>, dass <strong>die</strong><br />

Basisversorgung in einem öffentlichen Spital gewährleistet<br />

werden muss <strong>und</strong> so weiter. Dass man eine Gr<strong>und</strong>versorgung<br />

der Bevölkerung zu garantieren hat <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Das ist<br />

ein ges<strong>und</strong>heitspolitisches Konzept, das mir einleuchtet,<br />

<strong>und</strong> welches ich aufgr<strong>und</strong> meiner politischen Einstellung<br />

auch unterstütze. Die Frage ist einfach, wie hoch der Preis<br />

ist, wenn man bleibt.“ Hans S. hätte den Schritt nie vollzogen <strong>und</strong> wird<br />

ihn vermutlich auch inskünftig nicht vollziehen, dennoch hegt er grosses Verständnis<br />

für den ärztlichen Nachwuchs, der auf Stufe Oberarzt oder Leitender<br />

Arzt das öffentliche Spital verlässt <strong>und</strong> begründet <strong>die</strong>s mit den seiner Meinung<br />

nach nicht der Konkurrenz <strong>des</strong> Privatspitals standhaltenden Gehältern der<br />

506


öffentlichen Krankenhäuser. Den Preis für <strong>die</strong> Loyalität dem öffentlichen Spital<br />

gegenüber sieht Hans S. in der geringeren monetären Entlohnung, wohingegen<br />

der Preis der Abwanderung auf Stufe Oberarzt mit einer geringen bis inexistenten<br />

Weiterbildung durch <strong>die</strong> Leitenden Ärzte <strong>und</strong> dem Chefarzt einhergeht, mit<br />

einer schwachen Verankerung in der medizinischen Forschung <strong>und</strong> möglicherweise<br />

auch mit der Verkennung <strong>des</strong> ethisch-moralischen Anspruches, den der<br />

Arzt gegenüber dem Patienten wahrnehmen muss. Genauso wie Hans S. plä<strong>die</strong>rt<br />

auch Joachim A. für das öffentliche Spital als Gr<strong>und</strong>versorger, der <strong>die</strong><br />

Wiederherstellung <strong>des</strong> Gemeinwohls sicherstellt <strong>und</strong> der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />

der Öffentlichkeit nachzukommen hat: „Das öffentliche Spital<br />

ist für mich noch immer ,das Spital‘, da kommen durch einen<br />

Trichter alle zusammen. Das wird vielleicht auch noch eines<br />

ihrer Themen sein. Aber auch heute noch sehe ich ein öffentliches<br />

Spital so, wenn man es nicht zerstört. Dieses<br />

Spital hier ist eine ganz bedeutende Stufe höher, auch vom<br />

Patientengut her betrachtet. (…) Ich glaube aber weniger<br />

gut, als wenn man einfach an einem Ort ist, wo man ambulante<br />

<strong>und</strong> stationäre Patienten hat, zehn Meter Entfernung bis<br />

zum nächsten Untersuchungsraum besteht <strong>und</strong> alle Schwestern<br />

auf den Eingriff warten, <strong>die</strong>s ist ideal, <strong>die</strong>s kann man<br />

sonst nicht so haben. Ist einfach super. Noch heute bin ich<br />

davon ganz begeistert.“ Joachim A. beabsichtigte ursprünglich, nach<br />

seiner Oberarztzeit eine Praxis zu eröffnen <strong>und</strong> als Belegarzt an einem Privatspital<br />

tätig zu sein. Als er jedoch seine Karrierechancen am öffentlichen Spital<br />

erkannte, verwarf er <strong>die</strong> Idee. Auch <strong>die</strong> räumliche Trennung der ambulanten<br />

<strong>und</strong> stationären Versorgung erachtete Joachim A. als ungünstig <strong>und</strong> fühlte<br />

gleichzeitig eine gewisse Verb<strong>und</strong>enheit zum breiten Patientengut, das nur das<br />

öffentliche Spital bietet. Die nachfolgenden Ausführungen stehen im engen<br />

Zusammenhang mit dem Kapitel 5.3, in welchem <strong>die</strong> Spannungsverhältnisse in<br />

der ärztlichen Arbeitswelt ausführlicher erörtert werden. Die Deprofessionalisierung<br />

bzw. Professionalisierung, <strong>die</strong> Stayer <strong>und</strong> Leaver zusehends spaltet,<br />

manifestiert sich folgendermassen: verstärkte Tendenz der Spezialisierung<br />

innerhalb der medizinischen Fachgebiete, zunehmende Verankerung von Führungstätigkeit,<br />

Kalküldenken <strong>und</strong> monetärer Ressourcenorientierung (öffentliches<br />

Spital), Ablehnung von Führungstätigkeit in steilen hierarchischen Strukturen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende erhoffte Erlösung durch Entrepreneurship<br />

bzw. Selbstständigkeit im Rahmen einer Anstellung im Privatspital, mangelnde<br />

507


Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses in Privatspitälern <strong>und</strong> Abschöpfung ausgebilde-<br />

ter Ärzte aus öffentlichen Krankenhäusern.<br />

Andreas L. sieht in der <strong>Ökonomisierung</strong> seines beruflichen Alltags, der damit<br />

einhergehenden Steigerung administrativer Tätigkeit <strong>die</strong> verstärkte Orientierung<br />

an ökonomischen Führungsmodellen <strong>und</strong> <strong>die</strong> von Seiten der Spitalleitung<br />

geforderte Aufarbeitung der Finanzkennzahlen eines Fachbereichs, eine voranschreitende<br />

Deprofessionalisierung <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende Distanzierung<br />

von der eigentlichen Patientenbetreuung: „Unsere Deprofessionalisierung<br />

bringt uns immer weiter vom Patienten weg <strong>und</strong><br />

immer näher an <strong>die</strong> fachfremden Geschichten. Ihre Modelle<br />

werden immer öfter in unsere Kernkompetenz hineingebracht,<br />

damit der Prozess transparent wird. Ich sage nicht, damit<br />

sie uns kontrollieren können, sondern damit der Prozess<br />

transparent wird.(…)Die Ökonomen versuchen mit ihrem Denken<br />

<strong>und</strong> mit ihren Modellen, <strong>die</strong> sie im Kopf haben, <strong>die</strong> Medizin<br />

zu strukturieren, haben aber keine Ahnung vom Kerngeschäft.<br />

Ein Mensch ist kein normiertes Geschöpf, ausser in der Augenchirurgie,<br />

wo man normiert arbeiten kann. Das ist das<br />

Problem. Da wir immer mehr Fachfremde haben, <strong>die</strong> sagen, wie<br />

man einen Laden organisiert, <strong>die</strong> einfach aus der Industrie<br />

mit ihrem Industrie- <strong>und</strong> Prozessdenken kommen, spielen immer<br />

mehr Elemente eine Rolle. Da sie nichts davon verstehen,<br />

muss man Transparenz <strong>des</strong> Prozesses schaffen. Transparenz<br />

schaffen bedeutet, dass man alles irgendwo schreiben<br />

muss (klappert mit den Fingern auf dem Tisch als würde er<br />

<strong>die</strong> Tastatur eines Computers benutzen).“ Wie im vorhergehenden<br />

Kapitel erläutert wurde, hat sich ein gewisses Verständnis für <strong>die</strong> Besetzung<br />

der Spitalleitung mit Ökonomen herausgebildet, dennoch befürchten insbesondere<br />

<strong>die</strong>jenigen Ärzte, <strong>die</strong> sich der „totalen sozialen Rolle“ <strong>des</strong> Arztes verpflichtet<br />

fühlen, einen Verlust derselbigen <strong>und</strong> eine Degra<strong>die</strong>rung <strong>des</strong> ausseralltäglichen<br />

ärztlichen Status: „Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Kosten,<br />

<strong>die</strong> wir generieren, <strong>die</strong>nt beispielsweise der Absicherung.<br />

Die Absicherungsmedizin. Wir sichern uns mit vielen<br />

Sachen ab, damit kein Jurist uns etwas tun kann. Das sind<br />

so Sachen. Es gibt mittlerweile einen Overhead. Einen Riskmanager,<br />

einen PR−Manager, für alles einen Manager. Wir<br />

futtern einen Overhead. Früher ver<strong>die</strong>nten wir noch Geld mit<br />

unserer Arbeit. Wenn ich heute schaue, wie viele der Millionen,<br />

<strong>die</strong> wir in unserer Klinik einnehmen, am Schluss übrig<br />

508


leiben, dann ist es nicht viel, da wir den gesamten Overhead<br />

futtern. Es ist so teuer. Im Ganzen drin hat es so<br />

viele fachfremde Leute, <strong>die</strong> alles, was wir generieren,<br />

brauchen. Die haben ja auch Löhne, <strong>die</strong> arbeiten ja auch.<br />

Dadurch <strong>und</strong> durch mein Ko<strong>die</strong>ren <strong>des</strong> Zeugs wird kein Patient<br />

ges<strong>und</strong>, da frage ich mich. (...) Die Ökonomen kommen mit<br />

ihren Modellen, mit denen sie sich wohlfühlen <strong>und</strong> ihre Instrumente<br />

darstellen. Ich fühle mich mit meinen medizinischen<br />

Instrumenten <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen Sachen wohl, aber das ist<br />

mein Kerngeschäft. Sie müssen nun schauen, wo sie den Hebel<br />

innerhalb meines Kerngeschäfts ansetzen können, damit wir<br />

noch besser werden, <strong>und</strong> dazu benötigen sie Transparenz.<br />

Damit sie sich aber Transparenz verschaffen können, muss<br />

ich ihnen das Futter liefern. Das musste ich früher nicht<br />

tun.“ Die Worte von Andreas L. zeugen von einem kontinuierlichen Festhalten<br />

an den ihm bekannten Strukturen, eine deutliche Distanzierung der ihm<br />

fremden Prozesse <strong>und</strong> einer stetigen Berufung auf seine Kerntätigkeit, <strong>die</strong> Patientenbetreuung.<br />

Seine Berufung auf <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung geht einher<br />

mit der Erläuterung der zentralen Einnahmequellen im öffentlichen Krankenhaus,<br />

<strong>die</strong> der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsversorgung <strong>die</strong>nen<br />

<strong>und</strong> massgeblich durch <strong>die</strong> ärztliche Leistungserbringung generiert werden.<br />

Obwohl Andreas L. sich exemplarisch gegen <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> seines<br />

beruflichen Alltags im Kantonsspital ausspricht, scheint er ein gewisses Verständnis<br />

für <strong>die</strong> Leaver zu hegen <strong>und</strong> hebt hierbei insbesondere <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

der unternehmerischen Selbstständigkeit hervor, der Konzentration auf ein<br />

begrenztes Angebot ärztlicher Leistungen, <strong>die</strong> geringere Präsenzzeiten <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Möglichkeit <strong>des</strong> Aufbaus einer eigenen Reputation. Mit dem individuellen<br />

Reputations- <strong>und</strong> Imageaufbau geht zumeist eine geringere Verankerung kooperativer<br />

Strukturen <strong>und</strong> reduzierte Zusammenarbeit in Ärzteteams einher,<br />

wobei Andreas L. in <strong>die</strong>sem Zusammenhang einräumt, dass sogenannte Fachzentren<br />

Teams ersetzen können: „Sie haben nicht nur positive Aspekte,<br />

Sie sind auch nicht mehr so in einem Team eingeb<strong>und</strong>en,<br />

es sei denn, Sie schaffen es in eine Gruppe hineinzugelangen,<br />

<strong>die</strong> das Team in einem Spital ein wenig ersetzt.“<br />

Dass solche Fachzentren zumeist durch rivalisieren<strong>des</strong> Verhalten gekennzeichnet<br />

sind, wurde bereits im vorhergehenden Kapitel erläutert. Die fehlenden<br />

Teamstrukturen im Privatspital liessen Daniel S. stetig vom Schritt in <strong>die</strong> Privatklinik<br />

absehen: „Der Wechsel in eine Privatpraxis, wo ich als<br />

509


Einzelkämpfer arbeiten müsste, sicherlich nicht. Ich benötige<br />

Leute um mich herum.“ Und auch Adrian L. genoss <strong>die</strong> teamorientierte<br />

Arbeitsweise im öffentlichen Spital: „Was kein Gr<strong>und</strong> war, das war<br />

das Team, ich hatte ein sehr gutes Team gehabt <strong>und</strong> sehr<br />

gute medizinische Verbindungen auch zu allen anderen Ärzten.<br />

Das war eigentlich nicht ein Problem.“ Er fügt hinzu, dass<br />

<strong>die</strong> Verankerung kooperativer Strukturen <strong>die</strong> Gefahr <strong>des</strong> kontinuierlichen Unterhalts<br />

ineffizienter oder inkompetenter Mitarbeiter in sich berge: „Ein Unterschied<br />

ist vielleicht auch, dass sie in einem Privatspital<br />

einem Angestellten, mit welchem sie nicht zufrieden<br />

sind, sagen können: Entschuldigung, entweder versuchen sie<br />

<strong>die</strong>s nun zu verbessern oder sie können sich für eine andere<br />

Stelle umschauen. Das passiert in einem öffentlichen Spital<br />

viel, viel seltener. Man zieht da auch Leute mit, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Leistung nicht erbringen. Man ärgert sich über Jahre, dass<br />

es <strong>die</strong> gibt <strong>und</strong> immer noch gibt, aber sie sind noch immer<br />

da. Sie können <strong>die</strong>s nun auf eine harte Art <strong>und</strong> Weise sagen<br />

<strong>und</strong> sagen, dass <strong>die</strong>s ein sozialer Auftrag ist, das ist aber<br />

immer heikel.“ Mit <strong>die</strong>sem Umstand wird sich Adrian L. in seinem heutigen<br />

Arbeitsalltag im Privatspital vermutlich nicht konfrontiert sehen, da er im<br />

Rahmen seiner unternehmerischen Selbstständigkeit einer ökonomischen Effizienz,<br />

der Erreichung determinierter Umsatzziele <strong>und</strong> nebst der individuellen<br />

Einkommensgenerierung der Deckung der vom Spital definierten Fixkosten für<br />

<strong>die</strong> infrastrukturellen Rahmenbedingung inkl. der Gehälter seiner Praxismitarbeiter<br />

gerecht werden muss.<br />

Die an Privatspitälern propagierte Selbstständigkeit scheint sich wesentlich von<br />

der Führungstätigkeit zu unterscheiden, der Kaderärzte an öffentlichen Spitälern<br />

gerecht werden müssen. Bereits dem Oberarzt kommen Führungsaufgaben<br />

zu, <strong>die</strong>se steigen pro aufstrebende Karrierestufe an <strong>und</strong> werden zum unabdingbaren<br />

Bestandteil <strong>des</strong> ärztlichen Alltags, je kürzer der Weg zum Chefarztposten<br />

ist. Mit dem Entrepreneurship an Privatspitälern scheint <strong>die</strong> Auffassung<br />

eines freien Entscheidungsspielraumes, eines autonomen <strong>und</strong> selbstbestimmten<br />

Unternehmertums <strong>und</strong> einer geringen Abhängigkeit von Entscheidungen der<br />

Verwaltungsetagen <strong>und</strong> ärztlichen Vorgesetzten einherzugehen. Victor H., der<br />

anscheinend bereits in der Schule keine Führung erduldete, was sich in seinem<br />

späteren beruflichen Alltag kontinuierlich bewahrheitete, schien aufgr<strong>und</strong><br />

seiner mangelnden Bereitschaft, sich innerhalb hierarchischer Strukturen unter-<br />

510


zuordnen, von einer Karriere am öffentlichen Spital abzusehen. Insbesondere<br />

<strong>die</strong> Angst vor der Entscheidungswillkür seiner Vorgesetzten bewog ihn, den<br />

Schritt in ein Privatspital zu wagen, <strong>und</strong> er sah sich in seinem Schritt bestätigt,<br />

als sein gesamtes damaliges Team innerhalb seines Fachbereichs im öffentlichen<br />

Spital abwanderte: „Weder stehe ich gerne oben <strong>und</strong> muss folglich<br />

Führungsaufgaben wahrnehmen, noch werde ich sehr gerne<br />

geführt. Ich bin schwierig zu führen, was sich bereits in<br />

der Schule herausgestellt hat <strong>und</strong> sich auch in der Zukunft<br />

nicht verändert hat. (…) Ich habe mich eigentlich in <strong>die</strong>ser<br />

Stelle, <strong>die</strong> ich dort als Leitender Arzt mit einem Chef ob<br />

mir hatte, wohlgefühlt. Ich habe eigentlich gar nicht angestrebt<br />

seine Stelle zu haben, da ich mich in einer nicht so<br />

exponierten Stelle immer wohler gefühlt habe. Als Chef muss<br />

man das ganze Personal führen. Alle Führungsaufgaben, <strong>die</strong><br />

ein Chef hat, liegen mir nicht besonders, was ich von Anfang<br />

an wusste <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb war <strong>die</strong>s ein weiterer Gr<strong>und</strong>,<br />

dass es keinen Sinn machte, dass ich eine solche Stelle<br />

anstrebe, für welche ich <strong>die</strong> Qualifikationen gar nicht habe.<br />

Sondern, ich habe andere Qualifikationen, <strong>die</strong> ich an<br />

anderen Positionen wahrscheinlich klüger einsetzen kann.<br />

(…) Ich darf jetzt auch sagen, dass das gesamte Team, welches<br />

vorher dort gearbeitet hat, mittlerweile in Privatkliniken<br />

versammelt ist. Ich war einfach der Erste der ging.<br />

Inklusive meinem damaligen Chef, der nun mein Konkurrent an<br />

einem anderen Privatspital derselben Gruppe ist, <strong>und</strong> inklusive<br />

dem gesamten Team, welches damals am öffentlichen Spital<br />

gearbeitet hatte, sind sie nun alle auch drüben.“ Sowohl<br />

der Leaver Victor H. als auch der Leaver Yann S. verstehen sich als autonome<br />

Kleinunternehmer: „In der Mannschaft der Privatspitäler<br />

bin ich einfach ein selbstständiger Kleinunternehmer, ich<br />

entscheide selber <strong>und</strong> <strong>die</strong>s gefällt mir besser.“ Diese neu<br />

erlangte unternehmerische Haltung <strong>und</strong> das Ausbrechen aus den steilen, autoritären<br />

<strong>und</strong> dennoch kooperativen <strong>und</strong> fördernden hierarchischen Strukturen<br />

gehen aus der Privatisierung öffentlicher Versorgungsinstitutionen hervor. Wie<br />

bereits erläutert, handelt es sich bei der propagierten Selbstständigkeit, <strong>die</strong><br />

anscheinend einer geringen Führung <strong>und</strong> Beaufsichtigung seitens der Spitalleitung<br />

unterliegt, um eine quasi Autonomie, <strong>die</strong> massgeblich durch <strong>die</strong> von der<br />

Spitalleitung definierten Spielregeln begrenzt wird. Die Kombination einer<br />

ärztlichen Tätigkeit mit einer unternehmerischen Freiheit bedingt einen Orien-<br />

511


tierungsrahmen, der sich massgeblich von demjenigen <strong>des</strong> traditionellen Arztes<br />

im Dienste für <strong>die</strong> Allgemeinheit unterscheidet, was nicht zuletzt mit dem pro-<br />

fitorientierten Entlohnungssystem, an welchem sich nebst dem Arzt auch das<br />

Spital be<strong>die</strong>nen will, einhergeht. Die Ausrichtung der ärztlichen Tätigkeit an<br />

ihrer ökonomischen Dimension scheint an <strong>die</strong> bewusste Untergrabung bzw.<br />

vermeintliche Verkennung <strong>des</strong> berufsethischen Selbstverständnisses <strong>des</strong> Arztes<br />

gekoppelt, was sich durch <strong>die</strong> selektive Patientenauswahl, <strong>die</strong> Umgehung der<br />

Ausbildungspflicht <strong>des</strong> Nachwuchses <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mengenausweitung zum Zweck<br />

der Einkommensgenerierung offenbart.<br />

Gerade im Bereich <strong>des</strong> Teachings bzw. der Ausbildung <strong>des</strong> ärztlichen Nachwuchses<br />

kommt den Kaderärzten eine zentrale Rolle zu. Bis dato erfüllten <strong>die</strong><br />

Leitenden Ärzte <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong> der öffentlichen Spitäler <strong>die</strong>se Funktion <strong>und</strong><br />

gewährleisteten damit eine kontinuierliche <strong>und</strong> hochstehende Ausbildung der<br />

angehenden Ärzteschaft. Der Leaver Victor H. erläutert <strong>die</strong> hohe Relevanz<br />

<strong>die</strong>ses Ausbildungszyklus, in <strong>des</strong>sen Genuss er zu Beginn seiner Karriere kam<br />

<strong>und</strong> welchen er auch nicht missen möchte. Insbesondere das breite Patientengut<br />

<strong>und</strong> der Leistungsauftrag der Gr<strong>und</strong>versorgung, dem <strong>die</strong> öffentlichen Spitäler<br />

gerecht werden, tragen zu einer erfahrungsreichen Ausbildung bei <strong>und</strong> ermöglichen<br />

unter der Aufsicht von Oberärzten <strong>und</strong> Kaderärzten <strong>die</strong> Behandlung<br />

einfacher <strong>und</strong> komplexer Fälle. Victor H. profitierte sehr von seinem Lehrspital.<br />

Er selber kommt seiner Ausbildungspflicht heute im Privatspital aber nicht<br />

nach: „Ich muss sagen, ich hatte es auch an den öffentlichen<br />

Spitälern wirklich gut. Ich hatte gute Stellen, ein gutes<br />

Team <strong>und</strong> habe auch gerne dort gearbeitet. Ich habe auch nie<br />

bereut, dass ich so lange am öffentlichen Spital gearbeitet<br />

habe. Retrospektiv war es aber der richtige Zeitpunkt, in<br />

Anführungszeichen, <strong>die</strong> Seiten zu wechseln <strong>und</strong> privat tätig<br />

zu werden. Dies, da ich genau hier all das umsetzen kann,<br />

was ich mir immer vorgestellt habe. Ich würde es also nochmals<br />

genau wieder so machen. Auch vom zeitlichen Timing her<br />

war <strong>die</strong>s eine gute Sache. Zu früh, dann verliert man einfach<br />

einen gewissen Teil im öffentlichen Spital. Man sammelt<br />

sehr viel Erfahrung, da man von gewissen Sachen sehr<br />

viel macht <strong>und</strong> auch sehr viel sieht <strong>und</strong> so weiter. Man hat<br />

auch das Teaching am öffentlichen Spital, das je nach Chef<br />

sehr gut ist. Ich hatte überall gutes Teaching. Ich möchte<br />

<strong>die</strong>sen Weg auch absolut nicht missen. Man könnte vielleicht<br />

sagen, weshalb hast du den Umweg ins öffentliche Spital<br />

512


gemacht, du hättest ja auch zehn Jahre früher in <strong>die</strong> Privatwirtschaft<br />

gehen können, vielleicht hätte man dann sogar<br />

mehr Geld ver<strong>die</strong>nt ... letzten En<strong>des</strong> war es so wie es war<br />

absolut richtig. Auch retrospektiv aus monetären Überlegungen<br />

würde ich es nicht anders machen.“ Das öffentliche Spital<br />

kommt demzufolge nebst der Gr<strong>und</strong>versorgung der Gr<strong>und</strong>ausbildung <strong>des</strong><br />

ärztlichen Nachwuchses nach, was für <strong>die</strong> inskünftige Aufrechterhaltung einer<br />

intakten <strong>und</strong> medizinisch fortschrittlichen Ges<strong>und</strong>heitsversorgung für alle<br />

entscheidend ist. Victor H. offenbart mit seiner Aussage, dass das öffentliche<br />

Spital massgeblich bzw. nahezu ausschliesslich für <strong>die</strong> Ausbildung der medizinischen<br />

Kompetenzen, <strong>die</strong> er während seiner Jahre im öffentlichen Krankenhaus<br />

ausbildete, verantwortlich ist. Mit dem aus <strong>die</strong>sen Kompetenzen erworbenem<br />

Kapitel, das er durch <strong>die</strong> mangelnde Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses am<br />

Privatspital nicht vererbt, generiert er für sich persönlich einen Profit, ohne eine<br />

Investition in <strong>die</strong> zukünftige Arztgeneration zu tätigen. Daran zeigt sich exemplarisch<br />

eine „parasitäre“ Ausnutzung <strong>des</strong> öffentlichen Versorgungssystems <strong>und</strong><br />

besonders <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses als Gr<strong>und</strong>ausbildner.<br />

Insbesondere <strong>die</strong> Weitergabe <strong>des</strong> eigenen Erfahrungsspektrums <strong>und</strong> <strong>die</strong> Förderung<br />

<strong>des</strong> Nachwuchses stellen wichtige Aufgaben der Leitenden Ärzte <strong>und</strong><br />

<strong>Chefärzte</strong> dar, der sie zumeist auch gerne nachkommen, wie beispielsweise <strong>die</strong><br />

Aussage von Otto K. verdeutlicht: „Wenn <strong>die</strong> Studenten <strong>die</strong> Vorklinik-Ausbildung<br />

sowie das dritte Jahr absolviert haben, dann<br />

würden sie anschliessend <strong>die</strong> gesamte klinische Ausbildung<br />

hier bei mir machen. Wir haben alles, was es braucht hier<br />

im Haus <strong>und</strong> <strong>die</strong>s auf einem Campus. Wenn ein Student den<br />

Wunsch anbringt, hier am Kantonsspital, da wir einen guten<br />

Namen haben, drei Monate seiner klinischen Ausbildung auf<br />

unserer Abteilung zu verbringen, so sollte <strong>die</strong>s auch möglich<br />

sein. Momentan geben wir hier keine Vorlesungen. Wir<br />

nehmen <strong>die</strong> Personen lediglich in den Betrieb auf. Sie kommen<br />

auf unsere Abteilung, in unsere Ambulatorien <strong>und</strong> laufen<br />

mit, das ist der praktische Teil. Aber es wäre super, wenn<br />

wir ein Teaching Hospital sein könnten, so könnten wir auch<br />

alle Vorlesungen dazu halten <strong>und</strong> folglich das gesamte Gebiet<br />

abdecken.“ Insbesondere Massnahmen wie <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en-Woche, <strong>die</strong><br />

den Ausbildungszeitraum wesentlich verkürzt haben, <strong>und</strong> <strong>die</strong> verstärkte Einforderung<br />

einer Work-Life-Balance seitens der angehenden Ärzte zwingen<br />

Kaderärzte zum Umdenken <strong>und</strong> zur Implementierung neuer Ausbildungs-<br />

513


strukturen. Andreas L. verdeutlicht <strong>die</strong>sen Wandel folgendermassen: „Im<br />

Sport erwartet man von denjenigen, <strong>die</strong> an der Spitze mitlaufen<br />

enorm viel Ehrgeiz <strong>und</strong>, dass sie extrem viel einsetzen<br />

<strong>und</strong> folglich kein ,nine to five‘, sondern das, was es<br />

braucht. Es schadet nichts, dass heute mehr organisiert<br />

wird. Die ständige Verfügbarkeit bei schlechter Organisation<br />

kann es ja auch nicht sein. Was man meiner Meinung nach<br />

besser machen muss, ist <strong>die</strong> Strukturierung der Ausbildung.<br />

Mehr Sachen, <strong>die</strong> man ausserhalb der Arbeit am Patienten<br />

antrainieren, simulieren <strong>und</strong> üben kann, sollten viel strukturierter<br />

gemacht <strong>und</strong> angeboten werden. Die Leute sollten<br />

ihre Lernkurve zusehends abkürzen können, da sie auch weniger<br />

arbeiten. Gut sie arbeiten noch immer viel. Zehn St<strong>und</strong>en<br />

ist immer noch viel, also heutzutage fünfzig St<strong>und</strong>en.<br />

Durch <strong>die</strong> heutigen Strukturen, <strong>die</strong> effizienter gelöst werden<br />

sollen, kommen sie noch viel weniger an den Patienten<br />

<strong>und</strong> an spezielle Situationen heran. Meine Spezialität ist<br />

ein sehr handwerkliches Business, das extrem auf Erfahrung<br />

basiert, wie bei einem Piloten.“ Die Verkürzung der Lernkurve<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> stärkere Verankerung der klinischen Ausbildung in grossen Zentren,<br />

wozu Kantonsspitäler, Universitätsspitäler, aber auch grössere Privatspitäler<br />

gehören, stellen <strong>die</strong> Lösungsvorschläge von Andreas L. dar, <strong>die</strong> <strong>die</strong> angehenden<br />

Ärzte vor 80- bis 100-St<strong>und</strong>en-Wochen schützen sollen: „Kommen wir nun<br />

zur Lösung zurück, so glaube ich, dass man ausserhalb der<br />

Klinik, das was man machen kann, strukturiert anbieten,<br />

trainieren <strong>und</strong> prüfen sollte. So, dass <strong>die</strong> Lernkurve kürzer<br />

wird <strong>und</strong> hinsichtlich der speziellen Sachen eine grössere<br />

Konzentration der Fälle auf grössere Zentren geschieht. Das<br />

Häufige kann man überall machen. Feuerwehr benötigt man<br />

überall. Man sollte eben nicht überall alles machen, sondern<br />

es ein wenig auseinanderdivi<strong>die</strong>ren <strong>und</strong> fokussieren.“<br />

Gemäss Andreas L. sei <strong>die</strong> Ausbildung eines Arztes keinesfalls mit der eines<br />

Wirtschaftsstudenten zu vergleichen. Insbesondere <strong>die</strong> Dauer der Ausbildung<br />

sei wesentlich länger als <strong>die</strong> eines Ökonomen <strong>und</strong> infolge<strong>des</strong>sen dauert auch<br />

der karrieremässige Aufstieg länger: „Im Gegensatz zu einem Banker<br />

beispielsweise. Wenn Sie <strong>die</strong>sen ein halbes Jahr ins Asset<br />

Management platzieren, dann weiss er danach wie es funktioniert.<br />

Dann kann er noch ein halbes Jahr Börsen irgendwas<br />

machen, ich komme da ja nicht draus, <strong>und</strong> nach drei Jahren<br />

hat er alles gesehen <strong>und</strong> kommt draus. Ist er noch ein wenig<br />

514


talentiert <strong>und</strong> in einem guten Kreis, dann kann er mit neun<strong>und</strong>zwanzig,<br />

zwei<strong>und</strong>dreissig top sein. In unserem Geschäft<br />

kommst Du mit sechs<strong>und</strong>dreissig vielleicht dazu dich so zu<br />

profilieren <strong>und</strong>, dass du an <strong>die</strong> grösseren Sachen gelangst,<br />

von denen es aber nicht viele gibt. Bis man nur eine gewisse<br />

Erfahrung hat, ist man als Arzt bereits einiges älter.<br />

Beschränkt man <strong>die</strong>se Zeit noch, dann ... Unsere Oberärzte<br />

sind mit Kompensationen <strong>und</strong> so weiter etwa sechzehn Wochen<br />

weg. Stellen Sie sich nun vor, wie lange <strong>die</strong>s geht. Das<br />

hatten wir alles nicht. Ich habe eben achtzig bis h<strong>und</strong>ert<br />

St<strong>und</strong>en gearbeitet. Habe aber auch unabhängig <strong>des</strong>sen noch<br />

lange gebraucht. Dies ist nun mal unser Schweizer System in<br />

den Spitälern.“ Die geringe bis nahezu inexistente Teilnahme der Ärzteschaft<br />

privater Spitäler an der Ausbildung <strong>des</strong> ärztlichen Nachwuchses ruft<br />

unweigerlich Missmut hervor, wie folgende Aussage von Emil E. zeigt: „Ja.<br />

Es ist einfach der Aufkauf <strong>des</strong> Marktes, <strong>und</strong> sie bezahlen<br />

keine Lernkurve. Es ist im Prinzip wie eine Fussballmannschaft,<br />

<strong>die</strong> Kapital hat. Bayern München, <strong>die</strong> gute Talente<br />

spottet <strong>und</strong> dann kauft, selber aber keine aufbaut. Solange<br />

<strong>die</strong>s ihre Fans akzeptieren, ist es gut. Wenn dann aber <strong>die</strong><br />

Fans das Gefühl haben, dass Bayern München aus keinem einzigen<br />

Bayern mehr besteht, dann stimmt es für mich nicht<br />

mehr. Sie kaufen einfach den Markt, das ist ein Geschäftsmodell.“<br />

Die von Emil E. erläuterte Parallelität <strong>des</strong> Privatspitals zu einem<br />

Unternehmen aus der Privatwirtschaft verdeutlicht <strong>die</strong> bereits fortgeschrittene<br />

Privatisierung der öffentlichen Versorgung. Mit der Privatisierung geht das<br />

parasitäre Abschöpfen der medizinischen Fachkräfte, deren Ausbildung durch<br />

öffentliche Gelder finanziert wurde, einher. Hinzukommt, dass <strong>die</strong> in der Ausbildung<br />

erworbenen Kompetenzen einer begrenzten, aber an ökonomischem<br />

Kapital starken Patientengruppe zuteil wird <strong>und</strong> dabei <strong>die</strong> grosse Allgemeinheit<br />

bewusst ausgeschlossen wird. Auch Petra S. prangert das parasitäre Ausnutzen<br />

an: „Das ist noch ein Punkt <strong>und</strong> ein weiterer Punkt ist<br />

noch <strong>die</strong> Ausbildung, <strong>die</strong> Privatspitäler bilden ja keinen<br />

Nachwuchs aus. Sie zerren überall <strong>und</strong> zupfen allen öffentlichen<br />

Spitälern <strong>die</strong> gut ausgebildeten Leute ab, geben aber<br />

der Allgemeinheit nichts ab. Ich habe nicht so viel Zeit<br />

leider, aber ich mache <strong>die</strong>s sehr, sehr gerne, <strong>die</strong> Jungen zu<br />

teachen, es ihnen zeigen, wenn sie kommen.“ Und Andreas L.<br />

verweist auf das im Privatspital hochgehaltene Entrepreneurship, das keinen<br />

Beitrag an <strong>die</strong> Reproduktion der zukünftigen Arztgeneration leistet, was ver-<br />

515


mutlich nicht zuletzt auch mit der geringen unmittelbaren monetären Entlohnung<br />

zusammenhängt: „Hinzukommt, dass Sie nicht teachen können,<br />

dass Sie niemandem etwas beibringen können. Sie machen<br />

für sich irgendwas.“ Die Reproduktion <strong>des</strong> Nachwuchses findet nicht im<br />

Privatspital statt, was <strong>die</strong> geringe nachhaltige Orientierung <strong>die</strong>ses Systems<br />

beweist. Die Zukunft der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung der grossen Masse wird<br />

dementsprechend den öffentlichen Krankenhäusern überlassen, massgeblich<br />

für das Privatspital ist dementsprechend nicht <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>ausbildung, sondern nur <strong>die</strong> gegenwärtige Profitgenerierung. Joachim A.<br />

verdeutlicht <strong>die</strong> Schwierigkeit der monetären Abbildung der Lehre: „Auch<br />

<strong>die</strong> Ausbildung spielt eine Rolle, wie will man <strong>die</strong>s rechnen?<br />

Man kann gar nicht alles rechnen, <strong>die</strong>s ist unmöglich.“<br />

Der Leaver Bernd A. hingegen veranschaulicht <strong>die</strong> Rechenhaftigkeit der Untergrabung<br />

der Lehre seitens <strong>des</strong> Privatspitals: „Das wird uns etwas bringen,<br />

da wir effizienter sind, da wir kürzere Hospitalisationen<br />

haben, da wir einfach schlankere Abläufe haben. Bei<br />

uns operiert im Prinzip ein Chef oder ein Leitender Arzt<br />

<strong>und</strong> nicht jemand, der ausgebildet werden muss oder in der<br />

Ausbildung ist.“ Schlanke Entscheidungswege, effiziente Prozessorientierung<br />

<strong>und</strong> geballte Fachkompetenz zahlt sich anscheinend aus, wovon <strong>die</strong> gegenwärtigen<br />

Leaver, <strong>die</strong> Spitalleitung <strong>des</strong> Privatspitals <strong>und</strong> all jene profitieren,<br />

<strong>die</strong> Anteile an <strong>die</strong>sen Spitälern halten. Die Ausbildung, <strong>die</strong>, wie Martin A. veranschaulicht,<br />

teilweise eine zeitliche Belastung für <strong>die</strong> ausbildenden Ärzte darstellt,<br />

aber für <strong>die</strong> zukünftige Aufrechterhaltung der Gr<strong>und</strong>versorgung entscheidend<br />

ist, rechnet sich nicht anhand von Finanzkennzahlen. Die Bedeutung<br />

der Ausbildung wird jedoch von einigen Leavern verkannt <strong>und</strong> entsprechend<br />

selten vermisst: „Die Belastung mit Nichtmedizinischem, Nichtfachlichem<br />

ist deutlich höher. Ob es nun Verwaltungssachen<br />

sind oder Sitzungen, Spitalleitung <strong>und</strong> so weiter. Dann muss<br />

er mit Assistenten Ausbildungen machen, es ist belastender,<br />

es gibt viele Eingriffe, <strong>die</strong> man lieber alleine machen würde,<br />

da es schneller <strong>und</strong> sicherer gehen würde, als wenn ich<br />

es einem zeigen <strong>und</strong> dabei sein <strong>und</strong> aufpassen muss. Also <strong>die</strong><br />

Ausbildung ist nicht nichts. Und <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> dann in<br />

Privatkliniken gehen, haben <strong>die</strong>s dann nicht mehr. Das sind<br />

alles gut ausgebildete Leute, <strong>die</strong> man einstellen kann <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> ihr Geschäft können.“ Walter I. empfindet, rückwirkend betrachtet,<br />

das Teaching seiner Assistenzärzte als sinn- <strong>und</strong> wertvolle Zeit seines berufli-<br />

516


chen Alltags im öffentlichen Spital. „Es geht nicht nur um <strong>die</strong> klinische<br />

Arbeit, sondern auch um das Teaching. Man möchte <strong>die</strong><br />

Assistenten weiterbilden, so dass sie zu Oberärzten werden<br />

<strong>und</strong> man sie anschliessend als <strong>Chefärzte</strong> platzieren kann.<br />

Das sind Aspekte, <strong>die</strong> sehr schön sind <strong>und</strong> sehr viel Freude<br />

bereiten, <strong>die</strong> aber sehr zeitintensiv sind <strong>und</strong> ich heute<br />

keineswegs vermissen möchte.“ Trotzdem fehlt auch ihm <strong>die</strong> Ausbildung<br />

im Privatspital nicht, da er sie als arbeits- <strong>und</strong> zeitintensive Arbeit kennengelernt<br />

hat, <strong>die</strong> mit viel Verantwortung verb<strong>und</strong>en ist: „Einer der Gründe<br />

ist eben <strong>die</strong> Arbeitsauslastung, <strong>die</strong> ich dort hatte,<br />

nicht <strong>die</strong> Qualität sondern <strong>die</strong> Quantität der Arbeit <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

dauernde Verantwortung. Ich konnte mich zwar relativ gut<br />

distanzieren, sobald ich aus dem Haus war. Sie fragen sich<br />

aber immer, wenn das Telefon klingelt, was nun wohl los<br />

sei. Ist irgendwas Fachliches geschehen, das kann man meistens<br />

irgendwie lösen oder ist sonst was geschehen. Ist es<br />

ein Mitarbeiter der ausflippt oder sonst ein Problem, das<br />

sie lösen müssen.“ Die Diskussionen r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> verstärkte betriebswirtschaftliche<br />

Orientierung öffentlicher Spitäler, <strong>die</strong> mit Sparmassnahmen<br />

einhergeht, haben gemäss Martin A. zur Folge, dass <strong>die</strong> Inanspruchnahme von<br />

Weiterbildungen in öffentlichen Spitälern in einem unmittelbaren <strong>und</strong> inskünftigen<br />

monetären Nachweis resultieren muss: „Die Arbeitsbedingungen<br />

waren punkto Arbeitszeit früher natürlich viel schlechter.<br />

(…) Was sich dagegen verändert, verschlechtert hat, sind<br />

<strong>die</strong> Möglichkeiten. Wenn nun jemand in <strong>die</strong> Weiterbildung<br />

geht, nur schon einfach einen Tag irgendwohin, dann muss<br />

man mit vier Formularen, <strong>die</strong> vom Chef unterschrieben werden<br />

müssen ... dann wird entschieden, ob <strong>die</strong>s nun im Sinne <strong>des</strong><br />

Spitals ist, dass ich an <strong>die</strong>se Weiterbildung gehe ... Ist<br />

<strong>die</strong>s wichtig fürs Spital? Bringt das Geld oder nicht? Und<br />

je nachdem muss man einen gewissen Anteil an <strong>die</strong>se Bildung<br />

selber bezahlen, also an <strong>die</strong> Tagungskosten.“<br />

Das öffentliche Spital sorgt nebst der Gr<strong>und</strong>versorgung der Öffentlichkeit für<br />

eine umfassende Gr<strong>und</strong>ausbildung <strong>des</strong> ärztlichen Nachwuchses. Das Privatspital<br />

hingegen pflegt eine parasitäre Ausnutzung <strong>die</strong>ses Systems, in dem es <strong>die</strong><br />

fachkompetente Ärzteschaft abschöpft. Aufgr<strong>und</strong> der anhaltenden Abwerbung<br />

der Kaderärzte, <strong>die</strong> ihrem Ethos entsprechend der Ausbildungspflicht nachzukommen<br />

hätten, kommen dem öffentlichen Krankenhaus erfahrene Experten<br />

abhanden, <strong>die</strong> das fachmännische Kapital, das sie während ihrer Ausbildung in<br />

517


der öffentlichen Institution erlangt haben, nicht vererben <strong>und</strong> demzufolge nicht<br />

in den Nachwuchs investieren. Hinzu kommt <strong>die</strong> Tatsache, dass sie <strong>die</strong> durch<br />

öffentliche Gelder finanzierte Ausbildung ihrer Fachkompetenz überwiegend<br />

den zusatzversicherten Patienten zukommen lassen <strong>und</strong> dementsprechend eine<br />

massgeblich monetär orientiere Selektion ihres Patientengutes vornehmen.<br />

5.2.3 Arzt-Patienten-Verhältnis – vom Patienten zum K<strong>und</strong>en<br />

Nebst der Rolle als Ausbildner, der Expertenrolle, der Führungsrolle, der Rolle<br />

<strong>des</strong> ärztlichen Kooperationspartners etc., <strong>die</strong> dem Kaderarzt eines öffentlichen<br />

Spitals zugesprochen werden, kommt ihm <strong>die</strong> Rolle <strong>des</strong> medizinisch kompetenten<br />

Vertrauten zu, der den Patienten berät <strong>und</strong> betreut. Andreas L. sieht in der<br />

mangelnden Bereitschaft einer ganzheitlichen <strong>und</strong> zeitlich anspruchsvollen<br />

Betreuung <strong>des</strong> Patienten <strong>die</strong> Gefahr der Untergrabung der besonderen Beziehung<br />

zwischen dem Patienten <strong>und</strong> seinem Arzt: „Es gibt gar kein Verhältnis<br />

zum Patient mehr. Auf den Notfallstationen gibt es<br />

einen Schichtbetrieb, innerhalb welchem sich <strong>die</strong> Leute im<br />

Team nur noch alle drei Wochen mal sehen. Auf einmal musste<br />

man beginnen zu organisieren. Früher hat man doch einfach<br />

gearbeitet. Deshalb ging auch alles auf. Man sagte: ach,<br />

<strong>die</strong>s ist noch, ja dann, dann machen wir eben. Man hat es<br />

einfach erledigt. Heute muss man organisieren, damit <strong>die</strong><br />

Leute nicht zu viele Überst<strong>und</strong>en machen usw.“ Das scheinbar<br />

geringere Engagement der jungen Arztgeneration führt Andreas L. auf <strong>die</strong> 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche zurück, von der in erster Linie <strong>die</strong> Assistenzärzte profitieren,<br />

<strong>und</strong> ihre Forderung nach einem Leben neben dem Berufsalltag. Nebst dem<br />

Commitment hat sich auch gleichsam der Zugang <strong>des</strong> Arztes zum Patienten<br />

gewandelt, vom mündigen Patient ist <strong>die</strong> Rede, so auch bei Karl K.: „Auch<br />

<strong>die</strong> Patientenklientel hat sich verändert. Die Leute sind<br />

heute aufgeklärter, sind belesener, es sind Leute, <strong>die</strong> sich<br />

selber um ihre Dinge kümmern. Das merke ich immer mehr. Sie<br />

müssen heute nicht mehr einem erzählen ... Wenn sie einem<br />

sagen: hier machen wir nun das <strong>und</strong> das, das geht heute<br />

nicht mehr. Sie müssen einem klar <strong>und</strong> deutlich sagen, was<br />

es für Möglichkeiten gibt, welche Möglichkeiten sie dem<br />

Patienten empfehlen würden, <strong>und</strong> dann können sie mit ihm<br />

reden <strong>und</strong> diskutieren, in den meisten Fällen. Ich stelle<br />

fest, dass <strong>die</strong> Leute informiert <strong>und</strong> aufgeklärt hierher kommen.<br />

Diese sagen dann, weshalb machen wir nicht den anderen<br />

Weg? Dann dürfen sie nicht autoritär reinfahren <strong>und</strong> sagen,<br />

518


weil ich das sage. Sie müssen erklären <strong>und</strong> begründen, weshalb<br />

sie nun nicht den anderen Weg gehen. Die Patientenklientel<br />

hat sich in <strong>die</strong>sen Jahren extrem verändert. Und das<br />

ist auch gut so, ich sehe das positiv. Der Patient ist ein<br />

Partner.“ Den Patienten zum Partner machen, entspricht nicht dem Anspruch,<br />

den sich jeder Kaderarzt bzw. ehemalige Kaderarzt verpflichtet fühlt.<br />

Insbesondere <strong>die</strong> Leaver erachten ihre Patienten verstärkt als K<strong>und</strong>en, <strong>die</strong> es<br />

gilt, einerseits von den angebotenen ärztlichen Leistungen zu überzeugen <strong>und</strong><br />

andererseits von den Arztkollegen <strong>des</strong> Privatspital oder <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses<br />

abzuwerben, hierbei wird zusätzlich eine klare K<strong>und</strong>enselektion<br />

vorgenommen.<br />

5.2.3.1 K<strong>und</strong>enbeziehung, K<strong>und</strong>enakquise versus Patientenbetreuung<br />

Wie bereits Andreas L. verdeutlichte, befürchtete auch Klaus K. ein Verkommen<br />

der Arzt-Patienten-Beziehung zur K<strong>und</strong>enbeziehung: „Das Image hat<br />

sich verschlechtert. Aber auch <strong>die</strong> Berufsbedingungen haben<br />

sich verschlechtert <strong>und</strong> dadurch auch <strong>die</strong> Beziehung zwischen<br />

Arzt <strong>und</strong> Patient. Wie in unserer Gesellschaft auch, es wird<br />

mehr zu einer Forderung, mehr zu einer K<strong>und</strong>enbeziehung, was<br />

gewisse Kreise ja auch möchten. Aber, <strong>und</strong> das geht mir auch<br />

so, wenn Sie eine Krankheit haben, dann sind Sie nicht mehr<br />

K<strong>und</strong>e, sondern Sie sind froh, wenn man Ihnen hilft. Wenn<br />

Sie in <strong>die</strong> Migros gehen um etwas einzukaufen, dann gehen<br />

Sie nicht dorthin, damit <strong>die</strong>se Ihnen helfen. Sondern sie<br />

wollen es oder wollen es nicht. Eine K<strong>und</strong>enbeziehung ist es<br />

nie, aber es wird dazu gemacht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ist teilweise auch<br />

in den Vorstellungen der Patienten vorhanden. Es ist eine<br />

ganze Gesellschaftsentwicklung auch mit der Tendenz in<br />

Richtung Individualisierung, Reparaturmedizin. Es gibt<br />

nicht weniger Kranke, <strong>die</strong> Menschen werden älter, mit der<br />

ganzen Pflege usw. Das grosse Interesse an <strong>die</strong>ser Art von<br />

Beruf ist noch immer <strong>die</strong> Beziehung, <strong>die</strong> einzigartig ist.“<br />

Die besondere <strong>und</strong> unvergleichliche Vertrauensbeziehung zwischen einem Arzt<br />

<strong>und</strong> seinem Patienten, <strong>die</strong> zur Zuschreibung seines „Amtscharismas“ wesentlich<br />

beiträgt, gilt es zu erhalten, denn der kranke bzw. hilfsbedürftige Mensch<br />

sucht ab dem Eintritt in <strong>die</strong> Praxisräumlichkeiten oder das Krankenhaus einen<br />

kompetenten ärztlichen Rat. Der Patient ist sich im Klaren darüber, dass ihm<br />

<strong>die</strong> nötigen fachlichen Kenntnisse zur Beurteilung einer guten, mittelmässigen<br />

oder schlechten Leistung fehlen. Er muss sich infolge<strong>des</strong>sen auf das Vertrauen<br />

519


zwischen ihm <strong>und</strong> seinem Arzt stützen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Hoffnung, dass <strong>die</strong>ser ihn nach<br />

bestem Wissen <strong>und</strong> Gewissen betreuen wird. Dem Kranken bleibt zumeist<br />

keine andere Wahl, als in <strong>die</strong> Fachkompetenz <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> auf seinen<br />

ethisch-moralischen Anspruch an <strong>die</strong> eigene Leistung <strong>und</strong> seine persönliche<br />

Integrität zu vertrauen. Andreas L. verdeutlicht mit wenigen Worten, was er<br />

von der am Privatspital gelebten K<strong>und</strong>enbeziehung hält: „Vielleicht kann<br />

man sich <strong>die</strong>s in der Pension nochmals überlegen. Ich denke<br />

es nicht. Es ist einfach nicht meine Welt dem Patienten<br />

hinterher zu rennen. Ich habe es lieber, wenn er kommt.“<br />

Victor H. hingegen erachtet das Werben um Patienten, das stetige unter Beweis<br />

stellen der eigenen Fähigkeiten <strong>und</strong> <strong>die</strong> dadurch generierte Zuweisung von<br />

Patienten als Garant für andere potenzielle K<strong>und</strong>en: „Was auch immer sie<br />

im öffentlichen Spital machen, sie haben immer ihre Patienten.<br />

Sie kommen am Morgen <strong>und</strong> gehen am Abend <strong>und</strong> haben ihre<br />

Patienten. Dies ist dort quasi inbegriffen. Hier muss man<br />

sich <strong>die</strong>s ernten.“ Dass <strong>die</strong> Patienten im öffentlichen Spital quasi „inbegriffen“<br />

sind, erklärt sich an derem Leistungsauftrag, für das Gemeinwohl<br />

aller zu sorgen. Infolge<strong>des</strong>sen würde <strong>die</strong> Selektion beim Eintritt in das Spital<br />

ein augenfälliger Verstoss gegen den ihnen <strong>und</strong> dem öffentlichen Dienst zugesprochenen<br />

Auftrag bedeuten. Dass <strong>die</strong> befragten Kaderärzte <strong>die</strong>sem ethischen<br />

Anspruch nicht generell gerecht werden, offenbart sich exemplarisch anhand<br />

der Aussage von Bernd A., <strong>die</strong> von einer Analogie <strong>des</strong> Arztberufs zu einem<br />

Portfolio- bzw. K<strong>und</strong>enberaters einer Bank oder eines K<strong>und</strong>enbetreuers eines<br />

Unternehmens der Privatwirtschaft zeugt: „Fachlich bin ich sehr zufrieden.<br />

Volumenmässig, da muss man natürlich sehen, dass<br />

ich am Anfang keinen Patienten mitgebracht habe, ich habe<br />

keine Patienten von hier übernommen, ich habe keine Praxis<br />

übernommen, ich bin frisch gekommen. Das war am Anfang<br />

schwierig, da sie sich bekannt machen müssen <strong>und</strong> das<br />

braucht einfach zwei, drei Jahre.“ Das Bekanntmachen geht einher<br />

mit dem Werben um Patienten. Wie sich <strong>die</strong>ses Anpreisen der eigenen Leistung<br />

in der Realität eines Arztes <strong>des</strong> Privatspitals ausgestaltet, verdeutlicht der<br />

Leaver Adrian L.: „In meinem Gebiet läuft sehr viel über <strong>die</strong><br />

Arbeitsleistung, über <strong>die</strong> Zuweiserzufriedenheit, <strong>die</strong> Patientenzufriedenheit,<br />

das ist M<strong>und</strong>-zu-M<strong>und</strong>-Werbung <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

ist viel, viel wichtiger als jeder Glanzprospekt. Und eben<br />

<strong>die</strong> Frage hinsichtlich <strong>des</strong> Sich-Sorgen-machens, ob es am<br />

Ende lediglich um das Geldmachen geht, Management, Konzern<br />

520


<strong>und</strong> so, das ist so, das ist eine Sorge. (…) Es ist folglich<br />

auch ein Wirtschaftsfaktor, das Ganze ist aber leider nicht<br />

produktiv oder nicht direkt produktiv.“ Der Leaver Bernd A.<br />

stimmt Adrian L. in Bezug auf <strong>die</strong> M<strong>und</strong>-zu-M<strong>und</strong>-Propaganda scheinbar zu,<br />

dementsprechend trage auch eine gutes Beziehungsnetz zu den hausärztlichen<br />

Zuweisern zum Erfolg <strong>des</strong> Abwerbens bzw. Bewerbens von Patienten bzw.<br />

K<strong>und</strong>en bei: „Dann probieren mit den Hausärzten in Kontakt zu<br />

kommen, dass Patienten Werbung machen, Patienteninformationen.<br />

Sie müssen auf einem anständigen Niveau Werbung machen.<br />

Sie dürfen nicht gross in der Zeitung ein Inserat<br />

machen, das wird nicht toleriert. Sie müssen einfach ...<br />

Besser ist M<strong>und</strong>-zu-M<strong>und</strong>-Propaganda, das ist das Beste. Es<br />

ist ganz schwierig in <strong>die</strong>ser Region hier, da es ganz eingefahrene,<br />

strukturierte Verhältnisse hier sind. Es gibt Leute,<br />

<strong>die</strong> weisen nur ins Kantonsspital zu, nur, nur, <strong>die</strong><br />

kennt man mit Namen, <strong>und</strong> es gibt solche, <strong>die</strong> weisen nur in<br />

<strong>die</strong> Privatklinik zu, alle <strong>die</strong>, <strong>die</strong> sie können, <strong>die</strong> versichert<br />

sind für <strong>die</strong> Privatklinik.“ Entgegen der Aussage von Adrian<br />

L. hinsichtlich der unprofitablen Anpreisung ärztlicher Leistungen in Hochglanzmagazinen,<br />

bewirbt eines der grössten Privatspitäler dennoch ihre Fachzentrenten<br />

<strong>und</strong> Fachkräfte in einem <strong>die</strong>ser Magazine. Unter anständiger Werbung<br />

versteht beispielsweise <strong>die</strong> grösste Schweizer Privatklinikgruppe das<br />

Inserieren von Fachgesprächen im Flugzeugmagazin von renommierten Fluggesellschaften<br />

(im Fachjargon „Publireportage“ genannt), wo zum Ende <strong>des</strong><br />

Gesprächs mit zwei Ärzten der Privatklinik, das zum Inhalt einen medizinischen<br />

Fachbereich bzw. ein Krankheitsbild hat, <strong>die</strong> Vorzüge der Privatklinikgruppe<br />

erläutert werden (Name der Zeitschrift aus Gründen der Anonymität<br />

nicht genannt). Besonders hervorgehoben werden hierbei <strong>die</strong> Fachzentren <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> exklusive Betreuung durch Fachärzte, wobei betont wird, dass ausschliesslich<br />

Fachärzte in jenem Spital <strong>die</strong> Patientenbetreuung vornehmen. Hinzukommt<br />

<strong>die</strong> angepriesene Hotellerie <strong>des</strong> Privatspitals, <strong>die</strong> zum Wohlfühlambiete beitragen<br />

soll. Am Ende <strong>des</strong> Artikels wird zumeist darauf hingewiesen, dass ausschliesslich<br />

Zusatzversicherte <strong>die</strong> stationären Leistungen in Anspruch nehmen<br />

können. Bereits beim Lesen <strong>des</strong> Artikels <strong>und</strong> beim Betrachten der abgebildeten<br />

<strong>und</strong> im Vergleich zum Text überdimensionalen Fotos der Ärzte <strong>und</strong> ihrer privatärztlichen<br />

Räumlichkeiten wird der Gr<strong>und</strong>stein für eine anschliessende<br />

Kontaktaufnahme gelegt. Hinzukommt, dass sich <strong>die</strong> Patienten durch <strong>die</strong> im<br />

Artikel veröffentlichten Erläuterungen der Ärzte zu einem Krankheitsbild in-<br />

521


formiert <strong>und</strong> aufgeklärt fühlen, wodurch eine unvergleichliche Vertrauensbasis<br />

geschaffen wird, <strong>die</strong> sich ein Arzt im öffentlichen Spital beim Erstgespräch erst<br />

erarbeiten muss. Obwohl das Ärzteteam am öffentlichen Spital <strong>die</strong>selben<br />

Krankheitsbilder anhand ihrer Expertise begutachtet, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s insbesondere<br />

auch in Kooperation mit Kollegen anderer Fachbereiche, scheint das Werben<br />

um Patienten nicht vonnöten. Im Hinblick auf <strong>die</strong> propagierten Vorzüge hoben<br />

<strong>die</strong> Stimmen der Leaver <strong>die</strong> spitalinternen Konkurrenzstrukturen innerhalb der<br />

Ärzteschaft exemplarisch hervor. Dementsprechend verdeutlichte sich auch das<br />

in den Fachzentren ungenügende bzw. teils inexistente Kooperationsverhalten,<br />

welches sich wiederrum negativ auf <strong>die</strong> Patientenbehandlung auswirke. Walter<br />

I. verdeutlicht seine Einstellung zu seiner Tätigkeit am Privatspital <strong>und</strong> zur<br />

Patientenakquise folgendermassen: „Ich betreibe hier quasi einen<br />

kleinen Laden auf dem freien Markt <strong>und</strong> <strong>die</strong>s zusammen mit<br />

einer Spezialistengruppe bestehend aus vier Spezialisten.<br />

Wir unterstützen uns wo nötig <strong>und</strong> wo gewünscht. Ansonsten<br />

bin ich ein Spezialist, der seine Produktpalette auf dem<br />

Markt anbietet. Mein Challenge ist, meine Produkte den Leuten<br />

schmackhaft zu machen, damit sie mir Patienten zuweisen.“<br />

Aller Werbung <strong>und</strong> marketingorientierten Strategien gemein ist <strong>die</strong> teils<br />

überzeichnete Darstellung der Realität. Im Ges<strong>und</strong>heitswesen wurde bis anhin<br />

der Verkauf <strong>des</strong> Produkts Ges<strong>und</strong>heit, der ärztlichen Leistung bzw. <strong>des</strong> medizinischen<br />

Fachwissens <strong>und</strong> der Patientenbetreuung vollständig unterb<strong>und</strong>en.<br />

Dies beruhte einerseits auf dem unvergleichlichen Berufsethos <strong>des</strong> Arztes, der<br />

„Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich an antiökonomischen Werten orientierte Erbringung<br />

der medizinischen Gr<strong>und</strong>versorgung für das Gemeinwohl. Die<br />

Leaver haben entsprechend der dem Privatspital zugr<strong>und</strong>e gelegten Wirtschaftslogik<br />

eine Ausgestaltung ihrer ärztlichen Dienstleistung entsprechend<br />

der bestmöglichsten Platzierung auf dem Markt offenbart. Hiermit geht eine<br />

deutliche Akquise zusatzversicherter Patienten mit dem Ziel einer höchstmöglichen<br />

Profitgenerierung für sich <strong>und</strong> das Spital einher, wodurch sich <strong>die</strong> voranschreitende<br />

„Marktvergesellschaftung“ nochmals exemplarisch verdeutlicht.<br />

5.2.3.2 K<strong>und</strong>enselektion versus Gr<strong>und</strong>versorgung<br />

Die Zeugnisse der Stayer offenbaren eine hohe Verb<strong>und</strong>enheit mit dem breiten<br />

Patientengut, das sich aus Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Zusatzversicherten zusammensetzt <strong>und</strong><br />

offenk<strong>und</strong>ig für das öffentliche Spital steht. Für Joachim A. beispielsweise stellt<br />

das durch das breite Patientengut ermöglichte Abbild eines Querschnitts durch<br />

522


alle Bevölkerungsschichten eine wesentliche Attraktivität <strong>des</strong> öffentlichen Spi-<br />

tals dar: „Sie haben nicht dasselbe Patientengut, wir haben<br />

alle Patienten hier minus dasjenige Segment, das einfach<br />

nur in <strong>die</strong> Privatklink geht (…) wir haben aber eigentlich<br />

im Ganzen eine optimale <strong>und</strong> sehr befriedigende Versorgung.<br />

(…) Die Attraktionspunkte sind klar, wie wir bereits gesagt<br />

haben, so ist das Oberste das öffentliche Spital, welches<br />

vom Patientengut her attraktiv ist, <strong>und</strong> sich alle Möglichkeiten<br />

auf einen Ort konzentrieren. (…) Das öffentliche<br />

Spital ist für mich noch immer ,das Spital‘, da kommen<br />

durch einen Trichter alle zusammen. (…) Dieses Spital hier<br />

ist eine ganz bedeutende Stufe höher, auch vom Patientengut<br />

her betrachtet.“ Mit <strong>die</strong>sem umfassenden Abbild differenziere sich das<br />

öffentliche Spital massgeblich vom Privatspital. Hinzukommt <strong>die</strong> damit einhergehende<br />

medizinische Bandbreite an Krankheitsbildern, <strong>die</strong> exemplarisch für<br />

das öffentliche Spital als Gr<strong>und</strong>versorger steht: „Ja, man hat <strong>die</strong> gesamte<br />

fachliche Bandbreite, <strong>die</strong> gesamte Bandbreite an Versichertenstatus.<br />

In jeder Hinsicht <strong>die</strong> gesamte Breite. Es ist<br />

umfassend <strong>und</strong> <strong>die</strong>s reizt enorm.“ Dass besonders im Falle eines<br />

Notfalls das öffentliche Spital Anlaufstelle für jedermann <strong>und</strong> dementsprechend<br />

jegliches medizinisches Bedürfnis steht, erläutert Joachim A. folgendermassen:<br />

„Ihnen fehlt aber eben das Patientengut der Allgemeinversicherten,<br />

sie haben natürlich ein selektiertes Patientengut,<br />

<strong>die</strong> privatversicherten Patienten. Im öffentlichen<br />

Spital dagegen trifft man auf alle Patienten. Man hat<br />

eine grosse Notfallstation für alle Patienten. Man hatte<br />

keine Limite im Gr<strong>und</strong>e genommen.“ Petra S. stimmt den Ansichten<br />

ihres Kollegen zu <strong>und</strong> betont, dass <strong>die</strong> Möglichkeit der Betreuung von Patienten<br />

aller Bevölkerungsschichten wesentlich zu ihrem Entscheid gegen eine<br />

ärztliche Tätigkeit im Privatspital beigetragen habe: „Ich habe aber immer<br />

gesagt, dass ich nie in ein privates Spital gehen möchte.<br />

Immer, immer. Also erstens gefallen mir <strong>die</strong> Menschen, <strong>die</strong><br />

wir hier behandeln, das ist einfach <strong>die</strong> Bevölkerung. (…)<br />

Ich finde auch, dass <strong>die</strong> Patienten, <strong>die</strong> wir hier haben,<br />

einen Querschnitt durch <strong>die</strong> ganze Bevölkerung darstellen.<br />

Betrachtet man es vom Medizinischen her, dann ist <strong>die</strong>s das<br />

ganze Spektrum der Medizin, das ist enorm breit <strong>und</strong> eine<br />

spannende Herausforderung.“ Auch Hans S. verleiht seiner Verb<strong>und</strong>enheit<br />

mit dem öffentlichen Spital folgendermassen Ausdruck: „Und auch hier<br />

ist einer der Gründe, weshalb ich nie ging <strong>und</strong> ich es auch<br />

523


nicht bedauert habe: eine gewisse Verb<strong>und</strong>enheit mit dem<br />

Konzept <strong>des</strong> öffentlichen Spitals, der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung,<br />

wie wir sie in der Schweiz haben <strong>und</strong>, dass <strong>die</strong> Basisversorgung<br />

in einem öffentlichen Spital gewährleistet werden<br />

muss <strong>und</strong> so weiter. Dass man eine Gr<strong>und</strong>versorgung der<br />

Bevölkerung zu garantieren hat <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>.“ Petra S.,<br />

Joachim A. <strong>und</strong> Hans S. betonen ihre Verb<strong>und</strong>enheit mit dem öffentlichen Spital,<br />

welche insbesondere mit dem ihm zukommenden Auftrag der Sicherstellung<br />

<strong>des</strong> Gemeinwohls der gesamten Öffentlichkeit einhergeht. Petra S. erachtet<br />

ihre Fachkompetenz als Kapital, das sie dem öffentlichen Spital als Gr<strong>und</strong>ausbilder<br />

verdankt <strong>und</strong> womit ihr dementsprechend auch <strong>die</strong> Pflicht der Verwertung<br />

<strong>die</strong>ses Kapitals zukommt, indem sie ihr breites medizinisches Fachwissen<br />

der Bevölkerung zugänglich macht: „Ich bin der Überzeugung, dass<br />

ich mit <strong>die</strong>ser Erfahrung, <strong>die</strong> ich nun habe, viel Medizin<br />

gesehen <strong>und</strong> gemacht habe, ein wirklich sehr grosses Spektrum,<br />

dass ich <strong>die</strong>ses auch der breiten Bevölkerung zukommen<br />

lassen möchte.“ Das bereits angesprochene parasitäre Verhalten der<br />

Leaver verdeutlicht sich erneut in der das Privatspital kennzeichnenden Patientenselektion<br />

<strong>und</strong> dem damit einhergehenden selektiven Zugang zur medizinischen<br />

Expertise, <strong>die</strong> dem öffentlichen Spital zu verdanken ist.<br />

Im Rahmen der Erläuterungen zur Einführung der neuen Spitalfinanzierung<br />

wurde bereits zur Quersubventionierung der Ausgaben für allgemeinversicherte<br />

Patienten durch <strong>die</strong> Beiträge der Zusatzversicherten in öffentlichen Krankenhäusern<br />

Stellung genommen. Die öffentlichen Spitäler sind vermeintlich auf <strong>die</strong><br />

Behandlung Zusatzversicherter angewiesen, was zur Konkurrenzierung zwischen<br />

den öffentlichen <strong>und</strong> privaten Einrichtungen beiträgt. Joachim A. verdeutlicht,<br />

dass insbesondere bei allgemeinversicherten polymorbiden Patienten,<br />

<strong>die</strong> auf langjährige Krankheitsgeschichten blicken, <strong>die</strong> Einnahmen seitens <strong>des</strong><br />

Kantons <strong>und</strong> der Versicherungen nicht mehr vermögen, <strong>die</strong> Kosten der Behandlungen<br />

zu decken <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen nach Ausweichmöglichkeiten bzw.<br />

nach Wegen der Umlagerung der Kosten Ausschau gehalten werden müsse:<br />

„Wir hier haben natürlich auch noch viele anspruchsvolle<br />

Fälle, <strong>die</strong> uns interessieren, <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb sind wir auch<br />

hier. Bei denen müssen wir Interventionen vornehmen, <strong>die</strong><br />

sich dann nicht mehr rechnen. Komplizierte Eingriffe finden<br />

im Tarmed einen schlechten Niederschlag. Zu seiner Zeit<br />

sagte der Professor, der von einem öffentlichen Spital in<br />

524


eine Privatklinik ging <strong>und</strong> dort ein Zentrum für unseren<br />

Fachbereich gründete, wenn du Geld machen willst, dann<br />

musst du kein ECP mehr machen, das ist so eine ... Alle<br />

<strong>die</strong>se komplexen Eingriffe sind im Tarmed relativ schlecht<br />

abgebildet. Viele einfache Eingriffe zu tätigen bringt<br />

Geld. Bringt einem aber keine furchtbare Befriedigung. Man<br />

muss dann eine Mischrechnung machen, das kann man dann in<br />

unserer Struktur eben auch wieder. Ich bin mit meiner Stelle<br />

hier noch immer wahnsinnig glücklich, das spüren Sie<br />

vielleicht ... Dann haben wir eben einen Mix. Wenn ich eine<br />

St<strong>und</strong>e für ein ECP verwende, dann können wir <strong>die</strong>s natürlich<br />

schon abrechnen, innerhalb <strong>die</strong>ser St<strong>und</strong>e kann man aber ganz<br />

viele einfache Eingriffe machen. Und wir hier haben dann<br />

eben so einen Mix.“ Joachim A. legt dar, inwiefern Finanzierungsmodelle<br />

<strong>und</strong> -systeme ärztliche Leistungen <strong>und</strong> Behandlungen vermeintlich einschränken<br />

können, zu Indikationen verleiten, <strong>die</strong> in einer Mengenausweitung oder<br />

Mengeneinschränkung resultieren <strong>und</strong> zur Abweichung der Behandlung <strong>des</strong>selben<br />

Krankheitsbil<strong>des</strong> je nach Versichertenklasse führen. Hierzu erneut Victor<br />

H., der bereits im Zusammenhang mit den spitalinternen Kontrollmechanismen<br />

auf <strong>die</strong> Gefahr fehlerhafter bzw. mangelhafter Indikationsstellungen verwiesen<br />

hatte: „Wie gesagt, wir haben es in der Hand unsere Leistungen<br />

zu erweitern, wenn ich einem Patienten sage, hören Sie<br />

mal, Sie brauchen <strong>die</strong>se <strong>und</strong> jene Untersuchung, dann glaubt<br />

der Patient mir <strong>die</strong>s, falls ich ihm <strong>die</strong>s gut erzähle. Er<br />

weiss ja nicht, ob ich eine gute Indikation gestellt habe,<br />

<strong>die</strong>s überprüft ja niemand, weder am öffentlichen noch am<br />

privaten Spital.“ Stationäre <strong>und</strong> ambulante Leistungen werden, wie<br />

bereits im Rahmen <strong>des</strong> Kapitels 2.2.1.3 erläutert wurde, anhand unterschiedlicher<br />

Tarifsystem abgegolten. Die ambulanten Leistungen werden nach TAR-<br />

MED abgegolten, einem einheitlichen Einzelleistungstarif für ambulante ärztliche<br />

Leistungen, <strong>die</strong> stationären Leistungen der OKP (obligatorischen Krankenpflegeversicherung)<br />

hingegen seit dem 1.1.2012 anhand der umstrittenen DRG<br />

bzw. SwissDRG. Bis anhin wurden <strong>die</strong> Tarife für <strong>die</strong> Behandlung Zusatzversicherter<br />

jedoch zwischen den Versicherungen <strong>und</strong> den Privatspitälern verhandelt<br />

<strong>und</strong> führten, im Gegensatz zu den OKP-Tarifen, <strong>die</strong> für alle Versichertenklassen<br />

gelten, zu einer finanziell wesentlich attraktiveren Abgeltung. Adrian L.<br />

verdeutlicht in seiner nachfolgenden Aussage, dass auch <strong>die</strong> Kapazität der<br />

Privatspitäler teilweise auf Engpässe stösst. In Anbetracht der Erläuterungen<br />

zur finanziellen Abgeltung Zusatzversicherter im Gegensatz zu Allgemeinver-<br />

525


sicherten <strong>und</strong> <strong>die</strong> gewinnmaximierenden Strukturen der Privatspitäler wird <strong>die</strong><br />

Verlegung ins öffentliche Spital in erster Linie <strong>die</strong> Allgemeinversicherten treffen,<br />

um genügend Kapazität für <strong>die</strong> Zusatzversicherten, <strong>die</strong> zweifelsohne <strong>die</strong><br />

anvisierte K<strong>und</strong>engruppe der Privatspitäler darstellen, bereitzuhalten: „Ich<br />

kann Ihnen einfach sagen, als ich hierher gewechselt habe,<br />

habe ich gesagt, dass ich <strong>die</strong>s nur mache, wenn ich auch<br />

Allgemeinversicherte weiterbehandeln kann, <strong>und</strong> wenn ich <strong>die</strong><br />

Gewähr habe, dass ich <strong>die</strong>se auch stationär behandeln kann,<br />

wenn es nötig ist. Das waren meine Bedingungen, ansonsten<br />

wäre ich nicht gekommen, <strong>und</strong> das ist auch so. Es gibt ganz<br />

selten Ausnahmen. Je<strong>des</strong> Spital ist irgendwann mal voll, <strong>und</strong><br />

dann ist es einfach voll, dann müssen sie eine andere Lösung<br />

finden.“ Und fügt hinzu: „Übrigens das Service Public, ich<br />

bin natürlich klar der Meinung, dass sich das öffentliche<br />

<strong>und</strong> private Spital darin viel weniger unterscheiden, als<br />

man immer denkt. Die Klischees, <strong>die</strong> ich immer höre, dass<br />

man sich nur um <strong>die</strong> Reichen kümmert <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen einem<br />

nicht interessieren <strong>und</strong> solche Sachen, das stimmt einfach<br />

nicht.“ Im Hinblick auf stetig steigende Krankenversicherungsprämien<br />

werden Zusatzversicherungen auch inskünftig nur von jenen finanziell getragen<br />

werden können, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> nötigen monetären Ressourcen verfügen. Ein<br />

gewinnorientiertes Privatspital wird sich wie ein Unternehmen der Privatwirtschaft<br />

auch an jenen K<strong>und</strong>en orientieren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> nötigen Mittel besitzen, um<br />

sich <strong>die</strong> Zusatzversicherungsprämien leisten zu können, dank derer dem Privatspital<br />

ein deutlich höherer monetärer Mehrwert zukommt als dem öffentlichen<br />

Spital, das sowohl Allgemein- als auch Zusatzversicherte betreut. Der<br />

Leaver Bernd A. veranschaulicht <strong>die</strong>se Tatsache exemplarisch: „Es hat sich<br />

insofern verändert, dass wir seit dem Sommer 2008 40% weniger<br />

Honorar für <strong>die</strong> Allgemeinen erhalten, <strong>die</strong> sind<br />

schlichtweg einfach nicht mehr kostendeckend. Dies weder<br />

für das Haus noch für uns. Das hat sich so verändert, dass<br />

wir einfach weniger Möglichkeiten haben allgemeinversicherte<br />

Patienten zu behandeln. (…) Wenn Sie jetzt allgemeinversichert<br />

sind, dann sage ich zu Ihnen, dass Sie für jeden<br />

Tag, für welchen Sie hier sind, ein Defizit von 250 Franken<br />

verursachen. Gehen Sie als Privatperson einen Handel mit<br />

einem K<strong>und</strong>en ein, bei welchem Sie jeden Tag 250 Franken<br />

einfach so drauflegen?“ Bernd A. illustriert einerseits <strong>die</strong> Kommodifizierung<br />

<strong>des</strong> Gutes Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> offenbart <strong>die</strong> ungeschminkte <strong>und</strong> nackte<br />

526


Wahrheit seiner Orientierung an der ökonomischen Dimension der ärztlichen<br />

Handlung. Allgemeinversicherte Patienten rechnen sich demzufolge für ein<br />

Privatspital nicht, da einerseits <strong>die</strong> Tarife der OKP <strong>die</strong> Kosten der Behandlung<br />

eines Allgemeinversicherten nicht stetig vollumfänglich zu decken vermögen<br />

(so auch teilweise am öffentlichen Spital) <strong>und</strong> sich andererseits <strong>die</strong> Tarife der<br />

Behandlung Zusatzversicherter wesentlich attraktiver ausgestalten. Hinzu-<br />

kommt, dass dem Arzt ein Honorar für <strong>die</strong> stationäre Behandlung Zusatzversi-<br />

cherter zusteht. Der nackten Wahrheit blicken gewisse Leaver aber auch unger-<br />

ne in <strong>die</strong> Augen, was folgende Zeugnisse von Adrian L. <strong>und</strong> Walter I. verdeut-<br />

lichen. Adrian L. erachtet <strong>die</strong> Ausgestaltung der versicherungstechnischen<br />

Finanzierungsmodelle als problematisch <strong>und</strong> legitimiert gleichzeitig <strong>die</strong> vermeintlich<br />

geringere Betreuung von Notfällen in Privatspitälern: „Man war in<br />

der Nacht vielleicht mehr im Einsatz als hier, da gerade<br />

akute Sachen am öffentlichen Spital etwas häufiger sind als<br />

hier <strong>und</strong> auch weil sie hier nur zusatzversicherte Patienten<br />

hinschicken können. Wenn in der Nacht ein Notfall geschieht,<br />

dann ist es manchmal mühsam <strong>die</strong> Versicherungsklasse<br />

in der Nacht abzuklären, <strong>und</strong> so schicken <strong>die</strong> zuweisenden<br />

Ärzte <strong>die</strong> Leute ins öffentliche Spital. Oder andere umliegende<br />

Spitäler schicken <strong>die</strong> Patienten in der Nacht in ein<br />

öffentliches Spital. Das sind aber auch versicherungstechnische<br />

Probleme, <strong>die</strong> in der Nacht nicht zu lösen sind. (…)<br />

Macht man bei einem nicht zusatzversicherten Patienten etwas<br />

Verrücktes, dann gibt es eine riesige Schreiberei hin<br />

<strong>und</strong> her, da geklärt werden muss, wer <strong>die</strong>s nun bezahlt. Die<br />

Kasse bezahlt in einem solchen Fall ja nichts. Von daher<br />

waren Nacht<strong>die</strong>nste am öffentlichen Spital sicherlich häufiger<br />

als hier, wir haben aber auch hier Nachteinsätze.“ Adrian<br />

L. beruft sich auf <strong>die</strong> 15% Gr<strong>und</strong>versicherte, <strong>die</strong> das Privatspital, an welchem<br />

er tätig ist, aufnimmt. Beachtet werden muss, dass bei unklarem Versicherungsstatus<br />

zumeist <strong>die</strong> Notfallaufnahme <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses<br />

zur Pflicht gerufen wird. Hiermit soll eine rasche Versorgung <strong>und</strong> eine Deckung<br />

der Kosten durch <strong>die</strong> Krankenkassen sichergestellt werden, wobei <strong>die</strong>ser<br />

Versorgung zumeist <strong>die</strong> öffentlichen Spitäler gerecht werden müssen. Gleichzeitig<br />

bedeutet <strong>die</strong>s, dass Privatspitäler <strong>die</strong> teuren Notfallzentren in geringerem<br />

Umfang personell zu besetzen <strong>und</strong> aufrechtzuerhalten haben als <strong>die</strong> öffentlichen<br />

Spitäler, <strong>die</strong> der Gr<strong>und</strong>versorgung nachkommen. Adrian L. lässt den<br />

Vorwurf der Rosinenpickerei nicht gelten, da auch seine Privatklinik für <strong>die</strong><br />

527


Versorgung der Masse einstehe, er räumt aber gleichzeitig ein, dass Gr<strong>und</strong>ver-<br />

sicherte aufgr<strong>und</strong> der fehlenden kantonalen Subventionen nun mal finanziell<br />

unattraktiv seien. Dieser Vorwand verliert ab der Einführung der SwissDRG<br />

<strong>und</strong> der Veröffentlichung der Listenspitäler, auf welche sich auch Privatspitäler<br />

setzen lassen können, an Gültigkeit. Ist ein Privatspital als Listenspital gelistet<br />

bzw. hat sich <strong>die</strong>ses um einen Platz auf der Liste beworben <strong>und</strong> ihn auch erhalten,<br />

werden <strong>die</strong>sem wie auch dem öffentlichen Spital, das sich gleichermassen<br />

um einen Platz bewerben muss, kantonale Subventionen für <strong>die</strong> OKP-<br />

Leistungen an Gr<strong>und</strong>versicherten zugestanden: „Für mich ist der Unterschied,<br />

ich sag jetzt mal, bezüglich der Seite der Ökonomie,<br />

der Seite <strong>des</strong> Business, sehr klein. Wenn das Kantonsspital<br />

beispielsweise sagt, das Klischee: <strong>die</strong> Privatklinik<br />

zockt ab, Rosinenpicker, dann muss ich sagen, das<br />

stimmt nicht mehr, das ist Schnee von gestern. Es ist ein<br />

Akutspital mit allen Infrastrukturen, <strong>die</strong> es für eine akute<br />

Versorgung braucht. Das Zweite ist, dass es auch einen Anteil<br />

an allgemeinen Patienten hat, ein beachtlicher Anteil<br />

der Betten ist allgemein, es sind etwa 30 Betten auf 200<br />

Betten. Das heisst, dass wir Allgemeine haben, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Allgemeinen<br />

werden hier nicht subventioniert. Die Privatklinik<br />

muss mit dem Erwirtschafteten der Privat- <strong>und</strong> Halbprivatpatienten<br />

das Defizit der Allgemeinen decken. Das wird ja<br />

auch nicht wahrgenommen, dass sich der Kanton dort nicht<br />

einschaltet oder eingeschaltet hat.“ Walter I. befürchtet, dass mit<br />

oder ohne DRG <strong>die</strong> Schweiz sich genauso in Richtung einer Zwei-Klassen-<br />

Medizin bewegt wie <strong>die</strong> umliegenden Nachbarländer. Er ist der Meinung, dass<br />

<strong>die</strong> Patientenversorgung in der Schweiz noch immer auf einem sehr hohen<br />

Niveau stattfinde, dass aber <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong><br />

damit einhergehend auch <strong>des</strong> beruflichen Alltags <strong>des</strong> Arztes in der bevorteilten<br />

Behandlung Zusatzversicherter resultiere. Walter I. fügt <strong>die</strong> zahlreichen Vorteile<br />

einer Zusatzversicherung an, räumt aber ein, dass beispielsweise <strong>die</strong> Chefarztbetreuung,<br />

<strong>die</strong> dem zusatzversicherten Patienten zugestanden wird bzw.<br />

für welche er monatlich eine höhere Versicherungsprämie bezahlt, nicht erwiesenermassen<br />

als medizinisch bessere Betreuung gilt. Obwohl er <strong>die</strong> Meinung<br />

vertritt, dass <strong>die</strong> Patientenbetreuung nicht an Qualität eingebüsst hat, stellt er<br />

einen erhöhten monetären Druck fest, der massgeblich auf den Schultern der<br />

Ärzte lastet <strong>und</strong> der mit vermeintlichen Sparmassnahmen einhergeht. Gemäss<br />

Walter I. werden sich <strong>die</strong>se finanziellen Konsequenzen auf <strong>die</strong> Patientenbetreu-<br />

528


ung <strong>und</strong> ihre medizinische Versorgung auswirken: „Wir sprechen hier in<br />

der Schweiz noch immer von einem hohen Niveau. Dass sie<br />

eine Behandlung abbrechen müssen, da das Geld nicht mehr<br />

reicht, ist bei uns eigentlich noch keine Realität, das<br />

gibt es eigentlich nicht. Aber, dass sie aber mehr <strong>und</strong> mehr<br />

Patienten aus dem Spital drängen, sie Entlassungen frühzeitig<br />

tätigen, um im Budget gut auszuschauen, um <strong>die</strong> durchschnittliche<br />

Hospitalisationszeit zu senken, hier geht es<br />

knallhart zu <strong>und</strong> her. (…) Sie werden dort immer mehr gedrückt,<br />

was in Zukunft noch schärfer auf uns zukommen wird.<br />

Das geht dann in Richtung Zwei-Klassen-Medizin. Das führt<br />

dazu, dass sie dann dazu verlockt werden, einen zusatzversicherten<br />

Patienten schneller zu behandeln, vielleicht medizinisch<br />

betrachtet etwas teurer zu behandeln als den allgemeinversicherten<br />

Patienten. Dies führt zur Öffnung einer<br />

Schere, aus der man sich nicht ganz herausnehmen kann. Wenn<br />

sie sehen, dass sie an <strong>die</strong>sem Patienten mehr ver<strong>die</strong>nen, so<br />

versuchen sie <strong>die</strong>sen auch beschleunigter zu operieren. Bis<br />

heute geschah <strong>die</strong>se Behandlung aber nicht anders als bei<br />

der eines Allgemeinversicherten. (…) Wir laufen klar in<br />

eine Zwei-Klassen-Medizin hinein. Bis heute schlägt sich<br />

<strong>die</strong>s vor allem im Komfort nieder, in der Erfahrung der Ärzte,<br />

<strong>die</strong> sie behandeln. Wenn sie im öffentlichen Spital vom<br />

Assistenten operiert werden, so muss <strong>die</strong>s nicht schlechter<br />

sein, jedoch hat <strong>die</strong>ser weniger Erfahrung. In der Regel<br />

steht ein Oberarzt neben ihm <strong>und</strong> kompensiert <strong>die</strong>sen Mangel<br />

an Erfahrung, dennoch wird es länger gehen, <strong>und</strong> es könnten<br />

vielleicht auch mehr Komplikationen auftreten, was aber<br />

statistisch nie nachgewiesen wurde. Mehr Komplikationen als<br />

<strong>die</strong>s der Fall wäre, wenn sie es sich leisten könnten vom<br />

Chefarzt oder vom erfahrenen Privatchirurgen operiert zu<br />

werden. Auch hier haben wir schon eine gewisse Zwei-<br />

Klassen-Medizin. Neben all dem ist dann eben noch das Einzelzimmer,<br />

das Menu <strong>und</strong> schischi, was es da noch so alles<br />

gibt. Der ärztliche Approach zum Patienten hat sich von<br />

daher nicht geändert, aber der monetäre Druck <strong>und</strong> <strong>die</strong> entsprechenden<br />

Konsequenzen auf <strong>die</strong> Medizin haben begonnen <strong>und</strong><br />

werden so weitergehen.“ Die Zeugnisse der Leaver haben eine, unter<br />

anderem durch <strong>die</strong> Rivalität im Innenleben <strong>des</strong> Krankenhauses <strong>und</strong> insbesondere<br />

zwischen den ärztlichen Fachkräften, wettbewerbsorientierte K<strong>und</strong>enselektion<br />

offenbart. Die Selektion der Patienten findet nach dem Versicherungs-<br />

529


status statt, der all jene bevorzugt, <strong>die</strong> eine Zusatzversicherung abgeschlossen<br />

haben <strong>und</strong> dementsprechend entweder halb- oder privatversichert sind, <strong>und</strong><br />

sowohl für das Spital als auch den Arzt eine finanziell attraktivere Entlohnung<br />

darstellen als <strong>die</strong> über OKP-Tarife der Gr<strong>und</strong>versicherung versicherten Patienten.<br />

Im Falle eines unklaren Versicherungsstatus wird von einer Einlieferung<br />

ins Privatspital abgesehen, um einerseits Streitereien bezüglich der Kostenübernahme<br />

seitens der Versicherungen zu vermeiden, ein Fall der insbesondere<br />

bei Gr<strong>und</strong>versicherten auftritt, <strong>und</strong> um andererseits der profitorientierten Ausrichtung<br />

<strong>des</strong> Privatspitals gerecht zu werden. Die eigene Bereicherung, <strong>die</strong> im<br />

öffentlichen Spital verkannt wird <strong>und</strong> in einem stetigen Widerspruch zum<br />

berufsethischen Selbstverständnis der Stayer steht, gestehen sich <strong>die</strong> Leaver<br />

offenk<strong>und</strong>ig zu <strong>und</strong> legitimieren ihre Handlung, indem sie sich auf <strong>die</strong> kostendeckende<br />

<strong>und</strong> profitorientierte Ausrichtung <strong>des</strong> Spitals, <strong>die</strong> vermeintlich nicht<br />

lukrativen OKP-Tarife <strong>und</strong> <strong>die</strong> fehlenden Subventionen seitens <strong>des</strong> Kantons<br />

berufen. Demzufolge ist <strong>die</strong> Patientenselektion ausschliesslich an monetären<br />

Gegenwerten gekoppelt <strong>und</strong> zeugt von einer für den homo oeconomicus typischen<br />

<strong>und</strong> ausschliesslichen Ausrichtung an ertragreichen K<strong>und</strong>enbeziehungen.<br />

Nebst der Chefarztbetreuung <strong>und</strong> der Hotellerie werden seitens der<br />

Leaver gerne auch <strong>die</strong> enge Beziehung <strong>und</strong> <strong>die</strong> als ganzheitlich angepriesene<br />

Betreuung <strong>des</strong> Patienten als weiterer Vorzug einer stationären Behandlung im<br />

Privatspital hervorgehoben, wie nachfolgen<strong>des</strong> Kapitel zeigt.<br />

5.2.3.3 Ganzheitlichkeit versus Zumutbarkeit ärztlicher Leistungen<br />

Der Patient schätzt eine ganzheitliche Betreuung durch einen Kaderarzt,<br />

wodurch er sich mit seiner Krankheit, seinen Ängsten, Bedürfnissen <strong>und</strong> Anliegen<br />

ernst genommen <strong>und</strong> gut beraten fühlt. Dass <strong>die</strong>se sogenannte ganzheitliche<br />

Betreuungsform <strong>und</strong> der von Walter I. exemplarisch dargelegte monetäre<br />

Druck <strong>die</strong> Gefahr in sich bergen, dass Ärzte Fehlindikationen bzw. ein Übermass<br />

an Untersuchungen, Abklärungen <strong>und</strong> Behandlungen verschreiben, konnte<br />

bereits anhand der vorhergehenden Unterkapitel aufgezeigt werden. Die<br />

Stayer werfen <strong>die</strong> Frage nach der Zumutbarkeit <strong>die</strong>ser Fülle an ärztlichen Eingriffen<br />

gegenüber dem Patienten auf. Das Privatspital wirbt mit einer ganzheitlichen<br />

<strong>und</strong> umfassenden Patientenbetreuung durch einen ausgewiesenen Fachspezialisten<br />

<strong>und</strong> grenzt sich nachdrücklich von der Betreuung durch Assistenzärzte<br />

ab. Das besondere Vertrauensverhältnis bindet den Patienten einerseits an<br />

den Arzt seines Vertrauens <strong>und</strong> andererseits an das Spital, wo ersterer tätig ist.<br />

530


Wobei das Spital als Garant für den Arzt steht <strong>und</strong> der Arzt als Garant für das<br />

Spital. Der Stayer Andreas L. verdeutlicht, inwiefern eine Arzt-Patienten-<br />

Beziehung, <strong>die</strong> massgeblich über <strong>die</strong> Einkommensgenerierung <strong>des</strong> Arztes ent-<br />

scheidet, als ursächlich für eine Abhängigkeit <strong>des</strong> Arztes vom Patienten erach-<br />

tet werden kann: „Sie sind auch vielleicht mehr angeb<strong>und</strong>en. Das<br />

ist dann das alte System, wo Sie für den Patienten Tag <strong>und</strong><br />

Nacht zuständig sind, <strong>und</strong> wenn Sie dann nicht stetig erreichbar<br />

sind, dann haben Sie mit der Zeit dann auch ein<br />

Problem.“ Die Leaver Bernd A., Adrian L. <strong>und</strong> Victor H. begrüssen <strong>die</strong>se<br />

enge Vertrauensbeziehung. Bernd A. offenbart, dass der zeitliche Aufwand für<br />

eine solche Betreuung <strong>die</strong> Grenzen zwischen Arbeitsalltag <strong>und</strong> Freizeit wieder<br />

verstärkt verwischt <strong>und</strong> demzufolge keine reelle Verbesserung der Work-Life-<br />

Balance herbeiführt: „Ich bin mit meinen Privatpatienten mehr<br />

verb<strong>und</strong>en, <strong>die</strong> rufen mich auch am Wochenende an <strong>und</strong> dann<br />

gehe ich, wenn es geht. Es ist anders, <strong>und</strong> irgendwo müssen<br />

sie das entschädigt haben. Es ist einfach eine ganz andere<br />

Philosophie dahinter. Ich würde das nochmals machen, das<br />

ist eine gute Sache, aber es kostet Einsatz, <strong>und</strong> das darf<br />

man nicht ganz unterschätzen, <strong>und</strong> Patienten danken einem,<br />

das ist gut.“ Im Privatspital findet eine Rückbesinnung auf <strong>die</strong> alltäglichen<br />

ärztlichen Tätigkeiten, denen zumeist ein Oberarzt oder Assistenzarzt im<br />

öffentlichen Spital nachzukommen hat, statt, was Adrian L. beispielsweise<br />

begrüsst: „Also ich bin wieder mehr am Patienten. Ich habe<br />

wieder mehr Arbeit, wie ich sie gelernt habe, wie ich sie<br />

gerne mache.“ Und auch Victor H., der im Laufe <strong>des</strong> Interviews erläuterte,<br />

dass er etwa auch wieder Blutentnahmen tätigt, begrüsst <strong>die</strong>se wiedergewonnene<br />

Nähe zum Patienten, räumt aber gleichzeitig ein, dass in einem solchen<br />

Setting wenig Zeit für medizinische Weiterbildung <strong>und</strong> demzufolge auch Forschung<br />

bleibt: „Hier stehen sie eins zu eins an der Front. Von<br />

der Arbeitsintensität her betrachtet, so ist es hier wesentlich<br />

intensiver als am öffentlichen Spital. Da einem am<br />

öffentlichen Spital vieles abgenommen wird, hat man mehr<br />

Zeit mal Literatur zu lesen oder sich weiterzubilden. In<br />

einem Setting wie hier wird <strong>die</strong>s eher schwieriger, da man<br />

hier mehr durch Alltagsarbeiten eingespannt ist, was dann<br />

vielleicht wiederum <strong>die</strong> Schattenseite <strong>des</strong> Ganzen ist.“ Auch<br />

<strong>die</strong> administrativen Tätigkeiten scheinen den Leavern wieder zunehmend angelastet<br />

zu werden. Dem wirtschaftlichen Unternehmertum entsprechend, lastet<br />

531


dem Leaver, der nebst der ärztlichen Leistungserbringung auch für <strong>die</strong> wirt-<br />

schaftliche Aufrechterhaltung der Praxis verantwortlich ist, wieder zusehends<br />

<strong>die</strong> Büroarbeit an. Auch in einer grösseren Praxis fällt <strong>die</strong> administrative Arbeit,<br />

<strong>die</strong> gerne auch als Last der bürokratischen Verwaltungsstrukturen erachtet<br />

wird, wieder auf den Belegarzt zurück, was massgeblich mit seiner unternehmerischen<br />

Oberaufsicht über <strong>die</strong> Bilanz, Erfolgsrechnung <strong>und</strong> das Budget der<br />

Praxis zusammenhängt. Die managementorientierte Unternehmensführung, <strong>die</strong><br />

den Praxen <strong>des</strong> Privatspitals zugr<strong>und</strong>e liegt, führt eine Vermischung der Grenzen<br />

zwischen dem ethisch-moralischen Anspruch <strong>und</strong> der ökonomischen Bereicherung<br />

herbei, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s obwohl <strong>die</strong> Beziehung zum Patienten in der privaten<br />

Versorgungsinstitution als scheinbar wesentlich enger erachtet wird als <strong>die</strong> am<br />

öffentlichen Spital, was nicht zuletzt mit der dortigen hohen Arbeitsbelastung<br />

zusammenhängt. Die steileren bürokratischen Strukturen der öffentlichen Versorgungsinstitutionen<br />

liessen bei den Stayern <strong>die</strong> Vermutung verlauten, dass<br />

<strong>die</strong> damit einhergehenden ansteigenden administrativen Tätigkeiten Kollegen<br />

zur Abwanderung bewegen. Den Aussagen der Leaver ist jedoch eine höhere<br />

Belastung durch administrative Tätigkeiten zu entnehmen.<br />

Victor H. verdeutlicht, dass <strong>die</strong> ganzheitliche Betreuung eine stetige Auseinandersetzung<br />

mit dem Patienten bedingt, welche er teilweise gerne delegieren<br />

würde: „Aber auch der Wechsel in <strong>die</strong> eigene Praxis war schon<br />

etwas sehr Gutes, eine ganz neue Erfahrung, <strong>und</strong> auch der<br />

Patientenkontakt ist sehr viel anders. Sie haben wieder<br />

eins zu eins ihre Patienten. Die Betreuung ihrer Patienten<br />

bringt einfach auch sehr viel Befriedigung. Ab <strong>und</strong> zu gibt<br />

es auch schlechten Feedback, man hat aber auch sehr viel<br />

guten Feedback von den Patienten, eins zu eins, was sie am<br />

öffentlichen Spital weniger haben, da sie nicht so nahe am<br />

Patienten sind. Das ist eigentlich auch das Schöne an der<br />

Praxis draussen. Manchmal kann <strong>die</strong>s logischerweise auch<br />

belastend sein, wenn beispielsweise der Patient anruft,<br />

dann muss ich ans Telefon <strong>und</strong> kann dem Assistenten nicht<br />

sagen: du, nimm das schnell <strong>und</strong> mach das schnell. Diese<br />

Sachen kann man am öffentlichen Spital alle delegieren.“<br />

Victor H. verweist hierbei insbesondere auf <strong>die</strong> geringen Delegationsmöglichkeiten<br />

an Assistenz- <strong>und</strong> Oberärzte, <strong>die</strong> daher rühren, dass das Privatspital<br />

keine bzw. sehr wenige Assistenten einstellt <strong>und</strong> <strong>die</strong> hierarchischen Strukturen<br />

nicht dem Lehrspital entsprechend aufgebaut sind. Die zeitintensive ganzheitli-<br />

532


che Patientenbetreuung <strong>und</strong> der gesteigerte administrative Aufwand gehen auf<br />

Kosten der medizinischen Weiterbildung, der Forschung <strong>und</strong> der eigenen, auf<br />

Erfahrung basierenden Expertise, wie folgende Aussage von Victor H. offen-<br />

bart: „Der Hauptunterschied ist schon, dass man hier wesentlich<br />

mehr persönlich macht. Ich mache hier wesentlich mehr<br />

Arbeit am Patienten <strong>und</strong> administrative Arbeit, als <strong>die</strong>s am<br />

öffentlichen Spital der Fall war. Als Leitender Arzt im<br />

öffentlichen Spital hat man viele Assistenten, <strong>die</strong> einem<br />

<strong>die</strong> ganze administrative Arbeit, den ganzen Schreibkram,<br />

das ganze Diktieren, auch gewisse Untersuchungen am Patienten,<br />

gewisse Nachbetreuungen <strong>und</strong> Voruntersuchungen abnehmen.<br />

Man macht am öffentlichen Spital mehr <strong>und</strong> auch öfter<br />

<strong>die</strong> ganz spezifischen <strong>und</strong> hochspezialisierten Sachen. Hier<br />

ist es wieder einen Schritt zurück, ich mache folglich auch<br />

wieder <strong>die</strong>jenigen Sachen, <strong>die</strong> ich auch als Assistent gemacht<br />

habe. Ich arbeite wieder mehr direkt am Patienten.<br />

Mache zwar noch immer <strong>die</strong> hochspezialisierten Sachen aber<br />

weniger häufig als am öffentlichen Spital. Dafür stehe ich<br />

für alles, was ich hier mache, mehr eins zu eins mit meinem<br />

Kopf hin.“ Auch im folgenden Zitat wird <strong>die</strong> ganzheitliche Betreuung <strong>des</strong><br />

Leavers betont, wobei erneut verdeutlicht wird, dass das öffentliche Spital massgeblich<br />

für <strong>die</strong> Notfallversorgung eintritt, insbesondere, wenn der behandelnde<br />

Arzt bzw. der Belegarzt am Privatspital nicht disponibel ist. Weshalb nicht<br />

sein Kollege am Privatspital in einem solchen Falle seine Aufgabe übernimmt,<br />

ist unklar: „Ich glaube, dass sie hier emotional wesentlich<br />

mehr involviert sind, da eben <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung<br />

hier viel direkter ist. Es ist eine Eins-zu-eins-Beziehung.<br />

Wir haben auch an der Klinik drüben keine Assistenzärzte.<br />

Ich mache meine Visiten beim Patienten am Morgen <strong>und</strong> am<br />

Abend selber. Ich bin für ihn h<strong>und</strong>ert Prozent verantwortlich.<br />

Falls der Patient in der Nacht ein Problem hat, so<br />

ruft man mich an. Oder falls ich nicht gerade Dienst habe,<br />

dann ruft man den Dienst unserer Spezialität am öffentlichen<br />

Spital an. Aber man ist emotional viel enger am Patienten.<br />

(…) Wir machen alles genau gleich wie am öffentlichen<br />

Spital, einen 24-St<strong>und</strong>en-Dienst.“ Victor H. hebt <strong>die</strong> Eigenverantwortung<br />

<strong>des</strong> Arztes gegenüber seinem Patienten hervor <strong>und</strong> betont, dass<br />

<strong>die</strong>se am Privatspital eine vermeintlich bedeutendere Rolle als am öffentlichen<br />

Spital spielt. Die ethische Selbstverantwortung dem Patienten gegenüber<br />

scheint aber am öffentlichen Spital wesentlich höher zu sein. Die Delegierung<br />

533


ärztlicher Betreuung am öffentlichen Spital resultiert aus der darin getätigten<br />

Lehrtätigkeit, dem kooperativen Miteinander <strong>und</strong> den vielfach grösseren Ärzteteams.<br />

Im Gegensatz zum Privatspital wird im öffentlichen Spital <strong>die</strong> Kooperationsbereitschaft<br />

zwischen den Fachgebieten <strong>und</strong> innerhalb den Fachbereichen<br />

als äusserst zentral erachtet, um einer ganzheitlichen Betreuung <strong>des</strong> Patienten<br />

vollumfänglich nachzukommen. Adrian L. versucht, <strong>die</strong> Eigenverantwortung<br />

gegenüber seinen Patienten am Privatspital hervorzuheben, indem er <strong>die</strong> delegierte<br />

Verantwortung der <strong>Chefärzte</strong> an ihre Leitenden Ärzte, Oberärzte oder<br />

Assistenzärzte am öffentlichen Spital verurteilt <strong>und</strong> ersteren ungenügende<br />

Patientenorientierung unterstellt. Dass <strong>die</strong>ses Delegieren massgeblich zur Verantwortungsübernahme<br />

der jungen <strong>und</strong> teils unerfahrenen Ärzte oder zur<br />

Vorbereitung der Leitenden Ärzte auf einen möglichen Chefarztposten beitragen<br />

soll, ist Adrian L. nicht fremd, da er selber von <strong>die</strong>ser Struktur viele Jahre<br />

profitierte, <strong>die</strong> massgeblich zur Herausbildung seiner Fachkompetenz beitrug:<br />

„Am Wochenende hatten wir in der Regel keine Sprechst<strong>und</strong>e<br />

<strong>und</strong> mussten keine stationären Patienten besuchen, da <strong>die</strong>s<br />

dann <strong>die</strong> Abteilung gemacht hat, also der Abteilungsarzt,<br />

der Oberarzt. Natürlich sind sie konsiliarisch ihre Patienten<br />

besuchen gegangen. Ich war häufig auf der Abteilung,<br />

ich habe Patienten dort mit betreut, aber <strong>die</strong> Verantwortung<br />

lag nicht bei ihnen. Wenn es mit einem Patienten ein Problem<br />

gab, dann wurden nicht sie zuerst angerufen, sondern<br />

dann ist der Abteilungsarzt oder der Oberarzt schauen gegangen.<br />

Das ist hier anders. Hier haben sie auch für stationäre<br />

Patienten eine erhöhte Verantwortung. Das ist ein<br />

Unterschied, sie haben hier wieder eine erhöhte Eigenverantwortung.“<br />

Petra S. erachtet <strong>die</strong> in ihrem Team vollzogene Arbeitsteilung<br />

nicht als Umgehung ihrer fachärztlichen Pflichten, sondern sieht darin eine<br />

wesentliches Lehrmöglichkeit für <strong>die</strong> angehenden, aber auch erfahrenen Ärzte,<br />

<strong>die</strong> nebst ihres medizinischen Fachwissens auch Führungskompetenz entwickeln<br />

sollen. Die Leitenden Ärzte im öffentlichen Spital werden später ihrer<br />

Pflicht als Ausbildner nachkommen müssen, insbesondere falls sie eines Tages<br />

<strong>die</strong> Position von Petra S. anvisieren. Als ausgewiesene Experten, <strong>die</strong> inskünftig<br />

<strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung sicherstellen werden, müssen sie <strong>die</strong> Übernahme von<br />

Eigenverantwortung erlernen, damit sie ein kompetentes <strong>und</strong> vertrauenswürdiges<br />

Verhalten ihren Patienten gegenüber offenbaren können, <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses von<br />

ihnen auch anerkannt wird. Die Kaderärzte können zumeist auch durch ihre<br />

534


Doppelfunktionen, <strong>die</strong> ihnen im öffentlichen Spital oft zukommen, <strong>die</strong> Patien-<br />

tenbetreuung nicht in demselben zeitlichen Umfang gewährleisten wie <strong>die</strong><br />

Kollegen an Privatkliniken. Nebst ihrer Funktion als Leitender Arzt oder Chefarzt<br />

füllen sie zumeist auch den Vorsitz <strong>des</strong> Departements aus oder übernehmen<br />

ein zusätzliches Amt wie <strong>die</strong> Mitgliedschaft in der Geschäftsleitung oder<br />

sonstigen internen Gremien. Gleichzeitig ist das Interesse an der medizinischen<br />

Forschung zumeist über <strong>die</strong> zahlreichen Tätigkeitsjahre hinweg ungebrochen,<br />

weshalb Kaderärzte nebst der Ausbildung <strong>und</strong> Weiterbildung <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Nachwuchses gerne <strong>und</strong> oft auch Mitgliedschaften in Forschungsgremien oder<br />

sogenannten Fachgesellschaften pflegen, womit nicht nur eine Vernetzung<br />

innerhalb der nationalen <strong>und</strong> internationalen Ärztegesellschaft einhergeht,<br />

sondern auch <strong>die</strong> eigene Weiterbildung gefördert wird. Petra S. würde eine<br />

enge Patientenbetreuung vermutlich auch begrüssen, jedoch sieht sie wenig<br />

Sinn darin, ihre in zahlreichen Jahren erlangte <strong>und</strong> erwiesene Fachkompetenz<br />

nur einer selektiven Patientengruppe zukommen zu lassen, nur im Dienst <strong>die</strong>ser<br />

selektiven Gruppe zu stehen <strong>und</strong> infolge<strong>des</strong>sen <strong>die</strong> medizinische Betreuung<br />

der gr<strong>und</strong>versicherten Patienten zurückzustellen. Petra S. legt grossen Wert auf<br />

eine umfassende Ausbildung ihres Ärzteteams <strong>und</strong> fördert deren Eigenverantwortung,<br />

damit auch <strong>die</strong> Assistenz- <strong>und</strong> Oberärzte den Arztberuf von der Pike<br />

auf erlernen <strong>und</strong> eine pflichtbewusste Haltung gegenüber den Patienten entwickeln<br />

können, was folgende Aussage verdeutlicht: „Es ist super, er<br />

wird gut versorgt, aber ein Privatpatient, der in eine Privatklinik<br />

geht, hat unheimliche Ansprüche. Dann springen<br />

sie dann vielleicht auch nachts, da vielleicht einer ein<br />

Augenzippern oder Halsweh hat. Die Erwartungshaltung eines<br />

Privatpatienten ist einfach grösser. Und eben, ich würde<br />

nun nicht sagen ungerechterweise für Sachen, von denen ich<br />

nun das Gefühl habe, dass sie fehl am Platz sind <strong>und</strong> ich<br />

nicht einsehe, weshalb ich nun springen muss. Die Ressource,<br />

<strong>die</strong> ich verkörpere mit <strong>die</strong>sem Ausbildungsstand <strong>und</strong><br />

so, setze ich also gescheiter ein, als irgendeinem Privatpatienten<br />

nachzurennen, nur damit er zufrieden ist. (…)<br />

Wenn bei uns einer Privat ist, dann hat er auch Ansprüche<br />

<strong>und</strong> Anrechte, aber dann geht vielleicht in der Nacht dann<br />

eben ein Assistent oder jemand der Intensivmedizin schauen,<br />

dafür muss nicht der Chef aufstehen. Ich weiss auch, dass<br />

<strong>die</strong> Mediziner, <strong>die</strong> in einer der Privatkliniken in Zürich<br />

(Name der Klinik aus Gründen der Anonymität nicht genannt)<br />

sind, sagen, dass sie min<strong>des</strong>tens zwölf bis vierzehn Wochen<br />

535


Ferien benötigen, damit sie <strong>die</strong>sem Stress standhalten können.<br />

Sie werden einfach dermassen konsumiert.“ Der Stayer Daniel<br />

S. betont einerseits <strong>die</strong> enge Beziehung zwischen dem Arzt <strong>und</strong> dem Patienten<br />

am Privatspital, weisst aber auch andererseits auf <strong>die</strong> Gefahr einer allzu<br />

umfassenden Betreuung hin, <strong>die</strong> sich dadurch zeigt, dass der Arzt gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ein finanzielles Interesse an zusätzlichen Untersuchungen <strong>und</strong> Behandlungen<br />

hat. Er vertritt sogar <strong>die</strong> Meinung, dass all jene Patienten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> zahlreichen<br />

Folgeuntersuchungen im Privatspital ablehnen oder sogar austherapiert<br />

sind, an öffentliche Spitäler verlegt werden, da der Patient nicht mehr finanziell<br />

attraktiv ist: „Am privaten Spital weiss man, dass der Patient<br />

oft wegen <strong>des</strong> Arztes das Spital aufsucht, seltener wegen<br />

der Hotellerie oder Emotionalität. (…) Ich glaube aber,<br />

dass es auch heute noch wesentliche Unterschiede zwischen<br />

den privaten <strong>und</strong> öffentlichen Spitälern gibt. Wir versuchen<br />

noch immer Einfluss zu nehmen, sagen: <strong>die</strong>s ist nun <strong>die</strong><br />

Krankheit, was macht man, was kann man machen. Danach wird<br />

diskutiert <strong>und</strong> auch hinterfragt. Das ist das Interessante<br />

an den jungen Leuten, dass man nicht einrostet <strong>und</strong> alles<br />

challenged wird. An einem Privatspital besteht eher <strong>die</strong><br />

Mentalität, was kann man dem Patienten noch alles zumuten,<br />

damit man ihn noch weiter untersuchen kann. Um wirklich ...<br />

Erstens hat es der Patient zwar gerne, dass er unwahrscheinlich<br />

untersucht wird. Aber es ist extrem teuer, <strong>und</strong><br />

er hält es auch nicht aus. Hält er es tatsächlich nicht aus<br />

<strong>und</strong> man weiss es, dann wird er ins öffentliche Spital verlegt.“<br />

Und wieder verfestigt sich das Bild <strong>des</strong> Rückkehrers Bernard S.: „Es<br />

ist eine schöne Adresse, ein schönes Label, ein schönes<br />

Logo, aber in Tat <strong>und</strong> Wahrheit sind alle Einzelkämpfer <strong>und</strong><br />

versuchen für sich das Ganze zu optimieren <strong>und</strong> sorgen nicht<br />

für eine effiziente <strong>und</strong> optimale Behandlung der Patienten.“<br />

Tobias F. stimmt den beiden Ärzten zu, wobei sich in seiner Aussage das zur<br />

Ware werden der Ges<strong>und</strong>heit unmissverständlich verdeutlicht: „Sie haben<br />

einfach das Gefühl, dass wenn Sie zum Arzt gehen, dass er<br />

etwas Gutes für Sie tut, vielleicht tut er aber primär etwas<br />

Gutes für sich, das könnte auch sein. Vom Autohändler<br />

erwarten Sie nichts anderes.“ Tobias F. erachtet das Finanzierungsmodell<br />

der ärztlichen Diagnosen <strong>und</strong> Leistungen als problematisch. Dieses<br />

trage seiner Meinung nach wesentlich zu den Mengenausweitungen bei <strong>und</strong><br />

setze falsche Anreiz, <strong>die</strong> den Arzt zur übermässigen Indikationsstellung veran-<br />

536


lassen würden: „Im Einzelleistungstarif, im ambulanten Bereich,<br />

ist <strong>die</strong>s natürlich so. Das ist aber auch kein Geheimnis.<br />

Wenn Sie in <strong>die</strong> Garage gehen <strong>und</strong> Sie per Schraube<br />

bezahlen, dann gibt es mehr Schrauben, das ist völlig logisch,<br />

da muss man nicht meinen, dass Ärzte anders als der<br />

Rest sind. Der Maler malt eben nach Quadratmeter <strong>und</strong> dann<br />

... Wenn man <strong>die</strong>s verrechnen kann ... Wenn es nach Kilo<br />

geht, dann schmiert er ein wenig mehr Farbe an <strong>die</strong> Wand,<br />

darüber müssen wir nicht lange diskutieren, das ist auch<br />

Blödsinn, dass man <strong>die</strong>s als Risiko betrachtet. Man soll<br />

einen gescheiten Leistungstarif entwickeln, wenn man <strong>die</strong>s<br />

bekämpfen will. Wenn man <strong>die</strong>s nicht bekämpfen will, dann<br />

ist es einfach so.“ Es scheint, dass nebst Leavern wie Bernd A. oder<br />

Walter I. auch der ehemalige Arzt <strong>und</strong> heutige CEO eines Kantonsspitals,<br />

Tobias F., <strong>die</strong> kollektive Heuchelei nicht mehr aufrechterhalten will <strong>und</strong> dabei<br />

eine exemplarische Demontage <strong>des</strong> ärztlichen Charismas vollzieht, wobei als<br />

Schuldige zumeist <strong>die</strong> Finanzierungsmodelle, <strong>die</strong> Versicherungsstrukturen oder<br />

<strong>die</strong> Entlohnungsmodelle genannt werden, <strong>die</strong> zur <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> berufsethischen<br />

Selbstverständnisses <strong>des</strong> Arztes massgeblich beigetragen haben sollen.<br />

Dass aber all <strong>die</strong>se Modelle, Prozesse <strong>und</strong> Strukturen von Ökonomen implementiert<br />

<strong>und</strong> durch <strong>die</strong> Leaver mit ihrem Weggang aus dem öffentlichen<br />

Krankenhaus legitimiert wurden, scheinen nur <strong>die</strong> Wenigsten wahrnehmen zu<br />

wollen.<br />

Die Stayer scheinen im Gegensatz zu den Leavern eine andere Vorstellung der<br />

Ganzheitlichkeit einer ärztlichen Betreuung zu vertreten. Insbesondere <strong>die</strong><br />

gesetzliche Verankerung der 50-St<strong>und</strong>en-Woche erachten einige Stayer <strong>und</strong><br />

vereinzelt auch Leaver als deutlichen Einschnitt in das berufsethische Verständnis<br />

<strong>des</strong> Dienstes für <strong>die</strong> Allgemeinheit. Andreas L. beispielsweise erachtet<br />

<strong>die</strong> zeitliche Beschränkung der alltäglichen Arbeitstätigkeit eines Assistenzarztes<br />

innerhalb seiner Ausbildung als Kulturrevolution, wie folgende Aussage<br />

zeigt: „Ich vergleiche <strong>die</strong>s immer mit der 50-St<strong>und</strong>en-Woche.<br />

Für unseren Beruf war <strong>die</strong>se Regelung eine Art Kulturrevolution.<br />

Vorher wurden wir noch so erzogen, dass <strong>die</strong>s mein<br />

Patient war <strong>und</strong> ich sein Problem lösen werde. Ist das Problem<br />

gelöst, dann gehe ich nach Hause. Heute hat man eine<br />

ganz andere Mentalität. Ich komme dann <strong>und</strong> mache meinen<br />

Job. Wenn meine Schicht vorbei ist, übergebe ich den Patienten<br />

<strong>und</strong> es ist nicht mehr mein Problem. Ich bin nur noch<br />

537


für einen Teilaspekt verantwortlich <strong>und</strong> habe gar keine Gesamtverantwortlichkeit<br />

mehr, da <strong>die</strong>se nach oben delegiert<br />

wird. Das führt zu einem gr<strong>und</strong>sätzlich anderen Verständnis<br />

von Verantwortlichkeit, wenn sie nur noch für einen Zeitraum<br />

verantwortlich sind. Falls sie nicht so Lust haben<br />

oder es nicht um Leben <strong>und</strong> Tod geht, dann sagen sie: schauen<br />

wir mal, ich übergebe dann mal. So ist es. Es ist<br />

menschlich.“ Andreas L. appelliert an den ethischen Anspruch, den er an<br />

seine fachärztliche Tätigkeit richtet, <strong>und</strong> hebt <strong>die</strong> „totale soziale Rolle“ <strong>des</strong><br />

Arztes hervor, der er sich seit seiner Ausbildung zum Arzt verpflichtet fühlte:<br />

„Das ist ganz was anderes, wenn heute ein Patient eine Komplikation<br />

hat, <strong>die</strong> ich verursacht habe, <strong>die</strong>se aber nicht<br />

selber behebe, da <strong>die</strong>se nun nicht mehr meine Schicht ist,<br />

dann ist doch eine ganz andere Situation gegeben. Ich stehe<br />

nicht mehr vor dem Patienten <strong>und</strong> sage: ich löse <strong>die</strong>s nun<br />

mit dir, wir werden das gemeinsam lösen. Ich bin derjenige,<br />

der es verursacht hat, ob <strong>die</strong>s nun ist, weil ich es nicht<br />

gut konnte, oder ob <strong>die</strong> Situation so ist, dass er nicht<br />

mehr so gut heilt oder was auch immer. Dies ist doch eine<br />

ganz andere Situation, als wenn Sie es jemandem übergeben<br />

können. Wenn Sie sagen können, ich habe <strong>die</strong>s nun gemacht,<br />

dumm gelaufen ... sehe dann aber nicht einmal, was geschehen<br />

ist, sondern lasse es mir sagen. Falls Sie dann aber<br />

eine Woche in den Ferien sind, haben Sie es schon wieder<br />

vergessen. Ich bin in einer ganz anderen Generation aufgewachsen.<br />

Man ist dran geblieben. Er war mein Patient im<br />

Guten <strong>und</strong> im Schlechten. Heute steht nur noch meine Tätigkeit<br />

als Spezialist im Vordergr<strong>und</strong>. Ist <strong>die</strong>s dann aber vorbei,<br />

dann stehen wir vor der Problematik der 50-St<strong>und</strong>en-<br />

Woche. Die Problematik, dass falls Sie länger arbeiten müssen,<br />

Sie <strong>die</strong>se St<strong>und</strong>en wieder kompensieren müssen. Es ist<br />

alles völlig abgehackt. Sie sind in dem Falle, dann nur<br />

noch drei, vier Tage hier. Sie haben immer wieder eine andere<br />

Schicht.“ Der Ursprung der Ganzheitlichkeit einer Patientenbetreuung<br />

sieht Andreas L. darin, dass von Beginn <strong>des</strong> Arztstudiums <strong>und</strong> der klinischen<br />

Tätigkeit im Krankenhaus der Assistenzarzt Verantwortung für seine<br />

Tätigkeit am Patienten übernehmen soll. Dass <strong>die</strong>se Form der Ganzheitlichkeit<br />

einen Preis vom Arzt abverlangt, nämlich den der geringen Freizeit <strong>und</strong> der<br />

extrem hohen Präsenzzeiten, <strong>des</strong>sen ist sich Andreas L. bewusst. Er befürchtet<br />

jedoch einen massiven Einschnitt in das berufsethische Selbstverständnis eines<br />

538


Arztes, wenn sich <strong>die</strong>ser der besonderen <strong>und</strong> essentiellen Arzt-Patienten-<br />

Beziehung nicht mehr bewusst ist, sich <strong>die</strong>sem Vertrauensverhältnis entzieht<br />

<strong>und</strong> der eigenen Work-Life-Balance einen Vorzug gegenüber der beruflichen<br />

Verantwortung für das Gemeinwohl gewährt. Der Leaver Walter I. erachtet in<br />

<strong>die</strong>sem Zusammenhang das Autoritätssystem als wesentliche Orientierungs-<br />

struktur, der sich <strong>die</strong> angehenden, aber auch erfahrenen Ärzte unterordnen zu<br />

haben <strong>und</strong> <strong>die</strong> vom Chefarzt bzw. Leitenden Arzt aufrechterhalten werden<br />

muss. Den Kaderätzen kommt in der Ausbildung der jungen Ärzte <strong>die</strong> wesent-<br />

liche Pflicht der Aufrechterhaltung <strong>des</strong> ethischen Berufsverständnisses <strong>des</strong><br />

Arztes, der „Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> <strong>und</strong> der Vermittlung der „totalen sozialen Rol-<br />

le“ zu. Walter I. appelliert demzufolge an das Verantwortungsgefühl der Ka-<br />

derärzte. Es fragt sich nur, wo seines geblieben ist, da er sein fachmännisches<br />

Kapital nicht vererbt, den Pflichten eines geweihten Arztes im Privatspital nicht<br />

mehr nachzukommen hat <strong>und</strong> sich massgeblich auf <strong>die</strong> monetäre Verwertung<br />

<strong>des</strong> Kapitals konzentriert: „Also ich habe <strong>die</strong>se Station noch eine<br />

Woche <strong>und</strong> dann bin ich noch drei Wochen weg. Auf <strong>die</strong>ser<br />

Station hat es vielleicht etliche Probleme, <strong>die</strong> mühselig<br />

sind, Patienten mit Komplikationen, Patienten, <strong>die</strong> auf einen<br />

Kuraufenthalt warten, usw. Diese Probleme sollte man<br />

lösen. Wenn <strong>die</strong>ser aber sagt, nächste Woche bin ich ja weg,<br />

dann kann es derjenige nach mir machen, na ja. Verstehen<br />

sie, was ich meine, es ,menschelet‘ eben überall, so ist<br />

es. Sie können das Ganze nur unter Kontrolle haben, wenn<br />

sie eben Chefvisiten machen. Sie schauen, was dort nicht<br />

läuft <strong>und</strong> fragen, weshalb ist <strong>die</strong>s nicht gelöst, <strong>die</strong>s nicht<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>s nicht <strong>und</strong> sagen, morgen kommt ihr ins Büro <strong>und</strong><br />

zeigt mir, ob es gelöst wurde. Das funktioniert nur so, da<br />

er ja seinen Lohn sowieso hat, egal, ob er nun den Kuraufenthalt<br />

organisiert oder nicht. Verstehen Sie? Ich will<br />

nur klar darstellen, dass eine Klinik komplett anders als<br />

jeder andere Betrieb funktioniert, in welchem sie am Abend<br />

<strong>die</strong> Kasse betrachten können <strong>und</strong> erkennen, ob Frau Meier<br />

genug gearbeitet hat. Das ist hier nicht so. Bis sie wissen,<br />

wie jeder Mitarbeiter funktioniert <strong>und</strong> wie <strong>die</strong>se ihre<br />

Sachen regeln, benötigt es ein Autoritätssystem.“ Daniel S.<br />

sowie auch Andreas L. hegen wenig Verständnis für <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en-Woche, da<br />

auch sie den Preis der geringen Freizeit mit Frau <strong>und</strong> Kind, <strong>die</strong> langen Arbeitstage<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> stetige Abrufbarkeit während der Assistenzarztjahre akzeptierten,<br />

da <strong>die</strong>ser asketische Habitus wesentlich zur Konstitution ihres besonderen<br />

539


„Amtscharismas“ beitrug: „Wir hatten auch eine unwahrscheinliche<br />

Bindung an den Patienten. Wir hatten nicht acht St<strong>und</strong>en<br />

oder eine 50-St<strong>und</strong>en-Woche, sondern arbeiteten nach den<br />

Bedürfnissen der Klinik, das heisst, dass es entweder allen<br />

gut ging, oder man vorbeiging, schaute <strong>und</strong> falls jemand<br />

eine Frage hatte, dann hat <strong>die</strong> Pflege den Assistenten angerufen<br />

oder geschaut, ob er zuhause war oder wie auch immer.<br />

Man hatte damals kein Natel <strong>und</strong> hat sich dann einfach gemeldet,<br />

gesagt, man sei im ,Löwen‘ <strong>und</strong> ging dann einfach<br />

nochmals zurück <strong>und</strong> schaute nach. Man war sicherlich achtzig<br />

bis fünf<strong>und</strong>achtzig St<strong>und</strong>en im Spital präsent. Am besten<br />

war es, da man auch nichts aufschreiben musste, da man ja<br />

jeden Verlauf <strong>des</strong> Patienten gekannt hat.“ Martin A. betrachtet<br />

<strong>die</strong> Diskussionen r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en-Woche wesentlich nüchterner, dennoch<br />

ist auch er sich der Tatsache bewusst, dass <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung<br />

durch <strong>die</strong> Behandlung mehrerer Ärzte während <strong>des</strong> stationären Aufenthaltes<br />

leidet <strong>und</strong> <strong>die</strong> Konsequenz ein erschwerter Aufbau der Vertrauensbeziehung<br />

darstellt: „Auch hier gibt es wieder zwei Seiten. Es gibt sicherlich<br />

Nachteile hinsichtlich <strong>des</strong>sen, da es mehr Wechsel<br />

gibt, also Patienten werden eben von mehr Ärzten betreut,<br />

sei <strong>die</strong>s im Verlauf <strong>des</strong> Tages oder im Verlauf <strong>des</strong> Aufenthaltes<br />

über <strong>die</strong>se verschiedenen Tage hinweg. Es geht bei<br />

jedem Wechsel etwas an Information <strong>und</strong> so weiter verloren,<br />

<strong>die</strong>s mag ein gewisser Nachteil sein. Es ist schwieriger<br />

<strong>die</strong>se Informationen zu sammeln, wenn man mal neu zu einem<br />

Patienten gehen muss. Und andererseits ist natürlich ein<br />

ausgeschlafener <strong>und</strong> zufriedener Arzt, wenn er dann da ist,<br />

wahrscheinlich besser <strong>und</strong> leistungsfähiger ...“ Der Rückkehrer<br />

Bernard S. teilt <strong>die</strong> Bedenken hinsichtlich der Übermüdung der Ärzte nicht,<br />

da seiner Ansicht nach <strong>die</strong> internen Kontrollmechanismen bei einer Übermüdung<br />

greifen. Er erachtet <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en-Woche als kritisch, da nach seinem<br />

Ermessen eine effiziente klinische Ausbildung dadurch wesentlich verzögert<br />

wird: „Diese 50-St<strong>und</strong>en-Woche ist eine absolute Katastrophe.<br />

Das ist der grösste Blödsinn, den man da eingeführt hat. Da<br />

einfach eine grosse Gefahr besteht, dass man operiert oder<br />

behandelt wird von Leuten, <strong>die</strong> keine Erfahrung haben <strong>und</strong><br />

nicht mehr von irgendwelchen übermüdeten Ärzten. Die Übermüdung<br />

ist überhaupt kein Problem. Ich hatte noch nie bei<br />

mir oder anderen das Gefühl, dass eine Gefahr bestand, dass<br />

man übermüdet war. Man hat so viele interne Kontrollen <strong>und</strong><br />

540


Möglichkeiten, wenn man sieht, dass wenn man nun nicht mehr<br />

mag, dass man es anders oder selber organisiert. Die 50-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche verhindert eine effiziente, praktische Ausbildung.<br />

Das ist meine persönliche Meinung.“<br />

Der Stayer Hans S. <strong>und</strong> der Leaver Yann S. sehen in der zeitlichen Regulierung<br />

der Arbeitszeit eine wesentliche Verbesserung gegenüber ihren Assistenzarztjahren.<br />

Hans S. verdeutlicht, dass <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en-Wochen sowohl Vor- als auch<br />

Nachteile in sich bergen: „Das ist heute schon besser, viel besser.<br />

Ich weiss nicht, wie es aus der Perspektive der jungen<br />

Mediziner, <strong>die</strong> betroffen sind, ist, aber <strong>die</strong>s ist wie Tag<br />

<strong>und</strong> Nacht, muss ich sagen. (…) Es gibt heute eine Arbeitszeitregelung.<br />

Was es früher eben viel weniger gegeben hat.<br />

Das hat Vor- <strong>und</strong> Nachteile gehabt. Wir hatten eben eine<br />

intensive Ausbildungszeit, was beispielsweise für chirurgische<br />

Fächer heute teilweise ein Problem ist. Man hat heute<br />

dagegen anständigere Arbeitszeiten, <strong>die</strong> an den meisten Orten<br />

eingehalten werden. Bei uns werden sie sehr eingehalten.“<br />

Der Leaver Yann S. weist daraufhin, dass seine Generation <strong>die</strong> langen<br />

Arbeitstage <strong>und</strong> <strong>die</strong> wenigen Freitage nicht hinterfragte, sondern arbeitete, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s weit über <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en pro Woche hinaus. Die sich hinter <strong>die</strong>sem Einsatz<br />

verbergende Motivation bestand aber nicht darin, dass sich <strong>die</strong> Work-Life-<br />

Balance über <strong>die</strong> Jahre hinweg verbessern bzw. ausgleichen würde, sondern in<br />

dem in Aussicht gestellten künftigen monetären Entgelt. Yann S. verdeutlicht<br />

seine Position folgendermassen: „Ich glaube, dass sich <strong>die</strong> Jungen<br />

in der Medizin, auch <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> klinisch arbeiten,<br />

sagen: es ist gut, es ist schön, aber es sind viele nicht<br />

mehr bereit für alles zu knechten, da es sich nicht mehr<br />

kompensiert. Bei uns existierte <strong>die</strong> Mentalität, der Chef in<br />

Deutschland sagte: sie können zu mir kommen, sie machen <strong>die</strong><br />

Ausbildung bei mir über sieben Jahre, in welchen sie aber<br />

auf alles verzichten müssen, <strong>die</strong>se sieben Jahre müssen sie<br />

sich ganz der Klinik geben, ich garantiere ihnen aber, dass<br />

sie danach eine gute Stelle finden. Er sagte <strong>die</strong>s ganz offen<br />

<strong>und</strong> so war <strong>die</strong> Mentalität. Man hat als Assistenz noch<br />

alles geschluckt, man hat alles gemacht. Es ist lächerlich,<br />

wenn man da von der 50-, 52-St<strong>und</strong>en-Woche spricht. Man war<br />

weit darüber, <strong>und</strong> daran hat man sich auch nicht gestört, da<br />

jeder wusste, dass sich <strong>die</strong>s irgendwann zurückbezahlt.<br />

Vielleicht zahlte sich <strong>die</strong>s nicht mit der Freizeit aber mit<br />

Geld zurück. Das kann man nicht einfach so vergessen <strong>und</strong><br />

541


unter <strong>die</strong>sem Gesichtspunkt konnte man es auch machen. Jetzt<br />

ist <strong>die</strong>s aber weggebrochen, man hat das Prestige nicht mehr<br />

<strong>und</strong> man hat das Geld nicht mehr. Und was machen nun <strong>die</strong><br />

jungen Leute, <strong>die</strong> sind ganz vernünftig <strong>und</strong> sagen, dass <strong>die</strong>s<br />

gut sei <strong>und</strong> sie <strong>die</strong>s akzeptieren, aber nun muss von Anfang<br />

an <strong>die</strong> Lebensqualität stimmen.“ Die Aussage von Yann S. offenbart<br />

sein Verständnis für <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en-Woche, wobei er sich auf den angeblichen<br />

Verlust <strong>des</strong> symbolischen <strong>und</strong> ökonomischen Kapitals beruft, welchem sich der<br />

Arzt zusehends ausgesetzt sieht. Gemäss ihm hätte <strong>die</strong> zukünftige Aussicht auf<br />

<strong>die</strong>se beiden Kapitalsorten den Preis in Form geringer Freizeit, unermüdlichen<br />

Einsatzes <strong>und</strong> schwieriger Verknüpfung von Familie <strong>und</strong> Karriere legitimiert.<br />

Fallen jedoch eine oder beide Kapitelsorten weg, sei auch der Glaube an den<br />

Einsatz nichtig. Der Auffassung von Yann S. entsprechend, könnte demzufolge<br />

ein junger Arzt auch ausschliesslich dem ethischen Anspruch seines Berufsstan<strong>des</strong><br />

gerecht werden <strong>und</strong> müsste sich, da das ökonomische Kapital vermeintlich verloren<br />

ging, auch nicht mehr der ökonomischen Dimension seines Handelns widmen, sondern<br />

seinen Dienst vollumfänglich für das Gemeinwohl leisten. Yann S. hat sich mit<br />

seiner Abwanderung offensichtlich für einen anderen Weg entschieden, für den der<br />

Marktgläubigkeit, der Orientierung an der finanziellen Ergiebigkeit seiner ärztlichen<br />

Fachexpertise <strong>und</strong> der ganzheitlichen <strong>und</strong> profitablen Ausrichtung an einem selektiven<br />

Patientengut.<br />

Mit den Erläuterungen zur 50-St<strong>und</strong>en-Woche sollte auf das den Stayern zugr<strong>und</strong>e<br />

liegende Verständnis bezüglich <strong>des</strong> Anspruchs der Ganzheitlichkeit,<br />

dem sie im Rahmen ihrer ärztlichen Leistung gerecht werden wollen, verwiesen<br />

werden. Die Stayer verstehen unter einer ganzheitlichen ärztlichen Betreuung<br />

<strong>die</strong> Aufrechterhaltung der Gr<strong>und</strong>versorgung durch das öffentliche Spital, <strong>die</strong><br />

Lehre <strong>des</strong> Nachwuchses, der das Krankenhaus vollumfänglich gerecht wird,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Uhr garantierte Betreuung durch ärztliches Fachpersonal.<br />

Eine ausschliessliche Betreuung durch <strong>Chefärzte</strong> oder Leitende Ärzte erachten<br />

<strong>die</strong> Stayer als wenig sinnvoll, da sie ihrem Nachwuchs <strong>die</strong> Übernahme von<br />

Eigenverantwortung lehren wollen. Besonders <strong>die</strong> autoritären <strong>und</strong> verpönten<br />

steilen hierarchischen Strukturen sorgen dafür, dass <strong>die</strong> Patientenbetreuung<br />

nicht alleinig durch Assistenzärzte, sondern in Zusammenarbeit mit Oberärzten<br />

<strong>und</strong> Leitenden Ärzten erfolgt, weshalb auch eine klare Kompetenzverteilung<br />

<strong>und</strong> ein straffes Timing vonnöten ist. Ohne <strong>die</strong>se Strukturen wäre ein Lehrspital<br />

<strong>und</strong>enkbar, hierfür werden jedoch ausgewiesene Experten benötigt, <strong>die</strong> für <strong>die</strong><br />

542


Aufrechterhaltung <strong>die</strong>ser Strukturen sorgen <strong>und</strong> das ethisch-moralische Selbst-<br />

verständnis hochhalten, das dem Arzt ein unvergleichliches „Amtscharisma“<br />

zukommen lässt. Der Leaver Walter I. hat eigens darauf hingewiesen, dass eine<br />

chefärztliche Betreuung noch lange keine Garantie für eine qualitativ einwandfreie<br />

ärztliche Betreuung darstellt. Und Petra S. verwies auf <strong>die</strong> Kompetenz<br />

ihres Teams, für <strong>des</strong>sen Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung sie besorgt ist <strong>und</strong> das seine<br />

Aufgaben genauso gut erfüllen würde wie sie selber, weshalb ihrer Ansicht<br />

nach keine konstante Betreuung durch einen Chefarzt vonnöten ist. Die in<br />

Hochglanzmagazinen beworbene ausschliessliche Betreuung durch ärztliche<br />

Experten <strong>und</strong> der explizite Ausschluss von Assistenzärzten verschweigen jedoch,<br />

dass nebst Kaderärzten auch Oberärzte als Experten im Privatspital tätig<br />

sind, was jedoch nicht explizit ersichtlich ist. Verschwiegen wird teilweise auch<br />

das unnötige Indizieren von Behandlungen, <strong>die</strong> nur zweien zuträglich sind,<br />

dem Spital <strong>und</strong> dem Arzt. Im nächsten Unterkapitel steht der mündige Patient<br />

im Zentrum, der zumeist dann erwünscht ist, wenn <strong>die</strong> Übernahme von Selbstverantwortung<br />

seitens der Patienten gefragt ist, der zumeist dann unerwünscht<br />

ist, wenn Misstrauen herrscht, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Unterbeweisstellung der eigenen Expertise<br />

bedingt.<br />

5.2.3.4 Der mündige Patient<br />

Im Zusammenhang mit den Diskussionen r<strong>und</strong> um Präventionsmassnahmen<br />

<strong>und</strong> der damit einhergehenden Forderung nach selbstverantwortlichem Handeln<br />

seitens der Patienten wurde zusehends das Bild <strong>des</strong> mündigen Patienten<br />

hochgehalten, der selbstverantwortlich <strong>und</strong> aufgeklärt für seine eigene optimale<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung sorgt. Dass mit dem Selbstverantwortungspostulat<br />

auch <strong>die</strong> Gefahr einer weiteren Verstärkung der sozialen Ungleichheiten in<br />

Bezug auf den Zugang <strong>und</strong> <strong>die</strong> Nutzung von Versorgungsleistungen einhergeht,<br />

wurde bereits im Rahmen <strong>des</strong> Kapitels 2.4.2 erläutert. Die befragten Kaderärzte<br />

vertreten durchweg <strong>die</strong> Meinung, dass der Patient informierter, aufgeklärter,<br />

aber auch kritischer <strong>und</strong> misstrauischer <strong>die</strong> ärztlichen Leistungen <strong>und</strong><br />

Beratungen prüft <strong>und</strong> hinterfragt. Das empirische Material verdeutlicht, dass<br />

<strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung sowohl durch das ihr zugr<strong>und</strong>e liegende essentielle<br />

Vertrauensverhältnis als auch durch <strong>die</strong> nahezu unüberbrückbaren Informationsasymmetrien<br />

gekennzeichnet ist Gleichzeitig wurde eine Diskussion<br />

r<strong>und</strong> um das nötige bzw. übermässige Mass an ärztlicher Diagnosestellung <strong>und</strong><br />

Leistungserbringung am Patienten ausgelöst, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Schwierigkeiten bei der<br />

543


Definition guter bzw. schlechter Qualität medizinscher Eingriffe <strong>und</strong> der Effizi-<br />

enz bzw. der Rationierung ärztlicher Leistungen offenbarte. Für Klaus K. gehört<br />

viel Überzeugungsarbeit zu einer Arzt-Patienten-Beziehung <strong>und</strong> wie bereits<br />

unter Kapitel 5.2.1.2 erläutert wurde, erachtet auch Klaus K. das Einholen von<br />

Zweitmeinungen als wichtiges Instrument zum Abbau von Misstrauen zwischen<br />

dem Patienten <strong>und</strong> dem Arzt. Er vergleicht <strong>die</strong>se Form der patientenorientierten<br />

Absicherung mit einem gewöhnlichen Kaufakt, wo dem K<strong>und</strong>en auch<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit gegeben wird, <strong>die</strong> Angebote zu vergleichen. Im Vergleich zum<br />

Kauf kann <strong>die</strong> Informationsasymmetrie bei einem Arzt-Patienten-Verhältnis<br />

jedoch niemals im selben Ausmass abgebaut werden, wodurch sich der Patient<br />

schliesslich doch auf <strong>die</strong> besondere Vertrauensbeziehung zwischen ihm <strong>und</strong><br />

seinem Arzt <strong>des</strong> Vertrauens stützen muss. Klaus K. ist sich <strong>die</strong>ser Asymmetrie<br />

bewusst <strong>und</strong> fügt hinzu, dass <strong>die</strong> ärztliche Qualität sowieso nicht mit einem<br />

einfachen gut oder schlecht qualifiziert werden könne: „Man hat einerseits<br />

jemand, der kommt, <strong>und</strong> dem man versucht mit dem Wissen,<br />

welches man sich angeeignet hat <strong>und</strong> auch immer wieder<br />

aneignet, zu helfen. Der Patient sei nicht mündig, <strong>die</strong>se<br />

Aussage stimmt schon lange nicht mehr. Man versucht schon<br />

lange den Patienten einzubeziehen, seit ich Mediziner bin,<br />

ist das schon so. Die Schwierigkeit besteht darin, ob der<br />

Patient in seiner Situation <strong>die</strong>sen Einbezug überhaupt machen<br />

kann. Das ist das Problem <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schwierigkeit,<br />

mit der der Patient konfrontiert wird. Es ist<br />

nicht das Problem <strong>des</strong> Arztes, wie gesagt, Einzelfälle sind<br />

immer ausgenommen. Kann der Patient in einer solchen Situation<br />

noch frei entscheiden? Da müssen wir Hilfestellungen<br />

leisten, das geht nicht anders, <strong>und</strong> gleichzeitig eben doch<br />

versuchen nicht einfach direktiv zu sein, sondern zu überzeugen.<br />

Es ist eine Überzeugungsarbeit. Am Schluss will er<br />

von mir eine Meinung erhalten <strong>und</strong> von mir erfahren, was das<br />

Beste für ihn ist. Andererseits kann er auch heute noch<br />

eine Zweitmeinung einholen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses System ist gefährdet.<br />

Im Spital ist <strong>die</strong>s bis anhin auch schwierig gewesen,<br />

da ein allgemeinversicherter Patient nicht das Recht hat<br />

zwei Meinungen einzuholen. Da kann man nicht wählen. Dies<br />

ist nur dem Privat- <strong>und</strong> Halbprivatpatienten vorbehalten,<br />

interessanterweise wählt <strong>die</strong>ser aber auch nicht. Diesem ist<br />

nur das Zimmer wichtig, <strong>und</strong> er merkt gar nicht, was er eigentlich<br />

für Möglichkeiten hätte. Das ist sehr interessant.<br />

Er weiss, dass er ins Privatspital <strong>und</strong> zu dem Arzt gehen<br />

544


kann. Früher gab es vielleicht einen, zwei Chef-Internisten<br />

heute aber gibt es x Spezialisten. Der Patient nützt <strong>die</strong>s<br />

aber nicht aus. Er kommt einfach ins Spital <strong>und</strong> denkt, nun<br />

werde ich behandelt <strong>und</strong> nun gebe ich mich ab. Einerseits<br />

spielt das Vertrauen eine Rolle <strong>und</strong> wenn ich einen Fernseher<br />

einkaufen gehe, dann schaue ich auch nicht lediglich<br />

nur einen an. (…) Am Schluss ist wichtig, dass das Vertrauen<br />

besteht. Dieses System funktioniert schon lange bestens.<br />

Das Problem ist nur, dass wenn man es formalisiert, es<br />

nicht besser funktionieren wird. Wenn man sogenannte Qualitätskontrollen<br />

einrichtet, das ist alles Augenwischerei.<br />

Wissen sie, am Schluss ist <strong>die</strong> Medizin nicht richtig oder<br />

falsch. Im Leben gibt es kein richtig oder falsch.“ Der Aufbau<br />

einer Vertrauensbasis scheint gemäss Klaus K. <strong>die</strong> effektivste Möglichkeit<br />

zur Aufrechterhaltung einer Beziehung zwischen zwei Partnern mit ungleichen<br />

fachlichen Kompetenzen zu sein. Auch der Leaver Adrian L. vertritt <strong>die</strong> Meinung,<br />

dass Qualität vom Laien nur schwer beurteilt werden könne, <strong>und</strong> glaubt,<br />

dass das sichtbare Engagement <strong>des</strong> Arztes für das Wohle <strong>des</strong> Patienten Vertrauen<br />

generiert: „Für den Patienten ist beispielsweise ein guter<br />

Onkologe derjenige, der sich engagiert. Die fachliche<br />

Qualität können sie nicht abschätzen, das ist eine Voraussetzung,<br />

von welcher sie annehmen, dass er sie mitbringt.<br />

Die andere Voraussetzung ist <strong>die</strong> menschliche, <strong>die</strong> in unserem<br />

Gebiet extrem wichtig ist. (…) Wenn sie Kardiologe sind<br />

<strong>und</strong> den ganzen Tag Katheter machen, dann ist <strong>die</strong>s nicht so<br />

wichtig, wäre aber auch wichtig. Bei uns ist es aber entscheidend.“<br />

Wie erlangt er denn <strong>die</strong> Gewissheit, dass das Engagement nicht<br />

massgeblich dem Wohle <strong>des</strong> Arztes <strong>die</strong>nen soll bzw. der Erreichung der umsatzgesteuerten<br />

Zielvorgaben <strong>die</strong>nlich ist? Klaus K. begrüsst den Austausch mit<br />

dem Patienten <strong>und</strong> erachtet <strong>die</strong> Begutachtung der ärztlichen Fachkompetenz<br />

seitens <strong>des</strong> Patienten als wichtige Herausforderung für den Arzt: „Dahingehend<br />

hat es sich so geändert, dass es viel herausfordernder<br />

wurde, aber auch viel befriedigender ist. Man erhält ein<br />

direktes Feedback <strong>des</strong> Patienten <strong>und</strong> man weiss, dass es an<br />

einem selber gelegen hat.“ Mit dem Feedback seitens <strong>des</strong> Patienten<br />

<strong>und</strong> seiner kritischen Haltung dem Arzt gegenüber scheint sich <strong>die</strong> Ärzteschaft<br />

zusehends auseinandersetzen zu müssen. Im Grossen <strong>und</strong> Ganzen erachtet<br />

Klaus K. aber <strong>die</strong> heutigen Patienten als informiert, was aber wiederum zur<br />

kritischen Begutachtung der ärztlichen Kompetenzen beiträgt, wie folgende<br />

545


Aussage zeigt: „Was man sicherlich weiter beobachten kann, ist,<br />

dass <strong>die</strong> Leute teilweise besser <strong>und</strong> teilweise überinformiert<br />

sind. Viele Informationen sind verfügbar, Internet<br />

sei Dank. Teilweise ist es schlechte Information. Das typische<br />

Internetproblem besteht in der Eruierung einer guten<br />

Quelle. Im Schnitt kann man aber feststellen, dass Leute<br />

besser informiert sind als früher. Die Leute sind besser<br />

informiert, teilweise überkritisch, was etwas mühselig sein<br />

kann, aber eigentlich ist es ok.“ Emil E. vertritt eine wesentlich<br />

nüchternere Auffassung <strong>die</strong>ser besonderen Vertrauensbeziehung. Der Hilfesuchende<br />

bzw. Kranke würde bereits durch <strong>die</strong> Einholung seines ärztlichen Rates,<br />

den eines Spezialisten, den benötigten Vertrauensvorschuss leisten, weshalb er<br />

von der unter Beweisstellung seiner ärztlichen Fachkompetenz wenig hält.<br />

Entweder akzeptiere der Patient seine Meinung oder <strong>die</strong>ser müsse nach einem<br />

anderen Arzt Ausschau halten: „Ich habe natürlich das Privileg,<br />

dass ich es nicht machen muss <strong>und</strong> folglich sagen kann, ich<br />

sehe es so oder ansonsten lasse ich es bleiben. Dieses Privileg<br />

hat vielleicht ein Hausarzt nicht. Das ist das eine<br />

Privileg <strong>und</strong> das andere ist, dass wenn mich jemand fragt,<br />

dann vertraut er auf meine Expertise, dann kann ich mich<br />

auch so aufführen. Verstehen Sie? Wenn Sie einfach zu Ihrem<br />

Hausarzt gehen, dann muss <strong>die</strong>ser ja Ihnen auch immer wieder<br />

seine Expertise beweisen, wenn Sie aber zu mir kommen <strong>und</strong><br />

mich fragen: was soll ich nun machen, habe ich nun etwas,<br />

oder es geht mir nicht gut. Dann haben Sie mir bereits signalisiert,<br />

dass Sie meiner Expertise vertrauen. Dies ist<br />

auch ein Privileg, es ist eine andere Beziehung. Es ist<br />

nicht so sehr, dass man mehr Fähigkeiten besitzt, es ist<br />

ein selection bias. Es ist ein Bias innerhalb <strong>die</strong>ser Selektion<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>halb ist sie vielleicht auch effizient. Ich<br />

glaube nicht, dass ich besser als andere bin.“ Emil E. gehört<br />

zu den Verfechtern der effizienten Medizin, ob <strong>die</strong>se nun mit dem Abwägen<br />

der Nutzen-Kosten-Relation einhergeht, lässt sich anhand seiner Aussage nicht<br />

verdeutlichen. Emil E. scheint, im Falle eines höheren Aufwands zur Aufrechterhaltung<br />

<strong>des</strong> Lebens im Gegensatz zum gewonnenen Nutzen, für das Einstellen<br />

der ärztlichen Leistungen zu plä<strong>die</strong>ren. Die Diskussionen r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> evidenzbasierte<br />

Medizin haben den Bedarf nach der Messung der Effektivität bzw.<br />

der Wirksamkeit ärztlicher Leistungen erhöht. Seiner Meinung nach bergen<br />

Entlohnungssysteme, bei denen <strong>die</strong> Anzahl ärztlicher Leistungen <strong>die</strong> Höhe der<br />

546


monatlichen Leistungen definiert, Fee for Service wie Emil E. <strong>die</strong>se Form der<br />

Entlohnung nennt, <strong>die</strong> Gefahr einer ineffizienten <strong>und</strong> nicht kosten- <strong>und</strong> nut-<br />

zenorientierten Medizin, hierzu Emil E.: „Wie gesagt, mehr ist nicht<br />

unbedingt besser. Ich glaube, dass es dazu <strong>die</strong> hohe Kunst<br />

<strong>des</strong> Neinsagens bräuchte, <strong>und</strong> man folglich einfach sagen<br />

sollte: es ist nun ok, das bringt nun nichts, <strong>die</strong> Wahrscheinlichkeit<br />

ist zu gering. Wenn Sie aber in einem Fee<br />

for Service-System drin sind, dann wirkt <strong>die</strong>s eben latent.“<br />

Die Gefahr der Mengenausweitung bzw. der Selektion medizinischer Eingriffe<br />

basierend auf dem monetären, tariflichen Gegenwert besteht gemäss Petra S.<br />

<strong>und</strong> führe zum Missbrauch der Vertrauensbeziehung <strong>und</strong> der Informationsasymmetrie<br />

zwischen dem Experten <strong>und</strong> dem Laien: „Etwas ganz Wichtiges,<br />

obwohl wir sicherlich ökonomisch betrachtet auch umdenken<br />

mussten <strong>und</strong> sicherlich auch Ertragsoptimierung betreiben,<br />

wir arbeiten hier aber nicht primär, damit wir<br />

gewinnbringend sind. (…) Es ist eine riesen Gefahr in einem<br />

privaten Spital einfach <strong>die</strong>jenige Medizin zu machen, <strong>die</strong><br />

Geld bringt. Sie können jedem Patienten alles verklickern.“<br />

Die soeben von Petra S. erläuterte Gefahr kennt auch der Leaver Victor H., der<br />

in <strong>die</strong>sem Zusammenhang insbesondere <strong>die</strong> Kontrollmechanismen innerhalb<br />

<strong>des</strong> Spitals bemängelt <strong>und</strong> gleichzeitig veranschaulicht, wie leicht ein Patient<br />

hinters Licht zu führen ist: „Wie gesagt, wir haben es in der Hand<br />

unsere Leistungen zu erweitern, wenn ich einem Patienten<br />

sage, hören Sie mal, Sie brauchen <strong>die</strong>se <strong>und</strong> jene Untersuchung,<br />

dann glaubt der Patient mir <strong>die</strong>s, falls ich ihm <strong>die</strong>s<br />

gut erzähle. Er weiss ja nicht, ob ich eine gute Indikation<br />

gestellt habe, <strong>die</strong>s überprüft ja niemand, weder am öffentlichen<br />

noch am privaten Spital.“ Petra S. betont, dass <strong>die</strong>se Form<br />

der Täuschung insbesondere im Privatspital anzutreffen sei <strong>und</strong> nicht unmassgeblich<br />

mit den Lohnstrukturen zusammenhänge. Auch Victor H. glaubt, dass<br />

<strong>die</strong>se Form der ökonomischen Bereicherung seitens gewisser seiner Kollegen<br />

insbesondere, aber nicht ausschliesslich am Privatspital vorzufinden sei, was<br />

unter Kapitel 5.2.3.2 bereits erläutert wurde. Die Informationsasymmetrie wird<br />

zum Täuschungsinstrument. Hierbei gönnen sich gewisse Ärzte einen Freipass<br />

<strong>und</strong> stellen Indikationen, <strong>die</strong> mangelhaft oder fehlerhaft sind, um der eigenen<br />

Bereicherung willen. Hiermit schaden sie all jenen Ärzten, <strong>die</strong> der Arzt-<br />

Patienten-Beziehung den ihr gebührenden Respekt zeugen <strong>und</strong> den Unsicherheiten<br />

<strong>und</strong> Ängsten ihrer Patienten mit Vertrauen <strong>und</strong> Fachkompetenz versu-<br />

547


chen zu entgegnen.<br />

Ein wesentlicher Aspekt <strong>des</strong> mündigen Patienten ist seine aufgeklärte Haltung,<br />

<strong>die</strong> dazu beiträgt, dass Fehlleistungen heute im Gegensatz zu früher öfter pub-<br />

lik werden, womit gemäss Martina A. ein bezeichnender Imageabbau einher-<br />

geht: „Wahrscheinlich ganz ähnlich, dass der Doktor für <strong>die</strong><br />

Patienten auch nicht mehr der Allwissende ist. Man hört<br />

immer mehr von Problemen mit Fehlentscheidungen, mit Fehlleistungen,<br />

mit ... also das Negative, das da hervorkommen<br />

könnte. Das Riskante ist nun langsam bekannt, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Leute<br />

sind kritischer, verlangen eine Zweitmeinung <strong>und</strong> so weiter.“<br />

Das Einholen von Zweitmeinungen stellt gemäss Martin A. ein deutliches<br />

Anzeichen gesteigerten Misstrauens, erhöhter Unsicherheit <strong>und</strong> <strong>des</strong> Bedarfs<br />

nach Absicherung dar: „Dass wenn der Husten nach drei Wochen<br />

noch nicht weg ist, dass sie nicht mehr zum Hausarzt<br />

gehen oder nicht mehr nur zum Hausarzt gehen, sondern finden,<br />

dass sie nun zum Spezialisten gehen wollen, da ist<br />

schon ein gewisses Misstrauen oder eine gewisse Unsicherheit<br />

vorhanden, <strong>die</strong> man dem Betreuenden gegenüber äussert.<br />

Dieses Verhalten hat zugenommen.“ Der den ehemaligen Chefarztstrukturen<br />

entsprechende <strong>und</strong> teils auch als autokratisch bezeichnete Führungsstil<br />

der <strong>Chefärzte</strong> trug früher zu selbstherrschaftlichen Entscheidungen<br />

bei, <strong>die</strong> heute in dem Ausmasse nicht mehr denkbar sind, da <strong>die</strong> Patienten<br />

zunehmend mit Skepsis <strong>die</strong> ärztlichen Leistungen begutachten <strong>und</strong> im Falle<br />

eines möglichen Fehlentschei<strong>des</strong> den Weg in <strong>die</strong> Öffentlichkeit nicht scheuen.<br />

Diese Angst vor der Schädigung der eigenen Reputation durch unzufriedene<br />

Patienten offenbarte sich im Rahmen der Interviews verstärkt, insbesondere <strong>die</strong><br />

Leaver äusserten grosse Bedenken, da negative Schlagzeilen schlechte Zuweisungsraten<br />

bewirken <strong>und</strong> schliesslich in geringen Einnahmen resultieren. Martin<br />

A. nimmt zur Angst vor Rufschädigung folgendermassen Stellung: „Man<br />

hat eine gewisse Angst ... (…) um seinen Ruf beispielsweise.<br />

Die Leute haben mehr Möglichkeiten sich zu äussern. (…)<br />

Es gibt ja grosse Namen hier in der Schweiz, <strong>die</strong> das vertragen<br />

konnten <strong>und</strong> sagten, ich mach <strong>die</strong>s nun, ist mir egal,<br />

was <strong>die</strong> Anderen oder <strong>die</strong> Angehörigen denken, das hat sich<br />

nun zweifellos verändert. (…) Es hat beispielsweise Chefs<br />

gegeben, grosse Mediziner, <strong>die</strong> einfach bei schwerstkranken<br />

Patienten gesagt haben, ich gebe keine Medikamente mehr,<br />

sondern Flüssigkeit, Nahrung, wenn es nötig ist oder so.<br />

548


Und ich entscheide <strong>die</strong>s nun, da er aus medizinischen Gründen<br />

keine Chance oder keine Hoffnung hat, <strong>und</strong> ich entscheide<br />

nun, dass wir <strong>die</strong>sen nicht behandeln <strong>und</strong> so das Leben<br />

noch ein paar weitere Tage verlängern. Es gab früher Leute,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong>s entscheiden konnten <strong>und</strong> <strong>die</strong>s auch gemacht haben.<br />

Dies dann mit dem Risiko, dass sie plötzlich in der Zeitung<br />

waren <strong>und</strong> es hiess, acht<strong>und</strong>achtzigjährige Frau kriegt nur<br />

noch <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes oder wird vom Herr Professor sowieso<br />

nicht behandelt, <strong>und</strong> das hat früher nicht eine so furchtbare<br />

Rolle gespielt <strong>und</strong> ist früher auch nicht so häufig vorgekommen.<br />

Heute ist man natürlich schnell einmal, falls man<br />

einen Fehler macht oder etwas nicht so macht, wie es <strong>die</strong><br />

Bevölkerung erwartet, dann ist man furchtbar schnell vor<br />

dem Gericht oder in den Me<strong>die</strong>n oder so was. Es ist immer<br />

irgendetwas im Spital.“ Gemäss Martin A. sei <strong>die</strong> Zeit <strong>des</strong> selbstherrlichen<br />

Chefarztes <strong>und</strong> „Halbgottes in Weiss“ vorbei, was massgeblich mit der<br />

Meinungsfreiheit seitens <strong>des</strong> Patienten zusammenhänge. Der Arzt sei im Rahmen<br />

<strong>des</strong> Abbauprozesses der charismatischen Herrschaft zum Mitbürger geworden,<br />

dem eigentlich auch keine besonderen Privilegien mehr zugesprochen<br />

würden: „Ich weiss nicht, ob man sagen muss, dass es<br />

schlechter oder natürlicher wurde. Der Herrgott in Weiss,<br />

das ist nicht mehr so. Dass er sich alles erlauben kann,<br />

ist nicht mehr, <strong>die</strong>s nicht nur fachlich, sondern einfach<br />

generell. Also auch ein Professor ist einfach ein Mitbürger,<br />

wenn man so sagen möchte. Er muss sich an <strong>die</strong> gleichen<br />

sozialen Strukturen halten, das hat sich geändert.“ Sowohl<br />

Martina A. als auch Hans S. erachten <strong>die</strong>sen Transformationsprozess <strong>und</strong> den<br />

damit einhergehenden anteiligen Verlust <strong>des</strong> symbolischen Kapitals als unproblematisch.<br />

Gemäss Hans S. entspricht <strong>die</strong>ser Prozess dem normalen Lauf<br />

der Dinge: „Das Image ist bestimmt nicht mehr dasselbe wie<br />

früher, dasjenige vom Lehrer aber auch nicht <strong>und</strong> dasjenige<br />

vom Pfarrer auch nicht. Es war gesamtgesellschaftlich so,<br />

dass gewisse überhöhte Idealisierungen redimensioniert wurden,<br />

was nicht schlecht ist.“ Otto K. erachtet <strong>die</strong> Entwicklungen<br />

hingegen nicht als Imageverlust. Für ihn hätten Ärzte keineswegs an Privilegien<br />

eingebüsst, <strong>die</strong> Patienten seien heutzutage verantwortungsbewusster <strong>und</strong><br />

selbstständiger, was offenbar dazu beitrage, dass <strong>die</strong>se vom Arzt eine höhere<br />

Unterbeweisstellung ihrer Fachkompetenzen verlangen. Otto K. hebt hierbei<br />

besonders das Privileg <strong>des</strong> hohen Vertrauensvorsprungs, den ein Patient dem<br />

549


Arzt insbesondere zu Beginn der Behandlung gewähren muss, hervor: „Ich<br />

glaube, dass <strong>die</strong>se immer noch gut ist. Das ganze Gejammer<br />

kann ich nicht verstehen. Dass anscheinend der Pfarrer, der<br />

Lehrer <strong>und</strong> der Arzt als Trottel bezeichnet werden, <strong>die</strong>s<br />

sehe ich überhaupt nicht so. Ich finde, dass <strong>die</strong> Leute<br />

heute in einem gewissen Sinn autonomer sind <strong>und</strong> mehr <strong>und</strong><br />

mehr Verantwortung zu übernehmen haben. Dies ist sicherlich<br />

ein Prozess, der noch weiterverfolgt werden muss. Ich hatte<br />

aber auch nie den Eindruck, dass der Arzt etwas anderes<br />

ist. Wir haben immer noch viel Sozialprestige, wir haben<br />

eine spannende Aufgabe, <strong>die</strong> Leute müssen uns ein grosses<br />

Vertrauen entgegenbringen, damit sie alles über sich ergehen<br />

lassen können.“ Auch Emil E. erachtet den Kontakt mit den Menschen,<br />

ob krank oder ges<strong>und</strong>, als eines der höchsten Privilegien, das dem Arzt<br />

zuteil wird <strong>und</strong> ihn massgeblich von Akteuren <strong>und</strong> Berufsständen unterscheidet:<br />

„Wissen Sie, irgendwie ist <strong>die</strong>s immer ein privilegierter<br />

Beruf. Man sieht den Menschen häufig in Grenzsituationen.<br />

Der Beruf hat mir Zugang zu vielen Leuten gegeben, einen<br />

Zugang, den ich vielleicht nie so hätte. Wenn ich nun Banker<br />

wäre, dann würde ich mit Ihnen darüber sprechen, was<br />

ein gutes Investment für Sie wäre, wie Sie Ihre Firma am<br />

besten mergen. Sie würden mir aber nicht sagen, dass Sie<br />

Angst vor dem Tod haben, da Sie Krebs haben, <strong>und</strong> ich habe<br />

<strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes in meinem Leben falsch gemacht. Sie würden<br />

mir all <strong>die</strong>s, was Grenzsituationen so hockkommen lassen,<br />

nicht sagen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ist existentiell. Ich glaube, dass<br />

<strong>die</strong>s ein Privileg ist.“ Auch der CEO Tobias F. erachtet den Wandel<br />

<strong>des</strong> ärztlichen Images als wenig kritisch <strong>und</strong> fügt hinzu, dass das Verhältnis<br />

zwischen einem Arzt <strong>und</strong> dem ges<strong>und</strong>en Menschen sich massgeblich von dem<br />

<strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> dem kranken Menschen unterscheidet, da letzterer grosse Hoffnung<br />

<strong>und</strong> ein ebenso grosses Vertrauen in <strong>die</strong> Fachkompetenz <strong>des</strong> Arztes setze:<br />

„Ich glaube nicht, dass es sich zum Negativen gewandelt<br />

hat, das Bild wurde einfach differenzierter. Ich würde noch<br />

zwischen den Kranken <strong>und</strong> den Ges<strong>und</strong>en unterscheiden. Die<br />

Kranken haben ein anderes Verständnis <strong>des</strong> Arztes als <strong>die</strong><br />

Ges<strong>und</strong>en. Hier sind Sie viel höher angeschrieben als, wenn<br />

Sie ges<strong>und</strong> sind.“<br />

Die Diskussion r<strong>und</strong> um den individuellen <strong>und</strong> selbstverantwortlichen Umgang<br />

mit der eigenen Ges<strong>und</strong>heit hat <strong>die</strong> Wirkkraft <strong>die</strong>ser aussergewöhnlichen<br />

550


Beziehung eines Patienten zu seinem Arzt nochmalig verdeutlicht. Die Arzt-<br />

Patienten-Beziehung darf nicht zu einer K<strong>und</strong>enbeziehung werden <strong>und</strong> dem-<br />

entsprechend darf auch <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heit nicht zur Ware verkommen. Die Arzt-<br />

Patienten-Beziehung sollte auf einem partnerschaftlichen, vertrauenswürdigen,<br />

respektvollen <strong>und</strong> fachlich kompetenten Umgang mit dem Gegenüber basieren<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> ihr zugr<strong>und</strong>e liegende Informationsasymmetrie vor der ökonomisch<br />

getriebenen <strong>und</strong> profitorientierten Bereicherung gewisser ärztlicher Experten<br />

schützen. Sowohl Stayer als auch Leaver missbilligen <strong>die</strong> ökonomisch induzier-<br />

te Indikationsstellung. Dennoch gestehen gewisse von ihnen ein, dass der An-<br />

reiz zur individuellen Bereicherung vorhanden ist <strong>und</strong> dabei <strong>die</strong> Unwissenheit<br />

<strong>des</strong> Patienten eine nicht unmassgebliche Rolle spielt. Oft wird auf <strong>die</strong> Ökono-<br />

misierung der Rahmenbedingungen verwiesen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Ärzteschaft unter einen<br />

beträchtlichen monetären Druck setze. Eine Berufung auf den ethischmoralischen<br />

Anspruch, dem sie in Anbetracht ihres Berufsethos <strong>und</strong> ihres<br />

Glaubens an <strong>die</strong> Verkennung der ökonomischen Dimension gerecht werden<br />

sollten, würde das Misstrauen zwischen dem Arzt <strong>und</strong> seinem Patienten mindern<br />

<strong>und</strong> zur Stärkung <strong>des</strong> Vertrauensverhältnisses beitragen. Solange sich<br />

Ärzte der Marktwirtschaft stärker als ihrem berufsethischen Verständnis verpflichtet<br />

fühlen, sind eine kontinuierliche Angleichung zum homo oeconomicus<br />

<strong>und</strong> ein damit einhergehen<strong>des</strong> parasitäres Verhalten unabwendbar.<br />

551


5.3 Spannungsverhältnis der ärztlichen Arbeitswelt<br />

Die Transformationsprozesse innerhalb <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens, <strong>die</strong> massge-<br />

blich zur anhaltenden <strong>Ökonomisierung</strong> der Versorgungsinstitutionen beitragen,<br />

manifestieren sich zusehends in einer Angleichung <strong>des</strong> ärztlichen Habitus an<br />

den <strong>des</strong> Managers, der der Wirtschaftslogik <strong>und</strong> demzufolge der Profitorientie-<br />

rung, der Konkurrenzierung, der K<strong>und</strong>enabwerbung <strong>und</strong> K<strong>und</strong>enakquise ge-<br />

horcht. Damit einher geht insbesondere für <strong>die</strong> nachfolgende Arztgeneration<br />

<strong>die</strong> Frage nach dem Berufungs- bzw. Jobcharakters ihres Arztberufs.<br />

5.3.1 Deprofessionalisierung <strong>und</strong>/oder Professionalisierung<br />

Unter Professionalisierung wird im Rahmen <strong>die</strong>ser Arbeit <strong>die</strong> verstärkte Spezialisierung<br />

<strong>des</strong> Arztberufs, <strong>die</strong> Akademisierung der Pflegeberufe <strong>und</strong> <strong>die</strong> Aneignung<br />

ökonomischer Theorien, Modelle <strong>und</strong> Prozesse verstanden. Der letztgenannte<br />

Bereich kann aber auch als Prozess der Deprofessionalisierung verstanden<br />

werden, der den Arzt vermehrt von seiner eigentlichen Kernkompetenz<br />

<strong>und</strong> Kerntätigkeit entfernt. Bedingt durch <strong>die</strong> zunehmende Bürokratisierung<br />

<strong>des</strong> Spitalalltags sehen sich Kaderärzte gezwungen, den administrativen Anforderungen<br />

nachzukommen, <strong>die</strong> sie zusehends als Belastung empfinden <strong>und</strong><br />

seitens der Stayer zur Annahme führt, dass der Weggang einiger Kollegen in<br />

der Zunahme der Übernahme nichtmedizinischer Arbeiten gründet. Seitens der<br />

Leaver wird über <strong>die</strong> ansteigenden administrativen Tätigkeiten im öffentlichen<br />

Krankenhaus berichtet, <strong>die</strong> scheinbar auf Stufe Leitender Arzt bzw. Chefarzt<br />

delegiert werden können. Dieses Delegieren an Assistenz- bzw. Oberärzte ist<br />

im Privatspital nicht umsetzbar, da keine bzw. nur sehr begrenzt junge Ärzte in<br />

der privaten Institution angelernt werden, infolge<strong>des</strong>sen sehen sich <strong>die</strong> Leaver<br />

mit der administrativen Tätigkeit wieder im vollen Umfang konfrontiert. In<br />

<strong>die</strong>sem Zusammenhang kommen exemplarisch kognitive Dissonanzen zum<br />

Vorschein. Einerseits werden <strong>die</strong> als belastend empf<strong>und</strong>enen administrativen<br />

Tätigkeiten im öffentlichen Krankenhaus <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehenden bürokratischen<br />

<strong>und</strong> als verkrustet bezeichneten Strukturen angeprangert, andererseits<br />

sehen sie sich genau <strong>die</strong>sen Verwaltungstätigkeiten im Privatspital erneut<br />

<strong>und</strong> massgeblich ausgesetzt, <strong>des</strong>avouieren <strong>die</strong>se jedoch nicht, sondern halten<br />

<strong>die</strong> ganzheitliche Betreuung der Patienten <strong>und</strong> ihre Selbstständigkeit hoch <strong>und</strong><br />

552


erachten ihre Verwaltungstätigkeit als Indiz ihres unternehmerischen Engage-<br />

ments. Auf <strong>die</strong> ganzheitliche Betreuung folgt <strong>die</strong> sofortige Leistungserfassung,<br />

<strong>die</strong> ganz dem selbstständigen Unternehmertum entsprechend <strong>die</strong> Einkom-<br />

mensgenerierung steuert, denn umso rascher <strong>die</strong> Erfassung vorgenommen<br />

wird, umso schneller fliesst das Geld seitens der Versicherungen an den behandelnden<br />

Arzt.<br />

Andreas L. prangert in erster Linie <strong>die</strong> zunehmende Spezialisierung <strong>des</strong> Arztberufes<br />

an, <strong>die</strong> seiner Meinung nach verstärkt zu einer Deprofessionalisierung<br />

beitragen würde. Er ist der Ansicht, dass innerhalb der Mehrheit der stationären<br />

Versorgungsinstitutionen <strong>die</strong> ungeplante Medizin dominiere <strong>und</strong> dementsprechend<br />

<strong>die</strong> Ärzteschaft eine ganzheitliche ärztliche Ausbildung geniessen<br />

sollte, wobei sich <strong>die</strong> hochspezialisierten Mediziner verstärkt auf <strong>die</strong> planbaren<br />

Fälle, <strong>die</strong> kennzeichnend für Privatspitäler seien, konzentrieren sollten. Die<br />

Tendenz in Richtung einer verstärkten Ausrichtung der Versorgungsinstitutionen<br />

auf <strong>die</strong> planbare <strong>und</strong> spezialisierte Medizin sei heute jedoch bereits ersichtlich:<br />

„Wir sind auf dem Weg dazu alles nur auf das Elektive,<br />

auf das Geschäft, das planbar ist, auszurichten. In einem<br />

öffentlichen Spital ist aber 60%, sogar 80% ungeplant. Die<br />

Ressourcen, <strong>die</strong> Leute, sollte man auf das Ungeplante ausbilden.<br />

Für das Geplante braucht es natürlich auch Leute,<br />

aber nicht so viele. Aus der Breite kann man sich immer in<br />

einen selektiven Prozess hinein bewegen. Das ist das, was<br />

ich als Dinosaurier zu bekämpfen versuche. Die Leute zu<br />

überzeugen, dass es <strong>die</strong>jenigen braucht, <strong>die</strong> für das Ungeplante<br />

viel wissen <strong>und</strong> viel können. Diejenigen, <strong>die</strong> spezialisiert<br />

sind, können ins Geplante <strong>und</strong> in eine Privatklinik<br />

gehen, wo das Ungeplante nicht mehr eine solch grosse Rolle<br />

spielt.“ Ein hoher Spezialisierungsgrad birgt gemäss Andreas L. <strong>die</strong> Gefahr<br />

einer zu engen Doktrin. Der berufliche Alltag hingegen werde sehr stark von<br />

der breiten Medizin <strong>und</strong> von sogenannten Grossbränden, wie Andreas L. <strong>die</strong><br />

unplanbaren Fälle nennt, bestimmt. Die hochspezialisierten Eingriffe, <strong>die</strong> zumeist<br />

auch geplant durchgeführt werden, würden in einer solch geringen Fallzahl<br />

resultieren, dass sie im Hinblick auf den gesamten beruflichen Alltag eines<br />

Arztes in einer sehr geringfügigen Beeinflussung <strong>des</strong>selbigen gründen: „Ich<br />

bin sowieso im eher ungeplanten Bereich tätig. Wenn du nur<br />

im geplanten Bereich tätig bist, dann ist <strong>die</strong>s ein anderes<br />

Thema. Viele Sachen, <strong>die</strong> ich hier mache, gibt es dort gar<br />

553


nicht. Grossbrände habe ich nur, wenn ich in der Feuerwehr<br />

bin. Bombenentschärfen macht mir keinen Spass. Diejenigen<br />

zwei Bomben, <strong>die</strong> es zu entschärfen gibt, sollen sie machen.“<br />

Auch Bernd A. stimmt der Tendenz der erhöhten Anzahl von Spezialisten<br />

zu: „Die Medizin hat sich auch spezialisiert. Was früher<br />

einer machte, machen heute fünf oder zehn.“ Im Gegensatz zu<br />

Andreas L. erachtet Bernd A. <strong>die</strong>se Tendenz als unproblematisch, da in Anbetracht<br />

der verstärkten Technologisierung der Medizin <strong>und</strong> <strong>des</strong> kontinuierlichen<br />

medizinischen Fortschritts <strong>die</strong> Spezialisierung nur eine logische Schlussfolgerung<br />

darstelle. Auch für Bernd A. ist das Aussterben der Allgemeinchirurgen<br />

bzw. derjenigen Ärzte mit einer breiten Ausbildung ersichtlich. Dieses Aussterben<br />

werde vermutlich durch <strong>die</strong> erhöhte Spezialisierung bedingt. Im Gegensatz<br />

zu Andreas L. scheint Bernd A. der Ansicht, dass <strong>die</strong> Versorgung inskünftig<br />

verstärkt Spezialisten bedürfe, da der Generalist aufgr<strong>und</strong> seines breiten, aber<br />

eher oberflächlichen Ausbildungsspektrums den Anforderungen gar nicht<br />

mehr nachkommen könne: „Und der Generalist im Haus, der klassische<br />

Allgemeinchirurg beispielsweise, ist auch am Aussterben.<br />

Also am Aussterben, er ist schon noch vorhanden,<br />

aber grössere Sachen kann er einfach nicht operieren, da er<br />

<strong>die</strong> Ausbildung nicht hat, den Caseload nicht hat, dann muss<br />

er sie dennoch wegschicken. Für das Häufige reicht der Generalist<br />

schon, aber für das Spezielle nicht.“ In Anbetracht<br />

<strong>des</strong> höheren Spezialisierungsgra<strong>des</strong> <strong>und</strong> der heutzutage viel differenzierteren<br />

Medizin ist <strong>die</strong> Position von Bernd A. nachvollziehbar. Die Praxis jedoch offenbare<br />

gemäss Andreas L., dass den Allgemeinmedizinern insbesondere im Rahmen<br />

der ersten Abklärungen <strong>und</strong> Diagnosestellungen eine bedeutende Rolle<br />

zugesprochen werde, da der Eintritt eines Patienten in <strong>die</strong> Versorgungsinstitution<br />

oft mit sehr vielen Unsicherheiten behaftet sei <strong>und</strong> der Generalist hier wesentlich<br />

Abhilfe leisten kann: „Nein, meiner Meinung nach benötigt<br />

es in der Medizin sehr viele, <strong>die</strong> sehr viel wissen <strong>und</strong> sehr<br />

viel können <strong>und</strong> <strong>die</strong>s nicht bis in <strong>die</strong> letzte Facette. Und<br />

es braucht sehr wenige, <strong>die</strong> sehr viel über sehr wenig wissen.<br />

Da der Alltag, 80%, im Häufigen <strong>und</strong> nicht im Superspeziellen<br />

stattfindet. Dies ist vor allem all jenes, was akut<br />

<strong>und</strong> notfallmässig ist. Wenn man als Arzt viel Zeit hat <strong>und</strong><br />

überlegen kann, in welche Richtung man <strong>die</strong> Untersuchungen<br />

vornehmen soll, dann nimmt man schon lieber den Superspezialisten,<br />

da man ja eine Etikette sieht. Wenn man aber keine<br />

Etikette hat <strong>und</strong> zuerst herausfinden muss, wohin <strong>die</strong>ser<br />

554


Schmerz gehört ... Brustschmerzen können von Gefässruptur,<br />

Herzinfarkt bis zum Lungeninfarkt <strong>und</strong> bis zum weiss ich<br />

nicht was gehen. Bis man <strong>die</strong>s aber weiss, muss man zuerst<br />

Generalisten haben, <strong>die</strong> sagen, in welcher Schublade welches<br />

Spezialisten man <strong>die</strong>s hineinwirft. Es bringt uns nichts,<br />

wenn einer nur einen röhrenförmigen Blick für das Herz hat<br />

<strong>und</strong> nur auf das Herz schaut, dabei wäre es alles r<strong>und</strong>herum.“<br />

Auch der Rückkehrer Karl K. bedauert den Tunnelblick seiner ärztlichen<br />

Mitarbeiter <strong>und</strong> vor allem auch der angehenden Arztgeneration. Es wäre gemäss<br />

Karl K. besser, den Patienten da abzuholen, wo er sich gerade befindet,<br />

nämlich zumeist in einer unsicheren, angsterfüllten <strong>und</strong> vielleicht auch misstrauischen,<br />

schweigsamen Position. Erst mit einem klärenden <strong>und</strong> vertrauensvollen<br />

Gespräch erreiche man den Zugang zum Patienten <strong>und</strong> könne eine erste<br />

Prognose hinsichtlich <strong>des</strong> Krankheitszustan<strong>des</strong> vornehmen: „Wenn sie heute<br />

mit einem sprechen <strong>und</strong> fragen, was glauben sie, was hat<br />

der? Dann schaut er irgendwo nach, sieht irgendwelche Dinger,<br />

der denkt nicht mehr, <strong>die</strong> denken nicht nach, <strong>und</strong> alles<br />

was nicht in <strong>die</strong>ses Schema hinein passt, existiert nicht.<br />

(…) Heute als Patient auf den Notfall zu kommen ist eine<br />

Katastrophe, da <strong>die</strong> in tausend Kategorien denken. Wenn man<br />

zuerst mit dem Patient sprechen würde. Das Problem wäre<br />

schon längst gelöst, hätte man sich vernünftig mit dem Menschen<br />

auseinandergesetzt <strong>und</strong> nicht mit dem technischen<br />

Krankheitsbild, das vielleicht dahinterstecken könnte.“ Die<br />

Förderung der Allgemeinmediziner scheint insbesondere im Hinblick auf eine<br />

effiziente <strong>und</strong> patientenorientierte Behandlung von wesentlicher Relevanz, da<br />

aus dem Allgemeinen der Schritt ins Spezielle kontinuierlich getätigt werden<br />

könne. Die Erfassung <strong>des</strong> Krankheitsbil<strong>des</strong> bedinge vorerst den Feuerwehrmann,<br />

der <strong>die</strong> ersten Abklärungen vornimmt <strong>und</strong> <strong>die</strong> alltäglichen <strong>und</strong> zumeist<br />

unkomplizierten Eingriffe auch selber vornehmen könne. Erst bei den Spezialfällen<br />

benötige der Generalist den Bombenentschärfer: „Wir haben heute<br />

in der Schweiz noch eine relativ breite Ausbildung. Wir<br />

haben ein hohes Niveau in der Feuerwehr, jeder meint aber,<br />

dass wir nur den Umweltgiftspezialisten, den Bombenentschärfer,<br />

usw. in der Feuerwehr benötigen. Diese braucht es<br />

auch, aber es braucht in erster Linie mal jene, <strong>die</strong> ein<br />

Feuer löschen können, von <strong>die</strong>sen braucht es <strong>die</strong> Mehrheit.<br />

Von den anderen aber braucht es nur ganz wenige.“ Auch im<br />

Rahmen <strong>die</strong>ser Aussage verdeutlicht Andreas L. <strong>die</strong> seiner Ansicht nach erfor-<br />

555


derliche ganzheitliche medizinische Ausbildung <strong>und</strong> den erhöhten Bedarf nach<br />

Generlisten in öffentlichen Versorgungsinstitutionen. Diejenigen Ärzte, <strong>die</strong><br />

hochspezialisiert <strong>und</strong> vornehmlich im planbaren medizinischen Bereich tätig<br />

seien, sollen in den privatwirtschaftlichen Versorgungsbereich gehen, da <strong>die</strong><br />

Fallzahl auch wesentlich geringer sei <strong>und</strong> dementsprechend eine klare Ausrich-<br />

tung auf <strong>die</strong>se Fälle institutionalisiert werden könne. In Anbetracht der Aussa-<br />

gen der Leaver zu ihrer täglichen ärztlichen Tätigkeit entspricht <strong>die</strong> von Andre-<br />

as L. geforderte Aufteilung nicht der Praxis im Privatspital, da vornehmlich<br />

einfache Fälle behandelt werden, wobei unklar ist, ob <strong>die</strong>se eher unplanbar<br />

oder planbar sind. Dieser Vorzug einfacherer Fälle gründet vermutlich in der<br />

mit den einfachen Fällen einhergehenden grösseren Chance auf geringe Kom-<br />

plikationen <strong>und</strong> demzufolge kürzeren Hospitalisationszeiten. Die Erhöhung<br />

<strong>des</strong> Spezialisierungsgra<strong>des</strong> in Privatspitälern würde <strong>die</strong> Förderung von For-<br />

schungstätigkeit bedingen, <strong>die</strong> heute im Privatspital nicht oder nur in geringem<br />

Ausmass verankert ist. Die Sicherung <strong>des</strong> Forschungsanspruches in Kan-<br />

tonsspitälern geht mit der teils akademischen Verankerung gewisser Kaderärz-<br />

te in universitären Projekten <strong>und</strong> der Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses im Allge-<br />

meinen einher. Die folgende Aussage von Victor H. offenbart <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong><br />

ganzheitliche Betreuung berufende einfachere ärztliche Tätigkeit im Privatspital:<br />

„Hier ist es wieder einen Schritt zurück, ich mache<br />

folglich auch wieder <strong>die</strong>jenigen Sachen, <strong>die</strong> ich auch als<br />

Assistent gemacht habe. Ich arbeite wieder mehr direkt am<br />

Patienten. Mache zwar noch immer <strong>die</strong> hochspezialisierten<br />

Sachen aber weniger häufig als am öffentlichen Spital.“ Die<br />

planbaren medizinischen Bereiche, wie <strong>die</strong> Orthopä<strong>die</strong> oder Geburtshilfe, werden<br />

hingegen im Privatspital gut abgebildet, da auch hier <strong>die</strong> finanziellen Aufwände<br />

abschätzbar sind <strong>und</strong> im Regelfall mit keinen grösseren Überraschungen<br />

zu rechnen ist.<br />

5.3.1.1 (De)Professionalisierung durch <strong>Ökonomisierung</strong><br />

Bereits im Kapitel zur Rollenverteilung wurde ersichtlich, wie unterschiedlich<br />

sich <strong>die</strong> Einstellungen der Stayer, Rückkehrer <strong>und</strong> Leaver gegenüber der <strong>Ökonomisierung</strong><br />

ihres ärztlichen Habitus zusammensetzen. Ein relativ grosses<br />

Verständnis hinsichtlich der Erlernung ökonomischer Theoreme <strong>und</strong> der damit<br />

einhergehenden Prozessabläufe <strong>und</strong> Finanzierungsmodelle konnte bei all jenen<br />

Kaderärzten festgestellt werden, <strong>die</strong> nebst der Ausführung ihrer ärztlichen<br />

556


Tätigkeit auch Mitglied der Geschäftsleitung sind oder, wie <strong>die</strong> Leaver, unter-<br />

nehmerische Aufgaben erfüllen. Bei den Leavern gründete das Interesse an der<br />

monetären Dimension ihres ärztlichen Handelns im Entrepreneurship, dem sie<br />

im Privatspital <strong>und</strong> besonders als Belegarzt gerecht werden müssen. Die befrag-<br />

ten Leaver fühlen sich im Konstrukt <strong>des</strong> Privatspitals als Kleinunternehmer, <strong>die</strong><br />

auf eigene Rechnung ihre Leistungen anbieten <strong>und</strong> fakturieren. Diese Form der<br />

Selbstständigkeit scheint seitens der Spitalleitung <strong>des</strong> Privatspitals tendenziell<br />

<strong>und</strong> inskünftig weniger angestrebt, da eine Tendenz in Richtung der vermehrten<br />

Anstellung von Fachkräften festzustellen ist, <strong>die</strong> im Kapitel zu den Gehaltsstrukturen<br />

ausführlicher beschrieben wird. Mit der <strong>Ökonomisierung</strong> der Denk-,<br />

Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Handlungsschemata sehen sich Kaderärzte zusehends<br />

administrativen Tätigkeiten ausgesetzt, der Vorwurf der verstärkten Distanzierung<br />

vom eigentlichen ärztlichen Fachbereich wird laut, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Prüfung der<br />

Umsetzung ökonomisch induzierter Modelle <strong>und</strong> Prozesse, <strong>die</strong> zumeist dem<br />

Chefarzt obliegt, scheint verstärkt als Belastung empf<strong>und</strong>en zu werden. Andreas<br />

L. fühlt sich zusehends als Dienstleister, der nebst seiner eigentlichen ärztlichen<br />

Tätigkeit managementorientierte Aufgaben zu erfüllen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Prozessen gerecht zu werden hat. Die daraus generierten Ergebnisse <strong>die</strong>nen<br />

den Ökonomen als Instrumente der Transparenzgenerierung <strong>und</strong> gründen<br />

wiederum in neuen Modellen <strong>und</strong> Prozessen: „Unsere Deprofessionalisierung<br />

bringt uns immer weiter vom Patienten weg <strong>und</strong> immer<br />

näher an <strong>die</strong> fachfremden Geschichten. Ihre Modelle werden<br />

immer öfter in unsere Kernkompetenz hineingebracht, damit<br />

der Prozess transparent wird. Ich sage nicht, damit sie uns<br />

kontrollieren können, sondern damit der Prozess transparent<br />

wird.“ Die Ausführung nichtmedizinischer Tätigkeiten, <strong>die</strong> als ursächlich für<br />

<strong>die</strong> verstärkte Distanzierung von der eigentlichen Patientenbehandlung empf<strong>und</strong>en<br />

wird, erachtet Andreas L. als ein deutliches Anzeichen der Deprofessionalisierung.<br />

Hierbei offenbart er sein Unverständnis hinsichtlich der durch<br />

seine ärztlichen Leistungen generierten Einnahmen, <strong>die</strong> der Entlohnung der<br />

Verwaltungsetagen <strong>die</strong>nen <strong>und</strong> <strong>die</strong> von Andreas L. als Overhead bezeichnet<br />

werden: „Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Kosten, <strong>die</strong> wir<br />

generieren, <strong>die</strong>nt beispielsweise der Absicherung. Die Absicherungsmedizin.<br />

Wir sichern uns mit vielen Sachen ab, damit<br />

kein Jurist uns etwas tun kann. Das sind so Sachen. Es<br />

gibt mittlerweile einen Overhead. Einen Riskmanager, einen<br />

PR−Manager, für alles einen Manager. Wir futtern einen<br />

557


Overhead. Früher ver<strong>die</strong>nten wir noch Geld mit unserer Arbeit.<br />

Wenn ich heute schaue, wie viele der Millionen, <strong>die</strong><br />

wir in unserer Klinik einnehmen, am Schluss übrig bleiben,<br />

dann ist es nicht viel, da wir den gesamten Overhead futtern.<br />

Es ist so teuer. Im Ganzen drin hat es so viele fachfremde<br />

Leute, <strong>die</strong> alles, was wir generieren, brauchen. Die<br />

haben ja auch Löhne, <strong>die</strong> arbeiten ja auch. Dadurch <strong>und</strong><br />

durch mein Ko<strong>die</strong>ren <strong>des</strong> Zeugs wird kein Patient ges<strong>und</strong>, da<br />

frage ich mich. (…) Die Ökonomen kommen mit ihren Modellen,<br />

mit denen sie sich wohlfühlen <strong>und</strong> ihre Instrumente darstellen.<br />

Ich fühle mich mit meinen medizinischen Instrumenten<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>sen Sachen wohl, aber das ist mein Kerngeschäft. Sie<br />

müssen nun schauen, wo sie den Hebel innerhalb meines Kerngeschäfts<br />

ansetzen können, damit wir noch besser werden,<br />

<strong>und</strong> dazu benötigen sie Transparenz. Damit sie sich aber<br />

Transparenz verschaffen können, muss ich ihnen das Futter<br />

liefern. Das musste ich früher nicht tun.“ Die wesentliche Problematik<br />

sieht Andreas L. in den Handlungen der Verwaltung <strong>des</strong> Spitals, <strong>die</strong><br />

sich mehrheitlich aus Ökonomen zusammensetzt, <strong>die</strong> sich keine oder kaum<br />

Kenntnisse über das medizinische Berufsfeld angeeignet haben. Gemäss seiner<br />

Aussage implementiert <strong>die</strong>se Verwaltung, ungeachtet der medizinischen Spitalstruktur<br />

<strong>und</strong> der darin getätigten ärztlichen Leistung, ökonomische <strong>und</strong> profitmaximierende<br />

Modelle sowie eine prozessorientierte Denkweise. Die Verkennung<br />

der ökonomischen Dimension <strong>des</strong> ärztlichen Handelns ist den Ökonomen<br />

fremd, <strong>und</strong> gleichzeitig scheinen sie zu missachten, dass es sich bei der<br />

Ges<strong>und</strong>heit nicht um eine Ware bzw. um ein Gut wie je<strong>des</strong> andere handelt.<br />

Gemäss dem Ges<strong>und</strong>heitsbegriff der WHO aus dem Jahre 1946 handelt es sich<br />

bei der Ges<strong>und</strong>heit um einen Zustand vollständigen physischen, geistigen <strong>und</strong><br />

sozialen Wohlbefindens, sie wird als wesentlicher Bestandteil <strong>des</strong> Lebens erachtet<br />

<strong>und</strong> gilt nicht als eigentliches Lebensziel (WHO, 1986). Der Konsum <strong>des</strong><br />

Gutes Ges<strong>und</strong>heit sollte den beiden wesentlichen Merkmalen eines öffentlichen<br />

Gutes, der Nicht-Ausschliessbarkeit <strong>und</strong> der Nicht-Konkurrenzierbarkeit, gehorchen.<br />

Dementsprechend dürften <strong>die</strong> Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht,<br />

der Zugang zu finanziellen, soziokulturellen oder materiellen Ressourcen oder<br />

der individuelle Versicherungsstatus nicht über Zugang zu Versorgungsinstitutionen<br />

entscheiden. Die <strong>Ökonomisierung</strong> trägt zur Entgrenzung der Mediziner<br />

von ihrem sie bezeichnenden <strong>und</strong> ehrenden berufsethischen Selbstverständnis<br />

bei, weshalb Andreas L. darin einen Prozess der Deprofessionalisierung sieht:<br />

558


„Unser Beruf wurde extrem deprofessionalisiert ... also wir<br />

sind im Zeitalter der Ökonomen. Die Ökonomen versuchen mit<br />

ihrem Denken <strong>und</strong> mit ihren Modellen, <strong>die</strong> sie im Kopf haben,<br />

<strong>die</strong> Medizin zu strukturieren, haben aber keine Ahnung vom<br />

Kerngeschäft. Ein Mensch ist kein normiertes Geschöpf, ausser<br />

in der Augenchirurgie, wo man normiert arbeiten kann.<br />

Das ist das Problem. Da wir immer mehr Fachfremde haben,<br />

<strong>die</strong> sagen, wie man einen Laden organisiert, <strong>die</strong> einfach aus<br />

der Industrie mit ihrem Industrie- <strong>und</strong> Prozessdenken kommen,<br />

spielen immer mehr Elemente eine Rolle. Da sie nichts<br />

davon verstehen, muss man Transparenz <strong>des</strong> Prozesses schaffen.<br />

Transparenz schaffen bedeutet, dass man alles irgendwo<br />

schreiben muss (klappert mit den Fingern auf dem Tisch als<br />

würde er <strong>die</strong> Tastatur eines Computers benutzen.“ Auch<br />

Joachim A. verdeutlicht, dass <strong>die</strong> ihm <strong>und</strong> seinen Kollegen aufgelasteten administrativen<br />

Tätigkeiten <strong>und</strong> Funktionen, <strong>die</strong> in Richtung einer Managerialisierung<br />

<strong>des</strong> Arztes gehen, seitens der Kaderärzte auf Unverständnis stossen <strong>und</strong><br />

ihn zu einem müden Lächeln animieren: „Wir haben teilweise eine<br />

Bonus-Malus-Teillösung, über <strong>die</strong> sich alle ärgern <strong>und</strong> welche<br />

eine völlige Farce ist. Man macht doch einfach nach<br />

bestem Wissen <strong>und</strong> Gewissen seinen Job ... All das, was so<br />

speziell ist, sind Management-Ideen, <strong>die</strong> sehr theoretisch<br />

sind <strong>und</strong> von Leuten hervorgebracht wurden, <strong>die</strong> den Spitalbetrieb<br />

<strong>und</strong> den eigentlichen klinischen Betrieb nicht wirklich<br />

kennen, <strong>die</strong>s sind bei uns alles Alibi-Funktionen. Wenn<br />

<strong>die</strong>s überhand nehmen würde, dann wäre <strong>die</strong>s sehr schlecht<br />

<strong>und</strong> würde <strong>die</strong> Attraktivität der Stelle vermindern.“ Joachim<br />

A. scheint innerhalb seines Tätigkeitbereichs im Kantonsspital einen Raum<br />

geschaffen zu haben, innerhalb welchem <strong>die</strong> ihm von der Verwaltung auferlegten<br />

<strong>und</strong> dem Wirtschaftsalltag entnommenen Modelle nur beschränkt belasten.<br />

Joachim A. gehört zu jenen Kaderärzten, <strong>die</strong> unverblümt gestehen, dass <strong>die</strong><br />

monetäre Entlohnung ebenso relevant ist für <strong>die</strong> tägliche Arbeitsmotivation wie<br />

<strong>die</strong> berufliche <strong>und</strong> thematische Herausforderung: „Es muss ja eine Mischung<br />

zwischen beruflicher, inhaltlicher Befriedigung <strong>und</strong><br />

finanziellem Erfolg sein, <strong>die</strong>s muss man auch zugeben, so<br />

ist das Leben. Zum damaligen Zeitpunkt, aber auch heute<br />

noch, ist bei<strong>des</strong> wichtig.“ Joachim A. fordert den Patienten <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Spitalleitung auf, dem Arzt zu vertrauen, da <strong>die</strong>ser ja nach bestem Wissen <strong>und</strong><br />

Gewissen seinen Beruf vollbringt. In Anbetracht der Tatsache, dass der ökono-<br />

559


mische Anreiz ebenso von Bedeutung ist wie der berufsethische, ist eine Orien-<br />

tierung an ersterem nicht auszuschliessen <strong>und</strong> würde vermutlich denjenigen<br />

Verwaltungsmitgliedern, <strong>die</strong> für eine kosteneffiziente Medizin plä<strong>die</strong>ren, ent-<br />

sprechen. Für den Patienten hingegen wäre das Resultat eine Überversorgung<br />

oder Unterversorgung entsprechend <strong>des</strong> tariflichen Gegenwerts <strong>des</strong> Eingriffs,<br />

der Honorargenerierung (bei Zusatzversicherten) <strong>und</strong> der unternehmerischen<br />

Berechenbarkeit.<br />

Martin A. verdeutlicht, dass <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong>stendenzen <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit<br />

einhergehende Übernahme der Spitalverwaltung durch Betriebswirte den Be-<br />

rufsalltag der <strong>Chefärzte</strong> wesentlich beeinflusst haben. Im Gegensatz zu früher,<br />

wo Kaderärzte als Autoritätspersonen ihr Team <strong>und</strong> teilweise das Spital leiteten<br />

<strong>und</strong> dementsprechend als Autorität wahrgenommen wurden, würden sie heute<br />

in Gremien, Ausschüssen oder der Geschäftsleitung einsitzen <strong>und</strong> <strong>die</strong> darin<br />

initiierten <strong>und</strong> teils auferlegten Prozesse in ihren Teams implementieren, um<br />

anschliessend über <strong>die</strong> Resultate der prozess- <strong>und</strong> kostenorientierten Handlungsweisen<br />

der Kollegen zu berichten. Petra S. verdeutlicht, wie sich ihre<br />

Doppelfunktion <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihres Kollegen in der Praxis gestaltet: „Er ist eigentlich<br />

Teamvorsitzender <strong>und</strong> Innenminister <strong>und</strong> ich bin <strong>die</strong><br />

Delegierte in der Geschäftsleitung <strong>und</strong> dadurch eigentlich<br />

Aussenminister. Ich bin dadurch in zahlreichen Projekten<br />

innerhalb <strong>des</strong> Spitals engagiert, Projekten zuhauf. Es sind<br />

zwanzig spitalinterne <strong>und</strong> –externe Projekte <strong>und</strong> Zeug <strong>und</strong><br />

Sachen.“ Im Rahmen <strong>die</strong>ses Abschnittes wird ersichtlich, dass insbesondere<br />

<strong>die</strong> Leaver eine geteilte Meinung zur Belastung der <strong>Chefärzte</strong> mit administrativen<br />

Aufgaben vertreten. Im Zusammenhang mit den Diskussionen r<strong>und</strong> um<br />

den Anstieg der Arbeitsbelastung durch administrative Tätigkeiten offenbart<br />

sich eine zunehmende Verantwortungsbereitschaft, der <strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong> massgeblich<br />

gerecht werden müssen. Das Delegieren der Ausarbeitung der Projekte an<br />

ihre Mitarbeiter mindert das erwartete Engagement nicht. <strong>Chefärzte</strong>n kommt in<br />

ihrer Funktion als Vorgesetzte, Führungspersönlichkeiten <strong>und</strong> im Rahmen ihrer<br />

Position innerhalb der spitalinternen Gremien oder der Geschäftsleitung <strong>die</strong><br />

Überprüfung der Durchführung der auferlegten Prozesse zu, hierbei müssen<br />

sie für allfällig auftretende Fehler gera<strong>des</strong>tehen. Gewisse Leaver vertreten jedoch<br />

<strong>die</strong> Meinung, dass <strong>die</strong> administrativen Tätigkeiten grösstenteils an <strong>die</strong><br />

Assistenten delegiert werden, wodurch sich der Chefarzt <strong>die</strong>ser Tätigkeit nahezu<br />

vollständig entledigen kann. Die Leaver heben im <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

560


ihre unternehmerische Arbeitsweise, ganzheitliche Betreuung <strong>des</strong> Patienten,<br />

selbstständige Leistungserfassung <strong>und</strong> Praxisleitung hervor <strong>und</strong> verdeutlichen,<br />

dass <strong>die</strong> bei den Stayern weit verbreitete Annahme der geringen Arbeitsbelas-<br />

tung durch administrative Aufwände an Privatspitäler nicht der Realität ent-<br />

spricht. Die administrative Tätigkeit, <strong>die</strong> von Leavern <strong>und</strong> Stayern in öffentli-<br />

chen Spitälern zumeist als grosse Belastung wahrgenommen wird, scheint vom<br />

Umfang her genauso umfassend gefordert zu werden <strong>und</strong> dennoch verdeutlicht<br />

sich ein gr<strong>und</strong>legend anderer Umgang mit <strong>die</strong>sen Aufgaben. Die administrative<br />

Tätigkeit scheint ein wesentlicher Bestandteil ihres selbstständigen Unternehmertums<br />

darzustellen <strong>und</strong> steht gewissermassen symbolisch für ihr<br />

Selbstverständnis als Entrepreneur. Insbesondere <strong>die</strong> Tatsache, dass ihre Gehaltsstruktur<br />

massgeblich leistungsorientiert ausgestaltet ist, sie demzufolge an<br />

jeder einzelnen Behandlung eines Zusatzversicherten ver<strong>die</strong>nen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Berechnung<br />

der Entlohnung aus der ärztlichen Leistungserfassung resultiert,<br />

scheinen sie massgeblich zur bereitwilligen Erfüllung ihrer administrativen<br />

Aufgaben beizutragen. Die Akzeptanz <strong>des</strong> Umgangs mit <strong>die</strong>sen ökonomisch<br />

induzierten Aufgaben hängt bei den Stayern hingegen sehr stark vom erlernten<br />

betriebsökonomischen Wissen ab. Martin A. fühlt sich auf <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Spitalverwaltung<br />

<strong>und</strong> seine Vorgesetzten auferlegten ökonomischen Prozesse <strong>und</strong><br />

den Umgang mit Budgetzahlen oder sonstigen finanziellen Kennzahlen<br />

schlecht vorbereitet, es mangle an der systematischen Integration der Verwendung<br />

<strong>die</strong>ser Kennzahlen <strong>und</strong> Prozesse in der Ausbildung der Ärzteschaft. Auf<br />

<strong>die</strong> Frage, was sich zu früher verändert hat, antwortet er: „Sehr wahrscheinlich<br />

das Anforderungsprofil an <strong>die</strong>se <strong>Chefärzte</strong>. Früher<br />

waren <strong>die</strong>s doch Autoritätspersonen. Man hat das gemacht,<br />

was sie einem gesagt haben. Und heute sind <strong>die</strong> doch<br />

auch in eine Spitalleitung eingeb<strong>und</strong>en, in einen Vorstand<br />

oder weiss nicht was <strong>und</strong> müssen sich dort rechtfertigen <strong>und</strong><br />

müssen eben auch selber während eines grossen Teils ihrer<br />

Zeit nicht mehr nur Medizin machen sondern was anderes.<br />

Sondern was anderes. (…) Also wenn man so hört, dann ist<br />

ein Chefarzt heute zeitlich doch recht beansprucht mit Sitzungen,<br />

mit nichtmedizinischen Arbeiten. (…) Das lernt man<br />

eigentlich nirgends so systematisch. Sicherlich nicht im<br />

Studium, dort wird das gar nicht angesprochen. Es hat bis<br />

vor vielen, vielen Jahren, zehn Jahren vielleicht, auch im<br />

Spital solche Möglichkeiten auf freiwilliger Basis gegeben.<br />

Das gibt es jetzt noch. Wir haben ein Weiterbildungspro-<br />

561


gramm, oder wir kriegen auch von auswärtigen Instituten,<br />

Sie kennen <strong>die</strong>s wahrscheinlich besser, <strong>die</strong> das für Ärzte<br />

anbieten. Und wenn man <strong>die</strong>s will, so konnte man <strong>die</strong>s auch<br />

im Haus intern trainieren. Man lernte verschiedene Führungsstile<br />

kennen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s auf relativ bescheidene Art. Man<br />

musste es sich während der Freizeit quasi selber aneignen.<br />

Oder einfach durch zuhören <strong>und</strong> zuschauen erlernen; was ging<br />

gut, wer hat es gut gemacht <strong>und</strong> wer nicht. Und so hat man<br />

dann versucht, sich an etwas zu orientieren. Aber niemand<br />

erlernt das systematisch. Es lernt auch niemand im Studium<br />

Schreibmaschinen schreiben, obwohl <strong>die</strong>s für einen Mediziner<br />

das Wichtigste ist.“ Wie im Kapitel „Die Herrschaft der Ökonomen“<br />

bereits erläutert wurde, erachten einige Kaderärzte <strong>die</strong> Aneignung betriebswirtschaftlichen<br />

Wissens als unproblematisch, da sie der Meinung sind, dass<br />

heutzutage genügend Weiterbildungsprogramme existieren, im Rahmen jener<br />

sich der Arzt das betriebswirtschaftliche Denken <strong>und</strong> Handeln aneignen kann.<br />

Die Umsetzung <strong>die</strong>ses Wissens in Projekten erachten jedoch viele als grosse<br />

Belastung. Joachim A. beispielsweise berichtet, dass <strong>die</strong> Durchführung bzw.<br />

Initiierung eines Projektes innerhalb seiner Abteilung ein Bestandteil seiner<br />

Gehaltsstruktur darstellt, wodurch höchstwahrscheinlich <strong>die</strong> Spitalleitung sicherstellen<br />

will, dass <strong>die</strong> Projektdurchführung auch vollzogen wird. Auch hier<br />

räumt Joachim A. ein, dass <strong>die</strong> Realisierung eines solchen Alibi-Projektes, wie<br />

er es nennt, so lange als legitim erachtet wird, solange es nicht massgeblich den<br />

beruflichen Alltag <strong>des</strong> Arztes beeinträchtigt. Möglicherweise versteht er unter<br />

Beeinträchtigung auch <strong>die</strong> monetäre Minderung seines Gehalts. Denn <strong>die</strong> variable<br />

Komponente <strong>des</strong> Entlohnungssystems, der Joachim A. unterliegt, setzt sich<br />

aus der Durchführung <strong>des</strong> Projektes, der Erreichung <strong>des</strong> definierten Spitalumsatzes<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong> Umsatzes der Abteilung <strong>des</strong> eigenen Fachbereichs zusammen:<br />

„Wir haben viel zu tun vom Morgen bis am Abend, <strong>und</strong> dann<br />

müssen wir uns irgendein Projekt aus den Fingern saugen,<br />

wir machen ja sowieso das Beste. Wir haben einen sehr optimierten<br />

Betrieb, gleichzeitig müssen wir an <strong>die</strong>ser Projektitis,<br />

so nenne ich das nun einfach, an <strong>die</strong>sem Projektwahn<br />

auch teilnehmen, <strong>die</strong>s ist eigentlich auch nicht gut. Dies<br />

kann man aber noch verkraften, wenn <strong>die</strong>s nicht ausufert.“<br />

Die Projekte erachtet Joachim A. als zeitliche Belastung <strong>und</strong> als wenig aussagekräftig.<br />

Sein Kollege Martin A. verdeutlicht, dass <strong>die</strong> Überprüfung der Durchführung<br />

der Projekte <strong>und</strong> <strong>die</strong> anschliessende Einreichung ihrer Ergebnisse zu<br />

562


den Aufgaben zählen, <strong>die</strong> dem Chefarzt obliegen <strong>und</strong> er in seiner Rolle als<br />

Vorgesetzter <strong>die</strong> massgebliche Verantwortung trägt: „Aber gerade für<br />

irgendwelche Projekte einzugeben oder Stellenanträge zu<br />

tätigen, das lastet dann schlussendlich schon auf dem Chef.<br />

Der ist dann zuvorderst. Der muss <strong>die</strong> Zeiten einhalten, <strong>die</strong><br />

Termine, wenn es zu spät kommt, wird es wieder nicht mehr<br />

berücksichtigt <strong>und</strong> so. Das habe ich weniger.“ Auch der Chefarzt<br />

Otto K. erachtet den Aufwand für administrative Tätigkeiten als masslos<br />

übertrieben: „Was sicherlich negativ ist, ist <strong>die</strong> Überadministration,<br />

dass alles schriftlich erledigt werden muss.<br />

Das ,Scheiss-Krankenkassenzeugs‘ geht nun wohl gar nicht<br />

mehr. Es kommen viele Papiere zu uns, <strong>die</strong> nicht dem Patienten<br />

<strong>und</strong> niemand ausser dem ,Kassenschangli‘ <strong>die</strong>nen, welcher<br />

dann seinen Buchstaben X notieren kann. Wenn sechs Therapien<br />

verordnet wurden, kommen dennoch bei jeder einzelnen<br />

Therapie wieder <strong>die</strong> gleichen Fragen. Man muss es ausfüllen,<br />

ansonsten bezahlen sie nichts. Sehr viel administrativer<br />

Leerlauf wird verursacht, der aber nicht von uns stammt,<br />

der kommt von aussen.“ Der Leaver Walter I. scheint <strong>die</strong>se Form der<br />

langsamen, aber steten Managerialisierung <strong>des</strong> Chefarztes zu kennen, da er<br />

selber <strong>die</strong>se Position an einem Kantonsspital inne hatte: „Alle <strong>die</strong>se administrativen<br />

Arbeiten gehen schliesslich an <strong>die</strong> Führungsperson<br />

zurück, da sie am Schluss kontrollieren müssen, ob es<br />

gemacht wurde, wie es gemacht wurde, wo Fehler sind.“ Auch<br />

Victor H. verdeutlicht, dass zumeist <strong>die</strong> Umsetzung administrativer Erfordernisse<br />

den Assistenz- <strong>und</strong> Oberärzten angelastet wird, jedoch durch <strong>die</strong> Leitenden<br />

Ärzte <strong>und</strong> insbesondere <strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong> verantwortet werden müsse:<br />

„Letztendlich hat in einem hierarchisch geführten Betrieb<br />

der Chefarzt das Sagen, was <strong>die</strong> medizinischen Sachen anbelangt.<br />

Die anderen müssen es dann einfach umsetzen, aber<br />

natürlich ist es dann schon nicht immer so, da man gewisse<br />

Sachen im Leitungsgremium bespricht. Aber letzten En<strong>des</strong><br />

muss er dann hin stehen, <strong>die</strong> Verantwortung tragen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

quasi gegen Aussen auch wahrnehmen.“ Dementsprechend berichtet<br />

auch der Leaver Adrian L., der <strong>die</strong>se zunehmende Durchführung von Projekten<br />

als Resultat der anhaltenden Implementierung ökonomischer Prozesse erachtet.<br />

Adrian L. ist der Meinung, dass sein Alltag wesentlich geringer durch Administration<br />

beeinträchtigt werde als <strong>die</strong>s im Kantonsspital der Fall war, auch <strong>die</strong><br />

Auseinandersetzung mit Ökonomen hätte abgenommen, <strong>und</strong> was <strong>die</strong> Projek-<br />

563


tinitiierung anbelange, so könne er <strong>die</strong>se heute selbstständig veranlassen: „Ich<br />

habe ganz eindeutig weniger Administration, weniger Sitzungen,<br />

weniger Bürokratie, weniger Statistiken, weniger Diskussionen<br />

mit Leuten, bei denen ich mich frage, weshalb ich<br />

überhaupt mit denen diskutieren muss, da sie sowieso nichts<br />

verstehen. Das ist natürlich schon noch <strong>die</strong> Gefahr in einem<br />

Kantonsspital, da jeder seinen Job hat, jeder möchte es gut<br />

machen, <strong>und</strong> da gibt es Leute, <strong>die</strong> nichts anderes als Projektplanung<br />

machen. Sie müssen dann unter <strong>die</strong>sen Projektplanungen<br />

wieder leiden, da sie quasi mitmachen müssen, <strong>und</strong><br />

falls sie nicht mitmachen, müssen sie wieder diskutieren,<br />

weshalb sie nicht mitmachen wollen. Also Sachen, <strong>die</strong> ich<br />

gar nicht will. Wenn schon Projekte, dann mache ich sie<br />

selber. Das kann man in einem Kantonsspital nicht, sie können<br />

nicht selber projektieren.“ Kollegen von Adrian L., wie beispielsweise<br />

Victor H. <strong>und</strong> Bernd A., berichten über umfangreiche administrative<br />

Tätigkeiten, <strong>die</strong> sie bewältigen müssen, da eine Delegation an untere hierarchische<br />

Schichten wie Assistenz- oder Oberärzte nicht möglich sei: „Hier<br />

stehen sie eins zu eins an der Front. Von der Arbeitsintensität<br />

her betrachtet, so ist es hier wesentlich intensiver<br />

als am öffentlichen Spital. Da einem am öffentlichen Spital<br />

vieles abgenommen wird, hat man mehr Zeit mal Literatur zu<br />

lesen oder sich weiterzubilden. In einem Setting wie hier<br />

wird <strong>die</strong>s eher schwieriger, da man hier mehr durch Alltagsarbeiten<br />

eingespannt ist, was dann vielleicht wiederum <strong>die</strong><br />

Schattenseite <strong>des</strong> Ganzen ist.“ Obwohl <strong>die</strong> Leaver sich im Klaren<br />

darüber sind, dass <strong>die</strong> erhoffte abnehmende Belastung durch administrative<br />

Tätigkeiten durch <strong>die</strong> Abwanderung nicht eingetreten ist, sehen sie darin einmal<br />

mehr <strong>die</strong> Bestätigung ihrer Fähigkeiten als Arzt <strong>und</strong> Unternehmer zugleich,<br />

so beispielsweise auch beim Leaver Bernd A.: „Administratives ist<br />

in einem Kantonsspital auf Assistentenebene natürlich auch<br />

mühsam, auf Oberarztebene vielleicht etwas weniger, da sie<br />

es vielleicht dem Assistent delegieren können. Das, was ich<br />

jetzt hier mache, wir haben keinen Assistenten, ich betreue<br />

meine Patienten vom Ein- bis zum Austritt selber. Ich mache<br />

alle Papiere selber. Aber ich habe natürlich den lückenlosen<br />

Verlauf <strong>und</strong> <strong>die</strong>s geht effizient. Patientendokumentation<br />

ist sicherlich aufwändiger geworden, <strong>die</strong>s mit allen Gesprächen,<br />

<strong>die</strong> sie dokumentieren müssen, mit allen Leistungen,<br />

<strong>die</strong> sie dokumentieren müssen, ansonsten dürfen sie es nicht<br />

abrechnen, <strong>und</strong> sie müssen buchführen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s im wahrsten<br />

564


Sinne <strong>des</strong> Wortes.“ Diese unternehmerische Haltung ist nicht abschlies-<br />

send charakteristisch für <strong>die</strong> Gruppe der Leaver, auch Stayer sprechen vom<br />

unternehmerischen Hut, den sie nebst ihrem weissen ärztlichen Kittel tragen,<br />

wie folgende Aussage der Chefärztin Petra S. verdeutlicht: „Da ich nun<br />

seit fünf Jahren Mitglied der Geschäftsleitung bin <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb<br />

viel, viel mehr den unternehmerischen Hut trage. Ich<br />

habe natürlich sehr, sehr viel gelernt jetzt. Wenn sie nun<br />

vielleicht einen Oberarzt fragen, welchen Einfluss das Monetäre<br />

oder welche Bedeutung <strong>die</strong>s hat, dann würde er Ihnen<br />

vielleicht eine andere Antwort geben, <strong>und</strong> dann käme es auch<br />

noch auf den Fachbereich an. Ich habe, beziehungsweise wir<br />

im Departement, wir versuchen unsere Leute auf den finanziellen<br />

Bereich oder finanziellen Aspekt zu sensibilisieren.“<br />

Petra S., <strong>die</strong> nebst ihrer Rolle als Chefärztin auch <strong>die</strong> <strong>des</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>des</strong><br />

bekleidet, veranschaulicht exemplarisch, dass ökonomisches Kalkül<br />

ihrem Habitus nicht fremd ist: „Wenn er jetzt bei mir ist, so kann<br />

ich ihm ein Plastikschläuchlein hineintun, das zwölf Franken<br />

kostet. Ich weiss dann aber, dass er in sechs Wochen<br />

nochmals kommen muss, damit ich ihm dann ein richtiges aus<br />

Metall hineintun kann, welches fünfzehnh<strong>und</strong>ert kostet. Solche<br />

Sachen sind dann schon Überlegungen, <strong>die</strong> wir uns machen<br />

<strong>und</strong> uns Mühe bereiten, dass wir das, was für den Patienten<br />

jetzt am besten ist, tun. Das ist aber nicht immer einfach.“<br />

Die Durchdringung <strong>des</strong> ärztlichen Habitus <strong>und</strong> <strong>die</strong> teilweise Inkorporierung<br />

ökonomischer Denk- <strong>und</strong> Handlungsschemata verdeutlicht sich anhand<br />

<strong>des</strong> von Petra S. offenbarten ökonomischen Kalküls, das in <strong>die</strong> Patientenbehandlung<br />

bewusst miteinbezogen wird <strong>und</strong> <strong>die</strong>se sogar beeinflusst. Die<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> berufsethischen Verständnis <strong>des</strong> Arztes offenbarte sich<br />

kontinuierlich in der Offenlegung der nackten Wahrheit, heute geht <strong>die</strong> Durchdringung<br />

bereits so weit, dass bereits im Rahmen der Indikationsstellung <strong>die</strong><br />

Kosten der Therapierung <strong>und</strong> Behandlung miteinfliessen. Daniel S. antwortet<br />

auf <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong> Behandlungskosten bei der Patientenbetreuung als Entscheidungsparameter<br />

hinzugezogen werden: „Ja, das mache ich sicherlich<br />

zu wenig. Das ist natürlich meine Nähe zur Pension,<br />

<strong>die</strong> in sechs, sieben Jahren ansteht. Und so denke ich:<br />

who cares? Die sollen dann schauen, wie sie es finanzieren.“<br />

Auch bei den Stayern verschont <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> das berufsethische<br />

Verständnis <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen ethisch-moralischen Anspruch an sein<br />

Handeln nicht. Dennoch wird der Versuch unternommen, nach Ausweichmög-<br />

565


lichkeiten zu suchen, <strong>die</strong> der Verlängerung der Hospitalisierungsdauer durch<br />

eine möglichst exakte Erfassung aller Krankheitsbilder <strong>und</strong> den damit einhergehenden<br />

Diagnosen zuträglich sind, wie das Beispiel von Petra S. zeigt:<br />

„Jetzt können wir es mit der Verlängerung der Aufenthaltsdauer<br />

noch optimieren. Einen Patienten am Freitagabend nach<br />

Hause zu lassen, ist der grösste Blödsinn. Samstag oder<br />

Sonntag ist viel besser. Oder noch besser ist der Montagmorgen<br />

<strong>und</strong> den Nächsten gleich hineinnehmen. Wissen sie,<br />

solche Spiele ... oder man lässt ihn am Donnerstag, Freitag<br />

eintreten <strong>und</strong> schickt ihn danach in den Urlaub <strong>und</strong> operiert<br />

ihn dann am Dienstag <strong>und</strong> so.“ Diese Optimierung der Hospitalisierungsdauer<br />

stellt eine Massnahme der Umgehung <strong>des</strong> profitorientierten Kalküls<br />

dar, wobei sich bereits ein weiterer Faktor verdeutlicht, der der Optimierung<br />

der monetären Einnahmen <strong>die</strong>nlich ist – der Versicherungsstatus –, wie<br />

folgen<strong>des</strong> Exempel erläutert: „Es gibt natürlich Überlegungen, wie<br />

beispielsweise, es gibt nun jemanden den ich ambulant behandeln<br />

könnte <strong>und</strong> erfahre, dass er privat versichert ist.<br />

Ambulant haben wir keine Privaten. Dann stelle ich natürlich<br />

<strong>die</strong> Überlegung an, dass wenn er privat versichert ist,<br />

dass ich ihn dann besser zwei, drei Tage ins Spital nehme.<br />

Da ist es dann schon ein wenig ein Abwägen zwischen der<br />

medizinischen Lauterkeit <strong>und</strong> der Gewinnoptimierung. Aber in<br />

<strong>die</strong>sem Spannungsfeld sind wir schon immer. Deshalb vermeide<br />

ich in der Regel, wenn ein Patient ambulant kommt ... Ich<br />

weiss gar nicht, wie der versichert ist. Im ambulanten Setting<br />

interessiert mich das nicht. Auch wenn einer bei mir<br />

in der Sprechst<strong>und</strong>e eingeschrieben ist. Es ist ja egal, ob<br />

<strong>die</strong>ser vom Chef oder von jemand anderem betreut wird. Das<br />

ist gehüpft wie gesprungen. (…) Ja, denn ansonsten ist man<br />

immer in der Versuchung <strong>und</strong> denkt ... Das haben wir aber<br />

bestimmt auch, in <strong>die</strong>sem Spannungsfeld sind wir schon. Entweder<br />

in der Optimierung für das Unternehmen oder dann eben<br />

auch das Optimieren für uns, da wenn einer ja privat ist,<br />

wir ein Honorar zusätzlich erhalten.“ Um dem Reiz <strong>des</strong> Kalküls<br />

nicht zu verfallen, sieht Petra S. von der Kenntnis <strong>des</strong> Indizes ab, das sie zum<br />

ökonomisch orientierten Handeln verleiten könnte. Sie verdeutlicht unverblümt,<br />

dass ihr Alltag vom stetigen Abwägen zwischen der medizinisch <strong>und</strong><br />

damit einhergehenden berufsethisch korrekten Handlungsweise <strong>und</strong> der eigenen<br />

finanziellen Bereicherung geprägt ist. Der Umfang der ärztlichen Leistung,<br />

<strong>die</strong> während eines operativen Eingriffs verwendeten Implantate oder <strong>die</strong> Hos-<br />

566


pitalisierungsdauer stellen nur drei der Instrumente dar, anhand derer sich der<br />

Kostenumfang eines stationären Aufenthaltes steuern lässt. Die Anwendung<br />

eines <strong>die</strong>ser drei Instrumente kann massgeblich über den Genesungsprozess<br />

eines kranken Patienten entscheiden <strong>und</strong> somit auch über <strong>die</strong> Qualität der ärzt-<br />

lichen Diagnosestellung, Therapierung <strong>und</strong> Betreuung.<br />

Victor H. verdeutlicht, wie sich der Prozess der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Habitus im Privatspital vollzieht <strong>und</strong> welche Rolle dabei <strong>die</strong> als fördernd <strong>und</strong><br />

wertschätzend dargestellte Spitalleitung einnimmt: „So könnte es sein,<br />

dass man aufgr<strong>und</strong> der Fallkostenpauschale von der Klinik<br />

unter Druck gesetzt wird, in dem Sinne, dass man gewisse<br />

Sachen nicht mehr unbedingt machen sollte oder, dass man<br />

vielleicht angehalten wird, einen Eingriff weniger vorzunehmen<br />

oder ein nichtbeschichtetes anstelle eines beschichteten<br />

Implantates zu benutzen. Dies könnte Einfluss auf <strong>die</strong><br />

ärztlichen Entscheide nehmen, <strong>die</strong> dann natürlich auch Auswirkungen<br />

auf den Patienten haben. Der Arzt kann quasi<br />

nicht mehr das machen, was er als Bestes erachtet, sondern<br />

muss ein bisschen schauen, ob <strong>die</strong>s mit den DRG noch vereinbar<br />

ist, oder aber riskieren, dass <strong>die</strong> Spitaldirektion<br />

rasch vor der Türe steht <strong>und</strong> sagt: so geht es nicht, da wir<br />

ständig Defizite machen.“ Wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln<br />

erläutert wurde, handelt es sich bei der Selbstständigkeit der Ärzte am Privatspital<br />

um eine klar umrissene <strong>und</strong> begrenzte Selbstständigkeit, <strong>die</strong> dem Arzt so<br />

lange Autonomie gewährt, solange <strong>die</strong> erwarteten finanziellen Zahlen den<br />

Ansprüchen der Spitalleitung entsprechen. Tritt der Fall ein, dass <strong>die</strong> Ergebnisse<br />

nicht mehr mit den Soll-Vorgaben übereinstimmen, kann gemäss Victor H.<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit bestehen, dass der Arzt entweder zur Tätigung von Eingriffen,<br />

<strong>die</strong> nicht einer Notwendigkeit entsprechen, oder zur Verwendung qualitativ<br />

minderwertiger Implantate angehalten wird. Gemäss Victor H. könnten <strong>die</strong><br />

beiden genannten Fälle nach der Einführung der DRG Realität werden, <strong>und</strong><br />

wieder scheint der Arzt für sein Handeln, das seinem berufsethischen Verständnis<br />

unverkennbar widerspricht, keine Verantwortung übernehmen zu<br />

wollen. Anhand der mangelnden Kontrolle der Indikationsstellung hat Victor<br />

H. den Einfluss der Ökonomie auf das ärztliche Handeln bereits exemplarisch<br />

verdeutlicht. Der Rückkehrer Karl K. kennt den Druck seitens einer profitorientierten<br />

Spitalleitung <strong>und</strong> verdeutlicht, wie rücksichtslos <strong>und</strong> anhaltend <strong>die</strong><br />

<strong>Ökonomisierung</strong> den Berufsethos <strong>des</strong> Arztes übergeht: „Die Privatklinik<br />

567


war eine Geldmaschine, <strong>und</strong> das hat man sehr klar gespürt.<br />

Wenn man dort nicht den Umsatz ... Wir hatten jede Woche<br />

Controllinggespräche, <strong>und</strong> der Umsatz wurde jede Woche analysiert<br />

<strong>und</strong> kontrolliert. Das war ein sehr enges Korsett<br />

<strong>und</strong> dort sind nicht so <strong>die</strong> Medizinischen ..., sie sind<br />

schon im Vordergr<strong>und</strong> gestanden, das ist klar, aber man hat<br />

es von der Klinikleitung schon gerne gesehen, vor allem als<br />

<strong>die</strong>se dann gewechselt hat, wenn man halt einen Herzkatheter<br />

dann doch noch gemacht hat, der nicht notwendig war, aber<br />

Geld gebracht <strong>und</strong> <strong>die</strong> Maschine ausgelastet hat. Für solche<br />

Sachen habe ich mich nie hergegeben, nie, das war für mich<br />

immer ein Horrorszenario, wenn dort was passiert wäre, ich<br />

hinterher vor Gericht stehen würde <strong>und</strong> dem Vorwurf ausgesetzt<br />

wäre, dass ich einen nicht indizierten Eingriff vorgenommen<br />

hätte. Das habe ich nie gemacht. Da blieb ich immer<br />

seriös, <strong>und</strong> das war auch gut so, das hat mir einen guten<br />

Ruf eingebracht. Wir hatten sehr viele prominente Patienten,<br />

<strong>die</strong> mir dann auch vertraut haben.“ Karl K. ergänzt seine<br />

Aussage <strong>und</strong> verdeutlicht, wie der monetäre Druck, der auf seinen Schultern<br />

lastete, im Laufe seiner Tätigkeitsjahre am Privatspital anstieg <strong>und</strong> dass insbesondere<br />

seit der Übernahme der Spitalleitung durch Ökonomen, <strong>die</strong> nahezu<br />

ausschliesslich dem monetären Diktat unterlagen, eine merkliche Toleranzgrenze<br />

überschritten wurde: „Es geht nur das raus, was wieder<br />

reinkommt. Zumin<strong>des</strong>t war es danach so, am Anfang war es<br />

nicht so, da stand einfach viel Geld bereit. Danach hat man<br />

dann aber schon geschaut, dass sich <strong>die</strong>s auch amortisiert,<br />

<strong>und</strong> dann wurde der Druck dann schon sehr, sehr gross.“<br />

Wie aber bereits Petra S. erläuterte <strong>und</strong> nachfolgend auch Adrian L. verdeutlichen<br />

wird, existiert innerhalb der Ärzteschaft ein latentes Abwägen zwischen<br />

dem berufsethisch korrekten Handeln <strong>und</strong> der eigenen Bereicherung, <strong>die</strong> durch<br />

<strong>die</strong> leistungsorientierte Entlohnung, <strong>die</strong> Belegarztstrukturen <strong>und</strong> <strong>die</strong> anhaltende<br />

Implementierung ökonomischer Instrumente massgeblich geprägt wurde.<br />

Dennoch darf <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> der strukturellen Rahmenbedingungen<br />

nicht als Rechtfertigung <strong>des</strong> eigenen Handelns entgegen den Spielregeln <strong>des</strong><br />

Fel<strong>des</strong> gelten. Adrian L. begründet <strong>die</strong> zunehmende Nutzen-Kosten-Abwägung<br />

<strong>und</strong> das Interesse an den verursachten monetären Kosten als logische Folge der<br />

<strong>Ökonomisierung</strong> eines jeden beruflichen Alltags: „Wenn sie natürlich<br />

ein Budget oder eine Kostenstellenrechnung haben, in welcher<br />

sie Eingänge, Ausgänge <strong>und</strong> weiss ich nicht was sehen,<br />

568


dann sind sie mehr daran interessiert, <strong>die</strong>s auch zu verstehen.<br />

Das ist der eine Gr<strong>und</strong>, ich glaube, dass sie im Alter<br />

auch mehr merken, dass <strong>die</strong>s wichtig ist, sagen wir es so.<br />

Und der andere Gr<strong>und</strong> ist, dass unsere Welt immer mehr in<br />

<strong>die</strong>se Richtung driftet <strong>und</strong> <strong>die</strong>s nicht nur in der Medizin.<br />

(…) Es gibt immer noch viele Bereiche, in welchen man den<br />

monetären Faktor <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens nicht thematisieren<br />

möchte.“ Wie sein Kollege Victor H. vertritt auch Adrian L. <strong>die</strong> Meinung, dass<br />

sich mit der Einführung der DRG <strong>die</strong> Ausrichtung <strong>des</strong> ärztlichen Handelns an<br />

monetären Kennzahlen zusehends verschärfen wird. Er selber werde <strong>die</strong>sem<br />

Druck aber standhalten, hierbei verdeutlicht er seine grosse Verw<strong>und</strong>erung<br />

hinsichtlich der monetären Profitmaximierung seiner Kollegen: „Dann fangen<br />

<strong>die</strong> Leute tatsächlich an zu rechnen. (…) Es ist nicht<br />

ein Desinteresse, sondern es ist das, was ich nicht will,<br />

dafür habe ich nicht Medizin stu<strong>die</strong>rt. (…) Es gibt auch<br />

Kollegen, <strong>die</strong> viel mehr wissen zu <strong>die</strong>sem Thema, <strong>die</strong> viel<br />

mehr rechnen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s aber auch von ihrem Naturell her. Ich<br />

höre teilweise Sachen, <strong>die</strong> mich zum Staunen bringen. Ich<br />

denke teilweise, bin ich so naiv. Aber das ist ja gut, das<br />

ist ja gleich, das will ich ja einfach nicht.“ Obwohl Adrian<br />

L. eine aufgeklärte Haltung an den Tag legt <strong>und</strong> verdeutlicht, wie sehr das<br />

ärztliche Handeln bereits den Regeln der Ökonomie gehorcht, handelt er entgegen<br />

seiner sensibilisierten Wahrnehmung, sondern offenbart eine Orientierung<br />

an der ökonomischen Dimension seines ärztlichen Handelns: „Ich habe<br />

beispielsweise einen Vertrag, bei welchem ich keine Abdecklung<br />

habe. Ich habe mir gesagt, falls ich einen Vertrag<br />

abschliesse, dann möchte ich einen, der gegen oben offen<br />

ist. Nicht, dass ich endlos ver<strong>die</strong>ne, aber ich möchte<br />

nicht, dass mir jemand sagt: bis dahin kannst du ver<strong>die</strong>nen<br />

<strong>und</strong> den Rest machst du eben umsonst. Ich möchte einen Vertrag,<br />

bei welchem ich einen Anteil am Umsatz <strong>und</strong> Ver<strong>die</strong>nst<br />

habe, der auch so bleibt, egal ob der Umsatz nun 200‘000<br />

mehr oder weniger ist, der bleibt einfach.“ Im Gegensatz zu<br />

Adrian L. begrüsst Joachim A. unverkennbar <strong>die</strong> Integration der der Wirtschaftslogik<br />

entsprechenden <strong>und</strong> gehorchenden Denkweise in den berufsethischen<br />

Habitus <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> erachtet <strong>die</strong> Inkorporierung <strong>die</strong>ser Denk- <strong>und</strong><br />

Handlungsweisen sogar als Fortschritt: „Eine positive Tendenz ist<br />

sicherlich, dass man wirtschaftlich denkt, das muss man<br />

auch. Dies macht man natürlich auch, wenn man sich in einer<br />

solchen Position befindet. Dies ist mal eine positive Ten-<br />

569


denz, das Fördern <strong>des</strong> wirtschaftlichen Denkens.“ Wie der Pro-<br />

zess der <strong>Ökonomisierung</strong> im Innenleben <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses insti-<br />

tutionalisiert wird, um als alltäglich empf<strong>und</strong>en zu werden, verdeutlichen<br />

beispielsweise <strong>die</strong> Aussagen von Otto K. <strong>und</strong> Walter I. Otto K. hebt hierbei<br />

besonders hervor, dass dem Arzt noch immer der abschliessende Entscheid<br />

hinsichtlich <strong>des</strong> Umfangs einer ärztlichen Behandlung oder der Hospitalisie-<br />

rungsdauer zugestanden wird. Dennoch räumt er ein, dass finanzielle Überle-<br />

gungen eine Rolle in der Entscheidungsfindung spielen, jedoch keine abschlies-<br />

sende. Die nachfolgende Aussage zur zunehmenden ambulanten Behandlung<br />

von Patienten verdeutlicht, dass Finanzierungssystemen im Rahmen <strong>des</strong> Be-<br />

handlungsverlaufs eben doch keine geringe Relevanz zugesprochen wird: „Natürlich<br />

sitzen im Controlling oder anderen Bereichen, wo<br />

viel Geld benötigt wird, Ökonomen. Aber letztlich kommt<br />

auch <strong>die</strong>s wieder auf unseren Tisch, da wir danach wieder<br />

mit ihnen zusammenkommen. Im Prinzip haben wir auch jeden<br />

Monat ein Controllinggespräch, <strong>und</strong> da wir ja auch Budgetverantwortung<br />

haben, benötige ich <strong>die</strong>s. Es wäre mir nicht<br />

wohl, wenn ich immer einen Blindflug hätte, <strong>und</strong> am Ende vom<br />

Jahr würde ich dann hören, dass wir 50% mehr Medikamentenkosten<br />

haben als geplant war. Dies kann es ja wohl nicht<br />

sein oder? Nein, ich habe hier nicht das Gefühl ... ich<br />

habe das Gefühl, dass hier der Patient <strong>und</strong> seine Ges<strong>und</strong>heit<br />

im Fokus stehen. Letztlich werden Sachen untergeordnet, <strong>und</strong><br />

dass finanzielle Überlegungen eine Hauptrolle spielen könnten,<br />

ist sicherlich nicht so! Auch wenn <strong>die</strong> Leitung kommt<br />

<strong>und</strong> uns sagt, dass Patienten kürzer hier behalten werden<br />

sollten, dann sagen wir ihnen immer, dass wir einen Patienten<br />

so lange hier behalten, wie es sein muss. Und wenn das<br />

Spital sagt, <strong>die</strong> Patienten sollten noch weniger lange im<br />

Spital verweilen, dann lassen wir sie wissen, dass der Patient<br />

dennoch länger hier bleiben muss. Wir können schon<br />

immer mehr ambulant arbeiten. Dies bedeutet aber auch, dass<br />

<strong>die</strong>jenigen Personen, <strong>die</strong> hier im Spital bleiben müssen,<br />

immer <strong>die</strong> schwierigeren Fälle sind. Wenn wir als Ärzte es<br />

so <strong>und</strong> so sehen <strong>und</strong> benötigen, dann wird es eigentlich auch<br />

so akzeptiert.“ Walter I. bestätigt, dass den Kaderärzten als Stütze bei<br />

allfälligen betriebswirtschaftlichen Wissenslücken Experten aus der Verwaltung<br />

<strong>und</strong> der Finanzetage zur Seite gestellt werden. Er sieht aber darin <strong>die</strong> Gefahr<br />

der zunehmenden Entmachtung der eigentlichen Experten eines Spitals, der<br />

Ärzte, <strong>die</strong> mit ihrem Fachwissen massgeblich <strong>und</strong> entscheidend zur Qualität<br />

570


ärztlicher Indikationsstellungen <strong>und</strong> Behandlungen beitragen: „Neuerdings<br />

stellt man den Bereichsleitern auch am Kantonsspital <strong>und</strong> im<br />

gesamten chirurgischen Bereich einen Ökonomen zur Seite.<br />

Wenn man aber nur noch über den Ökonomen mit mir diskutiert,<br />

dann haben wir ein feuriges Gebäude, das ärztefeindlich<br />

wird. Das ist dann wahrscheinlich schon nicht gut, da<br />

es demotiviert <strong>und</strong> für <strong>die</strong> Entwicklung eines Spitals <strong>und</strong><br />

neuer Produkte sind Führungspersonen aus dem ärztlichen<br />

Bereich unabdingbar. Deshalb glaube ich, dass es ein ges<strong>und</strong>es<br />

Gleichgewicht zwischen <strong>die</strong>sen beiden Sachen geben muss.<br />

Ärzte alleine können keine Spitäler mehr führen, das ist<br />

aus meiner Sicht eindeutig nicht mehr denkbar.“ Die Mehrheit<br />

der befragten Kaderärzte scheint einen Konsens hinsichtlich der Zusammenarbeit<br />

mit Ökonomen auf Stufe Spitalverwaltung <strong>und</strong> Spitalleitung gef<strong>und</strong>en zu<br />

haben. Auch <strong>die</strong> Aneignung ökonomischen Wissens scheint kein Hindernis<br />

darzustellen, sondern wird sogar als förderlich erachtet, um einen umfangreicheren<br />

Einblick in <strong>die</strong> betriebswirtschaftlichen Kennzahlen <strong>und</strong> Erfolgszahlen<br />

eines Spitals <strong>und</strong> in das der Ärzteschaft seitens der Ökonomen auferlegten<br />

Prozessdenken zu erlangen. Auch <strong>die</strong> Massnahmen, <strong>die</strong> der Förderung der<br />

Kosteneffizienz <strong>und</strong> Kostenkontrolle <strong>die</strong>nen, scheinen auf Verständnis seitens<br />

der Ärzteschaft zu stossen. Sowohl Stayer als auch Leaver räumen ein, dass sie<br />

sich im Rahmen ihres Berufsalltages zusehends der Abwägung zwischen dem<br />

den Arztberuf kennzeichnenden beruflichen Ethos <strong>und</strong> seines ihm anerkannten<br />

„Amtscharismas“ <strong>und</strong> dem Ensemble an Denk-, Handlungs- <strong>und</strong> Wahrnehmungsschemata<br />

<strong>des</strong> homo oeconomicus <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Marktgläubigkeit ausgesetzt<br />

sehen. Die Indikationsstellung, in welcher <strong>die</strong> Diagnose gestellt <strong>und</strong> über<br />

<strong>die</strong> Behandlungsform entschieden wird, <strong>und</strong> der Behandlungsumfang eines<br />

Patienten richten sich einerseits leider teils an der eigenen Bereicherung <strong>und</strong><br />

derjenigen <strong>des</strong> Spitals aus <strong>und</strong> andererseits am berufsethischen Selbstverständnis<br />

<strong>des</strong> behandelnden Arztes.<br />

5.3.2 Job, Beruf oder Berufung<br />

In Hinblick auf <strong>die</strong> Frage nach der berufsethischen Orientierung der angehenden<br />

Ärzteschaft lassen <strong>die</strong> befragten Kaderärzte wesentliche Unterschiede zum<br />

Berufsverständnis ihrer Arztgeneration verlauten. Einige befragte Kaderärzte<br />

klagen <strong>die</strong> junge Arztgeneration an, den durch ihre Einforderung einer Work-<br />

Life-Balance kontinuierlichen Verfall <strong>des</strong> Arztberufs herbeigeführt zu haben.<br />

Sie heben besonders den aus <strong>die</strong>ser Einforderung vermeintlich entstehenden<br />

571


Jobcharakter der ehemaligen Berufung zum Arzt hervor. Das Anspruchsdenken<br />

seitens der jungen Arztgeneration habe sich wesentlich verändert <strong>und</strong> dazu<br />

beigetragen, dass vermehrt <strong>die</strong> Forderung der optimalen Vereinbarkeit <strong>des</strong><br />

Berufsalltages mit der Freizeitgestaltung <strong>und</strong> dem damit einhergehenden Fami-<br />

lienleben laut wird. Auch <strong>die</strong> organisatorische Planung der Arbeitsschichten,<br />

der Schnittstellen <strong>und</strong> der Übergabezeiten der einen Schicht an <strong>die</strong> nächste<br />

werde heute zur grossen Herausforderung. Von Anbeginn der klinischen Ausbildungszeit<br />

spiele auch <strong>die</strong> Entlohnung eine bedeutende Rolle, berichtet Karl<br />

K.: „Das Erste, das sie fragen, ist, wie viel ver<strong>die</strong>ne ich<br />

hier. Ich komme schon, aber ich arbeite nur am Montag, <strong>und</strong><br />

am Freitagnachmittag muss ich nach Hause, <strong>und</strong> dann mag ich<br />

nicht mehr, <strong>und</strong> Dienst mache ich auch keinen.“ Dass sich zwischen<br />

der heutigen heranwachsenden Arztgeneration <strong>und</strong> derjenigen Generation,<br />

der <strong>die</strong> befragten Kaderärzte entstammen bzw. <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Kaderärzte als<br />

Vorbild galt, deutliche Unterschiede bestehen, verdeutlichen <strong>die</strong> Worte von<br />

Karl K.: „Wie ich vorhin schon gesagt habe, es hängt von den<br />

jeweiligen Leuten ab, es muss eine Dialogbereitschaft auf<br />

beiden Seiten vorhanden sein. Ich kann mir vorstellen, dass<br />

<strong>die</strong> ältere Ärztegeneration, <strong>die</strong> noch mit dem Klischee ,Gott<br />

in Weiss‘ aufgewachsen ist, darf alles, kann alles <strong>und</strong><br />

macht alles, damit sicherlich ein Problem hat. Von <strong>die</strong>sem<br />

Bild muss man sich verabschieden. Das ist schon lange vorbei.<br />

Ich zähle mich eher zur neueren Generation <strong>und</strong> sehe es<br />

auch anders. Meine Erfahrung, <strong>die</strong> ich gemacht habe, hat<br />

mich auch geprägt.“ Diese Aussage liess Karl K. im Zusammenhang mit<br />

dem vermeintlichen Bedarf einer Kooperation zwischen der Verwaltungsebene<br />

mit den darin vertretenen Nichtmedizinern <strong>und</strong> der Ärzteschaft verlauten. Karl<br />

K. scheint der angebliche Abbau <strong>des</strong> symbolischen Kapitals seines Berufsstan<strong>des</strong><br />

wenig Mühe zu bereiten, hingegen besorgt ihn <strong>die</strong> teils fehlende Identifikation<br />

der heranwachsenden Arztgeneration mit dem Arztberuf <strong>und</strong> der ihr zukommenden<br />

humanitären <strong>und</strong> ethischen Verpflichtungen im Umgang mit den<br />

Patienten: „Was sich verändert hat, es sind jetzt mehr Technokraten<br />

am Werk. Früher, wenn ich so zurückdenke, da stand<br />

noch eine grosse, humanitäre Verpflichtung im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Die wirtschaftliche Seite war nicht wichtig. Für mich stand<br />

<strong>die</strong> humanitäre Berufung im Vordergr<strong>und</strong>, jetzt wird es immer<br />

mehr ein technokratischer Beruf. Man sieht das anhand ...<br />

Ich hätte mir früher nie vorstellen können in einem Ort zu<br />

572


arbeiten, in welchem ich nicht direkt wohne. Das wäre für<br />

mich <strong>und</strong>enkbar gewesen.“ Zumeist fehle es den angehenden Ärzten an<br />

der Freude am Beruf <strong>und</strong> der Bereitschaft, sich für seine Wertvorstellungen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Patientenbetreuung einzusetzen. Karl K. verdeutlicht, inwiefern <strong>die</strong> Betreuung<br />

<strong>des</strong> Patienten <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich möglicherweise daraus ergebende Beziehung<br />

ihn zumeist noch nach der Arbeit beschäftigt: „Ich lebe da vielleicht<br />

in einer anderen Welt, aber das ist auch gut so. Das ist<br />

vielleicht eher das, was <strong>die</strong> suchen. Die schalten den Riegel<br />

um <strong>und</strong> sind weg. Mich hat das immer beschäftigt, meine<br />

Arbeit <strong>und</strong> meine Probleme nehme ich auch heute immer nach<br />

Hause. Ich habe schon Zeit für <strong>die</strong> Familie, aber danach<br />

beschäftigt mich das. Ich denke dann darüber nach, überlege<br />

<strong>und</strong> mitunter muss ich dann auch hierher fahren <strong>und</strong> das<br />

Problem lösen.“ An <strong>die</strong> Aussage von Karl K. knüpft <strong>die</strong> folgende von Yann<br />

S. an, in welcher er betont, dass <strong>die</strong> Berufung zum Arztberuf nicht alleine auf<br />

dem humanitären Interesse an den Mitmenschen <strong>und</strong> dem Akt der Hilfe für das<br />

Gemeinwohl ruhe, sondern dass das Interesse an der Medizin als Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> als Forschungsgebiet genauso entscheidend zum Berufungscharakter beitragen<br />

würde: „Ich glaube, dass man aus einer Berufung, einem<br />

inneren Antrieb den armen Menschen helfen möchte, dass <strong>die</strong>s<br />

in jedem Menschen ein wenig drin ist, <strong>die</strong>s aber nicht der<br />

alleinige Gr<strong>und</strong> für ein Medizinstudium ist. Im Gegenteil<br />

sind <strong>die</strong>s nicht einmal <strong>die</strong> besten Ärzte <strong>und</strong> auch nicht <strong>die</strong><br />

besten Krankenpfleger <strong>und</strong> Schwestern. Sie kennen ja das<br />

Helfersyndrom. (…) Sagen wir aber, dass es im Gros Leute<br />

sind, <strong>die</strong> Interesse ... also ich glaube schon, dass man, so<br />

wie es mir auch erging, Interesse am Kontakt mit den Leuten<br />

hat, <strong>und</strong> natürlich hilft man gerne, <strong>die</strong>s ist nun aber nicht<br />

<strong>die</strong> alleinige Berufung. Man hat dann eben auch noch Freude<br />

an der Technik oder an der Naturwissenschaft, <strong>und</strong> dafür<br />

bietet <strong>die</strong> Medizin eine gute Kombination.“ Wie <strong>die</strong> Erläuterungen<br />

zur Faszination <strong>des</strong> Arztberufs seitens der befragten Kaderärzte bereits<br />

bezeugten, besteht <strong>die</strong> Leidenschaft aus einer Kombination aus dem Interesse<br />

am Patienten <strong>und</strong> seinem Wohl, der detektivischen Ursachenforschung <strong>und</strong><br />

dem Forschungsspektrum der Medizin.<br />

Massgeblich für den Arztberuf ist nebst dem zugesprochenen symbolischen<br />

Kapital das seitens der Laien <strong>und</strong> der Weiheinstitutionen anerkannte „Amtscharisma“,<br />

das gemäss dem Rückkehrer Karl K. der angehenden Arztgeneration<br />

573


zumeist abhandengekommen sei. Dieses würde nämlich massgeblich über eine<br />

erfolgreiche Arztkarriere entscheiden. Erneut betont er <strong>die</strong> fehlende Freude, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> jungen Ärzte im Rahmen ihrer Berufsausübung im Alltag an den Tag legen,<br />

<strong>und</strong> ihre mangelnde Identifikation mit dem Arztberuf: „Die Freude am Job<br />

fehlt einfach, es ist technokratischer geworden. Ich muss<br />

mich wiederholen. Es ist schlimm, es ist ganz schlimm, <strong>und</strong><br />

man sieht, dass <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>sem Beruf auch wirklich<br />

erfolgreich sind ... Erfolgreich, nicht gemessen am<br />

Einkommen, das sind charismatische Typen, <strong>die</strong> Freude haben<br />

an dem, was sie machen, <strong>die</strong> sind auch innovativ, wenn man<br />

das so anschaut, dann sind es <strong>die</strong>, <strong>die</strong> erfolgreich sind.<br />

(…) Ich möchte Leute, <strong>die</strong> Freude daran haben, <strong>die</strong> sich damit<br />

identifizieren.“ Karl K. betont, wenn auch etwas moralisierend <strong>und</strong><br />

sein Verständnis der „totalen sozialen Rolle“ bekräftigend, den Verlust <strong>des</strong><br />

Berufungscharakters, der früher kennzeichnend für den Beruf <strong>des</strong> Arztes war<br />

<strong>und</strong> als Dienst für <strong>die</strong> Allgemeinheit verstanden wurde. Auch Daniel S. vertritt<br />

<strong>die</strong> Auffassung, dass <strong>die</strong> jungen Ärzte ihren beruflichen Alltag zusehends als<br />

Gehaltsquelle erachten, <strong>die</strong> wesentlich zu einem angemessenen Lebensstandard<br />

beitragen soll: „Sondern es ist ein Job, um das Privatleben aufzubauen,<br />

wo man emotional noch was Tolles abholen kann,<br />

aber nicht mehr im Beruf. Nur noch ganz wenige, <strong>die</strong> durchgeknallt<br />

sind, können heute noch Karriere machen.“ Daniel S.<br />

verdeutlicht, dass eine erfolgreiche Arztkarriere inskünftig nur jenen vorbehalten<br />

sein wird, <strong>die</strong> sich vollständig dem Arztberuf verpflichtet fühlen. Ob <strong>die</strong>se<br />

auch bereit sein werden, ihre „totale soziale Rolle“ zu erfüllen, bleibt offen.<br />

Andreas L. zeigt <strong>die</strong> Zwiespältigkeit auf, in welcher sich der ärztliche Nachwuchs<br />

befindet. Einerseits wünscht sich der Nachwuchs <strong>die</strong> umfassende, aber<br />

auch zeit- <strong>und</strong> arbeitsintensive Ausbildung zurück, da er erkennt, dass er sich<br />

das Wissensspektrum wesentlich langsamer aneignet als <strong>die</strong> Vorgesetzten.<br />

Andererseits hält er an seiner Forderung nach einer ausgeglichenen Work-Life-<br />

Balance fest: „Die Mentalität ist eine ganz andere, obwohl unsere<br />

Assistenten klagen <strong>und</strong> sagen, dass sie ihre Spezialität<br />

mehr ausführen wollen <strong>und</strong> es nicht vorwärts ginge. Sie<br />

würden auch länger arbeiten. In unser System aber würden<br />

sie nie zurück wollen. Sie haben sich daran gewöhnt, ein<br />

Leben neben dem Beruf zu haben. Das hatten wir natürlich<br />

nicht. Bei uns war das Leben neben dem Beruf ein Sahnehäubchen.<br />

Heute ist <strong>die</strong>ses ein wesentlicher Bestandteil.“ Petra<br />

574


S. erachtet <strong>die</strong> beharrende Einforderung von geregelten Arbeitszeiten als Phä-<br />

nomen der anhaltenden Selbstverwirklichung. Der Nachwuchs fordert ein<br />

Privatleben ein, das dem <strong>des</strong> sozialen Umfel<strong>des</strong> entspricht: „Deshalb glaube<br />

ich, dass es einen Wertewandel bezüglich, ich mag das Wort<br />

nicht so, Selbstverwirklichung der jungen Ärzte, <strong>die</strong> sich<br />

nicht nur auf den Beruf ausrichten sondern denen auch Freizeit,<br />

Hobby, Sport, Kultur <strong>und</strong> neben dran <strong>die</strong> Ansprüche der<br />

Umgebung eine Rolle spielen, gegeben hat. Dies führt zu<br />

anderen Arbeitszeiten oder zumin<strong>des</strong>t zum Wunsch danach.“<br />

5.3.2.1 Die Feminisierung<br />

Neue Anstellungs- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen seien gemäss Petra S. einerseits auf<br />

den zunehmenden Selbstverwirklichungsanspruch <strong>und</strong> <strong>die</strong> Einforderung einer<br />

ausgeglichenen Work-Life-Balance zurückzuführen <strong>und</strong> andererseits auf <strong>die</strong><br />

Feminisierung <strong>des</strong> Arztberufs. Unter Feminisierung wird im Rahmen <strong>die</strong>ser<br />

Arbeit <strong>und</strong> gestützt auf dem empirischen Material einerseits der konstante<br />

quantitative Anstieg der Anzahl Frauen erachtet, <strong>die</strong> sich für den Arztberuf<br />

entscheiden <strong>und</strong> anschliessend im ambulanten oder stationären Versorgungsbereich<br />

tätig sind, den Daniel S. auch treffend beschreibt: „Die Medizin<br />

wurde sehr feminisiert. (…) In meinem gesamten Semester gab<br />

es drei Frauen.“ Nebst dem mengenmässigen Anstieg berichten einige der<br />

befragten Kaderärzte andererseits über <strong>die</strong> zunehmende Forderung einer<br />

gleichberechtigten Verteilung der Familienbetreuung zwischen Mann <strong>und</strong> Frau.<br />

Im Alltag würden dann <strong>die</strong> männlichen Assistenz- <strong>und</strong> Oberärzte im Rahmen<br />

der Dienstplanung auf ihre Vaterpflichten hinweisen, sich um eine zeitlich<br />

optimale Zuweisung ihrer Dienste bemühen <strong>und</strong> Vaterschaftsurlaub beantragen.<br />

Wie bereits im Kapitel 2.3.2 <strong>und</strong> im Kapitel zur biographischen Laufbahn<br />

erläutert wurde, ist sowohl im stationären als auch im ambulanten Sektor ein<br />

stetiger Anstieg der Anzahl Ärztinnen zu verzeichnen. Die Anzahl Frauen mit<br />

einem Abschluss in Humanmedizin steigt im Vergleich zur Anzahl Männer<br />

stetig an (siehe beispielsweise Ärztestatistik FMH, 2012 oder BFS, 2005a). Seit<br />

1980 nimmt der Anteil Männer kontinuierlich ab <strong>und</strong> der Anteil Frauen kontinuierlich<br />

zu. 2005 sah <strong>die</strong> prozentuale Aufteilung folgendermassen aus: 340<br />

Frauen (54.6%) <strong>und</strong> 283 Männer (45.4%). Im Gegensatz hierzu <strong>die</strong> Zahlen aus<br />

575


dem Jahre 1980: 213 Frauen (26.4%) <strong>und</strong> 592 Männer (73.3% 64 ) (BFS, 2005a). Im<br />

stationären Sektor ist im Vergleich zum ambulanten Sektor der Anteil Ärztin-<br />

nen wesentlich höher. Für das Jahr 2011 verzeichnet <strong>die</strong> Ärztestatistik der Ver-<br />

bindung der Schweizer Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzte (FMH) für den stationären Bereich<br />

einen Frauenanteil von 41.4% <strong>und</strong> für den ambulanten Bereich einen von 32.9%<br />

(FMH, 2012, S. 399). Hierbei ist unter anderem von Interesse, dass der Anteil<br />

der Ärztinnen im Bereich „andere Sektoren“ bei den Frauen wesentlich gerin-<br />

ger ausfällt als bei den Männern. Lediglich ein Viertel (26.7%) aller Ärzte, <strong>die</strong> in<br />

<strong>die</strong>sem Bereich tätig sind, ist weiblich. Unter „andere Sektoren“ wird <strong>die</strong> Tätig-<br />

keit von Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzten, <strong>die</strong> weder im stationären noch im ambulanten<br />

Bereich arbeiten, zusammengefasst. Diese haben beispielsweise Posten in akademischen<br />

Institutionen (ProfessorInnen oder DozentInnen) oder in der Privatwirtschaft<br />

beispielsweise in der Versicherungs- oder Pharmabranche inne<br />

(ebd.). Sowohl der Spitalalltag <strong>und</strong> als auch <strong>die</strong> Hausarztmedizin sehen sich<br />

durch <strong>die</strong>sen Anstieg an Ärztinnen neuen Herausforderungen ausgesetzt. Die<br />

Forderung nach Teilzeitstellen <strong>und</strong> der Bedarf an Gruppenpraxen wird laut:<br />

„Heute ist es nicht mehr so, dass man sich selber sagt, nun<br />

bin ich an einem Posten <strong>und</strong> bleibe dreissig, vierzig Jahre.<br />

Ein junger Mensch strebt nicht nur <strong>die</strong> Teilzeittätigkeit<br />

an, <strong>die</strong> tage- oder wochenweise dauert, sondern auch <strong>die</strong><br />

Teillebensarbeitszeit. Man sagt sich, nun bin ich mal zehn<br />

Jahre im Kantonsspital, danach möchte ich wo anders hin<br />

oder mache mit Kollegen etwas auf oder gehe beispielsweise<br />

in ein nahegelegenes Spital. Danach kommt <strong>die</strong> Feminisierung<br />

der Medizin, es gibt viel mehr Frauen jetzt, <strong>die</strong> Medizin<br />

stu<strong>die</strong>ren, <strong>die</strong>se sind häufig auch geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> können alleine<br />

gar keine Praxis führen, da sie Teilzeit tätig sind.“<br />

Demzufolge fordern auch <strong>die</strong> Männer <strong>die</strong> Schaffung von Teilzeitstellen ein, was<br />

jedoch bis heute auf wenig Anklang stiess. Liess das Familienleben eine Vollzeitanstellung<br />

für eine Oberärztin beispielsweise nicht zu <strong>und</strong> bat <strong>die</strong>se um eine<br />

Teilzeitstelle, konnte <strong>die</strong>s rasch in einem Karriereende resultieren, wie folgen<strong>des</strong><br />

Beispiel vom Stayer Klaus K. zeigt: „Meine Vorgängerin in der Abteilung<br />

am Universitätsspital wurde schwanger, folglich<br />

64 Bei drei Personen fehlt <strong>die</strong> Angabe weiblich bzw. männlich, weshalb <strong>die</strong> Summierung der beiden prozentualen Werte<br />

nicht 100% ergibt.<br />

576


konnte ich ihren Weiterbildungsplatz erhalten. Der Chef<br />

dazumal war nicht so fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> teilte ihr mit, dass er<br />

sie nach dem Urlaub nicht mehr anstellen werde <strong>und</strong> teilte<br />

ihr weiter mit, dass er nicht wolle, dass sie eine Teilzeitausbildung<br />

mache.“ Der Leaver Yann S. stimmt Petra S. zu <strong>und</strong> veranschaulicht<br />

<strong>die</strong> Dringlichkeit nach alternativen Anstellungsverhältnissen:<br />

„Das geht aber noch weiter, das ist natürlich der Trend ...<br />

jetzt sind 2/3 bis in zehn Jahren werden 3/4 der Ärzte<br />

Frauen sein. Das ist keine Wertung. Viele Frauen arbeiten à<br />

la longue 70 bis 80 Prozent, sie sind dann folglich froh,<br />

wenn sie damit nichts zu tun haben müssen, sondern sich auf<br />

<strong>die</strong> reine ärztliche Tätigkeit konzentrieren können. Dadurch<br />

wird <strong>die</strong> Medizin ganz wesentlich auch beeinflusst. Alle<br />

Hochrechnungen, <strong>die</strong> wir machen, bezüglich dem Ärztemangel<br />

<strong>und</strong> dem Überfluss, was man aber lange nicht berücksichtigt<br />

hat ist, dass Absolventen <strong>des</strong> Staatsexamens zu 3/4 Frauen<br />

sind, <strong>die</strong> natürlich einfach ein wenig eine andere Karriereplanung<br />

haben. Das ist unbestritten. (…) Das ist bereits<br />

biologisch vorgezeichnet (…). Das wird sich auswirken.“<br />

Auch hierzu liefert <strong>die</strong> Ärztestatistik der FMH relevante Daten, wie beispielsweise<br />

das durchschnittliche Arbeitspensum gemessen in Halbtagen pro Woche<br />

<strong>und</strong> pro Sektor <strong>und</strong> nach Geschlecht aufgeteilt. 2011 schaut <strong>die</strong> Aufteilung<br />

folgendermassen aus: Im ambulanten Sektor lag das durchschnittliche Arbeitspensum<br />

bei den Frauen bei 6.8 Halbtagen <strong>und</strong> bei den Männern bei 9.0 Halbtagen,<br />

im stationären Sektor lag es bei den Frauen bei 8.6 Halbtagen <strong>und</strong> 10.1<br />

Halbtagen bei den Männern (FMH, 2012, S. 401). Hinsichtlich <strong>des</strong> prozentualen<br />

Arbeitspensums (20, 40, 60, 80, 100, 120, 140%) <strong>und</strong> in Bezug auf <strong>die</strong> Diskussionen<br />

r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Teilzeitarbeit innerhalb der Ärzteschaft offenbart sich folgen<strong>des</strong><br />

Bild: Im ambulanten Bereich arbeiten im Hinblick auf <strong>die</strong> Gesamttotale aller<br />

ambulant tätigen Ärztinnen 32% bei einem Arbeitspensum von 60%, 26% aller<br />

Ärztinnen haben ein Arbeitspensum von 80% zu erfüllen, 24% gehen einem<br />

100% Pensum nach <strong>und</strong> 2% arbeiten 120%. Im Hinblick auf <strong>die</strong> Ärzte schaut <strong>die</strong><br />

Aufteilung folgendermassen aus: 8% (bei einem Arbeitspensum von 60%), 18%<br />

(bei 80%), 58% (bei 100%) <strong>und</strong> 10% (bei 120%). Im stationären Sektor gestaltet<br />

sich <strong>die</strong> Aufteilung folgendermassen: 19% aller im stationären Bereich tätigen<br />

Ärztinnen haben ein Arbeitspensum von 60% inne, 19% ein Pensum von 80%,<br />

46% eines von 100% <strong>und</strong> 9% eines von 120% (ebd.). Bei den Ärzten im stationären<br />

Bereich gehen 4% einer 60%-Arbeitstätigkeit <strong>und</strong> 8% einer 80%-Stelle nach,<br />

577


55% haben eine 100%-Stelle <strong>und</strong> 25% eine 120%-Stelle inne (ebd.). Die Zahlen<br />

verdeutlichen, dass im ambulanten Sektor Teilzeitstellen im Rahmen von Ein-<br />

zelpraxen oder Gruppenpraxen vermehrt ermöglicht werden, wohingegen der<br />

prozentuale Anteil im stationären Sektor ansteigt, je stärker das Arbeitspensum<br />

steigt, was einerseits mit der hohen Anzahl an Assistenten im stationären Sek-<br />

tor zusammenhängen kann, <strong>die</strong> nicht oder nur geringfügig ihr Arbeitspensum<br />

anpassen können, oder mit der geringen Anzahl Teilzeitstellen im stationären<br />

Bereich. Auch <strong>die</strong> zeitliche Belastung gemessen in Halbtagen ist im stationären<br />

höher als im ambulanten Bereich. Die Ärztinnen im stationären Bereich arbeiten<br />

durchschnittlich einen Halbtag pro Woche weniger als ihre männlichen Kollegen,<br />

<strong>und</strong> im ambulanten Bereich arbeiten <strong>die</strong> Ärztinnen durchschnittlich einen<br />

ganzen Tag weniger als ihre männlichen Kollegen (FMH, 2012, S. 402).<br />

Die quantitativen Zahlen haben in Kombination mit den Aussagen der Kaderärzte<br />

verdeutlicht, dass der Bedarf nach Teilzeitstellen inskünftig ansteigen<br />

wird <strong>und</strong> Anstellungsstrukturen geschaffen werden müssen, <strong>die</strong> den Ärztinnen<br />

auch ermöglichen, <strong>die</strong> Familie <strong>und</strong> ihre berufliche Tätigkeit unter einen Hut zu<br />

bringen, um Benachteiligungen kontinuierlich zu unterbinden. Petra S. verdeutlicht<br />

mit folgender Aussage <strong>die</strong> bereits angesprochene zweite Dimension der<br />

Feminisierung: „Ich würde sagen, dass der Wertewandel im positiven<br />

Sinne <strong>die</strong> Familie aufgewertet hat. (…) Also meine<br />

Männer müssen dann auch nach Hause gehen, um auf <strong>die</strong> Kinder<br />

aufzupassen, <strong>und</strong> wenn eine Frau gebärt, dann hat er Vaterschaftsurlaub,<br />

<strong>und</strong> wenn das Kind krank ist, dann muss der<br />

Vater mal zu Hause bleiben. Das bemerkt man schon anhand<br />

der Planung der Diensteinsätze. Wir haben gerade ein paar,<br />

<strong>die</strong> Kinder gekriegt haben, oder <strong>die</strong> Frau wird wieder berufstätig<br />

<strong>und</strong> sagt, wir machen ein Agreement. Dann heisst<br />

es, <strong>die</strong> Frau arbeitet dann <strong>und</strong> dann <strong>und</strong> der Mann arbeitet<br />

auch, ergo, wenn <strong>die</strong> Frau arbeitet, dann muss gewährleistet<br />

sein, dass der Mann Haushalt- <strong>und</strong> Kinderpflichten wahrnimmt.“<br />

Petra S. veranschaulicht <strong>die</strong> sowohl seitens der Ehefrauen bzw. Partnerinnen<br />

als auch zusehends seitens ihrer männlichen Kollegen geforderte<br />

Aufteilung der familiären Pflichten <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende Begrenzung<br />

der Arbeitszeit auf das vereinbarte Arbeitspensum (weniger Überst<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

weniger Nacht- bzw. Wochenendeinsätze) oder sogar <strong>die</strong> Herabsetzung <strong>des</strong><br />

Arbeitspensums, was gegenwärtig <strong>und</strong> besonders im Hinblick auf <strong>die</strong> soeben<br />

dargestellten Zahlen der FMH noch kein Thema zu sein scheint. Nur 4% bzw.<br />

578


8% der im stationären Sektor tätigen Ärzte gehen einer 60% bzw. 80%-<br />

Anstellung nach (im Gegensatz zu 19% Frauen, <strong>die</strong> einer 60%-Anstellung nach-<br />

gehen <strong>und</strong> 19%, <strong>die</strong> ein 80%-Arbeitspensum absolvieren) (FMH, 2012, S. 403).<br />

Petra S. erachtet den Druck, der auf ihre männlichen Kollegen sowohl seitens<br />

der Familie als auch seitens seines beruflichen Umfel<strong>des</strong> ausgeübt wird, als<br />

nicht unbeachtlich. Das Einnehmen einer <strong>die</strong>nenden Haltung, <strong>die</strong> ihre Mutter<br />

gegenüber ihrem Vater einnahm, scheint sowohl in der Familie als auch im<br />

beruflichen Bereich (Stichwort: im Dienste für <strong>die</strong> Allgemeinheit) nicht mehr<br />

vergleichbar mit den älteren Generationen <strong>und</strong> demzufolge auch nicht mehr<br />

zeitgemäss: „Der Anspruch aber ist einfach anders, sie wollen<br />

daneben noch etwas leben, möchten Freizeit haben, möchten<br />

Familie haben. Parallel kommt, so denke ich, der Anspruch<br />

<strong>des</strong> Partners oder der Partnerin, das ist auch anders. Das<br />

Aufopfernde einer Mutter wie meiner, <strong>die</strong> ich daheim hatte,<br />

das können sie vergessen. Das habe ich auch mit meinen Kollegen<br />

<strong>des</strong> Kaders, <strong>die</strong> hier am Spital arbeiten, <strong>die</strong> teilweise<br />

seitens der Familie unter einem unheimlichen Druck stehen.<br />

Der Wertewandel.“ Ob von einem Wertewandel gesprochen werden<br />

kann, wird nicht abschliessend erläutert werden können. Die Einforderung der<br />

Selbstverwirklichung im beruflichen Alltag, <strong>die</strong> den jungen Ärzten zusehends<br />

zugeschrieben wird, hat vor dem weiblichen Geschlecht nicht halt gemacht,<br />

weshalb innerhalb der familiären Strukturen ein egalitärer Ausgleich der Aufgabenverteilung<br />

fern geschlechtlicher Rollenzuschreibungen <strong>und</strong> eine auf soziale<br />

Gleichheit beruhende Aufteilung der Pflichten <strong>und</strong> Rechte eingefordert<br />

wird.<br />

5.3.2.2 Die Work-Life-Balance<br />

Die verlangte Balance zwischen dem beruflichen Alltag als Arzt <strong>und</strong> dem Privatleben,<br />

wo zumeist Familie <strong>und</strong> <strong>die</strong> eigenen Bedürfnisse nach einem intakten<br />

sozialen Umfeld <strong>und</strong> den ausgleichenden Freizeitaktivitäten im Vordergr<strong>und</strong><br />

stehen, erachtet Petra S. als eindeutiges Indiz der zunehmenden Anspruchshaltung<br />

der jungen Arztgeneration: „Was sich aber sicherlich verändert<br />

hat, ist, dass sie Ansprüche an ein Leben neben der<br />

Praxis stellen.“ Andreas L. zeigt auf, dass <strong>die</strong> Anspruchshaltung merkliche<br />

Konsequenzen in Bezug auf das berufliche Selbstverständnis <strong>und</strong> insbesondere<br />

<strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung bereithält: „Es gibt gar kein Verhältnis<br />

zum Patient mehr. Auf den Notfallstationen gibt es<br />

einen Schichtbetrieb, innerhalb welchem sich <strong>die</strong> Leute im<br />

579


Team nur noch alle drei Wochen mal sehen. Auf einmal musste<br />

man beginnen zu organisieren. Früher hat man doch einfach<br />

gearbeitet. Deshalb ging auch alles auf. Man sagte: ach,<br />

<strong>die</strong>s ist noch, ja dann, dann machen wir eben. Man hat es<br />

einfach erledigt. Heute muss man organisieren, damit <strong>die</strong><br />

Leute nicht zu viele Überst<strong>und</strong>en machen usw.“ Andreas L. veranschaulicht,<br />

inwiefern sich <strong>die</strong> Übersicht <strong>und</strong> Kontrolle über den Genesungsbzw.<br />

Krankheitsverlauf zusehends auf zahlreiche Ärzte verteilt. Auch <strong>die</strong><br />

Übernahme von Verantwortung über den Verlauf hinweg lasse nach, was dazu<br />

beitrage, dass durch <strong>die</strong> schwindende Kontinuität der Behandlung durch ein<br />

<strong>und</strong> denselben Arzt <strong>die</strong> vertraute Beziehung zwischen dem Arzt <strong>und</strong> seinem<br />

Patienten nicht mehr gewährleistet werden könne. Die emotionale <strong>und</strong> der<br />

ärztlichen Berufsethik entsprechende Bindung an den Patienten werde dadurch<br />

massgeblich untermauert: „Das ist ganz was anderes, wenn heute<br />

ein Patient eine Komplikation hat, <strong>die</strong> ich verursacht habe,<br />

<strong>die</strong>se aber nicht selber behebe, da <strong>die</strong>se nun nicht mehr<br />

meine Schicht ist, dann ist doch eine ganz andere Situation<br />

gegeben. Ich stehe nicht mehr vor dem Patienten <strong>und</strong> sage:<br />

ich löse <strong>die</strong>s nun mit dir, wir werden das gemeinsam lösen.<br />

Ich bin derjenige, der es verursacht hat, ob <strong>die</strong>s nun ist,<br />

weil ich es nicht gut konnte, oder ob <strong>die</strong> Situation so ist,<br />

dass er nicht mehr so gut heilt oder was auch immer. Dies<br />

ist doch eine ganz andere Situation, als wenn Sie es jemandem<br />

übergeben können. Wenn Sie sagen können, ich habe <strong>die</strong>s<br />

nun gemacht, dumm gelaufen ... sehe dann aber nicht einmal,<br />

was geschehen ist, sondern lasse es mir sagen. Falls Sie<br />

dann aber eine Woche in den Ferien sind, haben Sie es schon<br />

wieder vergessen. Ich bin in einer ganz anderen Generation<br />

aufgewachsen. Man ist dran geblieben. Er war mein Patient<br />

im Guten <strong>und</strong> im Schlechten. Heute steht nur noch meine Tätigkeit<br />

als Spezialist im Vordergr<strong>und</strong>. Ist <strong>die</strong>s dann aber<br />

vorbei, dann stehen wir vor der Problematik der 50-St<strong>und</strong>en-<br />

Woche. Die Problematik, dass falls Sie länger arbeiten müssen,<br />

Sie <strong>die</strong>se St<strong>und</strong>en wieder kompensieren müssen. Es ist<br />

alles völlig abgehackt. Sie sind in dem Falle, dann nur<br />

noch drei, vier Tage hier. Sie haben immer wieder eine andere<br />

Schicht.“ Wie bereits im Kapitel zum Arzt-Patienten-Verhältnis erläutert<br />

wurde, waren lange Arbeitstage, Nacht- <strong>und</strong> Wochenendeinsätze <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> stetige Erreichbarkeit kennzeichnend für <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung der<br />

befragten Arztgeneration. Dadurch entstand zumeist eine unvergleichliche<br />

580


Beziehung zwischen dem Arzt <strong>und</strong> seinem Patienten, wie <strong>die</strong> Aussage von<br />

Daniel S. veranschaulicht: „Wir hatten auch eine unwahrscheinliche<br />

Bindung an den Patienten. Wir hatten nicht acht St<strong>und</strong>en<br />

oder eine 50-St<strong>und</strong>en-Woche, sondern arbeiteten nach den<br />

Bedürfnissen der Klinik, das heisst, dass es entweder allen<br />

gut ging, oder man vorbeiging, schaute <strong>und</strong> falls jemand<br />

eine Frage hatte, dann hat <strong>die</strong> Pflege den Assistenten angerufen<br />

oder geschaut, ob er zuhause war oder wie auch immer.<br />

Man hatte damals kein Natel <strong>und</strong> hat sich dann einfach gemeldet,<br />

gesagt, man sei im ,Löwen‘ <strong>und</strong> ging dann einfach<br />

nochmals zurück <strong>und</strong> schaute nach. Man war sicherlich achtzig<br />

bis fünf<strong>und</strong>achtzig St<strong>und</strong>en im Spital präsent. Am besten<br />

war es, da man auch nichts aufschreiben musste, da man ja<br />

jeden Verlauf <strong>des</strong> Patienten gekannt hat.“ Auch Karl K. verdeutlicht<br />

<strong>die</strong> heute mangelnde Suche <strong>des</strong> Gesprächs mit dem Patienten <strong>und</strong> <strong>die</strong> für<br />

den ärztlichen Nachwuchs typische ärztliche Herangehensweise, <strong>die</strong> einem<br />

dem Lehrbuch entstammenden schematischen Modell gleicht. Hierbei wird<br />

insbesondere auf den Verlust der ganzheitlichen Patientenbetreuung hingewiesen,<br />

womit auch <strong>die</strong> Erfassung der Krankheitsgeschichte, <strong>des</strong> sozialen Umfel<strong>des</strong>,<br />

der beruflichen Umstände etc. einhergeht: „Wenn sie heute mit einem<br />

sprechen <strong>und</strong> fragen, was glauben sie, was hat der? Dann<br />

schaut er irgendwo nach, sieht irgendwelche Dinger, der<br />

denkt nicht mehr, <strong>die</strong> denken nicht nach, <strong>und</strong> alles was<br />

nicht in <strong>die</strong>ses Schema hinein passt, existiert nicht. Und<br />

man ist auch nicht bereit eine Verantwortung zu übernehmen,<br />

man delegiert alles. Heute als Patient auf den Notfall zu<br />

kommen ist eine Katastrophe, da <strong>die</strong> in tausend Kategorien<br />

denken. Wenn man zuerst mit dem Patient sprechen würde. (…)<br />

Das Problem wäre schon längst gelöst, hätte man sich vernünftig<br />

mit dem Menschen auseinandergesetzt <strong>und</strong> nicht mit<br />

dem technischen Krankheitsbild, das vielleicht dahinterstecken<br />

könnte.“<br />

Der CEO Tobias F. vertritt eine dezi<strong>die</strong>rte Meinung zur Transformation <strong>des</strong><br />

berufsethischen Verständnisses <strong>des</strong> Arztes. Die Autonomie habe innerhalb der<br />

individuellen Lebensführung <strong>und</strong> innerhalb privater <strong>und</strong> beruflicher Beziehungen<br />

im Besonderen eine herausragende Stellung eingenommen <strong>und</strong> wesentlich<br />

an Relevanz erlangt, was nicht zuletzt auf <strong>die</strong> zahlreichen <strong>Ökonomisierung</strong>sprozesse<br />

zurückzuführen sei. Die utilitaristische Ethik, wie Tobias F. <strong>die</strong> Orientierung<br />

<strong>des</strong> eigenen Handelns an Nutzen-Kosten-Abwägungen definiert, würde<br />

581


<strong>die</strong> Ethik der Fürsorge <strong>und</strong> Brüderlichkeit zusehends ablösen: „Ich habe<br />

das Gefühl, dass Intention <strong>und</strong> gutes Tun sich verändert<br />

haben, <strong>die</strong>s vielleicht auch im Zusammenhang mit der Ökonomie<br />

aber auch mit dem Autonomiebegriff. Es ist heute ausser<br />

Frage, dass der Autonomiebegriff zuoberst ist. Wie das Gerichtsurteil,<br />

dass man sich zu Tode hungern darf, das B<strong>und</strong>esgericht<br />

sagt zwar nein, aber es ist klar, unser Kanton<br />

beispielsweise hat <strong>die</strong>s soeben entschieden. Autonomie wird<br />

sehr hoch gewichtet. Autonomie heisst auch einen Schaden in<br />

Kauf nehmen, für wen dann auch immer. Das hat für mich<br />

schon etwas mit der Autonomie in der heutigen Zeit zu tun,<br />

<strong>die</strong> sich sehr an der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong> auch am Gewinn orientiert.<br />

Aus <strong>die</strong>sem Bild heraus steht <strong>die</strong> nutzenorientierte<br />

Ethik im Vordergr<strong>und</strong> gegenüber früher, wo eine eher fürsorglich,<br />

intentionell orientierte Ethik im Vordergr<strong>und</strong><br />

stand, <strong>die</strong> man heute noch in der Pflege sehr verbreitet<br />

findet. Insofern würde ich schon sagen: ja. Das ist aber<br />

ein genereller Trend; wie <strong>die</strong>s im Einzelfall zu bewerten<br />

ist, ist aber ganz schwierig. Was sich durch <strong>die</strong> Ärzteschaft<br />

hindurch zieht, ist <strong>die</strong> sehr hohe Bewertung der Autonomie,<br />

Sie sehen das in den Aufklärungsfragen, in den<br />

Einwilligungsprozedere, Sie sehen es bei der Schadenfallerledigung,<br />

Sie sehen es aber auch bei der Partnerschaft.“<br />

Die zunehmende Ausrichtung <strong>des</strong> Privatlebens <strong>und</strong> <strong>des</strong> beruflichen Alltags an<br />

der individuellen Autonomie habe wesentlich zum Wandel <strong>des</strong> berufsethischen<br />

Selbstverständnisses beigetragen. Auch im Rahmen zentraler Diskussionen<br />

r<strong>und</strong> um den Public Health-Ansatz, wie beispielsweise zur Präventionspolitik<br />

oder zum zusehends geforderten Einbezug der Selbstverantwortung <strong>des</strong> Individuums<br />

im Genesungsprozess, werde der Dimension der individuellen Autonomie<br />

verstärkt Rechnung getragen.<br />

Den vorherigen Abschnitten ist <strong>die</strong> seitens der künftigen Arztgeneration <strong>und</strong> in<br />

Bezug auf <strong>die</strong> Work-Life-Balance <strong>und</strong> <strong>die</strong> Feminisierung geforderte Begrenzung<br />

der Arbeitszeit gemein. Andreas L. betont jedoch, dass das Anstreben einer<br />

Kaderarztposition nun mal mit einer asketischen Haltung einhergehe <strong>und</strong> unvereinbar<br />

mit einer Nine-to-Five-Haltung sei: „Im Sport erwartet man<br />

von denjenigen, <strong>die</strong> an der Spitze mitlaufen enorm viel Ehrgeiz<br />

<strong>und</strong>, dass sie extrem viel einsetzen <strong>und</strong> folglich kein<br />

,nine to five‘, sondern das, was es braucht.“ Daniel S. verdeutlicht,<br />

dass eine minimalistische Haltung dem eigentlichen ärztlichen<br />

582


Selbstverständnis widerspricht: „Ich finde nicht, dass man einem<br />

Akademiker sagen muss, dass er um acht Uhr hier sein muss.<br />

Ich finde es schrecklich, was das nahe Spital macht, wo sie<br />

stempeln müssen bzw. Stempelzeiten zulassen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s für<br />

das gesamte Personal. Für das Pflegepersonal, das Personal<br />

der Verwaltung oder Administration <strong>und</strong> aber auch für Ärzte.<br />

Ich finde es völlig chaotisch <strong>und</strong> es läuft mir auch gegen<br />

den Strich, da ich das Gefühl habe, dass wenn wir gebraucht<br />

werden, wir auch hier sind.“ Gleichzeitig offenbart Daniel S. mit<br />

<strong>die</strong>ser Aussage <strong>die</strong> mit der <strong>Ökonomisierung</strong> einhergehende Angleichung der<br />

Krankenhauskultur an <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Privatwirtschaft kennzeichnende Unternehmensstruktur<br />

<strong>und</strong> Unternehmenskultur. Auch Bernard S. erachtet <strong>die</strong> zeitlichen<br />

Restriktionsmassnahmen als überflüssig: „Der Mediziner scheint der<br />

einzige Akademiker zu sein, dem man irgendwie sagen muss,<br />

wie viele St<strong>und</strong>en er zu arbeiten hat. Das ist ein absoluter<br />

Nonsens.“ Wie bereits im Kapitel 5.2.3.3 verdeutlicht wurde, existieren auch<br />

Stimmen wie <strong>die</strong> von Hans S. <strong>und</strong> Yann S., <strong>die</strong> Verständnis für <strong>die</strong> im Sinne<br />

einer ausgeglichenen Work-Life-Balance geforderte Verankerung der Arbeitszeitbegrenzung<br />

zeigen: „Das ist heute schon besser, viel besser.<br />

Ich weiss nicht, wie es aus der Perspektive der jungen Mediziner,<br />

<strong>die</strong> betroffen sind, ist, aber <strong>die</strong>s ist wie Tag <strong>und</strong><br />

Nacht, muss ich sagen. (...) Es gibt heute eine Arbeitszeitregelung.<br />

Was es früher eben viel weniger gegeben hat.<br />

Das hat Vor- <strong>und</strong> Nachteile gehabt. Wir hatten eben eine<br />

intensive Ausbildungszeit, was beispielsweise für chirurgische<br />

Fächer heute teilweise ein Problem ist. Man hat heute<br />

dagegen anständigere Arbeitszeiten, <strong>die</strong> an den meisten Orten<br />

eingehalten werden. Bei uns werden sie sehr eingehalten.“<br />

Yann S. stimmt der Forderung der angehenden Kaderarztgeneration zu,<br />

<strong>die</strong>s jedoch nicht in erster Linie im Hinblick auf ausgeglichene Arbeitszeiten<br />

<strong>und</strong> eine bessere Work-Life-Balance, sondern im Hinblick auf den angeblichen<br />

Verlust an symbolischem <strong>und</strong> ökonomischem Kapital. Früher hätten sie den<br />

arbeitsintensiven Berufsalltag während den Assistenz- <strong>und</strong> Oberarztjahren<br />

akzeptiert, da ihnen monetäre Entlohnungen in Aussicht gestellt wurden, mit<br />

denen sie <strong>die</strong> fehlende Freizeit kompensierten, heute sei <strong>die</strong>se Kompensation<br />

jedoch nicht mehr gewährleistet: „Ich glaube, dass sich <strong>die</strong> Jungen<br />

in der Medizin, auch <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> klinisch arbeiten,<br />

sagen: es ist gut, es ist schön, aber es sind viele nicht<br />

mehr bereit für alles zu knechten, da es sich nicht mehr<br />

583


kompensiert. Bei uns existierte <strong>die</strong> Mentalität, der Chef in<br />

Deutschland sagte: sie können zu mir kommen, sie machen <strong>die</strong><br />

Ausbildung bei mir über sieben Jahre, in welchen sie aber<br />

auf alles verzichten müssen, <strong>die</strong>se sieben Jahre müssen sie<br />

sich ganz der Klinik geben, ich garantiere ihnen aber, dass<br />

sie danach eine gute Stelle finden. Er sagte <strong>die</strong>s ganz offen<br />

<strong>und</strong> so war <strong>die</strong> Mentalität. Man hat als Assistenz noch<br />

alles geschluckt, man hat alles gemacht. Es ist lächerlich,<br />

wenn man da von der 50-, 52-St<strong>und</strong>en-Woche spricht. Man war<br />

weit darüber, <strong>und</strong> daran hat man sich auch nicht gestört, da<br />

jeder wusste, dass sich <strong>die</strong>s irgendwann zurückbezahlt.<br />

Vielleicht zahlte sich <strong>die</strong>s nicht mit der Freizeit aber mit<br />

Geld zurück. Das kann man nicht einfach so vergessen <strong>und</strong><br />

unter <strong>die</strong>sem Gesichtspunkt konnte man es auch machen. Jetzt<br />

ist <strong>die</strong>s aber weggebrochen, man hat das Prestige nicht mehr<br />

<strong>und</strong> man hat das Geld nicht mehr. Und was machen nun <strong>die</strong><br />

jungen Leute, <strong>die</strong> sind ganz vernünftig <strong>und</strong> sagen, dass <strong>die</strong>s<br />

gut sei <strong>und</strong> sie <strong>die</strong>s akzeptieren, aber nun muss von Anfang<br />

an <strong>die</strong> Lebensqualität stimmen.“ Insbesondere seitens der Stayer wird<br />

<strong>die</strong> angebliche Demontage <strong>des</strong> Arztberufs als auch <strong>die</strong> stetige Abnahme der<br />

monetären Entlohnung angezweifelt, wobei eingeräumt wird, dass <strong>die</strong> Gehälter<br />

auf Stufe Oberarzt <strong>und</strong> Assistenzarzt angehoben werden sollten. Nebst der<br />

Spitalleitung haben <strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong> durch den ihnen obliegenden Verteilungsschlüssel,<br />

anhand jenem sie <strong>die</strong> Zuweisung der sogenannten Poolanteile regeln,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Einnahmen aus der stationären Behandlung zusatzversicherter Patienten<br />

beinhalten, eine reelle Möglichkeit, <strong>die</strong> Gehälter ihrer Assistenten, Oberärzte<br />

<strong>und</strong> Leitenden Ärzte zu steuern. Yann S. hätte demzufolge in seiner ehemaligen<br />

Funktion als Chefarzt an einem Kantonsspital <strong>die</strong> Möglichkeit gehabt, <strong>die</strong><br />

Gehälter der Ärzte seines Teams zu beeinflussen, <strong>und</strong> hätte dementsprechend<br />

den monetären Anreiz beeinflussen können. Yann S. ist der Auffassung, dass<br />

das ökonomische Kapital der treibende Anreiz darstellt, der während seiner<br />

Ausbildungszeit dazu beigetragen habe, dass <strong>die</strong> Assistenten <strong>die</strong> langen Arbeitstage<br />

in Kauf genommen haben. Die Interviews haben jedoch verdeutlicht,<br />

dass <strong>die</strong> befragte Generation ihre Faszination an der medizinischen Wissenschaft,<br />

der Ursachenforschung, der technologischen Innovationen <strong>und</strong> last but<br />

least an der Beziehung zum Patienten nährte. Infolge<strong>des</strong>sen verdeutlicht <strong>die</strong><br />

Aussage von Yann S. nebst der Offenlegung der nackten Wahrheit seine vermutlich<br />

persönliche Orientierung an der monetären Entlohnung seiner ärztlichen<br />

Tätigkeit. Yann S. verkennt <strong>die</strong> ökonomische Dimension seiner ärztlichen<br />

584


Tätigkeit offenbar nicht, er scheint jedoch zu verkennen, dass <strong>die</strong> Berufung zum<br />

Arzt einhergeht mit dem Dienst an der <strong>und</strong> für <strong>die</strong> Allgemeinheit, wodurch<br />

ihm auch symbolisches Kapital zugesprochen wird. Dieses spricht er jedoch<br />

heute den Ärzten ab, eine Ansicht, <strong>die</strong> nur wenige seiner Kollegen teilen.<br />

Anhand der nachfolgenden Aussagen wird sich nicht verdeutlichen lassen, ob<br />

<strong>die</strong> Work-Life-Balance am öffentlichen Spital sich wesentlich von derjenigen am<br />

Privatspital unterscheidet. Die Aussagen verdeutlichen einerseits <strong>die</strong> Auffassung<br />

eines Leavers zu seinem arbeits- <strong>und</strong> zeitintensiven Berufsalltag im Kantonsspital,<br />

wo er vor wenigen Jahren unter anderem aufgr<strong>und</strong> mangelnder<br />

Work-Life-Balance seinen Chefarztposten verlassen hat. Und andererseits offenbaren<br />

sie <strong>die</strong> Erfahrung eines Leavers, der bereits seit einigen Jahren im<br />

Privatspital tätig ist <strong>und</strong> kontinuierlich ein Gleichgewicht zwischen ärztlichem<br />

Berufsalltag <strong>und</strong> Privatleben ersehnt. Walter I. verdeutlicht, wie sehr ihn <strong>die</strong><br />

Führungsaufgaben im öffentlichen Krankenhaus vereinnahmt haben, wie<br />

schwierig sich <strong>die</strong> Vereinbarkeit von Klinikführung <strong>und</strong> fachärztlicher Tätigkeit<br />

gestaltete <strong>und</strong> wie gering <strong>die</strong> eigentliche individuelle Freizeit war: „Insbesondere<br />

wollte ich meine klinischen Aufgaben nicht zurückstellen,<br />

<strong>und</strong> da ich auch in der Regel vier Tage pro Woche<br />

meine Spezialität am Patienten ausgeübt habe, kam in jeder<br />

Operationspause irgendjemand mit einem kleineren oder grösseren<br />

Problem. Zusätzlich haben sie noch viele Sitzungen,<br />

sie haben viele Personalentscheidungen <strong>und</strong> so weiter <strong>und</strong> so<br />

fort. Das macht den Alltag natürlich hochinteressant, aber<br />

wenn sie dann gleichzeitig noch das Schicksal eines längeren<br />

Anfahrtsweges auf sich nehmen, um hin <strong>und</strong> retour zu<br />

pendeln, dann haben sie daneben eigentlich doch sehr wenig<br />

Luft. Ich habe auch eine Familie mit drei Kindern, was sich<br />

alles relativ gut machen liess, aber sie merken schon, dass<br />

es mit der Zeit schwierig wird.“ Walter I. scheint besonders <strong>die</strong><br />

geforderte Inkorporierung von Eigenschaften, <strong>die</strong> zusehends denjenigen eines<br />

Managers entsprachen, Mühe bereitet zu haben. Die Perspektiven hinsichtlich<br />

<strong>des</strong> Abbaus seiner Arbeitsbelastung im Rahmen seiner Funktion als Chefarzt<br />

schien er als geringfügig zu erachten. Er fühlte sich von seiner „totalen sozialen<br />

Rolle“, der er versuchte, gerecht zu werden, sichtlich überrollt: „Einer der<br />

Gründe ist eben <strong>die</strong> Arbeitsauslastung, <strong>die</strong> ich dort hatte,<br />

nicht <strong>die</strong> Qualität sondern <strong>die</strong> Quantität der Arbeit <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

dauernde Verantwortung. Ich konnte mich zwar relativ gut<br />

distanzieren, sobald ich aus dem Haus war. Sie fragen sich<br />

585


aber immer, wenn das Telefon klingelt, was nun wohl los<br />

sei. Ist irgendwas Fachliches geschehen, das kann man meistens<br />

irgendwie lösen oder ist sonst was geschehen. Ist es<br />

ein Mitarbeiter der ausflippt oder sonst ein Problem, das<br />

sie lösen müssen. Sind zwei aneinander geraten, oder hat<br />

der Spitaldirektor eine Budgetverordnung gemacht, <strong>die</strong> dazu<br />

führt, dass sie sich ihre Investitionen nicht mehr leisten<br />

können. Es sind zahlreiche Sachen, <strong>die</strong> dazu führen, dass<br />

sie gedanklich nahezu nicht mehr aus dem Job herauskamen,<br />

obwohl ich mich zuhause gut davon distanzieren konnte. Sie<br />

befinden sich eigentlich permanent im Dschungel. Und eben<br />

auch quantitativ, ich kam abends spät nach Hause <strong>und</strong> bin<br />

immer morgens um halb sechs aufgestanden, ging etwa um<br />

sechs aus dem Haus <strong>und</strong> war am Abend vor sieben, acht Uhr<br />

nie zuhause. Samstag <strong>und</strong> Sonntag habe ich häufig Visiten<br />

gemacht, <strong>die</strong> man auch delegieren kann, sie kommen aber einfach<br />

nicht aus dem Ganzen heraus. Dann auch <strong>die</strong> Entwicklung,<br />

ich habe mir überlegt, was ich innerhalb der letzten<br />

zehn Jahre in <strong>die</strong>sem Spital noch ändern <strong>und</strong> entwickeln<br />

kann, dass etwas zu meiner Zufriedenheit führen würde, wie<br />

Delegieren von Führungsaufgaben, Änderung <strong>des</strong> Weiterbildungssystems<br />

<strong>und</strong> so weiter <strong>und</strong> so fort. Und so muss ich<br />

schon sagen, dass ich nicht das Gefühl hatte, dass sich in<br />

den kommenden zehn Jahren was ändern würde.“ Walter I. vertritt,<br />

im Gegensatz zur erläuterten Aussage von Yann S., <strong>die</strong> Meinung, dass auch <strong>die</strong><br />

junge Arztgeneration den Preis einer begrenzten Freizeit <strong>und</strong> eines spärlichen<br />

Kontakts mit dem privaten sozialen Umfeld zu bezahlen habe. Dieser Preis<br />

habe er auf seinem Weg zum Chefarztposten auch bezahlen müssen, heute<br />

jedoch fordert er für sich eine Work-Life-Balance ein, <strong>die</strong> ihm ermöglicht, sowohl<br />

seiner Professionsrolle als auch seiner Rolle als Privatperson gerecht zu<br />

werden: „Sie werden es vielleicht diskrepant finden, dass<br />

ich sage, dass ich <strong>die</strong> Arbeitszeitregelung einen Mist finde,<br />

für mich selber aber mehr Freizeit beanspruchen möchte.<br />

(…) Bis ich für eine Chefarztposition fit war, war ich auch<br />

bereit, soviel zu opfern, das muss man auch. Ab fünfzig<br />

müssen sie aber eine vernünftige Lifebalance finden, ansonsten<br />

werden sie für <strong>die</strong> Mitarbeiter <strong>und</strong> <strong>die</strong> Familie unerträglich,<br />

das hätte ich aber im Paket Kantonsspital nicht<br />

gesehen. Ich muss nun wieder eine Lifebalance haben.“ Als<br />

Lohn für <strong>die</strong> Zurückstellung <strong>des</strong> Privatlebens <strong>und</strong> der eigenen Bedürfnisse<br />

erachtet Walter I. den Chefarztposten, den er jedoch nach ungefähr zehn Jahren<br />

586


gegen eine vermeintlich bessere Work-Life-Balance am Privatspital eintauschte.<br />

Auch Adrian L. wünscht sich mehr Zeit für seine Kinder <strong>und</strong> seine Ehefrau,<br />

obwohl er als Leaver <strong>und</strong> selbstständiger Unternehmer seine Zeit eigentlich<br />

wesentlich autonomer planen könnte: „Was ich mir manchmal wünschen<br />

würde, wäre weniger Arbeitszeit. Das war aber schon früher<br />

nicht so. Ich kämpfe aber immer noch darum <strong>und</strong> frage mich,<br />

wie ich <strong>die</strong>s löse, damit ich auch mehr Zeit für mich, meine<br />

Frau, <strong>die</strong> Kinder <strong>und</strong> was auch immer habe. Das ist das Problem.<br />

Das ist auch ein Problem im Kopf. (…) Die Arbeitszeiten<br />

sind überall viel. Für mich stellt <strong>die</strong>s keinen Unterschied<br />

dar. Ich arbeite hier so viel wie dort. Ich hatte<br />

aber auch nicht <strong>die</strong> Illusion, dass ich hier weniger arbeiten<br />

werde als dort. Das ist auch so etwas, das man immer<br />

hört, <strong>und</strong> das wurde mir auch von Kollegen gesagt, als ich<br />

ging. Aha, nun gehst du also am Nachmittag Golf spielen, so<br />

in dem Stil. Ich habe mich gefragt, wie man sich so etwas<br />

nur vorstellen kann. Ich gehe nun hierher, baue eine Abteilung<br />

auf <strong>und</strong> gehe nun nur noch halbtags arbeiten. Das sind<br />

so Sachen, <strong>die</strong> in den Köpfen der Menschen sind <strong>und</strong> auf mangelnde<br />

Kenntnis zurückzuführen sind.“ Es macht den Anschein,<br />

dass <strong>die</strong> propagierte Selbstständigkeit einigen Leavern tatsächlich eine ausgeglichene<br />

Work-Life-Balance ermöglicht, Adrian L. scheint <strong>die</strong>sen Ausgleich aber<br />

nicht bestätigen zu wollen. Der Stayer Andreas L. würde dem Leaver Adrian L.<br />

vermutlich überwiegend zustimmen. Obwohl <strong>die</strong> vermeintlich angestrebte<br />

Work-Life-Balance durch <strong>die</strong> unternehmerische Führung einer Praxis im Privatspital<br />

erreicht werden könnte, scheint <strong>die</strong> sich daraus ergebende monetäre<br />

Konsequenz vom Leaver nicht getragen werden zu wollen: „Weitere Gründe<br />

können sein, dass Sie weniger Dienste haben, Sie den Takt<br />

selber angeben können, also wenn Sie weniger arbeiten, ver<strong>die</strong>nen<br />

Sie auch weniger, Sie haben eine Reputation <strong>und</strong> werden<br />

selber jemand, sind nicht mehr ein Rädchen in einem<br />

Team, sind selber jemand. Sie sind ein Spezialist auf einem<br />

gewissen Gebiet <strong>und</strong> haben sich weitergebildet, können sich<br />

folglich auf <strong>die</strong>ses fokussieren. Sie müssen nicht mehr das<br />

gesamte Spektrum anbieten <strong>und</strong> in der Nacht nicht stetig<br />

aufstehen. Das stellen für mich Gründe für eine Abwanderung<br />

in <strong>die</strong> private Praxis dar. Und natürlich der Faktor, dass<br />

Sie mehr ver<strong>die</strong>nen, obwohl Sie auch arbeiten müssen. Es<br />

muss nicht überall so sein. Wenn Sie den gleichen Einsatz,<br />

wie in einem öffentlichen Spital leisten, ver<strong>die</strong>nen Sie<br />

587


wahrscheinlich mehr. (…) Sie ver<strong>die</strong>nen mehr <strong>und</strong> haben weniger<br />

Leute, <strong>die</strong> Ihnen dreinreden. Aber arbeiten müssen Sie<br />

dennoch.“ Und auch Petra S. vermutet, dass sich zum finanziellen Druck, der<br />

dadurch ausgelöst werden könnte, dass <strong>die</strong> erwarteten Umsatzzahlen nicht<br />

erreicht wurden, ein massiver Leistungsdruck gesellt, der <strong>die</strong> Leaver zusätzlich<br />

belastet. „Ja, ja. Aber ich weiss auch, dass sie teilweise<br />

unter einem wahnsinnigen finanziellen Druck stehen. (…) Ich<br />

weiss auch, dass <strong>die</strong> Mediziner, <strong>die</strong> in einer der Privatkliniken<br />

in Zürich (Name der Klinik aus Gründen der Anonymität<br />

nicht genannt) sind, sagen, dass sie min<strong>des</strong>tens zwölf bis<br />

vierzehn Wochen Ferien benötigen, damit sie <strong>die</strong>sem Stress<br />

standhalten können. Sie werden einfach dermassen konsumiert.“<br />

Es scheint, dass auch im Privatspital eine ausgeglichene Work-Life-<br />

Balance, <strong>die</strong> Kaderärzte zum Abwandern bewegt, mit Einkommenseinbussen<br />

einhergeht, wobei <strong>die</strong> Einkommenshöhe im privaten Spital (je nach Fachbereich)<br />

nicht mit derjenigen im öffentlichen Spital verglichen werden kann. Der<br />

Wirtschaftslogik entsprechend, ver<strong>die</strong>nt derjenige, der mehr <strong>und</strong> über einen<br />

längeren Zeitraum hinweg produziert, vermeintlich mehr, wobei hinzukommt,<br />

dass auch <strong>die</strong> extern induzierten Soll-Umsatzziele seitens der Spitalleitung<br />

wesentlich zum Leistungsdruck beitragen können.<br />

5.3.2.3 Die Altersguillotine<br />

Abschliessend wird auf einen weiteren Faktor, der als Abwanderungsgr<strong>und</strong><br />

genannt wurde, eingegangen <strong>und</strong> der besonders <strong>die</strong>jenigen trifft, <strong>die</strong> ihren<br />

Dienst für das Gemeinwohl über das Rentenalter hinweg aufrechterhalten<br />

möchten oder aber <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> Bedenken hinsichtlich der Pensionierung<br />

hegen, da sie zumeist auf eine über vierzigjährige Tätigkeit im stationären Bereich<br />

zurückblicken. Die sogenannte Altersguillotine, <strong>die</strong> analog dem AHV-<br />

Rentenalter bei den Ärztinnen bei 64 Jahren <strong>und</strong> bei den Ärzten bei 65 Jahren<br />

greift, scheint bei einigen Kaderärzten im Hinblick auf ihre Pensionierung Besorgnis<br />

auszulösen. Bei den befragten Ärzten variiert <strong>die</strong> Altersspanne bis zum<br />

Rentenalter zwischen drei bis dreizehn Jahren. Petra S. verdeutlicht das Unbehagen<br />

gewisser Kollegen, <strong>die</strong> auf das Pensionsalter blicken, da einige Kaderärzte,<br />

<strong>die</strong> kurz vor der Erreichung <strong>des</strong> Rentenalters stehen, weiterhin im stationären<br />

Versorgungsbereich tätig bleiben möchten. Ein Kollege von Petra S. eröffnete<br />

kurz vor seiner Pensionierung eine kleinere Privatklinik, <strong>die</strong> sich ausschliesslich<br />

auf seinen Fachbereich, den er über Jahre hinweg im Kantonsspital leitete,<br />

588


ausrichtet. Auf <strong>die</strong> Frage, weshalb er noch eine kleine Privatklinik aufmacht,<br />

antwortet Petra S.: „Das ist eine gute Frage, das ist ein ganz<br />

gute Frage. Ich kann Ihnen <strong>die</strong>se, so glaub ich, kaum beantworten.<br />

Er ist ein ausgezeichneter Spezialist seines Fachgebietes,<br />

mit einem Weltruf (…). Er war dann etwa 63 <strong>und</strong><br />

war so super fit. Bei uns muss man mit 65 aufhören. (…) Ja,<br />

wir sind beim Kanton noch Staatsangestellte, wir haben <strong>die</strong><br />

Altersguillotine.“ Und Petra S. antwortet auf <strong>die</strong> Frage, ob sie sich je<br />

eine Abwanderung ins Privatspital vorstellen kann, mit folgenden Worten:<br />

„Ich hoffe, dass ich <strong>die</strong>s auch noch mit fünf<strong>und</strong>sechzig sage.<br />

Es kann ja dann nochmals ändern. Gut, dann muss ich<br />

vielleicht noch sagen, dass ich da auch nicht so repräsentativ<br />

bin, da ich erstens einen guten Lohn hier habe, also<br />

wegen dem Geld bin ich nicht gedrückt; klar, in einer Privatklinik<br />

würde ich vielleicht zwei-, dreimal so viel ver<strong>die</strong>nen<br />

aber dadurch, dass ich eine Partnerschaft habe, keine<br />

Familie <strong>und</strong> keine Kinder, also mit dem, was ich ver<strong>die</strong>ne<br />

...“ Anhand ihrer Antwort verdeutlicht sie zwei essentielle Faktoren, <strong>die</strong> oft<br />

als Abwanderungsgründe genannt wurden: Die Entlohnungsstrukturen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> geringe Aussicht seitens der Kantonspitäler auf eine ärztliche Tätigkeit über<br />

das Rentenalter hinaus. Petra S. räumt ein, dass <strong>die</strong> Altersguillotine der einzige<br />

Gr<strong>und</strong> für eine Abwanderung darstellen könnte. Auch <strong>die</strong> Aussage von Daniel<br />

S. verdeutlicht, inwiefern <strong>die</strong> Tätigkeit in einem Privatspital oder <strong>die</strong> Eröffnung<br />

einer Praxis als Ausweichmöglichkeiten der Altersguillotine erachtet werden:<br />

„Zudem ist es natürlich so, dass es ja am öffentlichen Spital<br />

nur wenige Stellen gibt, (heute mehr als früher), <strong>die</strong><br />

einem eine Tätigkeit bis 65 Jahren ermöglichen. Der Grossteil<br />

muss oder darf eine Praxis eröffnen, oder muss oder<br />

darf im Privatspital arbeiten.“ Walter I. <strong>und</strong> Christian N. haben den<br />

Schritt ins Privatspital vollzogen. Walter I. verdeutlicht, dass insbesondere<br />

<strong>die</strong>jenigen Ärzte, <strong>die</strong> ihren Beruf als Berufung verstehen, <strong>die</strong> Altersguillotine<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehenden Konsequenzen psychisch nur schwer verkraften.<br />

Als Konsequenzen werden nebst dem symbolischen Akt der Niederlegung<br />

<strong>des</strong> weissen Kittels auch der Verlust <strong>des</strong> Gefühls, vom Patienten gebraucht zu<br />

werden, erachtet oder der Rückzug aus dem sozialen Umfeld, dem Innenleben<br />

<strong>des</strong> Krankenhauses, in welchem der Kaderarzt über Jahrzehnte hinweg tätig<br />

war. Möglicherweise besteht eine Konsequenz auch im partiellen Verlust <strong>des</strong><br />

symbolischen Kapitals. Walter I. offenbart seine Bedenken in Bezug auf <strong>die</strong> ihm<br />

589


in einem Jahrzehnt bevorstehende Erreichung <strong>des</strong> Rentenalters: „Das bedeutet,<br />

dass ich in elf Jahren durchaus noch fit bin <strong>und</strong> ich<br />

vielleicht dann noch etwas weitermachen möchte. Diesen Aspekt<br />

können sie am öffentlichen Spital vergessen. Sie werden<br />

bis zu ihrem letzten Tag zweih<strong>und</strong>ert Prozent arbeiten.<br />

Dann fallen sie von zweih<strong>und</strong>ert Prozent von einem Tag auf<br />

den anderen auf null Prozent. Ich kann Ihnen sagen, dass<br />

ich reihenweise Kollegen gesehen habe, <strong>die</strong> danach in<br />

schwerste Depressionen fielen <strong>und</strong> zwei, drei Jahre paralysiert<br />

waren, bis sie sich aufgefangen haben.“ Und Christian N.,<br />

derjenige Leaver, der bereits auf einige Jahre im Privatspital blicken kann <strong>und</strong><br />

kurz vor der Erreichung <strong>des</strong> Rentenalters steht bzw. <strong>die</strong>ses möglicherweise<br />

auch bereits erreicht hat, offenbart <strong>die</strong> Möglichkeiten, <strong>die</strong> das Privatspital ihren<br />

Ärzten gewährt: „Und ich habe immer gesagt, dass ich mit 55 in<br />

eine Privatklinik gehe, da <strong>die</strong> Privatklinik einem erlaubt -<br />

wenn man viel ver<strong>die</strong>nen will, muss man auch viel arbeiten -<br />

aber sie erlaubt einem auch zu dosieren <strong>und</strong> zu sagen, jetzt<br />

fahre ich etwas runter. Niemand kann mir sagen, heute ist<br />

eine Sitzung, heute musst du dorthin, heute musst du dorthin,<br />

sondern ich muss meine Patienten betreuen, das mache<br />

ich gerne, <strong>und</strong> etwas anderes sagt mir niemand.“ Christian N.<br />

zeichnet eine sehr romantische Vorstellung <strong>des</strong> langsamen Rückzugs. Die Interviewauswertung<br />

hat den Umfang <strong>des</strong> Leistungsdrucks <strong>und</strong> <strong>des</strong> finanziellen<br />

Drucks, dem insbesondere <strong>die</strong> Leaver ausgesetzt sind, verdeutlicht. Der finanzielle<br />

Druck, der im Hinblick auf <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

kontinuierlich ansteigen wird, scheint sowohl im Privatspital als auch im öffentlichen<br />

Spital omnipräsent, wie beispielsweise <strong>die</strong> folgende Aussage von<br />

Petra S. aufzeigt: „Entweder in der Optimierung für das Unternehmen<br />

oder dann eben auch das Optimieren für uns, da wenn<br />

einer ja privat ist, wir ein Honorar zusätzlich erhalten.<br />

(…) Solche Sachen sind dann schon Überlegungen, <strong>die</strong> wir uns<br />

machen <strong>und</strong> uns Mühe bereiten, dass wir das, was für den<br />

Patienten jetzt am besten ist, tun. Das ist aber nicht immer<br />

einfach.“ Entsprechend der Erläuterungen der Stayer, Rückkehrer <strong>und</strong><br />

Leaver zur leistungsorientierten Entlohnung, zur verstärkten Spar- <strong>und</strong> Rationalisierungspolitik<br />

im Krankenhauswesen <strong>und</strong> zur zunehmenden <strong>Ökonomisierung</strong><br />

<strong>des</strong> ärztlichen Habitus wird <strong>die</strong> Unvereinbarkeit <strong>die</strong>ser Komponenten mit<br />

einem langsamen Rückzug aus dem ärztlichen Tätigkeitsbereich, wie ihn Christian<br />

N. beschreibt, offensichtlich.<br />

590


Mit der zunehmenden Abwanderung von Kaderärzten aus dem öffentlichen<br />

Krankenhauswesen sahen sich Kantonsspitäler zusehends gezwungen, neue<br />

Anstellungsbedingungen für ärztliche Experten über das Rentenalter hinaus zu<br />

schaffen. Ansonsten hätten auch <strong>die</strong>se möglicherweise eine Abwanderung in<br />

Betracht gezogen, wodurch sich <strong>die</strong> Situation für das öffentliche Spital weiter<br />

zugespitzt hätte. Daniel S. verdeutlicht <strong>die</strong>se erst vereinzelt umgesetzte Verlängerung<br />

<strong>des</strong> Arbeitsverhältnisses, im Nachgang zum Interview in einer E-Mail,<br />

folgendermassen: „Früher war es für vollmotivierte Ärzte wichtig<br />

den Absprung in eine Privatklinik rechtzeitig zu machen,<br />

da mit 65 <strong>die</strong> Altersguillotine zuschlägt, man aber<br />

nicht von einem Monat auf den anderen jahrzehntelange Betreuungen<br />

von Patienten aufgeben kann <strong>und</strong> <strong>die</strong> Privatklinik<br />

hat eine reduzierte Tätigkeit noch erlaubt. Heute hat auch<br />

das öffentliche Spital für ausgewählte Kollegen solche<br />

,fade off‘-Programme. Fade off in der Schweiz. In den USA<br />

zieht man sich aus dem operativen Geschäft mit 50 zurück<br />

<strong>und</strong> widmet sich nur noch den Patienten <strong>und</strong> dem medizinischen<br />

Nachwuchs im Teaching. Offiziell gibt es in den USA<br />

keine Alterslimite, da <strong>die</strong>s Alters-Diskriminierung wäre,<br />

aber man setzt <strong>die</strong> Leistungsmesslatte derart hoch, <strong>und</strong><br />

setzt dann mit 65 <strong>die</strong> Teams <strong>und</strong> Abteilungen um, bis man<br />

gerne freiwillig geht.“ Wünschenswert wären solche Fade-off bzw.<br />

Fade-out-Programme für all jene Ärzte, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Betreuung ihrer langjährigen<br />

Patienten fortführen möchten <strong>und</strong> einen langsamen Rückzug planen. Jedoch<br />

werden auch Befürchtungen hinsichtlich solcher Programme laut. Insbesondere<br />

innerhalb jener Fachbereiche, wo präzise operative Eingriffe den Alltag bestimmen<br />

oder technologische Erneuerungen kontinuierliche Weiterbildungen<br />

der Ärzte verlangen. Gleichzeitig muss beachtet werden, dass <strong>die</strong> Luft auf Stufe<br />

Chefarzt sehr dünn ist <strong>und</strong> <strong>die</strong> Stellen hart umkämpft sind. Insbesondere denjenigen<br />

<strong>Chefärzte</strong>n, <strong>die</strong> den alten autarken Chefarztstrukturen noch heute nachtrauern,<br />

würde eine zweitrangige Stellung neben dem Nachfolger <strong>und</strong> eine<br />

allfällige Degra<strong>die</strong>rung auf eine Stabfunktion grosse Mühe bereiten. Es bleibt<br />

zu hoffen, dass all jenen Ärzten, <strong>die</strong> sich zu ihrem Arztberuf sichtlich berufen<br />

fühlen, Anstellungsbedingungen angeboten werden, <strong>die</strong> ihnen eine Tätigkeit<br />

über das Rentenalter hinaus gestatten. Die Abwanderung <strong>die</strong>ser ärztlichen<br />

Experten einige Jahre vor der Pensionierung könnte ansonsten inskünftig zu<br />

massiven Einbussen in Bezug auf <strong>die</strong> Ausbildungsqualität <strong>des</strong> Nachwuchses<br />

<strong>und</strong> der damit einhergehenden Entflammung <strong>des</strong> feu sacré, wie Beat U. <strong>die</strong><br />

591


Berufung nennt, führen: „Das Arbeiten mit Leuten, mit jungen Assistenten,<br />

in welchen man teilweise auch das Feu sacré erkennt<br />

oder aber <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> sich damit anstecken lassen,<br />

das ist enorm befriedigend. Das Weitergeben an Erfahrungen,<br />

das Weitergeben <strong>des</strong>sen, was man gesehen hat, ist<br />

enorm befriedigend, vor allem auch wenn man sieht, dass<br />

<strong>die</strong>s aufgenommen wird.“<br />

5.3.3 Gehaltsstrukturen<br />

Die Entlohnungssysteme, <strong>die</strong> sich von Kantonsspital zu Kantonsspital differenzieren<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> auch im Privatspital in Abhängigkeit der Anstellungsbedingungen<br />

unterschiedlich ausgestaltet sind, gehörten zu jenen Gesprächsthematiken,<br />

<strong>die</strong> sich über alle Interviews hinweg grosser Beliebtheit erfreuten <strong>und</strong> worüber<br />

gerne berichtet wurde. Die Stayer gaben genauso bereitwillig Auskunft wie ihre<br />

Kollegen im Privatspital, jedoch offenbarte sich bei letzteren eine wesentlich<br />

grössere Intransparenz der Strukturen, was unter anderem auf <strong>die</strong> divergierenden<br />

Anstellungsbedingungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ausgestaltung der variablen Lohnanteile<br />

bzw. <strong>die</strong> leistungsorientierten Parameter zurückzuführen war. Nur <strong>die</strong> wenigsten<br />

schienen mit der Höhe ihres Gehalts wirklich zufrieden zu sein. Der Rückkehrer<br />

Bernard S. gehörte zu <strong>die</strong>ser Gruppe <strong>und</strong> verdeutlichte, dass sich insbesondere<br />

auf Kaderarztstufe <strong>die</strong> Gehälter noch immer auf einem sehr hohen<br />

Niveau befinden: „Es sind sowieso hohe Gehälter, nach meiner<br />

Beurteilung gehören wir sowieso alle zu den Spitzenver<strong>die</strong>nern.<br />

Wenn mir heute einer sagt, in <strong>die</strong>ser Preisklasse, in<br />

welcher wir heute noch immer sind, er ver<strong>die</strong>ne zu wenig,<br />

dann kann ich <strong>die</strong>s nicht nachvollziehen.“ Bernard S. vertritt<br />

sogar <strong>die</strong> Meinung, dass <strong>die</strong> Gehälter im internationalen Vergleich wesentlich<br />

attraktiver ausgestaltet seien, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s insbesondere für all jene Klinikärzte, <strong>die</strong><br />

in kleineren Spitälern tätig sind <strong>und</strong> <strong>die</strong> von ihrer Expertise her eigentlich nur<br />

begrenzt mit anerkannten internationalen Spezialisten verglichen werden können:<br />

„Wenn ich nun vergleiche, also der Werdegang, den <strong>die</strong><br />

Spezialisten meines Fachbereiches hier in der Schweiz haben<br />

im internationalen Vergleich, also im Vergleich mit absoluten<br />

Spitzenleuten <strong>des</strong> Auslan<strong>des</strong>, aus England oder aus<br />

Deutschland, dann ist der Ver<strong>die</strong>nst jenseits von Gut <strong>und</strong><br />

Böse. Eine graue Mause in der Schweiz in einem Regionalspital,<br />

der wirklich schlecht qualifiziert ist, ver<strong>die</strong>nt nach<br />

wie vor sehr viel. Auf der anderen Seite hier am Kan-<br />

592


tonsspital, das zu einem der grössten Spitäler der Schweiz<br />

gehört, hier sind <strong>die</strong> Gehälter relativ bescheiden, wenn ich<br />

<strong>die</strong>s nun mit den umliegenden Spitälern vergleiche. (…) Aber<br />

es sind nach wie vor relativ gute Gehälter.“ Die Aussage von<br />

Bernard S. verdeutlicht auch exemplarisch <strong>die</strong> mannigfache Ausgestaltung der<br />

Gehaltsstrukturen. Diese Differenzen gründen in der unterschiedlichen Zusammensetzung<br />

der Gehälter <strong>und</strong> rühren daher, dass gewisse Spitäler fixe<br />

Entlohnungssysteme implementiert haben, bei denen der variable Anteil <strong>die</strong><br />

Höhe <strong>des</strong> Gehalts nur unmassgeblich beeinflusst, sogenannte Poollösungen für<br />

<strong>die</strong> Einnahmen aus stationärer Versorgung Zusatzversicherter oder aus persönlich<br />

erbrachten ambulanten Leistungen eingeführt wurden oder stark leistungsorientierte<br />

Strukturen dominieren, denen Variablen wie Umsatz <strong>des</strong> Gesamtspitals,<br />

Umsatz <strong>des</strong> Fachbereichs <strong>und</strong> Umsetzung bzw. Initiierung eines<br />

spitalinternen Projekts unterliegen.<br />

Im nachfolgenden Abschnitt werden vier exemplarische Zeugnisse zu möglichen<br />

Entlohnungssystemen folgen, womit einerseits verdeutlicht werden soll,<br />

dass zahlreiche Systeme existieren, deren Zusammensetzung zumeist für <strong>die</strong><br />

Kollegen anderer Krankenhäuser oder für den Laien intransparent sind <strong>und</strong><br />

dass andererseits je<strong>des</strong> <strong>die</strong>ser Systeme vermeintlich andere Konsequenzen in<br />

Bezug auf <strong>die</strong> Ges<strong>und</strong>heitsversorgung, deren Qualität <strong>und</strong> Ausgestaltung <strong>und</strong><br />

damit einhergehend auch auf <strong>die</strong> Entlohnung der Ärzteschaft bereithält. Emil<br />

E., der nebst seiner Funktion als Co-Chefarzt auch einen Posten im Verwaltungsstab<br />

innehat <strong>und</strong> einen MBA absolvierte, bewies über das gesamte Interview<br />

hindurch sein Interesse an der Wirtschaftslogik, <strong>die</strong> auch dem öffentlichen<br />

Krankenhaus zunehmend zugr<strong>und</strong>e liegt, <strong>und</strong> verdeutlicht <strong>die</strong> Konsequenzen,<br />

<strong>die</strong> er Kompromittierungseffekte nennt, vierer Finanzierungssysteme: „Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

hat je<strong>des</strong> Finanzierungssystem Kompromittierungseffekte.<br />

Wenn Sie bei der Privatklinik als Fee for Service<br />

finanziert werden, dann ist der Kompromittierungseffekt<br />

Mengenausweitung. Je mehr Sie machen <strong>und</strong> je differenzierter<br />

Sie es machen, <strong>des</strong>to mehr ver<strong>die</strong>nen Sie auch. Das ist der<br />

Kompromittierungseffekt. Möglicherweise ist <strong>die</strong>s aus der<br />

Sicht <strong>des</strong> Patienten nicht der dümmste Effekt. Das Meiste<br />

für mich. Dann steckt <strong>die</strong> Theorie dahinter, dass viel Medizin<br />

gesünder ist als weniger. Würde ich dann irgendwann<br />

bezweifeln, so nebenbei. In einer ganz naiven Wahrnehmung<br />

von vielen Leuten ist es so, dass viel auch viel hilft. (…)<br />

593


Es gibt ein zweites Modell, das sich Capitation nennt, von<br />

welchem aber niemand so richtig weiss, wie es funktioniert.<br />

Beim Capitation Modell stellen Sie eine bestimmt Summe für<br />

eine bestimmte Kopfzahl zur Verfügung <strong>und</strong> nehmen danach<br />

einfach an, dass <strong>die</strong>se gut versorgt werden. Sie beteiligen<br />

sowohl den Patienten wie den Leistungserbringer am Risiko<br />

aus der Capitation. Nehmen wir an, dass ich eine Capitation<br />

auf 300‘000 Einwohner der hiesigen Stadt mache, wenn wir<br />

relativ wenig Medizin konsumieren, dann bedeutet <strong>die</strong>s, dass<br />

danach <strong>die</strong> Prämien für <strong>die</strong> Bewohner <strong>die</strong>s hiesigen Kantons<br />

sinken, wenn wir nun aber Pech haben <strong>und</strong> fünf anstatt null<br />

Leukämien behandeln müssen, dann würden wir in den nächsten<br />

Jahren wieder an der Capitation beteiligt sein. Das ist so<br />

grob das Modell. Das dritte Gr<strong>und</strong>modell ist eben <strong>die</strong> fallpauschalierte<br />

Bezahlung, <strong>die</strong> DRG. Die fallpauschalierte<br />

Bezahlung hat das Risiko der halben Versorgung, das sagt<br />

das WHO selber, oder der inkompletten Versorgung. Es hat<br />

aber auch das Risiko der wirtschaftlichen Versorgung, also<br />

der Anreiz, welcher den Sinn <strong>des</strong> DRG Systems ausmacht. Bestimmte<br />

Produktgruppen sollen wirtschaftlich behandelt werden.<br />

Und das vierte System ist, dass alle fix besoldet <strong>und</strong><br />

angestellt werden. Dann haben Sie das griechische Syndrom.<br />

Man geht ein wenig arbeiten <strong>und</strong> macht möglicherweise etwas<br />

oder auch nicht, da der Stutz ja einfach kommt. In <strong>die</strong>sem<br />

System hat der Nachfrager am wenigsten Kontrolle über den<br />

Erbringer. Das bedeutet, dass je<strong>des</strong> Finanzierungssystem<br />

Kompromittierungseffekte hat.“ Fee for Service beispielsweise findet<br />

ausschliesslich in Privatkliniken Anwendung, obwohl auch das Honorar für<br />

stationäre Leistungen an Zusatzversicherten als Fee for Service erachtet werden<br />

kann, da auch hierbei der Arzt pro erbrachter Leistungen entlohnt wird. Das<br />

DRG-System führe, gemäss Emil E., zu einer Durchschnittsmedizin zu Durchschnittspreisen,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> fixen Besoldungsstrukturen würden <strong>die</strong> Gefahr eines<br />

geringen Anreizsystems bergen. Im Hinblick auf <strong>die</strong> DRG werden unter Kapitel<br />

6 ausführliche Zeugnisse der befragten Ärzte folgen, wobei beachtet werden<br />

muss, dass zum Zeitpunkt der Interviewführung <strong>die</strong> DRG in der Schweiz noch<br />

nicht implementiert waren <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb <strong>die</strong> Befürchtungen hinsichtlich möglicher<br />

ökonomisch induzierter Auswirkungen auf <strong>die</strong> ärztliche Leistungserbringung<br />

sehr gross waren. Inwiefern <strong>die</strong>se Befürchtungen abgenommen oder möglichweise<br />

zugenommen haben, wird im Rahmen <strong>die</strong>ser Arbeit nicht eruiert<br />

werden können, <strong>die</strong> Stimmen zur bevorstehenden Einführung werden unter<br />

594


Kapitel 6 erläutert. Einige Kaderärzte sprachen sich für eine fixe Besoldungs-<br />

struktur aus, da <strong>die</strong>se vor der Gefahr der Mengenausweitung oder der indivi-<br />

duellen Bereicherung (für den Arzt bzw. zur Erreichung der seitens der Spital-<br />

leitung definierten Umsatzziele) deutlich schützen würden. Der CEO Tobias F.<br />

verdeutlicht einerseits, dass <strong>die</strong> an seinem Kantonsspital implementierte Lohnstruktur<br />

sich aus einem fixen <strong>und</strong> variablen Lohnbestandteil zusammensetzt,<br />

dass <strong>die</strong> Bruttogehälter auf CHF 700’000 limitiert sind <strong>und</strong> <strong>die</strong> Einnahmen aus<br />

stationär behandelten Zusatzversicherten <strong>und</strong> persönlich erbrachten ambulanten<br />

Leistungen seitens der Kaderärzte gepoolt bzw. zusammengefasst werden.<br />

Andererseits offenbart er, dass der variable Lohnanteil bei einem fixen Gehalt<br />

von ca. CHF 260‘000 für einen Chefarzt <strong>und</strong> einem möglichen Bruttogehalt von<br />

CHF 700‘000 beträchtlich ist, obwohl eingeräumt werden muss, dass solche<br />

Deckelungen eher eine Seltenheit darstellen, insbesondere im Hinblick auf <strong>die</strong><br />

Konkurrenz im Privatspital, wie <strong>die</strong> Aussage <strong>des</strong> Leavers Adrian L. darlegen<br />

wird. Üblicherweise wird der sogenannte Pool anhand eines Schlüssels, der<br />

entweder der Chefarzt mit seinem Team, nur der Chefarzt oder aber der CEO<br />

definiert, verteilt, wobei all jene Ärzte, <strong>die</strong> einen Beitrag an den Pool geleistet<br />

haben, beteiligt werden. Die Honorarerträge kommen infolge<strong>des</strong>sen nicht eins<br />

zu eins dem behandelnden Arzt zu, wodurch eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit<br />

herbeigeführt werden soll, da der Oberarzt nun mal nicht genauso<br />

viel zum Pool beitragen kann wie sein Kollege, der Leitende Arzt oder der<br />

Chefarzt. Die Ausgestaltung <strong>die</strong>ser Pools kann jedoch von Kantonsspital zu<br />

Kantonsspital variieren, was zu einem späteren Zeitpunkt erläutert wird. Nun<br />

vorerst <strong>die</strong> Aussage von Tobias F. zur Lohnstruktur an seinem Kantonsspital:<br />

„Wir sind aufs neue Modell am Umstellen, was ein relativ<br />

simples Modell ist. Wir haben ein Gr<strong>und</strong>gehalt, das nun<br />

deutlich erhöht wird. Wir können auch Zahlen nennen. Für<br />

<strong>die</strong> Kaderärzte, also Oberärzte, Oberärzte mbF (mit besonderer<br />

Funktion) bis <strong>und</strong> mit <strong>Chefärzte</strong>, liegt das Gehalt zwischen<br />

160 <strong>und</strong> 260‘000, dann haben wir ein so genanntes variables<br />

Gehalt, das sich aus den Honorarerträgen von stationären<br />

Zusatzversicherten <strong>und</strong> ambulanten, persönlich erbrachten<br />

Leistungen zusammensetzt. Aber nicht mehr; obwohl<br />

<strong>die</strong> Leistung persönlich erbracht wird, also lediglich der<br />

Input, also nicht mehr ad personam, sondern zuerst wird<br />

gepoolt, man muss dann <strong>die</strong> Poolgrösse festlegen, das kann<br />

pro Klinik, pro Fachbereich, das können grössere Einheiten<br />

sein, man muss dann eben schauen, wer sich gut versteht,<br />

595


<strong>und</strong> danach wird es dann wieder nach einem Schlüssel ausgeschüttet.<br />

Dieser Schlüssel ist im Idealfall eine Vereinbarung<br />

zwischen denjenigen, <strong>die</strong> beteiligt sind <strong>und</strong> im weniger<br />

idealen Fall ist es der Entscheid <strong>des</strong> Chefarztes <strong>und</strong> im<br />

ganz schlimmen Fall muss ich sagen, wie es geht. Wir haben<br />

dann drei Korrekturinstanzen, falls es dann wirklich keine<br />

Einigung gibt. Aber ich musste <strong>die</strong>s bis heute noch nie machen.<br />

Es sollte also funktionieren. Dann gibt es noch einen<br />

sehr kleinen Anteil Erfolgshonorar, <strong>und</strong> da sind wir noch am<br />

Überlegen, wir sind uns noch nicht ganz sicher, was <strong>die</strong><br />

Erfolgskriterien sind. Es gibt Leute, <strong>die</strong> sagen, dass nur<br />

der Gesamterfolg <strong>des</strong> Spitals massgeblich ist, <strong>und</strong> es gibt<br />

Leute, <strong>die</strong> sagen, dass es eine Mischung zwischen dem eigenen<br />

Bereich <strong>und</strong> dem Gesamtspital ist. Das haben wir aber<br />

noch nicht abschliessend diskutiert. Das ist das Lohnmodell.<br />

Maximallohn ist 700‘000, der ist nach oben begrenzt,<br />

also bei uns im Kantonsspital, bei den kleineren Spitälern<br />

ist er niedriger, bei 500‘000 oder ich weiss es auch nicht<br />

... Zwischendrin gibt es aber auch ... Es gibt ein mathematisches<br />

Modell, der Gr<strong>und</strong>lohn mal so viel ist dann das Maximum.<br />

Wenn sie also 250 ver<strong>die</strong>nen, dann gibt das, von 250<br />

auf 700 hoch ist es noch 450, also maximal das Dreifache<br />

<strong>des</strong> Gr<strong>und</strong>lohns. Die Leitenden können maximal das N-fache<br />

<strong>und</strong> so ver<strong>die</strong>nen, es gibt einen Plafond dort drin. Das ist<br />

ein relativ simples Modell.“ Tobias F. hat <strong>die</strong> Thematik der Ausgestaltung<br />

<strong>des</strong> Erfolgshonorars, das ein wesentlicher Bestandteil <strong>des</strong> variablen Lohnanteils<br />

darstellt, bereits aufgeworfen <strong>und</strong> erläutert, dass er gemeinsam mit der<br />

gesamten Spitalleitung auf der Suche nach der optimalen Zusammensetzung<br />

der Erfolgsvariablen ist. Die Variablen scheinen noch nicht abschliessend definiert<br />

worden zu sein, demzufolge ist auch noch unklar, ob der variable Lohnanteil<br />

der Kaderärzte, hierzu zählt er sowohl <strong>Chefärzte</strong>, Leitende Ärzte als auch<br />

Oberärzte mit <strong>und</strong> ohne besondere Funktion, sich am Gesamtumsatz <strong>des</strong> Spitals<br />

oder an einer Kombination der Beteiligung am Gesamtumsatz <strong>und</strong> am<br />

Umsatz <strong>des</strong> Fachbereichs, der Klinik oder <strong>des</strong> Departements orientiert. Das<br />

Kantonsspital, an welchem der Chefarzt Joachim A. tätig ist, scheint <strong>die</strong>se Definition<br />

bereits vorgenommen zu haben. Joachim A. erläutert <strong>die</strong> Zusammensetzung<br />

<strong>des</strong> Erfolgshonorars folgendermassen: „Die Lösung war schliesslich,<br />

dass ein gewisser Teil <strong>des</strong> Gr<strong>und</strong>lohnes abgezogen wird<br />

<strong>und</strong> eine Einschränkung dann eintritt, wenn das gesamte Kantonsspital<br />

seine Ziele nicht erreicht. Auf <strong>die</strong>ses Gesamt-<br />

596


ziel hat man überhaupt keinen Einfluss, <strong>und</strong> wenn <strong>die</strong> Abteilung<br />

aus irgendwelchen Gründen ihre Ziele nicht erreicht,<br />

<strong>die</strong>s stellt das zweite Drittel dar, also das ist eine Drittellösung<br />

... Erstes Drittel ist der Gesamtumsatz also der<br />

finanzielle Erfolg <strong>des</strong> Spitals, zweites Drittel der Umsatz<br />

der Abteilung also der finanzielle Erfolg der Abteilung <strong>und</strong><br />

drittes Drittel ist irgendein Projekt, ich sag dazu mal<br />

Alibi-Projekt. Auf den Erfolg <strong>des</strong> Gesamtspitals hat man<br />

keinen Einfluss. Eigentlich ist es ja blöd, dass etwas ein<br />

Bonus-Malus hat, was man aber nicht beeinflussen kann. Auf<br />

<strong>die</strong> Abteilung hat man auch keinen Einfluss, da <strong>die</strong> Parameter<br />

willkürlich <strong>und</strong> unterschriftlich ausgehandelt worden<br />

sind. Dies ist folglich auch ein Ärgernis. Wir haben also<br />

auch Ärgernisse. Aber sie sind noch in einem tolerablen<br />

Bereich. Das sind einfach neue Fürze, <strong>die</strong> man eingeführt<br />

hat, <strong>die</strong> schlecht sind. Und der dritte Faktor ist eben das<br />

Projekt. Wir haben viel zu tun vom Morgen bis am Abend, <strong>und</strong><br />

dann müssen wir uns irgendein Projekt aus den Fingern saugen,<br />

wir machen ja sowieso das Beste. Wir haben einen sehr<br />

optimierten Betrieb, gleichzeitig müssen wir an <strong>die</strong>ser Projektitis,<br />

so nenne ich das nun einfach, an <strong>die</strong>sem Projektwahn<br />

auch teilnehmen, <strong>die</strong>s ist eigentlich auch nicht gut.<br />

Dies kann man aber noch verkraften, wenn <strong>die</strong>s nicht ausufert.<br />

Sie sind nun momentan schon auch dran das Gesamte zu<br />

verkomplizieren, jedoch sind <strong>die</strong>s alles Faktoren, <strong>die</strong> einen<br />

grossen administrativen Aufwand für das Gesamtspital verursachen.<br />

Es muss mit dem Controlling gerechnet werden <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s dann auch noch mit fiktiven Zahlen. Der dritte Teil,<br />

das mit dem Projekt, kann man ja noch beeinflussen. Es ist<br />

einfach etwas, das nichts bringt, einen grossen Aufwand<br />

verursacht <strong>und</strong> ein neues Ärgernis darstellt. Dies ist nun<br />

einfach ein Faktor, der neuer ist <strong>und</strong> eine Tendenz in Richtung<br />

Verschlechterung darstellt. Im Vergleich zu anderen<br />

Kantonen ist es hier noch immer viel, viel besser, auch im<br />

Vergleich zu anderen Kantonsspitälern, wie an demjenigen,<br />

an welchem ich Assistenzarzt war, ich weiss ja, wie es da<br />

ist. Hier müssen wir uns nun einfach sagen, <strong>die</strong>s nehmen wir<br />

nun in Kauf <strong>und</strong> haben ja immer noch etwas am einzelnen Patienten.“<br />

Joachim A. zeigt wenig Verständnis für <strong>die</strong> Zusammensetzung der<br />

Erfolgskomponente, <strong>die</strong> aus drei Bestandteilen besteht. Die Komponenten seien<br />

geringfügig durch den Kaderarzt beeinflussbar, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Tatsache, dass der<br />

variable Lohnanteil sich verkleinern kann, falls der Soll-Umsatz <strong>des</strong> Spitals<br />

597


nicht erreicht wurde oder <strong>die</strong> Soll-Einnahmen seines Fachbereichs nicht dem<br />

Ist-Wert entsprechen, wird seinerseits als Bonus-Malus-Regelung wahrgenom-<br />

men. Der Bonus-Bestandteil setzt sich aus der monetären Belohnung, <strong>die</strong> dem<br />

Arzt aufgr<strong>und</strong> der Erreichung der definierten Ziele zugesprochen wird, zu-<br />

sammen. Erreicht der Arzt <strong>die</strong> Ziele jedoch nicht, könnte er zu Strafzahlungen<br />

ermahnt werden, was ein Malus darstellen würde. Dies ist jedoch bei Joachim<br />

A. nicht der Fall, bei stark leistungsorientierten Gehaltsstrukturen ist eine solche<br />

Bonus-Malus-Regelung vermehrt anzutreffen. Die erläuterten Strukturen<br />

offenbaren, dass der Arzt über <strong>die</strong> individuelle Einkommensgenerierung verstärkt<br />

zum wirtschaftlichen Handeln angehalten wird. Die Leistungserbringung<br />

durch den Arzt, dem eine besondere Legitimität aufgr<strong>und</strong> seines nicht berechnenden,<br />

utilitaristisch <strong>und</strong> egoistisch orientierten Handelns, das für einen uneigennützigen<br />

Dienst für <strong>die</strong> Allgemeinheit steht, zugesprochen wird, erfährt<br />

durch finanzielle Anreize, wie <strong>die</strong> von Joachim A. oder Tobias F. erläuterten,<br />

eine zunehmende Orientierung am ökonomischen Kapital <strong>und</strong> der bislang<br />

verkannten ökonomischen Dimension <strong>des</strong> ärztlichen Handelns. Die dem Arzt<br />

zugesprochene Legitimität seines Handelns, <strong>die</strong> ihm aufgr<strong>und</strong> seiner vermeintlichen<br />

Distanzierung der Profitorientierung <strong>und</strong> Berechenbarkeit zugesprochen<br />

wurde, <strong>und</strong> das damit einhergehende „Amtscharisma“ müsste ihm aufgr<strong>und</strong><br />

der zunehmenden Verwässerung <strong>des</strong> Glaubens an <strong>die</strong> „Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>, der<br />

Verleugnung bzw. Verkennung der ökonomischen Dimension, abgesprochen<br />

werden. Wie <strong>die</strong> Aussagen von Joachim A. verdeutlichen, stellen <strong>die</strong> monetäre<br />

Entlohnung <strong>und</strong> der Ver<strong>die</strong>nst an jedem einzelnen Patienten, wobei er hierbei<br />

<strong>die</strong> Honorarerwirtschaftung der Kaderärzte anspricht, zentrale Dimensionen<br />

dar, an denen der Arzt zusehends sein Handeln ausrichtet <strong>und</strong> damit einhergehend<br />

sein ethisches Selbstverständnis offensichtlich untermauert. Die Profitorientierung<br />

am Privatspital verdeutlicht sich insbesondere bei den Belegärzten,<br />

<strong>die</strong> massgeblich leistungsorientierte Gehaltsstrukturen kennen <strong>und</strong> deren Einnahmen<br />

aus der überwiegenden Behandlung Zusatzversicherter zumeist seitens<br />

der Versicherungen direkt an sie ausbezahlt werden, was auch Bernard S.<br />

bestätigt: „Es war so, dass ich in <strong>die</strong>sem Kanton keine Praxisbewilligung<br />

hatte, da ich ja zehn Jahre lang in einem anderen<br />

Kanton gearbeitet habe. Danach gab es dann zwei Möglichkeiten,<br />

entweder stellt mich <strong>die</strong> Privatklinik an oder<br />

der Kollege stellt mich an. (…) Das Gehalt ist eins zu eins<br />

vom Umsatz, den man generiert, abhängig. Je mehr man umsetzt,<br />

umso höher ist der Profit.“ Die nachfolgende Aussage von<br />

598


Adrian L. verdeutlicht einerseits <strong>die</strong> <strong>und</strong>urchsichtige Ausgestaltung der Ge-<br />

haltsstrukturen an Privatspitälern, was insbesondere mit den Anstellungsbe-<br />

dingungen zusammenhängt, <strong>und</strong> andererseits <strong>die</strong> Wahlmöglichkeiten, <strong>die</strong><br />

einem seitens der Spitalleitung geboten werden, falls das Interesse am betref-<br />

fenden Arzt sehr gross ist: „Für mich stellte natürlich der Wechsel<br />

einen höheren Grad an Selbstständigkeit dar. Ich stand ja<br />

vor der Wahl, ob ich in eine Praxis, voll selbstständig<br />

gehen sollte, oder ob ich mich anstellen <strong>und</strong> einen Vertrag<br />

im Sinne einer Anstellung machen lassen sollte, der aber<br />

andere Bedingungen hatte als am Kantonsspital. Das gibt es<br />

eben, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Leute realisieren nicht, dass es solche Verträge<br />

gibt. Ich konnte mitreden, wie ich meinen Vertrag<br />

haben möchte. Ich erhalte beispielsweise einen Anteil ganz<br />

klar fix ausbezahlt, ich habe aber auch ganz klar einen<br />

Anteil, mit welchem ich am Geschäft beteiligt bin, Erfolg,<br />

Profitcenterrechnung, oder wie man dem sagen will. Ich bin<br />

aber auch voll mitverantwortlich, wenn es ein schlechter<br />

Geschäftsgang ist, dann kann ich im dümmsten Falle auch<br />

drauflegen. Ich kann das Personal selber auslesen, welches<br />

aber über das Haus angestellt ist, aber ich lese es aus <strong>und</strong><br />

sie haben <strong>die</strong> gleichen Verträge. Ich habe den Vorteil, dass<br />

ich <strong>die</strong> Rechnungsstellung nicht selber machen muss, das<br />

wird übernommen. Also ich mache <strong>die</strong> Leistungserfassung mit<br />

meinem Team aber keine Rechnungsstellung. Und wenn ich jemanden<br />

anstelle, dann weiss ich, dass <strong>die</strong>s auch ins Budget<br />

geht, <strong>und</strong> dass es eben auch am möglichen Gewinn oder möglichen<br />

Umsatz abgezogen wird, also viel wirtschaftlicher. Im<br />

Kantonsspital haben sie <strong>die</strong>s nie in <strong>die</strong>sem Masse. Die Pflege<br />

wird ihnen zugeteilt, das läuft über eine ganz andere<br />

Schiene, dazu haben sie nicht viel zu sagen, <strong>und</strong> wenn sie<br />

mal jemanden im Getriebe drin haben, der ihnen überhaupt<br />

nicht zusagt <strong>und</strong> sie mit <strong>die</strong>ser Person Probleme haben, dann<br />

geht <strong>die</strong>s natürlich sehr lange, bis jemand entlassen wird.<br />

Dies, da eben auch viele andere Leute noch mitreden. Das<br />

ist hier schon anders. Ich habe schon eine erhöhte Verantwortung<br />

in beidem Sinne, ich entlasse nicht einfach Leute,<br />

schaue aber auch, dass das Gehalt fürs Personal reinkommt<br />

<strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Aber auch im Sinne von erhöhter Zufriedenheit,<br />

dass ich auch etwas so verlangen kann, wie ich es<br />

möchte.“ Adrian L. hat sich offensichtlich für eine Kombination, bestehend<br />

aus einem fixen Gr<strong>und</strong>gehalt <strong>und</strong> einem variablen, als selbstständig erwirt-<br />

599


schafteten Lohnanteil, entschieden. Gemäss seiner Aussage wird er im Falle<br />

eines Nichterreichens der definierten Ziele, <strong>die</strong> vermutlich mit der Spitalleitung<br />

vereinbart wurden, monetär zur Verantwortung gezogen. Die Managerialisie-<br />

rung hat Adrian L. bereits dermassen inkorporiert, dass ihm der Umgang mit<br />

Finanzkennziffern <strong>und</strong> Verantwortlichkeiten über das Budget, über <strong>die</strong> Anstel-<br />

lung bzw. Entlassung <strong>des</strong> Pflegepersonals oder über <strong>die</strong> unternehmerische<br />

Leitung <strong>und</strong> Oberaufsicht über seine Praxis im Privatspital bereits keine<br />

Schwierigkeiten mehr bereiten <strong>und</strong> er sich in seiner neuen Rolle als Entrepreneur<br />

wohlfühlt, der seine Fachkompetenz an <strong>die</strong> zahlungsbereiten K<strong>und</strong>en<br />

verkauft. Der Rückkehrer Karl K. konnte sich an <strong>die</strong> kontinuierliche Inkorporierung<br />

von Werten fern seines ethisch-moralischen Anspruchs nicht gewöhnen,<br />

sie gingen ihm nicht in Fleisch <strong>und</strong> Blut über, wie folgende Aussage zeigt: „Ich<br />

hatte einen eigenen Fahrplan. Das, was ich nicht erreicht<br />

habe, wurde dann von meinem eigenen Gehalt abgezogen. (…)<br />

Vom Lohnsystem her wurde ich degra<strong>die</strong>rt <strong>und</strong> zwar schmerzhaft,<br />

so dass ich optimieren musste. Das hiess, dass ich<br />

überlegen musste, wo es Optimierungspotential gibt, ich<br />

musste natürlich auch Leute entlassen, als es dann nicht<br />

mehr reichte, was bei mir ein grosses Kopfzerbrechen hervorrief.<br />

Das war dann sehr schwierig. Dann kommt man extrem<br />

unter Druck. Es hat mich nie kalt gelassen. Ich konnte dann<br />

wochenlang nicht schlafen, da ich wusste, dass ich nun wieder<br />

Leute entlassen muss. (...) Und statt<strong>des</strong>sen ungelerntes<br />

Personal einstellen muss.“ Die von Karl K. umgesetzten Prozessoptimierungen<br />

führte er unter dem Druck der von der Spitalleitung geforderten<br />

Gewinnmaximierung durch. Die möglichen medizinischen <strong>und</strong> qualitativen<br />

Einbussen für <strong>die</strong> Patienten, konnte er mit seinem Berufsethos jedoch nicht<br />

vereinbaren. Hingegen verdeutlicht folgende Aussage von Adrian L., dass der<br />

monetäre Ver<strong>die</strong>nst <strong>und</strong> damit einhergehend <strong>die</strong> Beteiligung am Erfolg seiner<br />

erbrachten Tätigkeit Adrian L. von zentraler Bedeutung sind, weshalb <strong>die</strong> Gehaltsdeckelung,<br />

wie sie Tobias F. beschrieben hat, für ihn nicht infrage kommt:<br />

„Ich habe beispielsweise einen Vertrag, bei welchem ich<br />

keine Abdecklung habe. Ich habe mir gesagt, falls ich einen<br />

Vertrag abschliesse, dann möchte ich einen, der gegen oben<br />

offen ist. Nicht, dass ich endlos ver<strong>die</strong>ne, aber ich möchte<br />

nicht, dass mir jemand sagt: bis dahin kannst du ver<strong>die</strong>nen<br />

<strong>und</strong> den Rest machst du eben umsonst. Ich möchte einen Vertrag,<br />

bei welchem ich einen Anteil am Umsatz <strong>und</strong> Ver<strong>die</strong>nst<br />

habe, der auch so bleibt, egal ob der Umsatz nun 200‘000<br />

600


mehr oder weniger ist, der bleibt einfach. (…) Nein, nein,<br />

nicht am Gesamtumsatz <strong>des</strong> Spitals, sondern an unserer Arbeit,<br />

<strong>die</strong> wir als Team leisten, nach Abzug aller Einnahmen<br />

<strong>und</strong> Ausgaben. Dies ergibt dann irgendeine Restsumme, einen<br />

Gewinn, <strong>und</strong> an dem habe ich einen Anteil. Wichtig ist auch,<br />

dass meine Mitarbeiter, meine Kollegin <strong>und</strong> auch meine anderen<br />

Mitarbeiter einen Anteil haben. Bei der Pflege ist es<br />

nicht so, dass <strong>die</strong>se prozentual einen Anteil am Gewinn haben,<br />

aber <strong>die</strong> haben natürlich <strong>die</strong> Möglichkeit oder ich habe<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit ihnen etwas abzugeben <strong>und</strong> ihnen eben einen<br />

Bonus, nein, wie sagt man dem, dem sagt man eben nicht mehr<br />

Bonus, eine einmalige Erfolgsbeteiligung oder irgend so was<br />

zu geben. (…) Ausser den Ärzten sind eigentlich fast alle<br />

Teilzeitangestellte; es ist <strong>die</strong> Pflege, das Sekretariat,<br />

der Empfang, das Praxismanagement. Meine Frau macht das<br />

Praxismanagement, auch in Teilzeit <strong>und</strong> auch Eventplanung<br />

<strong>und</strong> Praxisdekoration gehören zu ihrem Metier. Auch <strong>die</strong><br />

Leistungserfassung kontrolliert sie in dem Sinne zusammen<br />

mit der Rechnungsstellung, <strong>und</strong> falls ein Fehler auftritt<br />

geht sie dem nach. Die Leistungserfassung macht sie nicht<br />

so oft.“ Mit Team meint Adrian L. sich selber <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ärztin, <strong>die</strong> als seine<br />

Kollegin mit ihm <strong>die</strong> Praxis teilt, sowie das Praxispersonal, zumeist ausschliesslich<br />

Pflegepersonal. Adrian L. entscheidet über das Personal, das in seiner Praxis<br />

arbeitet, aber über das Spital angestellt ist, über <strong>die</strong> Gratifikationen, <strong>die</strong> er<br />

seinen Praxismitarbeitern zukommen lässt, <strong>und</strong> er verhandelt mit dem Spital<br />

<strong>die</strong> fixen Beiträge aus, <strong>die</strong> er ihnen für <strong>die</strong> Nutzung der Infrastruktur überweist.<br />

Adrian L. weist explizit darauf hin, dass er selber keine Rechnungsstellung,<br />

sondern nur <strong>die</strong> Leistungserfassung vornimmt, denn ersteres macht anscheinend<br />

seine Frau. Hierbei weist <strong>die</strong> Praxisstruktur von Adrian L. eine Nähe zu<br />

den Praxen der Hausarztmediziner auf, wo früher zumeist <strong>die</strong> Frau <strong>die</strong> Buchhaltung<br />

der Praxis erstellte <strong>und</strong> teilweise ihrem Mann als Pflegefachfrau oder<br />

Praxisassistentin, damals noch Krankenschwester genannt, assistierte. Wobei<br />

beachtet werden muss, dass sich der Hausarztmediziner nicht in der angenehmen<br />

Lage befindet, ein Fixum Ende <strong>des</strong> Monates sichergestellt zu haben.<br />

Die Entlohnung der Ärzteschaft scheint Anlass zu zahlreichen Diskussionen zu<br />

geben, hierbei lassen einige der befragten Kaderärzte gerne das Argument<br />

verlauten, dass früher zu Zeiten der Chefarztstrukturen <strong>die</strong> Gehälter den Erwartungen<br />

der Ärzte entsprachen <strong>und</strong> demzufolge das Aufkommen von Ein-<br />

601


wänden nicht vonnöten war, so auch Petra S. beispielsweise: „ Man hat<br />

nicht über Geld gesprochen, man hatte es. Dies war das Motto.“<br />

Joachim A. stimmt ihr offenk<strong>und</strong>ig zu: „Früher stimmte der Lohn<br />

einfach, <strong>und</strong> ohne, dass man viel darüber geredet hat.“ Adrian<br />

L. hingegen, der sogleich bestätigt, dass <strong>die</strong> Gehälter früher höher als <strong>die</strong><br />

heutigen ausfielen, vertritt <strong>die</strong> Meinung, dass <strong>die</strong> Lohnhöhen früher jedoch<br />

unanständig waren: „Wenn ich höre, dass ein Chefarzt der Chirurgie<br />

oder eines anderen Fachbereichs vor zehn, fünfzehn<br />

Jahren 1 ½ Millionen bis 2 Millionen pro Jahr ver<strong>die</strong>nt hat,<br />

dann ist <strong>die</strong>s heute so, in <strong>die</strong>sem Umfang nicht mehr möglich.<br />

Es ist vereinzelt schon möglich, <strong>die</strong>se gibt es immer.<br />

Aber das ist nicht das, was sie erwarten können, wenn sie<br />

Medizin machen. Das ist heute auch unanständig, das muss<br />

man wirklich sagen. Das darf heute auch nicht sein. Das<br />

muss wesentlich darunter sein, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ist es auch bei den<br />

allermeisten Ärzten.“ Dass gerade Adrian L. <strong>die</strong> vermeintliche Unanständigkeit<br />

der Gehaltsausmasse betont, ist in Anbetracht der Tatsache, dass er<br />

seitens <strong>des</strong> Privatspitals explizit eine Gehaltsstruktur einforderte, <strong>die</strong> keiner<br />

Grenze gehorcht, extrem verw<strong>und</strong>erlich. Hierbei zeugte <strong>die</strong> Aussage von Adrian<br />

L. von einer offensichtlichen kognitiven Dissonanz, denn für sich selber<br />

definiert er eine monetäre Bereicherung, <strong>die</strong> möglicherweise über <strong>die</strong> Millionengrenze<br />

hinaus gehen könnte, für <strong>die</strong> anderen jedoch setzt er <strong>die</strong> Grenze<br />

weitaus tiefer an <strong>und</strong> appelliert an den Berufsethos <strong>des</strong> Arztes. Dementsprechend<br />

fügt er hinzu, dass ihm Gehälter wie <strong>die</strong> von Bankiers oder Managern<br />

nicht zustehen, da <strong>die</strong> Ärzteschaft einem höheren Sinn, dem Gemeinwohl, <strong>die</strong>ne,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>se keinesfalls auf <strong>die</strong>selbe Ebene wie der rein an Profit- <strong>und</strong> Gewinnmaximierung<br />

ausgerichtete homo oeconomicus gestellt werden wolle, wie<br />

auch folgende Aussage verdeutlicht: „Ganz nach dem Motto, dass wenn<br />

ich in einer Bank arbeite oder im Privat Equity-Bereich <strong>und</strong><br />

in einer Firma, in welcher ich lebenslang mit Geld in Kontakt<br />

bin, dann muss ich am Schluss auch ordentlich Geld<br />

ver<strong>die</strong>nen.“ Ähnlich argumentiert auch der Chefarzt Hans S., der für seine<br />

Oberärzte höhere Gehälter einfordert, da sie mit ihrer Fachkompetenz ansonsten<br />

kontinuierlich ins Privatspital abwandern. Die Degra<strong>die</strong>rung <strong>des</strong> Arztes<br />

<strong>und</strong> Pervertierung der Geldfrage sei den Managern <strong>und</strong> der Politik zu verdanken:<br />

„Wissen Sie, <strong>die</strong> Geldfrage wurde nicht durch <strong>die</strong> Medizin<br />

pervertiert, sondern durch <strong>die</strong> Finanzwirtschaft. Ich<br />

sehe, dass solche Grössenordnungen einfach akzeptiert wer-<br />

602


den, <strong>und</strong> meiner Meinung nach ist <strong>die</strong>s pervers. (...) Es<br />

geht dabei nicht um eine Million, sondern um zig Millionen.<br />

Bei normalen Bankiers geht es bereits um unzählige Millionen.<br />

Dafür habe ich null Verständnis. Und vor allem habe<br />

ich null Verständnis dafür, dass sich Leute in der Bevölkerung,<br />

wo auch immer, im BAG oder in unterschiedlichen, weiteren,<br />

politischen Gremien aufregen, dass ein Mediziner<br />

eine halbe Million ver<strong>die</strong>nt, <strong>und</strong> gleichzeitig ver<strong>die</strong>nt sein<br />

Kollege im Nationalrat oder ein Fre<strong>und</strong> von ihm zehn Millionen.<br />

Was soll das? Das ist ,grusig‘, ganz ,grusig‘ aus meiner<br />

Perspektive. In <strong>die</strong>sem Bereich ist so viel geschehen,<br />

man hat uns Mediziner angegriffen, man hat uns als grosse<br />

Absahner hingestellt.“ Einerseits findet eine kontinuierliche Abgrenzung<br />

vom Wirtschaftstreiben statt, <strong>und</strong> zugleich sind Diskussionen r<strong>und</strong> um<br />

<strong>die</strong> Ausgestaltung der Arztgehälter innerhalb der Ärzteschaft verstärkt zu entnehmen,<br />

wobei eine Angleichung an <strong>die</strong> Löhne der Privatspitäler eingefordert<br />

wird. Was folglich Anpassungen an Strukturen bedingt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung<br />

nicht umfänglich bewerkstelligen wollen, <strong>die</strong> sich an einem selektiven<br />

Patientengut ausrichten <strong>und</strong> <strong>die</strong> intransparente <strong>und</strong> konkurrenzierende Entlohnungsstrukturen<br />

mit dem Wissen fördern, dass derjenige monetär belohnt<br />

wird, der eine höhere Anzahl an Indikationen stellt, wobei <strong>die</strong> medizinische<br />

Qualität hierbei teilweise untergraben wird.<br />

Die vermeintliche Rückbesinnung auf <strong>und</strong> <strong>die</strong> Appellation an das universelle<br />

Gut seitens der Ärzte <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihnen aufgr<strong>und</strong> der Herstellung <strong>die</strong>ses nichtwarenmässigen<br />

Gutes zukommende Legimitierung ihres uneigennützigen <strong>und</strong><br />

im Dienste der Allgemeinheit stehenden Handelns offenbart auch folgende<br />

Aussage von Joachim A.: „Ich verhalte mich ärztlich <strong>und</strong> wie ich<br />

gesagt habe, will ich dabei auch noch recht ver<strong>die</strong>nen. Aber<br />

ich werde mein ärztliches Verhalten bestimmt nicht verändern,<br />

<strong>die</strong>s kann ich überhaupt nicht.“ Einerseits hält er sein berufsethisches<br />

Selbstverständnis hoch, fordert aber sogleich eine Belohnung für<br />

seinen Dienst ein, dem er sich scheinbar aufgr<strong>und</strong> seines Berufsethos verpflichtet<br />

fühlt. Auch Emil E. scheint <strong>die</strong>se Haltung seitens seiner Kollegen zu kennen<br />

<strong>und</strong> nimmt folgendermassen dazu Stellung: „Als ich anfing Medizin zu<br />

stu<strong>die</strong>ren, hatte man in den Kadern <strong>die</strong> Haltung: ich mache<br />

gute Medizin, <strong>und</strong> man soll mir <strong>die</strong>se bezahlen, da ich es ja<br />

gut mache. Ich hatte immer <strong>die</strong> Haltung, dass eigentlich das<br />

was man macht, von der Gesellschaft getragen werden sollte,<br />

603


<strong>die</strong>se tut <strong>die</strong>s aber nur, wenn es begründet ist. Ich habe<br />

mich vor zwanzig Jahren bereits für Qualitätsmanagement<br />

interessiert, das war einem aber lange fremd.“ Die dem Patienten<br />

gegenüber eingenommene Berufung auf den eigenen Berufsstand, seinen<br />

Status <strong>und</strong> Ethos <strong>und</strong> <strong>die</strong> Annahme, dass sich jeder Arzt seinem Ethos entsprechend,<br />

uneigennützig <strong>und</strong> fern jeglichen ökonomischen Bereicherungsvorhabens<br />

verhält, könne heute nicht mehr als Legitimität für überhöhte Saläre gelten,<br />

da <strong>die</strong> Realität eine zunehmende <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> ärztlichen Dienstes<br />

offenbart.<br />

Joachim A. verdeutlicht <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> mit folgender Aussage exemplarisch:<br />

„Was auch heute noch so ist, aber ich spreche nun vom<br />

damaligen Zeitpunkt; man hatte einen guten Vertrag in Aussicht<br />

gehabt, man konnte <strong>die</strong> privaten Patienten abrechnen,<br />

<strong>und</strong> folglich hatte man insgesamt ein gutes Einkommen. Auch<br />

das Ansehen <strong>und</strong> eben <strong>die</strong> Kombination von Fachlichem <strong>und</strong><br />

Finanziellem waren in meinem Fachbereich zum damaligen<br />

Zeitpunkt höchst erstrebenswert gewesen. Nun muss man überlegen,<br />

was langsam wegfällt. Was im Wesentlichen beschnitten<br />

wird, so denke ich, ist der finanzielle Anreiz. Bei uns<br />

sind wir noch nicht an <strong>die</strong>sem Punkt angelangt. Aber falls<br />

beispielsweise alles stimmt, so wie das grosse Spital, <strong>die</strong><br />

fachliche Bandbreite, aber man ver<strong>die</strong>nt weniger als alle<br />

Leute, <strong>die</strong> man ausgebildet hat <strong>und</strong> als <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> in<br />

einer Privatpraxis tätig sind, so stimmt es dann eben doch<br />

wieder nicht. Das wäre eine Karrierestelle, an der man weniger<br />

ver<strong>die</strong>nt als an einer Durchschnittsstelle, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s<br />

stimmt dann ja wirklich nicht. Ich denke schon, dass das<br />

Finanzielle einen Gr<strong>und</strong> darstellt. In Kantonen, wo man <strong>die</strong>s<br />

missachtet hat, wandern mehr Ärzte ab. Hier haben wir es<br />

so, dass das Inhaltliche gleich ist. Wir können nach wie<br />

vor privat abrechnen <strong>und</strong> haben so an jedem einzelnen Patienten,<br />

auch ambulant, unseren Ver<strong>die</strong>nst, <strong>und</strong> folglich besteht<br />

unsere Motivation auch darin viele Patienten zu betrachten.<br />

Wir haben <strong>die</strong>se Kombination. Wir haben den fachlichen<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Anreiz. Es braucht bei<strong>des</strong>.“<br />

Möglicherweise sprach <strong>die</strong> vergangene Ärztegeneration tatsächlich weniger<br />

über <strong>die</strong> ökonomischen Einnahmen, da sie <strong>die</strong> „Illusio“ ihres Fel<strong>des</strong> aufrechterhalten<br />

wollten, indem sie den Spielregeln entsprechend agierten <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

ökonomische Dimension ihres Handelns bewusst verleugneten, um <strong>die</strong> ihnen<br />

604


seitens der Öffentlichkeit als legitim zugesprochenen Privilegien zu erhalten.<br />

Möglicherweise fühlten sie sich tatsächlich ihrer „totalen sozialen Rolle“ <strong>und</strong><br />

der Sicherstellung <strong>des</strong> universellen Gutes Ges<strong>und</strong>heit stärker verpflichtet. Im<br />

Gegensatz zu früher verdeutlicht sich aufgr<strong>und</strong> der anhaltenden Privatisierung<br />

öffentlicher Krankenhäuser <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende Ausrichtung der<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung an den Gesetzen <strong>des</strong> Marktes eine offensichtliche<br />

Marktgläubigkeit einiger Kaderärzte, <strong>die</strong> ihre Handlungsmaxime der Wirtschaftslogik<br />

entsprechend ausrichten <strong>und</strong> leider dazu beitragen, dass Indikationen<br />

<strong>und</strong> Diagnosen gestellt werden, wo keine vonnöten sind, dass unterschiedliche<br />

Implantate je Versicherungsklasse benutzt werden <strong>und</strong> Patienten entsprechend<br />

ihres Versicherungsstatus selektiert werden. Diese neue Marktgläubigkeit<br />

hat, nebst der kontinuierlichen Abschöpfung weiterer Kaderärzte, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Gr<strong>und</strong>versorgung <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>ausbildung sicherstellten, eine Orientierung an<br />

Geldwerten zur Folge, <strong>die</strong> dem berufsethischen Selbstverständnis in seinen<br />

Gr<strong>und</strong>festen widerspricht. Und obwohl <strong>die</strong> nachstehende Aussage von Victor<br />

H. im Kapitel 5.2.3.2 <strong>und</strong> 5.2.3.4 in anderen thematischen Zusammenhängen<br />

bereits erwähnt wurde, zeigen sich daran nochmals exemplarisch <strong>die</strong> Folgen<br />

der an Geldwerten orientierten Handlungsmaximen eines Arztes: „Wie gesagt,<br />

wir haben es in der Hand unsere Leistungen zu erweitern,<br />

wenn ich einem Patienten sage, hören Sie mal, Sie<br />

brauchen <strong>die</strong>se <strong>und</strong> jene Untersuchung, dann glaubt der Patient<br />

mir <strong>die</strong>s, falls ich ihm <strong>die</strong>s gut erzähle. Er weiss ja<br />

nicht, ob ich eine gute Indikation gestellt habe, <strong>die</strong>s<br />

überprüft ja niemand, weder am öffentlichen noch am privaten<br />

Spital. Mit <strong>die</strong>sem Verhalten könnte man rein theoretisch<br />

eine Mengenausweitung machen. Wenn man beginnt, solche<br />

Sachen aus einer wirtschaftlichen Überlegung heraus zu<br />

machen, dann wird es einfach gefährlich. Sei es aus wirtschaftlichen<br />

Überlegungen für mich, ich ver<strong>die</strong>ne ja eins zu<br />

eins daran, oder sei es aus wirtschaftlichen Überlegungen<br />

für das Spital. Betrachtet man <strong>die</strong>s nun mal kritisch, so<br />

ist <strong>die</strong> Versuchung grösser, wenn man in einer Position<br />

sitzt, in welcher ich hier sitze, als <strong>die</strong>s in einem öffentlichen<br />

Spital der Fall ist. Wenn sie in einem öffentlichen<br />

Spital eine Untersuchung indizieren, dann können sie nicht<br />

eins zu eins den Profit daraus ziehen, weil sie einen Lohn<br />

<strong>und</strong> vielleicht ein paar Poolsachen haben, aber der grosse<br />

Teil <strong>des</strong> Gewinns, der daraus erwirtschaftet wird, geht ans<br />

Spital. Von daher hat der Doktor dort nicht <strong>die</strong> gleiche<br />

605


Interessenlage wie ein Arzt, der privat arbeitet.“ Abschlies-<br />

send fügt er hinzu: „So wie es jetzt läuft, sind wir <strong>die</strong>jenigen,<br />

<strong>die</strong> indizieren <strong>und</strong> folglich aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen unseren Umsatz<br />

steuern können. Wir können einen Haufen unnötiger Untersuchungen<br />

machen <strong>und</strong> ver<strong>die</strong>nen Geld daran, das ist etwas, das<br />

man unbedingt vermeiden sollte. Wenn man zu sehr nur auf<br />

das Ökonomische schaut, dann besteht eine gewisse Gefahr,<br />

dass so etwas dabei herauskommen könnte. Ich möchte nun<br />

aber niemandem etwas unterstellen. Aber <strong>die</strong> Gefahr ist für<br />

jeden, der normal denkt, sichtbar.“ Er weist explizit auf <strong>die</strong> Gefahr<br />

der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Krankenhauswesens <strong>und</strong> der Handlung-, Denk- <strong>und</strong><br />

Wahrnehmungsmuster der Ärzteschaft hin, was massgeblich ein Resultat der<br />

Privatisierung öffentlicher Krankenhäuser sei. Wobei hinzugefügt werden<br />

muss, dass <strong>die</strong> stetigen Erneuerungen <strong>und</strong> Umgestaltungen der Gehaltsstrukturen<br />

an öffentlichen Spitälern zu ähnlichen Szenarien führen können, wie <strong>die</strong><br />

beiden nachfolgenden Unterkapitel darlegen.<br />

5.3.3.1 Die verschleierte Zahl<br />

Dieses Unterkapitel soll kurz, aber exemplarisch verdeutlichen, wie stark <strong>die</strong><br />

Höhe der Gehälter der Kollegen an Privatspitälern Mythen unterliegen, wie<br />

gross der Einfluss seitens der abgewanderten Kollegen ist, <strong>die</strong> zusehends versuchen,<br />

ehemalige Kollegen aus dem öffentlichen Spital abzuwerben, um <strong>die</strong><br />

eigene Position zu legitimieren, <strong>und</strong> wie sehr <strong>die</strong> Leaver damit beschäftigt sind,<br />

sich gegen <strong>die</strong> vermeintlichen Vorwürfe der Abwanderung aus monetären<br />

Gründen zu verteidigen. Insbesondere im Rahmen <strong>die</strong>ser Verteidigung lassen<br />

sich zusehends kognitive <strong>und</strong> moralische Dissonanzen seitens der Leaver feststellen.<br />

Denn im Hinblick auf ihre Antworten zu den Abwanderungsgründen,<br />

wird einerseits ersichtlich, dass <strong>die</strong> finanzielle Komponente nur einen möglichen<br />

der genannten Faktoren darstellt. Gleichzeitig gelangen sie im Zusammenhang<br />

mit ihrer monetären Entlohnung in eine Rechtfertigungsproblematik.<br />

Einige Leaver warnen regelrecht vor der anhaltenden <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Krankenhauswesens <strong>und</strong> erachteten das öffentliche Spital als<br />

letzte Instanz, <strong>die</strong> der <strong>Ökonomisierung</strong> standhalten muss. Gewisse strukturelle<br />

Angleichungsprozesse der öffentlichen Institutionen an <strong>die</strong> privaten wurden als<br />

Übertreten der Toleranzgrenze erachtet, so beispielsweise Eröffnungsveranstaltungen<br />

neuer Departements an öffentlichen Spitälern, <strong>die</strong> als Werbeveranstaltungen<br />

abgetan wurden. Das Anwerben neuer zusatzversicherter Patienten<br />

606


seitens der Ärzte der Privatklinik bzw. der Spitalleitung in Hochglanzprospek-<br />

ten wurde jedoch seitens der Leaver nicht angeprangert, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s mit dem<br />

Argument, dass ein Privatspital nun mal <strong>die</strong> Interessen ihrer Investoren vertreten<br />

muss. Das öffentliche Spital, welchem <strong>die</strong> Leaver ihre Fachexpertise verdanken,<br />

soll den ärztlichen Berufsethos erhalten <strong>und</strong> das universelle Gut im<br />

Rahmen der Gr<strong>und</strong>versorgung kontinuierlich <strong>und</strong> mit uneigennützigen <strong>und</strong><br />

erhabenen Ärzten aufrechterhalten. Sie <strong>die</strong> Leaver, <strong>die</strong> mit ihrem Weggang dem<br />

öffentlichen Krankenhaus den Rücken kehrten, <strong>die</strong> Fachexpertise nun endlich<br />

zu ökonomischem Kapital verwerten können <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>die</strong> teils anstrengende,<br />

aber dafür spannende <strong>und</strong> förderliche Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses den<br />

ethisch integren Kollegen überlassen, dürfen sich nun folglich den ökonomischen<br />

Interessen <strong>und</strong> dem Markt hingeben, wobei das ethische Selbstverständnis<br />

dennoch immer wieder mal hochgehalten wird, da nicht jeder den Habitus<br />

<strong>des</strong> homo oeconomicus vollumfänglich inkorporieren kann.<br />

Hinsichtlich der Gehaltsstrukturen hat <strong>die</strong> Verbindung Schweizer Ärztinnen<br />

<strong>und</strong> Ärzte für das Jahr 2010 <strong>die</strong> Daten einer Primärerhebung der Gehälter der<br />

Spitalärzteschaft veröffentlicht <strong>und</strong> kam zum Ergebnis, dass sich das durchschnittliche<br />

Bruttoeinkommen inkl. Zusatzeinkommen, das sich zumeist aus<br />

dem Honorar der Behandlung zusatzversicherter Patienten im stationären Bereich,<br />

der Fond- <strong>und</strong> Gewinnbeteiligungen <strong>und</strong> nur geringfügig aus Zusatzeinnahmen<br />

aus sonstiger privatärztlicher Tätigkeit beispielsweise via TARMED<br />

zusammensetzt, über alle medizinischen Fachbereiche hinweg folgendermassen<br />

ausgestaltet: Der Bruttolohn eines Assistenzarztes beläuft sich durchschnittlich<br />

auf CHF 101‘000, der eines Oberarztes auf CHF 163‘000, eines Leitenden Arztes<br />

auf CHF 293‘000 <strong>und</strong> eines Chefarztes auf CHF 419‘000 (FMH, 2011, S. 1366).<br />

Die FMH fügte hinzu, dass sich <strong>die</strong> Gehälter je nach Spitaltyp <strong>und</strong> Fachbereich<br />

unterschiedlich ausgestalten, was insbesondere auf <strong>die</strong> Einnahmen aus dem<br />

Zusatzeinkommen zurückzuführen sei. Nahezu 1/3 <strong>des</strong> Gesamteinkommens<br />

eines Leitenden Arztes setzt sich aus seinem erwirtschafteten Zusatzeinkommen<br />

zusammen, beim Chefarzt ist es nahezu <strong>die</strong> Hälfte, infolge<strong>des</strong>sen verdeutlicht<br />

sich auch nummerisch das Interesse der Kaderärzte an der Behandlung<br />

Zusatzversicherter, wobei das Zusatzeinkommen je nach Poollösung in einem<br />

öffentlichen Spital variiert <strong>und</strong> demzufolge das Ratio Durchschnittswerten<br />

entspricht. Die Abschaffung von Poollösungen, wie sie beispielsweise Joachim<br />

A. befürwortet <strong>und</strong> anhand <strong>des</strong> parasitären Verhaltens bzw. Trittbrettfahrer-<br />

607


tums einiger Kollegen begründet, geschieht vor allem zu Gunsten der Kader-<br />

ärzte, da <strong>die</strong>se massgeblich an den Honoraranteilen ver<strong>die</strong>nen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se fallen<br />

umso grösser aus, je kleiner <strong>die</strong> Anzahl Ärzte, <strong>die</strong> daran partizipieren. Im Hin-<br />

blick auf das Zusatzeinkommen ergab <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong> der FMH folgen<strong>des</strong> prozentuales<br />

Ratio: Assistenzärzte nehmen ein Nettoeinkommen bzw. einen Fixlohn von<br />

CHF 98‘000 <strong>und</strong> ein Zusatzeinkommen von CHF 3‘000 (3.1%) ein, Oberärzte<br />

CHF 149‘000 zu CH 14‘000 (9.4%), Leitende Ärzte CHF 198‘000 zu CHF 95‘000<br />

(48%) <strong>und</strong> <strong>Chefärzte</strong> CHF 242‘000 zu CHF 177‘000 (73.1%) (ebd.).<br />

Wie <strong>die</strong> nachfolgenden drei Zeugnisse der Stayer aufzeigen, <strong>die</strong> exemplarisch<br />

für <strong>die</strong> Mehrheit der befragten Stayer stehen, besteht ein Konsens hinsichtlich<br />

einer Verdoppelung bis Verdreifachung <strong>des</strong> Gehalts, welches <strong>die</strong> Ärzte am<br />

Privatspital im Gegensatz zum öffentlichen Spital erwirtschaften können. Hans<br />

S. vertritt <strong>die</strong> Meinung, dass der Faktor ein Vielfaches darstellt, wobei er vor<br />

allem <strong>die</strong> Stufe der Oberärzte anspricht. Im Hinblick auf <strong>die</strong> obgenannten Zahlen<br />

verdeutlicht sich, dass der variable Lohnbestandteil im Vergleich zum<br />

Fixlohn bei den Gehältern der Oberärzte ungefähr zehn Prozent ausmacht.<br />

Dieser Bestandteil wird sich natürlich bei einer Ausrichtung an zusatzversicherten<br />

Patienten deutlich erhöhen. Hans S. zeigt Verständnis für seine Oberärzte,<br />

<strong>die</strong> sich für eine Abwanderung entscheiden, da sich das Gehaltssystem an seinem<br />

Kantonsspital, das keine bzw. nur eine sehr geringe Beteiligung der Oberärzte<br />

an den Honoraren der Zusatzversicherten vorsieht, nun mal ganz <strong>und</strong> gar<br />

nicht am Marktwert orientiert: „Er ver<strong>die</strong>nt dort ein Vielfaches<br />

mehr, er ver<strong>die</strong>nt nicht nur ein paar Prozent mehr, sondern<br />

ein Vielfaches <strong>des</strong>sen, was man hier ver<strong>die</strong>nt. Nicht das<br />

Doppelte, sondern ein Vielfaches, drei, vier, fünf Mal so<br />

viel <strong>des</strong>sen, was man hier als Oberarzt ver<strong>die</strong>nt. (…) Ich<br />

glaube, dass in <strong>die</strong>sem Fall entweder ein grosses Mass an<br />

Naivität oder irgendwelche anderen schwerwiegenden Gründe<br />

oder Überzeugungen bestehen müssen, damit man sich entscheidet<br />

<strong>die</strong>sen Schritt nicht zu machen.“ Andreas L. nennt keine<br />

Werte <strong>und</strong> räumt ein, dass, obwohl <strong>die</strong> Leaver vermeintlich mehr ver<strong>die</strong>nen,<br />

auch sie einen Einsatz leisten müssen: „Sie ver<strong>die</strong>nen mehr <strong>und</strong> haben<br />

weniger Leute, <strong>die</strong> Ihnen dreinreden. Aber arbeiten müssen<br />

Sie dennoch. (…)“ Der Rückkehrer Bernard S. gehört zu jenen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Ausgestaltung der Lohnstrukturen an Privatspitälern kennt, zumin<strong>des</strong>t <strong>die</strong>jenige,<br />

<strong>die</strong> ihn <strong>und</strong> sein damaliger Chef betraf. Er verdeutlicht, dass Einnahmen<br />

608


zwischen CHF 300‘000 <strong>und</strong> CHF 350‘000 relativ rasch generiert werden konn-<br />

ten, wer jedoch wesentlich mehr Einnahmen generieren wollte, kam um den<br />

Leistungsdruck nicht umher: „Die Erreichbarkeit <strong>und</strong> <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes<br />

... es ist unheimlich viel, was man schliesslich schon<br />

leistet. Wochenenden hat man eigentlich keine, ausser ...<br />

er hat immer einen Monat pro Jahr frei gemacht, hat dann<br />

einen Kollegen eines anderen Spitals geholt, <strong>und</strong> der war<br />

dann während <strong>die</strong>ser Zeit einfach dafür zuständig gewesen.<br />

So hat er überhaupt überlebt. Er war dann seit zwei Jahren<br />

an der Privatklinik <strong>und</strong> hat gearbeitet, gearbeitet <strong>und</strong> gearbeitet.<br />

Für <strong>die</strong>se 700‘000 arbeitete er unheimlich viel.<br />

Aber eben, man kann <strong>die</strong> 300‘000 oder 350‘000 relativ<br />

schnell generieren.“ Tobias F. kann sich, wie alle anderen Stayer <strong>und</strong><br />

vermutlich auch einige Leaver, nur auf Vermutungen <strong>und</strong> Annahmen hinsichtlich<br />

der unterschiedlichen Zusammensetzung <strong>und</strong> Höhe der Gehälter der<br />

Leaver stützen <strong>und</strong> betont, dass der exakte Wert vermutlich stetig unter Verschluss<br />

gehalten wird: „Ich weiss nur, dass er in der Orthopä<strong>die</strong><br />

mal zwei ist <strong>und</strong> bei den Augen ist er auch in etwa mal<br />

zwei. Das sind nun <strong>die</strong> beiden, <strong>die</strong> ich kenne, aber ansonsten<br />

wird nirgends so gelogen, wie beim Lohn. Das Zeugs, das<br />

sie erzählen, stimmt nie.“ Ob er davon ausgeht, dass <strong>die</strong> Gehälter, <strong>die</strong><br />

seitens der Leaver kommuniziert werden, weit über oder eher unter der angegebenen<br />

Spanne liegen, ist unklar. Liegen sie weiter drüber, versuchen <strong>die</strong><br />

Leaver möglicherweise dennoch, <strong>die</strong> „Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> aufrechtzuerhalten,<br />

um nicht endgültig als Abzocker degra<strong>die</strong>rt zu werden. Liegen sie drunter bzw.<br />

sind sie extrem volatil, müssten sie sich womöglich eingestehen, dass der Weggang<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende vermeintliche Lockung durch den Ruf <strong>des</strong><br />

Marktes <strong>und</strong> das nackte Geld einer Illusion entsprachen, für welche sie ihr<br />

berufsethisches Selbstverständnis aufs Spiel setzten.<br />

Der Leaver Victor H. gesteht unverblümt ein, dass <strong>die</strong> Anlockung seitens anderer<br />

Leaver-Kollegen durch <strong>die</strong> Verlockung möglicher monetärer Einnahmen im<br />

Privatspital zu seiner Abwanderung beitrug: „Ich muss sagen, dass für<br />

mich das Monetäre nicht der Hauptgr<strong>und</strong> war hierhin zu kommen.<br />

Obwohl, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ist nicht zu bestreiten, das Monetäre<br />

im Leben immer eine Rolle spielt, das ist gar keine Frage.<br />

Und am Anfang hatte ich schon das Gefühl, dass ich am öffentlichen<br />

Spital gut ver<strong>die</strong>ne, aber wenn man natürlich<br />

dann begonnen hat sich umzuhören bei Leuten im gleichen<br />

609


Alter, mit gleicher Ausbildung <strong>und</strong> in anderen akademischen<br />

Berufen oder aber auch bei anderen praktizierenden Ärzten,<br />

dann ist <strong>die</strong> Variante öffentliches Spital sicherlich nicht<br />

<strong>die</strong> beste. Obwohl wir am öffentlichen Spital ein relativ<br />

grosszügiges Poolsystem hatten. (…) Man hat einem von aussen<br />

immer zugetragen, dass andere mehr ver<strong>die</strong>nen. Nicht zu<br />

verneinen ist, dass <strong>die</strong>s bei einem Entscheid letzten En<strong>des</strong><br />

auch eine Rolle spielt.“ Victor H. versucht, <strong>die</strong> ökonomische Dimension<br />

seines Handelns, <strong>die</strong> ihn reizte <strong>und</strong> ihn unter anderem dazu bewegte, das<br />

öffentliche Krankenhaus zu verlassen, zu verneinen <strong>und</strong> insbesondere <strong>des</strong>sen<br />

Höhe zu verleugnen. Auf einmal ist <strong>die</strong> vermeintliche Ausgestaltung nicht<br />

mehr dermassen transparent, wie er sie kurz davor beschrieb. Victor H. konnte<br />

in ein Fachzentrum am Privatspital miteinsteigen, das seit über zehn Jahren<br />

bestand <strong>und</strong> welches nach seinen Aussagen auch massgeblich zum Erfolg <strong>die</strong>ses<br />

Privatspitals beitrug. Folglich musste er keine wesentliche Aufbauarbeit ins<br />

Zentrum stecken, in seine Person <strong>und</strong> Expertise hingegen schon. Diese musste<br />

er publik machen, um Patienten von seiner Fachkraft zu überzeugen, was umso<br />

bedeutender war, da er als Belegarzt am Privatspital tätig ist <strong>und</strong> sich gegen<br />

seine Kollegen, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>sem Konstrukt Konkurrenten darstellen, durchsetzen<br />

musste. Möglicherweise gestaltete sich der Anfang schwierig, heute jedoch<br />

scheint er sich gut etabliert zu haben, ist sich <strong>des</strong>sen bewusst <strong>und</strong> kann dem<br />

Spital gegenüber auch Forderungen hinsichtlich der inskünftigen Ausgestaltung<br />

der Entlohnungsstrukturen <strong>und</strong> vertraglichen Bindungen stellen: „Ich<br />

möchte nochmals kurz auf das Monetäre zu sprechen kommen.<br />

Wenn man so lange in einem öffentlichen Spital gearbeitet<br />

hat, so kann man <strong>die</strong> monetäre Situation, <strong>die</strong> wirklich<br />

herrscht, gar nicht richtig abschätzen. Man hört zwar, wie<br />

es so sein könnte. Aber wie Sie ja auch wissen, existieren<br />

hinsichtlich der Finanzen Rumors, man erfährt es über den<br />

Latrinenweg. Als ich hierher kam, wusste ich schlussendlich<br />

nicht, was ich ver<strong>die</strong>nen oder eben nicht ver<strong>die</strong>nen werde.<br />

Ich habe einfach gehofft, dass ich mich in den ersten Jahren<br />

einigermassen über Wasser halten kann <strong>und</strong> später ein<br />

einigermassen gutes Auskommen habe. Als ich hierher kam,<br />

war keine konkrete Vorstellung vorhanden. Erst mit der Zeit<br />

hat sich <strong>die</strong>s herausgestellt. Es hat sich herausgestellt,<br />

dass es am Anfang nicht ganz einfach ist, da einem ja <strong>die</strong><br />

Anderen hier nichts abgeben. Man kommt einfach hier hinzu,<br />

<strong>und</strong> danach muss man schauen, <strong>die</strong>s ist einfach das Private.“<br />

610


Genauso wie Victor H. versucht auch Bernd A., sein Einkommen zu legimitie-<br />

ren <strong>und</strong> scheut nicht davor zurück, <strong>die</strong>ses mit dem eines Gymnasiallehrers zu<br />

vergleichen: „Und in eine Privatklinik, das muss ich nun einfach<br />

noch aufnehmen, in eine Privatklinik kann man nicht<br />

gehen <strong>und</strong> danach erwarten, dass man viel ver<strong>die</strong>nt. Man ver<strong>die</strong>nt<br />

schon viel, aber ... Ich muss zwei Sachen sagen, im<br />

Prinzip habe ich jetzt einen Lohn, der etwa gleich hoch ist<br />

wie der eines Gymnasiallehrers. Wenn Sie seine 40 oder 42<br />

St<strong>und</strong>en anschauen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se mit meinen St<strong>und</strong>en vergleichen,<br />

ich arbeite heute noch immer 60 St<strong>und</strong>en pro Woche,<br />

min<strong>des</strong>tens ... Und wenn Sie schauen, dann haben Sie als<br />

Angestellter Ihren Nettolohn, <strong>die</strong> Sozialabgaben, Versicherungen;<br />

ich habe eine Haftpflichtversicherung, <strong>die</strong> 10‘000<br />

Franken pro Jahr ist. Meine AHV bezahle ich selber, meine<br />

Pensionskasse bezahle ich selber, meine Krankentaggeldversicherung<br />

bezahle ich selber <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>. Man sagt, dass<br />

wenn sie angestellt sind, nein, wenn sie selbstständig<br />

sind, dass sie 50 Prozent mehr ver<strong>die</strong>nen können als der<br />

Angestellte. Also 100‘000 als Angestellter, 150‘000 als<br />

Selbstständiger, dass sie erst dann effektiv das gleiche<br />

Einkommen haben. Wenn ein Leitender oder ein Chef im Kantonsspital<br />

300‘000 oder 400‘000 hat, dann darf ich 450‘000<br />

bis 600‘000 ver<strong>die</strong>nen, damit wir auf dem gleichen Niveau<br />

sind, das muss man vergleichen. Im Kantonsspital haben sie<br />

kein Risiko mit der Haftung, hingegen habe ich hier, wenn<br />

etwas passiert, dann kommt meine Haftpflicht. Klar bin ich<br />

geschützt <strong>und</strong> finanziell gedeckt mit einer Haftpflicht,<br />

aber da hafte ich mit dem Namen. Im Kantonsspital gibt es<br />

natürlich den ganzen Apparat. Das ist ein sehr grosser Unterschied.<br />

Sie sind vielmehr an der Front <strong>und</strong> irgendwo muss<br />

<strong>die</strong>ses Risiko abgedeckt sein.“ Zumeist gestaltet sich seitens der<br />

Leaver <strong>die</strong> Legitimation <strong>des</strong> eigenen marktorientierten Ver<strong>die</strong>nstes so aus, dass<br />

<strong>die</strong> im öffentlichen Spital tätigen Kaderärzte, mit denen <strong>die</strong> Leaver teilweise<br />

ihre Ausbildung wie auch ihren Arbeitsalltag im öffentlichen Spital absolvierten,<br />

<strong>und</strong> ihre Arbeitsweise einer Demontage unterzogen werden. Die vermeintliche<br />

Selbstständigkeit <strong>und</strong> <strong>die</strong> ganzheitliche Patientenbetreuung werden hochgehalten,<br />

hingegen werden <strong>die</strong> hierarchischen Strukturen, <strong>die</strong> dazu beitrugen,<br />

dass <strong>die</strong> Leaver ihre Expertise erlangten, als hinderlich abgetan <strong>und</strong> zugleich<br />

auch wieder als förderlich empf<strong>und</strong>en, da <strong>die</strong> Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses<br />

ohne Autoritätsstrukturen <strong>und</strong>enkbar sei. Die Kontinuität der Widersprüche<br />

611


offenbart sich auch im nachfolgenden Unterkapitel.<br />

5.3.3.2 Der Markt als Orientierungsrahmen<br />

Die vorhergehenden Abschnitte sollten einen ersten Einblick in <strong>die</strong> Gehalts-<br />

strukturen gewähren, hierbei wurde bereits darauf hingewiesen, dass unter-<br />

schiedliche Anstellungsverhältnisse bzw. Anstellungsbedingungen zwischen<br />

öffentlichen <strong>und</strong> privaten Krankenhäusern, in Privatkliniken auch innerhalb<br />

der Krankenhausstrukturen <strong>und</strong> auch zwischen öffentlichen Spitälern existie-<br />

ren, was auch verschiedenste Lohnsysteme verdeutlicht haben. Einige der be-<br />

fragten Kaderärzte berichteten über erste Angleichungstendenzen zwischen<br />

den beiden Institutionen, so beispielsweise auch Klaus K., der sich im Vergleich<br />

zu anderen Kollegen auf einen detaillierten Einblick stützen kann, da seine Frau<br />

selber mal im Privatspital tätig war: „Fast alle Spezialisten, <strong>die</strong> in<br />

der Umgebung hier eine Praxis hatten, sind bzw. waren Belegärzte<br />

am Privatspital. Wie sie sehen geschieht nun eine<br />

Angleichung der Systeme. Dieser Prozess hat aufgr<strong>und</strong> von<br />

Umstrukturierungen <strong>und</strong> neuen Eigentümerverhältnissen der<br />

Privatklinik eingesetzt. Sie haben nun neu Leute angestellt.<br />

Es gibt wohl noch immer Belegärzte, aber es gibt<br />

zugleich auch angestellte Spezialisten. Diese sind also<br />

keine Belegärzte mehr wie früher, sondern sind angestellt,<br />

wie ich hier auch. Sie haben dort einen Raum, ein Ambulatorium.<br />

Es gab eine Phase, in welcher einzelne Belegärzte<br />

begannen ihre Praxis im Privatspital vor Ort einzurichten.<br />

Das Spital hat dann noch jemand eingestellt, der innerhalb<br />

der Praxis tätig war. Es gab dann eben gewisse Mischsysteme,<br />

in welchen gewisse Ärzte angestellt <strong>und</strong> andere als Belegärzte<br />

tätig waren. Innerhalb der Spezialität, in welcher<br />

meine Frau tätig ist, <strong>die</strong>s weiss ich sehr gut, da meine<br />

Frau dort gearbeitet hat, war es so, dass sie beispielweise<br />

angestellt war, andere hatten eine Umsatzbeteiligung. Obwohl<br />

man das Gleiche tat, gab es dennoch x verschiedene<br />

Verträge. Das basiert auch auf Anreizen. Das System ist<br />

sehr <strong>und</strong>urchsichtig <strong>und</strong> unterschiedlich. Der Vorteil ist,<br />

dass wenn man dorthin geht, dass man verhandeln kann. Vor<br />

allem wenn sie einen wollen <strong>und</strong> sie ins System hinein passen,<br />

können sie zu verhandeln beginnen. Je mehr sie einen<br />

wollen, <strong>des</strong>to mehr kann man für sich rausholen. Umso mehr<br />

kann man sagen, ob man als Belegarzt tätig sein möchte oder<br />

eben als Angestellter, was seitens <strong>des</strong> Spitals zusehends<br />

612


der Fall ist. Es kommt auf das Bedürfnis <strong>des</strong> Spitals an,<br />

<strong>und</strong> gleichzeitig sind sie eben auch sehr flexibel. Sie können<br />

so oder so oder so anstellen. Hier existieren Anstellungsbedingungen,<br />

<strong>die</strong> für alle gleich sind. Diese Bedingungen<br />

gelten noch vom Kanton her. Sie sind für alle gleich,<br />

was eben auch so übernommen wurde. Jetzt ist man auch daran<br />

für gewisse, eben für <strong>die</strong>se, <strong>die</strong> man schon hat ... oder,<br />

<strong>die</strong>sen holen wir noch rein.“ Klaus K. verdeutlicht exemplarisch, dass<br />

es zwei Sorten von Ärzten an Privatspitälern gibt, <strong>die</strong>jenigen Ärzte, <strong>die</strong> vom<br />

Privatspital gewollt sind, bei denen das Spital keine Kosten für <strong>die</strong> Abwerbung<br />

scheut <strong>und</strong> es sich auch bereit erklärt über <strong>die</strong> Entlohnung zu verhandeln, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>jenigen Ärzte, <strong>die</strong> sich aktiv um eine Stelle im Privatspital bewerben <strong>und</strong><br />

entweder genommen werden oder nicht, aber zumeist schlechtere Anstellungsbedingungen<br />

antreffen als erstere. Dieser Prozesse hat Adrian L. anhand der<br />

Ausführungen zu seinen Anstellungsbedingungen detailliert illustriert, was im<br />

vorhergehenden Abschnitt bereits thematisiert wurde. Der CEO einer der grössten<br />

Privatklinikgruppen der Schweiz, Louis B., erörtert folgende Begründung<br />

für unterschiedliche Anstellungsstrukturen: „Wenn der Anästhesist meinen<br />

Hut auf hat, dann vertritt er <strong>die</strong> Unternehmensinteressen,<br />

wenn er <strong>die</strong>s nicht tut, dann muss er nicht mehr bei<br />

uns arbeiten. Und dann wird der dem Chirurgen gegenüber<br />

auch sagen: mein Fre<strong>und</strong>, hör mal zu, wir haben hier um halb<br />

neun gesagt, <strong>und</strong> du kommst nun erst um zehn vor neun, das<br />

geht einfach nicht. Nächstes Mal um halb neun, ansonsten<br />

mache ich keine Narkose mehr für dich. Das kann er mit dem<br />

Spital im Rücken sagen, als selbstständiger Unternehmer<br />

wird er <strong>die</strong>s eher nicht sagen, dann ist er eher der Dienstleister<br />

für den Chirurgen.“ Dementsprechend stellt <strong>die</strong> Anstellung<br />

jener Fachärzte, <strong>die</strong> über alle Fachgebiete hinweg ihr ärztliches Wissen <strong>und</strong><br />

Können anbieten, einen reinen Schutzmechanismus dar, der <strong>die</strong>se Fachärzte vor<br />

dem dominanten <strong>und</strong> konkurrenzierenden Verhalten ihrer Kollegen schützen<br />

soll. Louis B. verdeutlicht eine Unternehmenstreue, <strong>die</strong> er bei <strong>die</strong>sen Fachärzten<br />

voraussetzt, <strong>und</strong> dementsprechend auch eine Markttreue, der <strong>die</strong> Ärzte gerecht<br />

werden müssen; tun sie <strong>die</strong>s jedoch nicht, scheint eine Entlassung unvermeidlich.<br />

Louis B. verschleiert <strong>die</strong>se Treue dem Unternehmen gegenüber <strong>und</strong> den<br />

<strong>die</strong>sem zugr<strong>und</strong>e liegenden Gesetzen, denen der Facharzt nachzukommen hat,<br />

indem er den vermeintlichen, seitens der Spitalleistung gewährleisteten Schutz<br />

<strong>die</strong>ser Fachkräfte hervorhebt. Hierbei muss aber bedacht werden, dass im vor-<br />

613


liegenden Beispiel der Chirurg mit seinem Patientenkontakt, im Rahmen <strong>des</strong>sen<br />

er den Patienten von seinen Fähigkeiten überzeugen muss (Werben um den<br />

K<strong>und</strong>en), während<strong>des</strong>sen er auch eine Beziehung zu ihm aufbaut, <strong>und</strong> mit<br />

seiner Praxis im Privatspital einträgliche Einnahmen für das Spital generiert,<br />

<strong>die</strong> ihm umso mehr Macht zukommen lassen, je höher <strong>die</strong> Einnahmen ausfallen,<br />

was auf eine eher utopische Vorstellung von Louis B. verweist. Denn es<br />

wird zumeist demjenigen Gehör geschenkt, der <strong>die</strong> Einnahmequelle darstellt<br />

<strong>und</strong> der damit auch über ein im Vergleich zu anderen Kollegen grösseres<br />

Machtpotential verfügt. Klaus K. verdeutlicht eine Zunahme an arbeitsvertraglich<br />

geregelten Arbeitsverhältnissen an Privatkliniken <strong>und</strong> stellt <strong>die</strong> Vermutung<br />

auf, dass das Spital eine erhöhte Kontrolle über <strong>die</strong> Einnahmen ausüben möchte:<br />

„Im Unterschied zur Privatklinik, wo ein Belegarztsystem<br />

herrscht, beim Belegarztsystem spielt der Umsatz eine Rolle.<br />

Dort geht nur ein Teil ... Die nahe gelegene Privatklinik<br />

hat gesagt, du musst für deinen Patienten etwas abliefern.<br />

Du erhältst alles, aber du musst dafür, dass er hier<br />

liegen darf, etwas abliefern. Die Rechnung hat der Arzt<br />

gestellt <strong>und</strong> davon etwas an das Spital abgegeben. Das Interessante<br />

ist nun aber, dass an <strong>die</strong>sem Privatspital nun dasselbe<br />

passiert. Sie stellen nun immer mehr Ärzte an <strong>und</strong><br />

bezahlen dann den Arzt. Folglich nicht mehr, dass der Arzt<br />

das Spital bezahlt.“ Der Leaver Victor H. stimmt Klaus K. hinsichtlich<br />

<strong>des</strong> Wandels, der in Bezug auf <strong>die</strong> Anstellungsbedingungen im Gange sei, zu:<br />

„Bis anhin war es ein Belegarztspital. Nun haben sie begonnen<br />

immer mehr <strong>und</strong> mehr Ärzte anzustellen. Die Ärzte eines<br />

gesamten Bereichs, einer Spezialität, beispielsweise werden<br />

ab erstem Januar angestellt. Sie erhalten dann natürlich<br />

Angestelltenverträge, wie <strong>die</strong>se dann aber ausschauen, weiss<br />

ich nicht genau. Es gibt vielleicht dann gewisse, <strong>die</strong> besser<br />

ver<strong>die</strong>nen als bisher <strong>und</strong> vielleicht auch solche, <strong>die</strong><br />

deutlich weniger ver<strong>die</strong>nen, das kann schon sein, das weiss<br />

ich aber nicht genau. Da ist auch ein Wandel im Gange.“ Die<br />

möglichen Gründe, <strong>die</strong> sich hinter <strong>die</strong>sem Wandel verbergen, veranschaulicht<br />

Klaus K. folgendermassen: „Vorher konnte der Arzt mehr herausholen<br />

<strong>und</strong> nun will das Spital mehr herausholen. Ist ganz einfach<br />

oder? Wenn sie abliefern müssen, dann können sie verhandeln<br />

<strong>und</strong> folglich kann der Arzt entscheiden, ob er nochmals<br />

einen Patienten annimmt <strong>und</strong> nochmals <strong>und</strong> nochmals, so<br />

kommt immer mehr rein. Wenn er aber einfach bezahlt wird,<br />

614


dann erhält er einfach einen Lohn.“ Diesen Aussagen <strong>und</strong> den<br />

nachfolgenden Ausführungen <strong>des</strong> Leavers Victor H. ist <strong>die</strong> Verdeutlichung<br />

einer Unternehmenskultur gemein, <strong>die</strong> sich massgeblich an der Vulgarität <strong>des</strong><br />

Marktgeschehens <strong>und</strong> der ihr zugr<strong>und</strong>e liegenden Wirtschaftslogik orientiert.<br />

Die wirtschaftlichen Einnahmen scheinen der zentrale Anker zu sein, um den<br />

sich das Boot Privatspital <strong>und</strong> <strong>die</strong> darin tätigen Experten, <strong>die</strong> Ärzte, drehen. Die<br />

Geldform stellt dementsprechend das Maximum <strong>die</strong>ser formalen Rechenhaftigkeit<br />

dar, bei Weber hört sich <strong>die</strong>se folgendermassen an: „Formal ,rational‘<br />

soll ein Wirtschaften je nach dem Mass heissen, in welchem <strong>die</strong> jeder rationalen<br />

Wirtschaft wesentliche ,Vorsorge‘ sich in zahlenmässigen, ,rechenhaften‘, Überlegungen<br />

ausdrücken kann <strong>und</strong> ausdrückt (…). Dieser Begriff ist also (…) eindeutig<br />

wenigstens in dem Sinn, dass <strong>die</strong> Geldform das Maximum <strong>die</strong>ser formalen<br />

Rechenhaftigkeit darstellt (…).“ (Weber, 1921/1972, S. 45) Victor H., der als<br />

Belegarzt gemeinsam mit seinen Arztkollegen an einem Privatspital ein Fachzentrum<br />

führt, scheint <strong>die</strong> Anstellungsbedingungen seiner Kollegen nicht zu<br />

kennen, was <strong>die</strong> Intransparenz <strong>des</strong> Systems erneut unterstreicht. Er selber beschreibt<br />

seine Bedingungen folgendermassen: „Also ich führe absolut<br />

mein eigenes Unternehmen. Wir sind hier als einfache Gesellschaft<br />

mit einem Verb<strong>und</strong> von Einzelpraxen <strong>und</strong> zwölf<br />

Leuten organisiert. Wir haben hier natürlich auch gemeinsame<br />

Sachen, beispielsweise mieten wir das Haus gemeinsam,<br />

haben das Personal, das wir beschäftigen <strong>und</strong> jeder von uns<br />

hat noch eine persönliche Mitarbeiterin. Alle <strong>die</strong>se gemeinsamen<br />

Sachen werden aus dem Gesamtvolumen bezahlt. Wir haben,<br />

zumin<strong>des</strong>t was <strong>die</strong> Unkosten anbelangt, ein sogenanntes<br />

Pooling. Wir bezahlen gemeinsam alle Mitarbeiter, wir bezahlen<br />

gemeinsam alle infrastrukturellen Anschaffungen,<br />

Miete etc.“ Im Hinblick auf <strong>die</strong>se Äusserung werden Victor H. <strong>die</strong> Streitereien<br />

innerhalb der Zentren, über welche der Rückkehrer Bernard S. exemplarisch<br />

berichtet hat, nicht fremd sein, da es dabei unter anderem um <strong>die</strong> vermeintlich<br />

gerechte Aufteilung der Fixkosten ging.: „Aber es ging sicherlich<br />

nur ums Geld. Die hatten irgendeinen Schlüssel, <strong>die</strong><br />

gesamte Infrastruktur, wer trägt wie viel zu den Kosten,<br />

also Fixkosten wie Praxis, Sekretariat, Werbung <strong>und</strong> all<br />

<strong>die</strong>ses Zeugs bei. Irgendjemand hat dann einfach gesagt, ich<br />

bezahle zu viel. So läuft das. Es ist effektiv so, dass es<br />

nicht nur in <strong>die</strong>sem einen Zentrum zu einem solchen Knatsch<br />

kam, sondern auch in anderen sogenannten Zentrenten war es<br />

dasselbe. (…) Dies ist lediglich eine schöne Etikette <strong>und</strong><br />

615


stimmt überhaupt nicht. Die arbeiten überhaupt nicht miteinander.<br />

Deshalb bin ich aus allen Wolken gefallen, als ich<br />

<strong>die</strong>s realisiert habe.“ Gemäss Bernard S. wurden <strong>die</strong> Streitereien nicht<br />

beigelegt, sondern zu sogenanntem Juristenfutter. Hierzu beachte man <strong>die</strong><br />

nächsten Äusserungen von Victor H., <strong>die</strong> verdeutlichen, dass auch er <strong>und</strong> seine<br />

Kollegen im Prozess <strong>die</strong>ses Wandels Verträge mit dem Privatspital einfordern:<br />

„Wir sind Belegärzte. Wir sind daran einen Arbeitsvertrag<br />

auszuarbeiten, der aber noch nicht geboren ist.“ Auf <strong>die</strong> Frage,<br />

weshalb <strong>die</strong>se Verträge noch nicht ausgearbeitet wurden, antwortet er folgendermassen:<br />

„Juristenfutter. Das Zentrum ist vor zwei<strong>und</strong>zwanzig,<br />

drei<strong>und</strong>zwanzig Jahren gegründet worden. Am Anfang gab<br />

es zwischen den Gründerpartnern einen wenig seitigen Vertrag.<br />

Die Ärzte, <strong>die</strong> aber später dazukamen, haben keinen<br />

Vertrag erhalten. Ich bin seit zehn Jahren hier <strong>und</strong> habe<br />

noch nie irgendwas unterschrieben <strong>und</strong> arbeite hier einfach<br />

als Belegarzt. (…) Von daher war es einfach ein ungeschriebenes<br />

Gesetz, dass wir hier drüben quasi das Exklusivrecht<br />

für unsere Spezialisierung haben. Rein rechtlich kann <strong>die</strong><br />

Klinik nun sagen, wir stellen hier drüben fünf Spezialisten<br />

unseres Gebietes an <strong>und</strong> machen einen Konkurrenzbetrieb auf,<br />

was uns natürlich schwer gegen den Strich gehen würde. Auf<br />

der anderen Seite könnten wir sagen, falls ihr nicht mehr<br />

wollt, dann gehen wir an ein anderes Privatspital, um <strong>die</strong>se<br />

oder jene Untersuchung vorzunehmen, oder wir schauen, dass<br />

unsere Spezialisten anderswo operieren können. Aber das ist<br />

ja auch nicht im Interesse der Klinik, <strong>des</strong>halb ist es schon<br />

im gegenseitigen Interesse der Belegärzte, also nicht nur<br />

von uns, sondern von allen Belegärzten, dass wir einen<br />

Zentrumsvertrag erhalten, damit es doch einigermassen auf<br />

einer rechtlichen Basis steht. Natürlich gibt es da unterschiedliche<br />

Interessen, was zur Folge hat, dass <strong>die</strong>s nun<br />

noch etwas Juristenfutter ist. Wir nehmen aber schon an,<br />

dass es im Laufe <strong>des</strong> nächsten Jahres unter Dach <strong>und</strong> Fach<br />

sein wird. Ich glaube, dass <strong>die</strong> Klinik ein gewisses Interesse<br />

daran hat, dass sie verlässliche Partner hat, <strong>und</strong> wir<br />

natürlich auch, damit sie nicht einfach etwas machen.“ Insbesondere<br />

<strong>die</strong> Leaver Victor H. <strong>und</strong> Adrian L. haben in ihren Ausführungen<br />

kontinuierlich darauf hingewiesen, dass eine zu starke <strong>Ökonomisierung</strong> der<br />

Medizin gr<strong>und</strong>legenden Schaden anrichten könnte, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s insbesondere im<br />

Hinblick auf <strong>die</strong> Qualität der ärztlichen Leistungserbringung. Die Aussage von<br />

616


Victor H. verdeutlicht einerseits den Wandel, der sich im Privatspital vollzieht,<br />

<strong>und</strong> andererseits das Marktgeschehen, auf welchem der Anbieter sein Produkt<br />

mit den bestmöglichen Konditionen versucht zu verkaufen. Wird von Konkur-<br />

renz innerhalb der Ärzteschaft <strong>und</strong> zwischen den Fachzentren gesprochen, so<br />

zeugt <strong>die</strong> Aussage von Victor H. zugleich von einem offensichtlichen Kräfte-<br />

messen zwischen der Ärzteschaft <strong>und</strong> der Spitalleitung, wobei es hierbei nicht<br />

um <strong>die</strong> optimalste Versorgung <strong>des</strong> Patienten geht, sondern um <strong>die</strong> attraktivste<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlich ertragreichste Platzierung der Ärzteteams innerhalb <strong>des</strong><br />

Privatspital-Konzerns. Das Privatspital seinerseits versucht für <strong>die</strong> Investoren<br />

<strong>und</strong> Anteilseigner den bestmöglichen Gewinn zu erzielen. Auch der Rückkehrer<br />

Karl K., der an einem Privatspital in Deutschland tätig war, kennt <strong>die</strong> profitorientierte<br />

Ausrichtung der Privatspitäler <strong>und</strong> <strong>die</strong> Konsequenzen für <strong>die</strong><br />

Patienten: „Die Privatklinik war eine Geldmaschine, <strong>und</strong> das<br />

hat man sehr klar gespürt. Wenn man dort nicht den Umsatz<br />

... Wir hatten jede Woche Controllinggespräche, <strong>und</strong> der<br />

Umsatz wurde jede Woche analysiert <strong>und</strong> kontrolliert. Das<br />

war ein sehr enges Korsett <strong>und</strong> dort sind nicht so <strong>die</strong> Medizinischen<br />

..., sie sind schon im Vordergr<strong>und</strong> gestanden, das<br />

ist klar, aber man hat es von der Klinikleitung schon gerne<br />

gesehen, vor allem als <strong>die</strong>se dann gewechselt hat, wenn man<br />

halt einen Herzkatheter dann doch noch gemacht hat, der<br />

nicht notwendig war, aber Geld gebracht <strong>und</strong> <strong>die</strong> Maschine<br />

ausgelastet hat. Für solche Sachen habe ich mich nie hergegeben,<br />

nie, das war für mich immer ein Horrorszenario, wenn<br />

dort was passiert wäre, ich hinterher vor Gericht stehen<br />

würde <strong>und</strong> dem Vorwurf ausgesetzt wäre, dass ich einen nicht<br />

indizierten Eingriff vorgenommen hätte. Das habe ich nie<br />

gemacht. Da blieb ich immer seriös, <strong>und</strong> das war auch gut<br />

so, das hat mir einen guten Ruf eingebracht. Wir hatten<br />

sehr viele prominente Patienten, <strong>die</strong> mir dann auch vertraut<br />

haben.“ Dieses Zeugnis soll ein weiteres Mal verdeutlichen, wie einerseits<br />

Anstellungsbedingungen <strong>und</strong> Gehaltsstrukturen <strong>und</strong> andererseits <strong>die</strong> gewinnmaximierende<br />

Ausrichtung eines Spitals <strong>die</strong> Erbringung ärztlicher Leistungen<br />

dahingehend radikal beeinflussen kann, dass derjenige Arzt, der an seinem<br />

Ethos festhält <strong>und</strong> sich seiner Macht innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung<br />

bewusst ist, sich für keinen anderen Ausweg als den aus dem Privatspital entscheiden<br />

kann.<br />

Wie zu Beginn <strong>des</strong> Kapitels bereits erwähnt wurde, sieht sich auch <strong>die</strong> Ärzte-<br />

617


schaft <strong>des</strong> öffentlichen Spitals Anpassungen in ihren Lohnstrukturen ausge-<br />

setzt. Klaus K. erläutert, inwiefern <strong>die</strong>se Strukturen das ethische Selbstver-<br />

ständnis <strong>des</strong> Kaderarztes eines öffentlichen Spitals <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>die</strong>sem zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden Handlungsmaximen beeinflussen können: „Bevor eine Umsatzbeteiligung<br />

vereinbart wurde, wurde ein Drittel <strong>des</strong> Lohnes<br />

durch sie selber generiert. Jeder hat für sich in seinem<br />

Bezirk geschaut, wie mach ich das nun mit meinem Lohn <strong>und</strong><br />

so. Und jetzt ist es ein Angestelltenverhältnis mit dem<br />

Ziel, wie kann man mit dem gesamten Unternehmen am meisten<br />

Gewinn herausholen. Und vorher war es individuell. Sie<br />

konnten also sagen, ich bin nun nicht auf Gewinnmaximierung<br />

orientiert, ich will einfach gute Medizin tätigen, <strong>und</strong><br />

falls der Lohn <strong>des</strong>halb tiefer ist, dann ist mir <strong>die</strong>s egal.“<br />

Dass ein solches System, welches eine anscheinend stark leistungsorientierte<br />

<strong>und</strong> massgeblich durch den Kaderarzt beeinflussbare Komponente beinhaltet,<br />

auch zum gegenteiligen Verhalten animiert, offenbart Klaus K. mit folgenden<br />

Worten: „Es gab Kollegen, <strong>die</strong> anhand <strong>die</strong>ses Systems unnatürlich<br />

abgesahnt haben. Das ist klar.“ Klaus K. räumt jedoch ein,<br />

dass <strong>die</strong>ses Absahnen nur für all jene möglich war, <strong>die</strong> einen grossen Fachbereich<br />

betreuten <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mitarbeiter zu einem profitorientierten Verhalten anhalten<br />

konnten. Die heutigen, überwiegend fixen Gehaltsstrukturen seien möglicherweise<br />

als Gegenwirkung gedacht. Sie stossen aufgr<strong>und</strong> ihrer fixen Zusammensetzung<br />

auf grossen Anklang, was er folgendermassen erläutert:<br />

„Jetzt haben wir ein Angestelltenverhältnis mit einem variablen<br />

Lohn, der aber in der Regel fix ist. Wir machen nun<br />

Medizin. Man diskutiert über <strong>die</strong> Zahlen, <strong>die</strong> unser Bereich<br />

liefert oder über <strong>die</strong> Kosten, <strong>die</strong> eine Stelle verursacht,<br />

was auch richtig ist. Aber wir befürchten, dass inskünftig<br />

<strong>die</strong> ökonomischen Interessen viel mehr im Vordergr<strong>und</strong> stehen<br />

werden. (…) Vielen auf unserer Stufe der Leitenden Ärzte<br />

sind <strong>die</strong> fixen Strukturen schon recht, da wir nicht unter<br />

Druck stehen <strong>und</strong> am Ende <strong>des</strong> Monates unseren fixen Lohn<br />

erhalten. Ziel ist es aber <strong>die</strong>ses System bonusmässig wieder<br />

zu ändern.“ Es scheint folglich, dass, auch wenn stark leistungsorientiert<br />

ausgerichtete Gehälter <strong>die</strong> Möglichkeit einer höheren Gehaltgenerierung gewähren,<br />

<strong>die</strong>se mit einem erhöhten finanziellen Druck <strong>und</strong> ansteigenden Leistungsdruck<br />

einhergehen <strong>und</strong> womöglich verstärkt zu Handlungen animieren,<br />

<strong>die</strong> dem Dienst am Gemeinwohl gegensätzlich sind, wie auch folgende Aussage<br />

618


von Andreas L. verdeutlicht: „Und Sie müssen beispielsweise auf<br />

der Chirurgie operieren bzw. Sachen machen, nur weil es<br />

Geld gibt. Hier muss ich nicht Sachen machen, von denen ich<br />

nicht überzeugt bin. Ich habe Ende Monat einen Lohn <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong>s unabhängig davon, ob ich <strong>die</strong>s nun operiere oder<br />

nicht.“<br />

Andere Kaderärzte wie Joachim A. sehen in der Erfolgsbeteiligung einen unmittelbaren<br />

Anreiz für <strong>die</strong> tägliche Arbeitsleistung, dabei spricht Joachim A. <strong>die</strong><br />

bereits mehrmals thematisierten Pools an, <strong>die</strong> zumeist aus den Einnahmen der<br />

stationär erbrachten Leistungen an Zusatzversicherten bestehen: „Man hat ja<br />

eine Mischung zwischen fachlich interessanten Fällen <strong>und</strong><br />

der Routine, <strong>die</strong> einem als Kaderarzt weniger interessiert,<br />

<strong>die</strong> aber zum gesamten aber auch zum eigenen finanziellen<br />

Erfolg beiträgt. In einem solchen Falle ist man doch ganz<br />

anders motiviert. Wenn es einfach in einen Pool fliesst, so<br />

beginnt man doch ganz klar zu selektieren, was man macht.<br />

Man kann sich gar nicht so einsetzen, wenn man keine unmittelbare<br />

Erfolgsbeteiligung hat. Das kann doch kein Mensch!“<br />

Es scheint, dass im Kantonsspital, in welchem Joachim A. den Chefarztposten<br />

innehat, keine Poollösungen existieren bzw. abgeschafft wurden, was darauf<br />

schliessen lässt, dass <strong>die</strong> Honorare ad personam zugestanden werden <strong>und</strong><br />

derjenige Arzt mehr ver<strong>die</strong>nt, der <strong>die</strong> entsprechenden Leistungen erbringt.<br />

Dass <strong>die</strong> Leistungen für den zusatzversicherten Patienten, für welchen ein Honorar<br />

erwirtschaftet werden kann, zumeist von <strong>Chefärzte</strong>n oder Leitenden<br />

Ärzten erbracht werden, verschweigt Joachim A. <strong>und</strong> fügt hinzu: „Damals,<br />

sowohl hier als auch an verschiedenen anderen Orten, war es<br />

doch so, dass an jedem einzelnen Patienten, an dem man persönlich<br />

<strong>und</strong> selber als Kaderarzt seine Arbeit verrichtet<br />

hat, man auch ver<strong>die</strong>nt hat. Man konnte wohl über den Prozentsatz<br />

diskutieren, aber es floss nicht irgendwohin, <strong>und</strong><br />

man muss dann auch nicht mit demjenigen teilen, welcher ein<br />

fauler Sack ist <strong>und</strong> um fünf Uhr nach Hause geht. Verstehen<br />

Sie? Also das dünkt mich schon sehr wichtig.“ Er fügt ergänzend<br />

hinzu, dass vermutlich <strong>die</strong> fixen Gehaltsstrukturen wesentlich zur Abwanderung<br />

von Ärzten aus dem öffentlichen Spital beitragen, wodurch er<br />

hauptsächlich versucht, seine Orientierung an der ökonomischen Dimension<br />

seines ärztlichen Handelns zu legitimieren: „Ich bin schon der Meinung,<br />

dass sie viel fixere Gehälter haben <strong>und</strong> wesentlich weniger<br />

619


am einzelnen Patienten ver<strong>die</strong>nen. Ich bin der Meinung, dass<br />

sie Fixlöhne haben. Vielleicht irre ich mich auch. Gemäss<br />

dem letzten Stand, wir wollen nun auch nicht immer über das<br />

Geld sprechen, aber gemäss dem letzten Stand ver<strong>die</strong>nen wir<br />

doch noch immer deutlich mehr als <strong>die</strong> Kollegen in anderen<br />

Kantonen. Zu seiner Zeit habe ich mich mit einem Fre<strong>und</strong>,<br />

der dann das Kantonsspital verlassen hat, ein Neurologe,<br />

etwas ausgetauscht. Dies ist das Aktuellste, das ich wirklich<br />

weiss. Er hat mich gebeten meine Zahlen zu nennen <strong>und</strong><br />

meine Bedingungen, danach verliess er <strong>die</strong>ses Kantonsspital.“<br />

Der Aussage von Joachim A. entgegnen würde beispielsweise der CEO<br />

Tobias F., der nicht glaubt, dass Ärzte ausschliesslich aus monetären Gründen<br />

das öffentliche Spital verlassen: „Denen kann man zwei Sachen anbieten,<br />

a. eine umfassende Medizin, nicht so ausschnittsweise,<br />

nicht so auf Einzelleistungen getrimmt <strong>und</strong> b. ein kooperatives<br />

Umfeld. Dass man sie auch anständig bezahlen muss,<br />

ist klar. Aber nur wegen <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> bleibt keiner am öffentlichen<br />

Spital. Ich behaupte auch, dass nur wegen <strong>des</strong><br />

Gel<strong>des</strong> keiner ans Privatspital geht. Das sind so <strong>die</strong>se Sachen.<br />

Sie müssen fachlich etwas ganz Hochstehen<strong>des</strong> bieten,<br />

sie müssen sicherstellen, dass sie Partner auf Augenhöhe<br />

haben, <strong>und</strong> sie müssen Leute haben, <strong>die</strong> Freude besitzen anstatt<br />

kompetitiv, kooperativ zu arbeiten. Das ist schwierig,<br />

aber das ist <strong>die</strong> Herausforderung.“ Gemäss Tobias F. gehören<br />

ein kooperatives <strong>und</strong> fachlich herausfordern<strong>des</strong> Umfeld genauso zu einer<br />

attraktiven Stelle am öffentlichen Spital wie <strong>die</strong> monatliche Entlohnung. Dennoch<br />

entscheiden sich zusehends auch Kaderärzte für <strong>die</strong> Abwanderung, wobei<br />

im Nachhinein einige Leaver ihre geringen Kenntnisse hinsichtlich <strong>des</strong> rivalisierenden<br />

Verhaltens einräumen mussten. Der Mangel an anspruchsvoller Medizin,<br />

<strong>die</strong> schwache Forschungsorientierung <strong>und</strong> das stetige ergebnis- <strong>und</strong> profitorientierte<br />

Ausrichten <strong>des</strong> eigenen Handelns unterliegen womöglich einem<br />

Verdrängungseffekt oder der Erkenntnis, dass <strong>die</strong>s nun mal zum „Package“<br />

Privatspital gehört. Dass gerade <strong>die</strong>se Kompetenten für einen berufenen Arzt<br />

einen massiven Einschnitt in seinen Habitus darstellen, kann nicht verleugnet<br />

werden, durch <strong>die</strong> stetige Konfrontation mit dem sozialen Umfeld <strong>des</strong> Privatspitals,<br />

mit Kollegen, <strong>die</strong> ihrem Habitus dem Marktgeschehen kontinuierlich<br />

angepasst haben, <strong>und</strong> mit dem vermeintlichen Faktum, dass auf den Schritt<br />

zurück ins öffentliche Spital womöglich eine Degra<strong>die</strong>rung folgt, ziehen sie es<br />

vor, dem Nachahmungseffekt zu unterliegen <strong>und</strong> ihr Handeln am Markt <strong>und</strong><br />

620


<strong>des</strong>sen Gesetzen auszurichten.<br />

Kommen wir nun auf <strong>die</strong> Aussage von Joachim A. <strong>und</strong> den Pools zurück, so<br />

verschweigt er <strong>die</strong> Tatsache, dass <strong>die</strong> Pools auch dazu beitrugen, dass Mitarbeitern<br />

aus der Pflege oder Kollegen auf Stufe Oberarzt oder Assistenzarzt, <strong>die</strong><br />

sich erheblich fürs Funktionieren <strong>des</strong> Spitalbetriebs einsetzen, eine zusätzliche<br />

Entlohnung zugesprochen werden konnte. Er zieht es vor, <strong>die</strong> möglichen negativen<br />

Effekte, wie <strong>die</strong> finanzielle Beteiligung jener, <strong>die</strong> wenig Einsatz leisten,<br />

hervorzuheben. Sein Kollege Hans S., der am selben Spital wie Joachim A. tätig<br />

ist, bedauert <strong>die</strong> Auflösung der Poolstrukturen, worauf Hans S. im Anschluss<br />

an das aufgenommene Gespräch nochmals explizit hinweist: „Ich bin für<br />

fixe Löhne, <strong>die</strong>se würden das Anreizsystem untermauern <strong>und</strong><br />

den Arzt seine Kerntätigkeit ausführen lassen. Leider wurden<br />

<strong>die</strong> Poollösungen aufgelöst, was ich sehr schlecht finde.<br />

Damals konnte ich noch 20% an <strong>die</strong> Oberärzte, Assistenzärzte,<br />

Pflegepersonal <strong>und</strong> meiner Chefsekretärin geben, das<br />

ist heute nicht mehr möglich. Seit der Umwandlung <strong>des</strong> Spitals<br />

in eine AG existieren <strong>die</strong>se Poollösungen nicht mehr.<br />

Da jetzt jeder Arzt einem Arbeitsvertrag unterstellt ist,<br />

hat <strong>die</strong> Verwaltung Angst, dass falls ein Oberarzt weniger<br />

als der andere erhält, derjenige der weniger erhält gegen<br />

das Spital klagen könnte. Das glaub ich aber nicht.“ (Gedächtnisprotokoll)<br />

Der Vorwand, dass durch <strong>die</strong> Aufhebung der Pools einheitliche<br />

Gehaltsstrukturen für alle geschaffen werden sollen, um Lohnungerechtigkeiten<br />

begegnen zu können, scheint Hans S. nicht akzeptieren zu wollen, da<br />

er als Chefarzt sich seines Honorars für <strong>die</strong> Behandlung Zusatzversicherter<br />

bewusst ist, den Einsatz seines Teams wertschätzt, <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen auch monetär<br />

belohnen möchte. Der Chefarzt Hans S. zeigte im Gespräch Verständnis für <strong>die</strong><br />

Abwanderung seiner Oberärzte ins Privatspital, da <strong>die</strong> Gehaltsstrukturen im<br />

öffentlichen Spital anscheinend nicht vermögen, mit denjenigen <strong>des</strong> Privatspitals<br />

zu konkurrenzieren: „Hierzu muss man sagen, dass ein guter<br />

Oberarzt bei uns, der einfach in der Kadersituation bei uns<br />

als Oberarzt arbeitet, der aber eine Arbeit macht, <strong>die</strong> in<br />

keinster Weise der Tätigkeit eines Chefarztes oder Leitenden<br />

Arztes nachsteht, dass <strong>die</strong>ser nicht schlechter, aber<br />

einfach ein wenig jünger <strong>und</strong> unerfahrener ist <strong>und</strong> <strong>die</strong> gesamte<br />

Karriereleiter noch nicht erklommen hat. Aber er ist<br />

ein ausgewiesener Fachmann <strong>und</strong> hat bis heute eine jahrelange<br />

Erfahrung im öffentlichen Spital, dazu muss man eben<br />

621


schon sagen, dass der Ver<strong>die</strong>nst <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ver<strong>die</strong>nstmöglichkeiten<br />

bescheiden ausfallen, verglichen mit dem, was man in<br />

einer Privatklinik ver<strong>die</strong>nen kann.“ Vermutlich hängt sein Missmut<br />

auch mit den Gehaltsstrukturen an seinem Kantonsspital zusammen, wo der<br />

variable Lohnanteil scheinbar wesentlich geringer ausfällt als an anderen Kantonsspitälern,<br />

<strong>und</strong> dennoch verlangt er eine Angleichung der Gehälter <strong>des</strong><br />

öffentlichen Versorgungssektors an den Marktpreis, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Privatspitäler vorgeben,<br />

wodurch eine fragwürdige marktorientierte Gleichheit herbeigeführt<br />

werden soll.<br />

Bei Petra S. gelangen <strong>die</strong> Poollösungen noch immer zur Umsetzung, sie bedauert<br />

aber, dass sie ihre nicht-medizinischen Mitarbeiter nicht mehr via <strong>des</strong> Pools<br />

ihres Fachbereichs an den Honorareinnahmen beteiligen kann: „Was ich<br />

schätzen würde, ist, wenn ich einen Einfluss auf <strong>die</strong> Entlohnung<br />

meiner Leute hätte, also der Nichtärzte.“ Die Besoldungsverträge<br />

<strong>die</strong>ser Mitarbeiter seien so ausgerichtet worden, dass eine Beteiligung<br />

ihrerseits nicht mehr erlaubt sei. Die Relevanz <strong>die</strong>ser Pools veranschaulicht<br />

auch der Kollege von Petra S., Otto K., exemplarisch, wobei er betont, wie<br />

wichtig eine Beteiligung der gesamten Ärzteschaft eines Fachbereichs bzw.<br />

einer Klinik sei, um ein Wir-Gefühl <strong>und</strong> ein kooperatives Verhalten zu entwickeln:<br />

„Aber als ich zu Beginn dort ankam, war immer ein Gedränge<br />

um <strong>die</strong> Betten. Es hatte Privatbetten <strong>und</strong> letztlich<br />

hat der Chefarzt immer etwas mehr ver<strong>die</strong>nt, wenn er Privatpatienten<br />

hatte. Das war einfach so eine Regelung. Das hatte<br />

nichts mit der Leistung zu tun. Ob ein Patient schwierig<br />

ist oder nicht, privatversichert oder nicht, unsere Leistung<br />

ist unter Umständen an einem allgemeinversicherten<br />

Patienten viel grösser. Es sind eigentlich <strong>die</strong> medizinischen<br />

Probleme, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Herausforderung darstellen <strong>und</strong><br />

nicht der Versicherungsstatus. Dann gab es einfach solche,<br />

<strong>die</strong> mehr private Betten hatten <strong>und</strong> andere eben weniger.<br />

Dies hatte zur Folge, dass gewisse mehr ver<strong>die</strong>nten als andere.<br />

Dies habe ich sofort beendet <strong>und</strong> habe alles gepoolt.<br />

Es gab dann keine Betten mehr, <strong>die</strong> jemandem gehörten, sondern<br />

<strong>die</strong> Betten gehören nun dem Departement. Wir stellten<br />

eine Person ein, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Bettendisposition erstellt, <strong>und</strong><br />

so wird auch immer vom Bedürfnis <strong>des</strong> Patienten aus entschieden.<br />

Dafür geht auch alles, was wir ver<strong>die</strong>nen, in einen<br />

Topf, so dass keiner ... so ist jeder daran interessiert,<br />

dass <strong>die</strong> Klinik gut läuft, <strong>und</strong> er kann daran auch<br />

622


partizipieren. Und keiner soll sagen können, wenn es mir<br />

gut läuft, dann kriege ich auch mehr, das stimmt eben<br />

nicht. Wir schauen schon <strong>die</strong> Zahlen jeweils an <strong>und</strong> ja, sie<br />

spielen ein wenig eine Rolle, wenn es um <strong>die</strong> Verteilung<br />

geht. Aber das sind keine Boni, das sind geringe, kleine<br />

Adaptionen, <strong>die</strong> da stattfinden. Und so hat auch plötzlich<br />

jeder das Interesse, dass es dem Anderen gut geht. So trägt<br />

auch jeder mehr zum Topf bei. Das hat sehr viel beruhigt.“<br />

Dieses Unterkapitel sollte verdeutlichen, wie stark <strong>die</strong> Ausgestaltung der Gehaltsstrukturen,<br />

insbesondere in Bezug auf den variablen Lohnanteil, <strong>die</strong> Erfolgsbeteiligung<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Poolzusammensetzung, <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen <strong>und</strong><br />

dabei besonders den ethisch-moralischen Anspruch, der ein Arzt an sich <strong>und</strong><br />

seinen Dienst stellen sollte, beeinflussen kann. Die <strong>Ökonomisierung</strong> der Rahmenbedingungen<br />

hat ein dem Wirtschaftsalltag entsprechen<strong>des</strong> Vorgehen gewählt,<br />

das Ansetzen an einer der vermeintlich grössten Kostenstellen, der Gehälter<br />

ihrer Mitarbeiter. Hierbei hat es nicht in erster Linie <strong>die</strong> <strong>Chefärzte</strong> getroffen,<br />

sondern <strong>die</strong> Assistenz- <strong>und</strong> Oberärzte, wie <strong>die</strong>jenigen Kaderärzte berichten,<br />

<strong>die</strong> sich gegen eine Auflösung der Poolstrukturen ausgesprochen haben. Die<br />

Beteiligung <strong>die</strong>ser beiden Ärztestufen <strong>und</strong> der Pflege an den Einnahmen der<br />

Zusatzversicherten stellen für gewisse Ärzte ein grosses Anliegen dar, das zugleich<br />

als Zeichen der Wertschätzung erachtet wird. Wobei in den Diskussionen<br />

r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Angleichung der Gehälter an <strong>die</strong> der Privatspitäler eine deutliche<br />

Forderung zur Anpassung der Gehälter in öffentlichen Spitälern an den Marktpreis<br />

gefordert wird, der als gerechter Lohn empf<strong>und</strong>en wird. Dadurch verdeutlicht<br />

sich einmal mehr <strong>die</strong> Orientierung am konkurrierenden Marktgeschehen.<br />

Bei gewissen Kaderärzten kamen moralische Dissonanzen zum Vorschein,<br />

<strong>die</strong> sich dadurch manifestierten, dass einerseits das fachliche Interesse als zentraler<br />

Anreiz der ärztlichen Tätigkeit hervorgehoben <strong>und</strong> andererseits <strong>die</strong> hohe<br />

Relevanz einer finanziellen Entlohnung betont wurde. Und obwohl <strong>die</strong> fachliche<br />

Herausforderung stetig in einem Atemzug mit dem finanziellen Entgelt<br />

genannt wird, stellt sich zuletzt heraus, dass das ökonomische Kapital dennoch<br />

über <strong>die</strong> eigentliche ärztliche Faszination an der Tätigkeit am Patienten <strong>und</strong> an<br />

der Medizin als Wissenschaft siegt. In Bezug auf den Wandel der Gehaltsstrukturen<br />

an Privatspitälern hat sich einmal mehr der Marktcharakter verdeutlicht,<br />

wo jene Ärzte ihre Entlohnung <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ausgestaltung ihrer Anstellungsbedingungen<br />

massgeblich mitbestimmen können, <strong>die</strong> aus dem öffentlichen Spital<br />

623


aktiv abgeworben werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> mit ihrem Fachwissen <strong>und</strong> ihres Rufes we-<br />

gen möglicherweise auch ihre zusatzversicherten Patienten von den Vorzügen<br />

einer Privatklinik überzeugen können. Aus einer solchen Form der parasitären<br />

Abwerbung verspricht sich das Privatspital hohe Einnahmen. Die Belegärzte<br />

sehen sich im Zuge <strong>die</strong>ses Wandels gezwungen, ihre existierenden Arbeitsbe-<br />

ziehungen abzusichern, <strong>die</strong>s nicht nur gegenüber der Spitalleitung, sondern<br />

auch gegenüber ihren Kollegen innerhalb der Fachzentren. Das konkurrenzie-<br />

rende Gegen- anstatt Miteinander beeinflusst <strong>die</strong> alltägliche Arbeit <strong>und</strong> damit<br />

einhergehend auch massgeblich den ethischen Anspruch, den <strong>die</strong> Ärzte an<br />

ihren Dienst für das Gemeinwohl bzw. <strong>die</strong> Zusatzversicherten stellen. Die<br />

Zeugnisse haben den Kampf zwischen der ärztlichen Ethik <strong>und</strong> der marktwirtschaftlichen<br />

Monethik <strong>und</strong> <strong>die</strong> kontinuierliche Ausrichtung der ärztlichen<br />

Handlungsmaximen an <strong>die</strong> Vulgarität <strong>und</strong> <strong>die</strong> parasitären Verhaltensformen<br />

<strong>des</strong> Marktgeschehens verdeutlicht.<br />

624


6 <strong>Ökonomisierung</strong>: zur Dynamik <strong>des</strong> Wandels von Arbeitswelt<br />

<strong>und</strong> Habitus <strong>des</strong> Arztes<br />

Aber, <strong>und</strong> das geht mir auch so,<br />

wenn Sie eine Krankheit haben,<br />

dann sind Sie nicht mehr K<strong>und</strong>e,<br />

sondern Sie sind froh, wenn man Ihnen hilft.<br />

Klaus K., Leitender Arzt eines Schweizer Kantonsspitals<br />

Die folgende Konklusion <strong>die</strong>ser Arbeit stellt eine Zusammenfassung der gewonnenen<br />

Erkenntnisse aus der Interviewauswertung dar. Hierbei wird explizit<br />

auf <strong>die</strong> beiden zentralen Forschungsinteressen zur Kommerzialisierung <strong>des</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> zur unternehmerischen Ausrichtung <strong>des</strong> Arztberufs<br />

eingegangen. Auch im Rahmen <strong>die</strong>ses abschliessenden Kapitels wird nochmals<br />

auf das empirische Material zurückgegriffen, da <strong>die</strong> Schlussfolgerungen sich<br />

massgeblich darauf stützen. In Bezug auf <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Krankenhauswesens<br />

wurden insbesondere <strong>die</strong> anhaltende Vermarktlichung der Versorgungsinstitutionen<br />

<strong>und</strong> der kontinuierliche Eintritt privater Krankenhäuser in<br />

<strong>die</strong> Schweizer Ges<strong>und</strong>heitsversorgung beleuchtet. Die damit einhergehenden<br />

Angleichungen <strong>des</strong> ärztlichen Habitus an jenen der Wirtschaftsmenschen, zu<br />

dem er sich traditioneller Weise entgegen gesetzt verhielt, sollen nochmals<br />

explizit veranschaulicht werden.<br />

Die zentrale Forschungsfrage bestand darin, <strong>die</strong> Auswirkungen <strong>des</strong> Eintritts<br />

einer zunehmenden Anzahl privater Spitäler in eine bislang öffentliche, teils<br />

auch karitativ orientierte <strong>und</strong> geführte, Ges<strong>und</strong>heitsversorgung zu eruieren.<br />

Hierbei stellten <strong>die</strong> Gründe für den kontinuierlichen Weggang von Kaderärzten<br />

aus öffentlichen Versorgungsinstitutionen zu privaten Anbietern einen wichtigen<br />

Indikator dar, der im Rahmen von zwanzig Interviews mit Kaderärzten<br />

(<strong>Chefärzte</strong>n, Leitenden Ärzten <strong>und</strong> Ärzten aus Privatkliniken) <strong>und</strong> zweier<br />

CEOs (öffentliches <strong>und</strong> privates Krankenhaus) in Erfahrung gebracht wurde.<br />

Die anhaltende <strong>und</strong> kontinuierliche <strong>Ökonomisierung</strong> der Schweizer Versorgungsinstitutionen<br />

lässt sich exemplarisch an der verstärkten beruflichen Orientierung<br />

der Ärzteschaft an wirtschaftlichen <strong>und</strong> ökonomischen Kennzahlen<br />

625


erkennen, was nicht zuletzt mit der betriebswirtschaftlich ausgerichteten Lei-<br />

tung <strong>des</strong> Spitals <strong>und</strong> den teils stark leistungsorientierten Gehaltsstrukturen<br />

zusammenhängt. Damit einher geht ein Ringen um <strong>die</strong> lukrativen zusatzversi-<br />

cherten Patienten, wobei <strong>die</strong> Privatspitäler erwiesenermassen eine Patientense-<br />

lektion vornehmen <strong>und</strong> Zugangsbeschränkungen für allgemeinversicherte<br />

Patienten festlegen. Die Ausbildung der Ärzteschaft überlassen <strong>die</strong> privaten<br />

Spitäler den öffentlichen Krankenhäusern <strong>und</strong> rechtfertigen ihre geringe Anzahl<br />

an Assistenzärzten gegenüber der Öffentlichkeit auch noch als Massnahme<br />

zur Sicherstellung eines anhaltenden hohen Niveaus ihrer ärztlichen Expertise<br />

<strong>und</strong> der garantierten Patientenbehandlung durch einen Facharzt. Das Abwerben<br />

von Kaderärzten aus öffentlichen Spitälern verdeutlicht eine „parasitäre“<br />

Komponente, denn das Privatspital kommt, sowohl der Gr<strong>und</strong>versorgung, als<br />

auch der Gr<strong>und</strong>ausbildung nicht annähernd im selben Umfang wie das öffentliche<br />

Spital nach.<br />

Mit dem Prozess der Marktvergesellschaftung <strong>des</strong> Krankenhauswesens, der<br />

massgeblich durch den Eintritt privater medizinischer Dienstleister eingeläutet<br />

wurde, sahen sich <strong>die</strong> öffentlichen Versorgungseinrichtungen mit neuen strukturellen<br />

Rahmenbedingungen <strong>und</strong> einer privatwirtschaftlich ausgerichteten<br />

Konkurrenz konfrontiert. Der Eintritt <strong>die</strong>ser privaten Anbieter bewirkte, dass<br />

zusehends Kaderärzte aus öffentlichen Versorgungen abgeworben wurden,<br />

was sowohl bei den Stayern als auch bei den Leavern zu kognitiven <strong>und</strong> moralischen<br />

Dissonanzen führen musste. In den Fällen, in denen das eigene Handeln,<br />

sei es nun im öffentlichen oder privaten Krankenhaus, dem berufsethischen<br />

Verständnis der Ärzte widerspricht, beispielsweise, wenn eine höhere<br />

Anzahl an Behandlungen vorgenommen wird als vonnöten ist, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s nicht<br />

dem Gemeinwohl, sondern in erster Linie der persönlichen Bereicherung bzw.<br />

der Umsatzgenerierung für das Spital <strong>die</strong>nt, können moralische Dissonanzen,<br />

beruhend auf dem Widerspruch zwischen eingefleischten Ethos <strong>und</strong> den neuen<br />

Praktiken auftreten. Bei den Stayern beispielsweise bedeutet <strong>die</strong> Abwanderung<br />

eines Kollegen den Verlust einer ärztlichen Fachkompetenz. Vor allem aber<br />

trägt der Weggang massgeblich dazu bei, dass der Stayer seine berufliche Identität<br />

in Frage stellt. Mit dem Weggang wird ihm vor Augen geführt, dass seine<br />

Gr<strong>und</strong>überzeugung, <strong>die</strong> massgeblich durch <strong>die</strong> Institution <strong>und</strong> das Funktionieren<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Spitals aufrechterhalten werden, nicht wie ein Fels in der<br />

Brandung <strong>des</strong> sozialen Wandels stabil verankert ist, wie er glaubte. Beim Stayer<br />

626


kann von einer kognitiven Dissonanz gesprochen werden, wenn er selbst expli-<br />

zit oder implizit vor <strong>die</strong> Wahl eines Weggangs oder Verbleibs gestellt wird, er<br />

aber dennoch aus Überzeugung oder schlichtem Konservativismus an seinem<br />

Posten im öffentlichen Spital festhält. Im Rahmen <strong>die</strong>ses Abwägungsprozesses<br />

tritt womöglich auch ein Anstieg der Attraktivität einer Abwanderung ein, da<br />

eine ausgeglichene Work-Life-Balance oder ein besserer Ver<strong>die</strong>nst seitens <strong>des</strong><br />

Privatspitals lockt. Weiter tragen auch <strong>die</strong> ihm von den abgewanderten Kollegen<br />

zugetragenen Vorteile zu seinem Unwohlgefühl bzw. Spannungsverhältnis<br />

bei.<br />

Als Hauptadressaten <strong>die</strong>ser Dissertation gelten <strong>die</strong> Akteure aus dem Feld, weshalb<br />

in der Regel auf abstrakte theoretische Konzepte verzichtet wurde. Es ging<br />

darum, das Denken <strong>und</strong> <strong>die</strong> Aussagen der befragten Kaderärzte einzuholen, zu<br />

sichern <strong>und</strong> zu strukturieren. Denn <strong>die</strong>se wissen um das Spannungsverhältnis<br />

zwischen ihrer eigenen Position <strong>und</strong> beruflichen Rolle <strong>und</strong> den Lockrufen seitens<br />

privater Ges<strong>und</strong>heitsversorger. Die Interviews zeugen von der analytischen<br />

Schärfe der Kaderärzte <strong>und</strong> ihrer bereits hochkritischen Reflexion der<br />

eigenen Position. Die Aussagen offenbaren <strong>die</strong> habitualisierte Reflexivität der<br />

befragten Ärzte. In <strong>die</strong>ser Arbeit ging es darum eine Synthese <strong>des</strong> Gesagten zu<br />

erstellen, wobei makrostrukturelle Eckdaten als Hintergr<strong>und</strong>folie für <strong>die</strong> durch<br />

<strong>die</strong> Probanden geäusserten subjektiven Erfahrungen <strong>und</strong> Deutungen <strong>die</strong>nten.<br />

An <strong>Chefärzte</strong> zu gelangen, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Zeit nahmen, um über ihr eigenes Bewusstsein<br />

Rede <strong>und</strong> Antwort zu stehen, ist ein Privileg. Dass sie sich gleichzeitig<br />

der Konfrontation mit Themen r<strong>und</strong> um den Wandel ihres berufsethischen<br />

Selbstverständnisses <strong>und</strong> <strong>die</strong> Vermarktlichung ihrer strukturellen Rahmenbedingungen<br />

stellen, stellte für <strong>die</strong>se Arbeit eine grosse Chance dar, <strong>und</strong> ermöglichte<br />

erst <strong>die</strong> Umsetzung <strong>des</strong> Bottom-up-Ansatzes, der <strong>die</strong>ser Arbeit zugr<strong>und</strong>e<br />

lag. Hierbei hat <strong>die</strong> Initiierung der Auftragsforschung durch eine Chefärztin<br />

eines Schweizer Kantonsspitals <strong>die</strong> Weichen gestellt. Denn hierdurch öffneten<br />

sich Türen, <strong>die</strong> ansonsten wahrscheinlich verschlossen geblieben wären. Das<br />

Reden über das persönliche Unbehagen seitens <strong>die</strong>ser medizinischen Autoritäten<br />

stellt keine Selbstverständlichkeit dar, weshalb <strong>die</strong> vorgenommene soziologische<br />

Objektivierung, <strong>die</strong> allenfalls teilweise als sehr kritisch erachtet wurde,<br />

nicht als moralische oder ethische Verurteilung missverstanden werden darf.<br />

Der Leaver soll nicht zum amoralischen Utilitarist gemacht werden; anhand<br />

seiner Denk-, Handlungs- <strong>und</strong> Wahrnehmungsschemata konnte aufgezeigt<br />

627


werden, dass <strong>die</strong> <strong>Ökonomisierung</strong> der strukturellen Rahmenbedingungen <strong>des</strong><br />

Krankenhaussektors <strong>und</strong> insbesondere <strong>die</strong> marktwirtschaftliche Orientierung<br />

privater Spitäler, massgeblich zur Anpassung <strong>des</strong> ärztlichen Habitus an der von<br />

den Privatspitälern zum Teil geforderten Zweckorientierung bzw. Rechenbarkeit<br />

beiträgt. Ebenso ist auch bei gewissen Stayern der vermeintliche Anreiz<br />

einer unternehmerisch ausgerichteten Berufsausübung, <strong>die</strong> exemplarisch für<br />

<strong>die</strong> seitens <strong>des</strong> Privatspitals beworbene unternehmerische Selbstständigkeit<br />

steht, festzustellen. Es liessen sich sowohl Angleichungen der Führungsstruktur<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Spitals an <strong>die</strong>jenige <strong>des</strong> Privatspitals, als auch Angleichungen<br />

<strong>des</strong> Privatspitals an <strong>die</strong> vertraglichen Anstellungsverhältnisse der öffentlichen<br />

Spitäler, ausmachen. Die Ärzte haben erkannt, dass sich ihr Berufsstand in einer<br />

Krise <strong>und</strong> <strong>die</strong> Position <strong>des</strong> Chefarztes in einem Wandel befindet, den einige als<br />

legitim, andere wiederrum als Demontage erachten. Nebst dem Unbehagen,<br />

das <strong>die</strong> Thematisierung <strong>des</strong> eigenen Bewusstseins auslöst, verdeutlicht sich<br />

auch <strong>die</strong> Rechtfertigungsproblematik seitens der Leaver. Sie wissen, ebenso wie<br />

<strong>die</strong> Stayer, um <strong>die</strong> Spannungsverhältnisse innerhalb ihres Berufsstan<strong>des</strong>, <strong>die</strong><br />

sich in ihrer Handlungsmaxime oder auch anhand ihres Jargons in mancher<br />

Hinsicht deutlich offenbaren. Dementsprechend wird beispielsweise von Produktpaletten,<br />

von der An- bzw. Abwerbung der (zahlenden) K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> dem<br />

Bestehen auf dem hart umkämpften Markt gesprochen. Die Tranformationsprozesse<br />

innerhalb ihres Stan<strong>des</strong>, <strong>die</strong> Leaver genauso wie Stayer erkennen <strong>und</strong><br />

betreffen, stellen kein One-Way-Road-Wandel dar. Denn als Hauptakteure <strong>und</strong><br />

auserwiesene Experten, <strong>die</strong> in der öffentlichen Wahrnehmung noch heute grosses<br />

Ansehen geniessen, können sie <strong>die</strong>sen massgeblich beeinflussen.<br />

Die Interviews haben verdeutlicht, dass eine kontinuierliche Übernahme habitueller<br />

Muster der Wirtschaftsmenschen von Seiten der Ärzteschaft stattfindet,<br />

was sowohl seitens gewisser Stayer als auch seitens gewisser Leaver als abstossend<br />

empf<strong>und</strong>en, teilweise aber auch als unausweichliche logische Konsequenz<br />

der fortschreitenden <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>und</strong> (De)Professionalisierung erachtet<br />

wurde, <strong>die</strong> nicht nur <strong>die</strong> Medizin sondern auch andere „Sphären nicht materieller<br />

Güter“ (Bour<strong>die</strong>u), wie beispielsweise auch <strong>die</strong> Kunstwelt, zunehmend<br />

durchdringt. Mauss beispielsweise plä<strong>die</strong>rte in seinem Werk „Die Gabe“ für<br />

eine Bewahrung vermeintlich archaischer Prinzipien, wie <strong>die</strong> Ethik der Gabe,<br />

denn Ehre, Selbstlosigkeit <strong>und</strong> korporative Solidarität resultieren in einer wesentlich<br />

höheren Befriedigung als das Streben nach persönlicher Sicherheit oder<br />

628


monetärer Entlohnung (Mauss, 1950/1990, S. 163). Sowohl Mauss als auch<br />

Bour<strong>die</strong>u waren sich im Klaren darüber, dass der Ethik der Grosszügigkeit <strong>und</strong><br />

Brüderlichkeit verborgene, aber dennoch auch utilitaristische <strong>und</strong> eigennützige<br />

Handlungsmotive zugr<strong>und</strong>e liegen (Schultheis, 2007, S. 70 f.). Die kollektive<br />

Heuchelei, <strong>die</strong> mit der Verkennung <strong>des</strong> materiellen Profits aus der ärztlichen<br />

Tätigkeit einhergeht, wurde gewissermassen zur „Illusio“ <strong>des</strong> Spiels, <strong>die</strong> <strong>die</strong> im<br />

öffentlichen Spital tätigen Ärzte teilten <strong>und</strong> wodurch sie auch ihre Aufrechterhaltung<br />

sicherstellten. Diese Arbeit zeugt von einem Versuch, <strong>die</strong> Feldtheorie<br />

Bour<strong>die</strong>us auf das Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> insbesondere der Versorgungsinstitution<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses anzuwenden, da insbesondere<br />

letztere sich mit einem bedeutenden Feldeffekt, dem Eintritt <strong>und</strong> der Ausbreitung<br />

privater Anbieter medizinischer Leistung, auseinander setzen muss. Anhand<br />

der Anwendung <strong>des</strong> Habituskonzepts sollte verdeutlicht werden, inwiefern<br />

auch der Berufsethos <strong>des</strong> Stayers sich im Zuge der Marktvergesellschaftung<br />

an den <strong>des</strong> Wirtschaftsmenschen angleicht bzw. inwiefern er sich von dem<br />

Habitus <strong>des</strong> Leavers unterscheidet: „Die Beziehung zwischen Habitus <strong>und</strong> Feld<br />

ist eine Beziehung der Bedingtheit: Das Feld strukturiert den Habitus, der das<br />

Produkt der Verinnerlichung, der Inkorporation der immanenten Notwendigkeit<br />

<strong>die</strong>ses Fel<strong>des</strong> ist.“ (Bour<strong>die</strong>u, 1992/2006, S. 102, zit. in Jurt, 2008, S. 100) Der<br />

ärztliche Habitus wird dementsprechend durch <strong>die</strong> Entfaltung der symbolischen<br />

Wirkkraft, der dem Feld zugr<strong>und</strong>eliegenden Zweckfreiheit <strong>und</strong> Uneigennützigkeit<br />

<strong>des</strong> Handelns ihrer Akteure, gewährleistet. Geht der Glaube<br />

seitens der Laien an <strong>die</strong> anti-utilitaristische Orientierung <strong>des</strong> ärztlichen Handelns<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>, seitens <strong>des</strong> Arztes gewährleistete, Sicherstellung <strong>des</strong> Zugangs<br />

zum öffentlichen <strong>und</strong> universellen Gut Ges<strong>und</strong>heit verloren, verliert <strong>die</strong>se<br />

symbolische Wirkkraft an Bedeutung. Wird das Feld neuen Spielregeln ausgesetzt<br />

bzw. werden <strong>die</strong> ursprünglichen Spielregeln durch den Eintritt eines neuen<br />

Akteurs in Frage gestellt, so ist eine unvermeidbare Auswirkung auf den<br />

Habitus festzustellen, insbesondere dann, wenn der neue Akteur eine Neudefinition<br />

der bis anhin geltenden Kapitalkonstitution vornimmt. Auch hierzu<br />

Bour<strong>die</strong>u: „Um das Feld zu konstituieren, muss man <strong>die</strong> Formen <strong>des</strong> spezifischen<br />

Kapitals bestimmen, <strong>die</strong> in ihm wirksam sind, <strong>und</strong> um <strong>die</strong>se Formen <strong>des</strong><br />

spezifischen Kapitals zu konstruieren, muss man <strong>die</strong> spezifische Logik <strong>des</strong><br />

Fel<strong>des</strong> kennen.“ (Bour<strong>die</strong>u, 1992/2006, S. 139) Der Einzug privater Krankenhäuser<br />

hat zu einer massgeblichen Neudefinition der Wertung der geltenden Kapitalien<br />

beigetragen. Hierbei wurde zum Teil dem ökonomischen Kapital gegen-<br />

629


über dem symbolischen Vorrang gegeben, was für den historisch gewachsenen<br />

ärztlichen Berufsstand, dem ein hoher Status <strong>und</strong> eine massgebliche Ehrerweisung<br />

zugesprochen wird, einer Entzauberung gleich kommt.<br />

Dieses Ansehen, das den Kaderärzten zugesprochene Prestige, das ihnen anerkannte<br />

Amtscharisma <strong>und</strong> <strong>die</strong> u.a. darauf basierende Berufung zum Arzt gehen<br />

mit der Leitidee einer ethischen Verpflichtung dem Kranken gegenüber einher.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte lang galt der Hippokratische Eid, der heute als unzeitgemäss<br />

empf<strong>und</strong>en wird <strong>und</strong> durch <strong>die</strong> Genfer Deklaration <strong>des</strong> Weltärzteverb<strong>und</strong>s <strong>des</strong><br />

Jahres 1948, <strong>die</strong> selber einigen Anpassungen unterlag, abgelöst wurde, als Ehrenwort<br />

<strong>und</strong> legitimer Orientierungsrahmen, der dem Berufsethos <strong>des</strong> Arztes<br />

zugr<strong>und</strong>eliegt. Heutzutage existieren Berufsordnungen wie <strong>die</strong> der Deutschen<br />

B<strong>und</strong>esärztekammer, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Rechte <strong>und</strong> Pflichten eines Arztes exemplarisch<br />

verdeutlichen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s auch in Bezug auf gegenwärtig in der Medizin geführte<br />

Diskurse zu ethisch höchst heiklen Themen. Diese Gelöbnisse bzw. Berufsordnungen<br />

<strong>die</strong>nen der Verdeutlichung <strong>des</strong> ethischen Anspruches dem Patienten<br />

gegenüber, obwohl der Schwur auf erstere bei „Amtsantritt“ nicht mehr geleistet<br />

werden muss. Innerhalb der Ärzteschaft gilt ein stillschweigen<strong>des</strong> Einverständnis<br />

hinsichtlich ihres Inhalts. Insbesondere <strong>die</strong> Berufsordnungen <strong>und</strong><br />

gesetzlichen Verankerungen der Rechte <strong>und</strong> Pflichten der Ärzteschaft <strong>die</strong>nen<br />

dazu, Position zu zentralen Fragen <strong>des</strong> medizinischen Fortschritts zu beziehen,<br />

beispielsweise im Bereich der Sterbehilfe, der Gentechnologie, <strong>des</strong> Schwangerschaftsabbruchs,<br />

der Transplantationsmedizin etc., oder stellen in Krisensituationen<br />

zentrale Berufungsinstanzen dar. Allen gemein ist aber <strong>die</strong> ärztliche<br />

Pflicht der Wiederherstellung bzw. <strong>des</strong> Erhalts der Ges<strong>und</strong>heit <strong>des</strong> Menschen.<br />

Besonders folgende Absätze aus der Deklaration von 1948 scheinen im Hinblick<br />

auf den Berufungscharakter <strong>des</strong> ärztlichen Dienstes von Bedeutung: „I solemnly<br />

pledge to consecrate my life to the service of humanity; (…) The health of<br />

my patient will be my first considertation.“ (Wiesing, 2008 S. 77) Dieser Deklaration<br />

entsprechend hat der ärztliche Dienst an der Allgemeinheit <strong>und</strong> für das<br />

Gemeinwohl an jedem Menschen ungeachtet seiner sozialen <strong>und</strong> ethnischen<br />

Herkunft, seines Geschlechts, seiner Religion, seines Alters <strong>und</strong> folglich auch<br />

ungeachtet seiner finanziellen Möglichkeiten, zu erfolgen. Dem Arzt wurde<br />

durch <strong>die</strong> Sicherstellung eines universellen <strong>und</strong> öffentlichen Gutes, <strong>die</strong> vollständig<br />

als im Dienste <strong>des</strong> Gemeinwohls stehend erachtet wird, primär symbolisches<br />

<strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är ökonomisches Kapital zuteil, wobei ersteres gerade<br />

630


dadurch legitimiert wird, dass <strong>die</strong> Sicherstellung als nicht den Marktgesetzen<br />

unterliegend <strong>und</strong> als nicht primär profitorientiert erachtet wird (Schultheis,<br />

2012, S. 7). Dass dem Arzt für seine Tätigkeit auch hohes ökonomisches Kapital<br />

zukommt, war nie ein Geheimnis. Jedoch widersprechen <strong>die</strong> teilweise vorge-<br />

nommene Ausrichtung der ärztlichen Tätigkeit am ökonomischen Profit, <strong>die</strong> oft<br />

nicht ausschliessliche, aber dennoch favorisierte Behandlung zusatzversicherter<br />

Patienten <strong>und</strong> <strong>die</strong> selten an Kooperation, sondern massgeblich an Konkurrenz<br />

ausgerichtete Zusammenarbeit innerhalb der Ärzteschaft, dem ärztlichen Berufsethos.<br />

Diese drei genannten Fälle entstammen Gesprächen mit Leavern. Sie<br />

verdeutlichten in ihren Aussagen, dass <strong>die</strong>se Tatbestände im Privatspital anzutreffen<br />

sind <strong>und</strong> offenbaren dadurch den schon seit langem unverkennbaren<br />

Einzug der Ökonomie in <strong>die</strong> Medizin. Die Leaver räumten ein, dass sie <strong>die</strong>se<br />

teilweise vorzufindenden Handlungsmaximen als sehr schwierig erachten <strong>und</strong><br />

veranschaulichten gleichzeitig, welche Mechanismen zum Aufkommen solcher<br />

Maximen beitragen. Dass <strong>die</strong>se drei Beispiele, <strong>die</strong> exemplarisch für <strong>die</strong> Marktorientierung<br />

der Privatspitäler stehen, dem eigentlichen Berufsethos <strong>des</strong> Arztes<br />

<strong>und</strong> den im Feld <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens geltenden Spielregeln widersprechen,<br />

<strong>des</strong>sen war sich auch <strong>die</strong> Mehrheit der Leaver bewusst. Sie selber aber würden<br />

<strong>die</strong>sen Reizen nicht verfallen, <strong>die</strong> Gefahr sei jedoch latent vorhanden. In Bezug<br />

auf <strong>die</strong> strukturellen Rahmenbedingungen zeigt sich ein geringer Einflussspielraum<br />

seitens der Leaver. Folglich muss er sich ihnen fügen, ansonsten sehen <strong>die</strong><br />

Zukunftsperspektiven im Privatspital schlecht aus. Die Abwägung zwischen<br />

der berufsethischen <strong>und</strong> der monetären Ausrichtung <strong>des</strong> eigenen Handelns<br />

hängt massgeblich mit dem Einzug privatwirtschaftlich ausgerichteter Versorgungsinstitutionen<br />

zusammen. Sie ist aber, in unterschiedlichem Ausmass,<br />

sowohl bei den Stayern als auch bei den Leavern anzutreffen <strong>und</strong> verdeutlicht<br />

eine erschreckende Angleichung <strong>des</strong> ärztlichen Habitus an den utilitaristisch<br />

orientierten <strong>und</strong> egoistisch geprägten Habitus <strong>des</strong> homo oeconomicus. Dass<br />

eine ähnliche Angleichung beim öffentlichen Spital festzustellen ist, haben<br />

Aussagen seitens der Stayer offenbart, <strong>die</strong> zugleich <strong>die</strong> damit einhergehenden<br />

moralischen Dissonanzen verdeutlicht haben. Diese erkannte man exemplarisch<br />

daran, dass <strong>die</strong> monetäre Entlohnung, nebst dem fachlichen Interesse, als zentraler<br />

Motivator für <strong>die</strong> tägliche Arbeit genannt wurde, der massgeblich zur<br />

Zufriedenheit am Arbeitsplatz <strong>und</strong> zum Verbleib im öffentlichen Spital beitrage.<br />

Anschliessend wiesen <strong>die</strong>se Stayer aber sogleich darauf hin, dass der ethische<br />

Anspruch <strong>des</strong> Arztes an sein eigenes Tun <strong>und</strong> Handeln nicht durch seine<br />

631


persönliche Bereicherung beeinflusst werden dürfe. Diese exemplarischen<br />

Zeugnisse verdeutlichen, dass der Gr<strong>und</strong>satz der ausnahmslosen Gewährleistung<br />

der ärztlichen Pflicht zur Sicherung <strong>des</strong> Gemeinwohls aller, der sowohl<br />

dem Eid, der Deklaration, der gesetzlichen Vorlagen oder Berufsordnungen<br />

gemein ist, zum Teil grob missachtet wird. Die Berufung zum ärztlichen Dienst<br />

für <strong>die</strong> Allgemeinheit <strong>und</strong> der Zugang zu einer umfassen Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />

aller Menschen gehören zu den entscheidenden Gr<strong>und</strong>pfeilern einer umfassenden<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung <strong>und</strong> müssen gewährleistet werden, um<br />

sozialen Ungleichheiten kontinuierlich <strong>und</strong> anhaltend entgegenzuwirken. Sowohl<br />

der Dienst als auch der Zugang müssen, ungeachtet der ökonomischen,<br />

sozialen oder kulturellen Ressourcen <strong>des</strong> Patienten, sichergestellt zu werden.<br />

Die Patientenselektion anhand <strong>des</strong> Versicherungsstatus stellt dementsprechend<br />

ein Verstoss gegen <strong>die</strong> ärztliche Ethik dar.<br />

In der folgenden Aussage von Daniel S. verdeutlicht sich der Kampf zwischen<br />

der ethischen Verpflichtung <strong>des</strong> ärztlichen Berufsstan<strong>des</strong> <strong>und</strong> den ökonomisch<br />

induzierten Rationalisierungsmassnahmen. Nicht der technische Fortschritt<br />

innerhalb der Medizin <strong>und</strong> <strong>die</strong> medizinische Forschung im Allgemeinen, <strong>die</strong><br />

dem Arzt <strong>und</strong> dem Patienten eine breitere Palette an Behandlungsmethoden<br />

ermöglichen, lösen <strong>die</strong>sen Kampf aus, sondern <strong>die</strong> anhaltenden Diskussionen<br />

r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Kostenexplosion im Ges<strong>und</strong>heitswesen, <strong>die</strong> Vermarktlichung <strong>des</strong><br />

Krankenhaussektors <strong>und</strong> der Einzug der Ökonomen in <strong>die</strong> Spitalleitung, haben<br />

zu einer wirtschaftlichen Medizin aufgerufen, <strong>die</strong> oft <strong>und</strong> gerne auch als effiziente<br />

Medizin beworben wird. Dass <strong>die</strong> Wirtschaftslogik in einem offensichtlichen<br />

Gegensatz zum berufsethischen Selbstverständnis eines Arztes steht, verdeutlicht<br />

folgende Aussage von Daniel S. exemplarisch: „Wenn es unser<br />

Verständnis ist, dass wir eine Medizin für alle wollen,<br />

innerhalb welcher man keine grossen Alterszensuren macht<br />

ausser denjenigen, <strong>die</strong> vernünftig sind <strong>und</strong> nicht so wie in<br />

England, wo man sagt, also gut, ab siebzig gibt es keine<br />

Hüftgelenkprothesen mehr, dann muss man einfach damit leben<br />

<strong>und</strong> sagen, <strong>die</strong>s ist <strong>die</strong> Medizin, <strong>die</strong> wir in der Schweiz<br />

heute machen. Aber natürlich muss nicht jemand, nur weil er<br />

privatversichert ist, mit neun<strong>und</strong>sechzig noch ein Kniegelenk<br />

haben, <strong>die</strong>ser Meinung bin ich auch nicht. Man muss den<br />

Leidensdruck eines Menschen erkennen. Ich finde es schrecklich,<br />

wenn jemand leiden <strong>und</strong> Schmerzen haben muss. Dessen<br />

muss man ihn befreien <strong>und</strong> <strong>die</strong>s egal welchen Alters. Aber er<br />

632


muss danach nicht mit achtzig oder fünf<strong>und</strong>achtzig auf den<br />

Pilatus hinaufspringen. Er kann <strong>die</strong> Bahn nehmen, das reicht<br />

völlig aus.“ Daniel führt aus, dass der Leidensdruck <strong>des</strong> Patienten erkannt<br />

werden muss. Aber auch dann scheint ein Eingriff nicht immer für sinnvoll<br />

erachtet zu werden, was insbesondere dem Gr<strong>und</strong>versicherten zum Verhängnis<br />

wird. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Eingriffs muss sich der Privatversicherte<br />

nicht stellen, denn sein Versichertenstatus berechtigt ihn, <strong>die</strong>sen einzufordern.<br />

Der behandelnde Arzt wird sich möglicherweise <strong>die</strong>se Frage stellen.<br />

Den Eingriff werden aber dennoch einige Ärzte vornehmen, denn mit jedem<br />

Zusatzversicherten erwirtschaftet sich der Kaderarzt auch ein zusätzliches<br />

Honorar. Der Stayer Hans S. appelliert an das verantwortungsbewusste Handeln<br />

der Ärzteschaft: „Man kann zahlreiche Tarifregelungen aufstellen<br />

<strong>und</strong> einen riesigen, technokratischen Überbau aufbauen,<br />

aber auch dann kann man <strong>die</strong>s noch so sehr missbrauchen.<br />

Immer. Immer. Man kann ja nicht jedem eine hochethische<br />

Figur daneben stellen, der einem sagt, dass man <strong>die</strong>s<br />

aus ethischen Gründen nicht so machen sollte. Jeder trägt<br />

Verantwortung für das, was er macht. Man kann Missbräuche<br />

nicht verhindern, das geht gar nicht.“ Hat man sich das Recht auf<br />

eine Behandlung nicht „eingekauft“, kann der Patient nur auf das Verantwortungsbewusstsein<br />

<strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> sein berufsethisches Selbstverständnis bauen.<br />

Hierbei verdeutlicht sich <strong>die</strong> Relevanz der Aufrechterhaltung der besonderen<br />

Vertrauensbeziehung zwischen Arzt <strong>und</strong> Patient. Walter I. fügt hinzu: „Die<br />

Ethik eines Arztes ist weitgehend eine Charakterfrage. Ich<br />

habe das Gefühl, dass <strong>die</strong>s ihre ganz persönliche Art <strong>und</strong><br />

Weise ist, da können sie noch so viele ,Kürschen‘ (Anm.d.A.<br />

schweizerdeutsch für Kurse) besuchen. Entweder bringen sie<br />

da etwas mit, oder sie bringen es eben nicht mit. (…) Ihre<br />

persönliche Gr<strong>und</strong>haltung gegenüber humanitären, ethischen<br />

Problemen hat ihren Ursprung in ihrer Erziehung <strong>und</strong> in ihren<br />

charakterlichen Voraussetzungen. Dies ist der eine Aspekte.<br />

Der andere Aspekt, der sich gewissermassen schon<br />

verändert hat, ist, dass wir heute unter einem extremen<br />

Gelddiktat stehen. Das war früher in den Spitälern weniger<br />

spürbar. “ Walter I. vertritt sogar <strong>die</strong> Meinung, dass das ethische Verständnis<br />

eine Frage der Erziehung oder gar eine <strong>des</strong> Charakters sei. Die Aussagen verdeutlichen,<br />

dass der ethische Anspruch, den ein Patient an seinen Arzt bzw.<br />

den ein Arzt an sein Handeln richtet, vor Missbräuchen nicht gefeit ist. Auch<br />

dem Gelddiktat scheint der Arzt nur noch schwer zu entkommen. Diese drei<br />

633


Auszüge aus dem empirischen Material stehen exemplarisch für <strong>die</strong> Schwierig-<br />

keit der Definition der ethischen Verpflichtung, der ein Arzt nachzukommen<br />

hat, <strong>und</strong> verdeutlichen das stetige Abwägen zwischen dem berufsethischen<br />

Selbstverständnis <strong>und</strong> dem ökonomischen (ob profitorientierten oder kosten-<br />

minimierenden) Kalkül. Im Rahmen der nächsten beiden Kapitel werden <strong>die</strong><br />

aus der Interviewauswertung gewonnen Erkenntnisse zur <strong>Ökonomisierung</strong> der<br />

strukturellen Rahmenbedingungen <strong>und</strong> dem hierdurch erwirkten Spannungs-<br />

verhältnis im ärztlichen Berufsstand, abschliessend resümiert.<br />

6.1 Kommerzialisierung <strong>des</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> seines Gutes<br />

„Ges<strong>und</strong>heit“<br />

Die Marktvergesellschaftung <strong>des</strong> stationären Versorgungssektors hat massgeblich<br />

zur Kommodifizierung <strong>des</strong> Gutes Ges<strong>und</strong>heit beigetragen. Diese ging<br />

einher mit der Angleichung der Versorgungsinstitutionen an marktwirtschaftlich<br />

orientierte Unternehmen <strong>und</strong> an eine gewinnoptimierende Spitalführung.<br />

Im Rahmen <strong>die</strong>ses Transformationsprozesses wurde seitens der Ärzteschaft der<br />

Vorwurf laut zum reinen Produktionsfaktor bzw. zum Dienstleister innerhalb<br />

der Versorgungsinstitution degra<strong>die</strong>rt zu werden, der ohne Anrecht auf echte<br />

Mitbestimmung lediglich der Ausführung seiner ärztlichen Tätigkeit als Dienstleister<br />

zu <strong>die</strong>nen hat. Diesen Vorwurf richteten sie an <strong>die</strong> Spitalverwaltung <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Politiker. Sowohl Stayer als auch Leaver erachten <strong>die</strong> enge Verflechtung <strong>des</strong><br />

öffentlichen Spitals mit der regionalen Politik als besonders gefährlich. Diese<br />

Befürchtung basiert vor allem darauf, dass der Regierungsrat, der zumeist im<br />

Spitalrat eines Kantonsspitals vertreten ist, seine Entscheidungen nicht nur im<br />

Sinne <strong>des</strong> Spitals trifft, sondern durch künftige politische Entscheide beeinflusst<br />

wird, wie beispielsweise einen bevorstehenden Wahlgang, wo er an einer<br />

höchstmöglichen Wählerzahl interessiert ist. Insbesondere für <strong>die</strong> teils als nicht<br />

unternehmerisch erachteten Entscheide im Zusammenhang mit infrastrukturellen<br />

Expansionsvorhaben, hegen <strong>die</strong> Ärzte wenig Verständnis. Hierbei verdeutlicht<br />

sich bei den Stayern eine erwünschte Angleichungstendenz an das Privatspital,<br />

denn in ihren Augen werden dort Entscheide zur Infrastruktur, zu Expansionsprojekten<br />

oder maschinellen Anschaffungen viel schneller getroffen,<br />

als im Rahmen der steilen <strong>und</strong> schnittstellenreichen Hierarchie <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Spitals. Diese rasche Entschlussfassung hänge massgeblich mit den kurzen<br />

Entscheidungswegen im Privatspital zusammen.<br />

634


In Bezug auf <strong>die</strong> flachen Hierarchien am Privatspital verweisen <strong>die</strong> Leaver<br />

gerne auf das selbstständige Unternehmertum, dem sie sich verpflichtet fühlen<br />

<strong>und</strong> ihnen ein Gefühl unternehmerischer Freiheit verleiht. Dass es sich hierbei<br />

nur um eine „begrenzte“ Selbstständigkeit am Privatspital handelt, verdeutlichen<br />

folgende Worte: „Sie müssen sich in dem Sinne mit demjenigen<br />

Packet, welches sie hier haben, zufriedenstellen. Hier<br />

habe ich keine Führungsfunktion mehr. (…) Ich betreibe hier<br />

quasi einen kleinen Laden auf dem freien Markt ... (…) Ansonsten<br />

bin ich ein Spezialist, der seine Produktpalette<br />

auf dem Markt anbietet.“ Walter I. illustriert seine, an den Bestimmungen<br />

<strong>des</strong> Privatspitals ausgerichtete, unternehmerische Selbstständigkeit auf<br />

dem Ges<strong>und</strong>heitsmarkt mit Hilfe einer Analogie zum „Laden ums Eck“. Er, als<br />

Kleinunternehmer, muss sich, um auf dem Markt (Krankenhaussektor) bestehen<br />

zu können, gegen <strong>die</strong> Konkurrenz (Kollegen/Ärzteschaft) durchsetzen, um<br />

möglichst viele K<strong>und</strong>en (Patienten) von seinem Angebot zu überzeugen <strong>und</strong> zu<br />

gewinn, um letztlich zu überleben. Die Marktvergesellschaftung bei Walter I.<br />

wie bei einigen anderen Kollegen verdeutlicht sich u.a. auch anhand seines<br />

Jargons (Newspeak). Hinzukommt, dass Walter I. auf das konkurrierende Verhalten<br />

<strong>und</strong> Handeln im Privatspital verweist; eine Tatsache, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Mehrheit<br />

der Leaver ebenso veranschaulicht hat, wobei besonders auf das starke Konkurrieren<br />

zu Beginn <strong>des</strong> beruflichen Alltags am Privatspital hingewiesen wurde.<br />

Mit einem konkurrierenden Verhalten innerhalb der Ärzteschaft <strong>und</strong> den Fachzentrenten<br />

hatten <strong>die</strong> wenigsten Leaver zu Beginn ihrer Tätigkeit am Privatspital<br />

gerechnet. Sie erkannten jedoch schnell, dass der Kampf um <strong>die</strong> höchstmögliche<br />

Umsatzgenerierung <strong>und</strong> demzufolge um <strong>die</strong> Patientenbehandlung bzw.<br />

K<strong>und</strong>enakquise in einem unmittelbaren Konkurrenzverhalten resultiert. Der<br />

Rückkehrer Bernard S. veranschaulicht <strong>die</strong> Rivalität, <strong>die</strong> u.a. schliesslich zu<br />

seiner Rückkehr ins öffentliche Spital beitrug, folgendermassen: „Es ist<br />

eine schöne Adresse, ein schönes Label, ein schönes Logo,<br />

aber in Tat <strong>und</strong> Wahrheit sind alle Einzelkämpfer <strong>und</strong> versuchen<br />

für sich das Ganze zu optimieren <strong>und</strong> sorgen nicht für<br />

eine effiziente <strong>und</strong> optimale Behandlung der Patienten.“ Die<br />

Konkurrenz resultiert in einem „Kampf ums Messer“, wie Andreas L. erläuterte.<br />

Auch er kann <strong>die</strong>ser vermeintlichen unternehmerischen Selbstständigkeit<br />

wenig Positives abgewinnen. „Im Privatspital sind Sie K<strong>und</strong>e. Sie<br />

gehen in ein Privatspital <strong>und</strong> kriegen beispielsweise im<br />

Bereich der Chirurgie OPs-Kapazität. Sie gehen in eine Gar-<br />

635


derobe <strong>und</strong> haben dort ihr Kästchen. Vielleicht haben Sie<br />

zufälligerweise ihr Büro im Haus oder sonstwo. Sie sind,<br />

wie auch der Patient, K<strong>und</strong>e. Für mich wäre das überhaupt<br />

nicht attraktiv.“ Beide Aussagen verdeutlichen sowohl <strong>die</strong> für marktwirtschaftliche<br />

Strukturen kennzeichnende Zweckorientierung, Rechenbarkeit<br />

<strong>und</strong> implizite Konkurrenzstruktur, als auch den Trugschluss im Zusammenhang<br />

mit der hochgehaltenen Selbstständigkeit der Belegärzte an Privatspitälern.<br />

Auf <strong>die</strong> Arzt-Patienten-Beziehung gingen <strong>die</strong> Leaver massgeblich dann<br />

ein, wenn sie auf ihre als K<strong>und</strong>enorientierung bezeichnete ganzheitliche Patientenbetreuung<br />

hinweisen konnten. Unter ganzheitlich verstanden <strong>die</strong> Leaver<br />

eine r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Uhr-Betreuung der Patienten durch ihren Arzt <strong>des</strong> Vertrauens,<br />

was im Privatspital auch umsetzbar ist, da massgeblich nur Zusatzversicherte<br />

behandelt werden <strong>und</strong> dadurch <strong>die</strong> breite Öffentlichkeit, <strong>die</strong> mehrheitlich<br />

allgemeinversichert ist, ausgeschlossen wird. Dieser Form der Ganzheitlichkeit<br />

wollten <strong>die</strong> Stayer explizit nicht gerecht werden, da <strong>die</strong> Ausbildung <strong>des</strong><br />

Nachwuchses zu gewährleisten ist, das Team umfassend geschult ist, weshalb<br />

nicht immer nach dem Chefarzt Ausschau gehalten werden muss, <strong>die</strong> Abteilungen<br />

teilweise übermässig belegt sind (sowohl allgemein- als auch zusatzversicherte<br />

Etagen) <strong>und</strong> <strong>die</strong> fachärztliche Expertise eines Chefarztes nicht ausschliesslich<br />

den Zusatzversicherten zusteht. Mit der K<strong>und</strong>enorientierung gingen<br />

zumeist <strong>die</strong> K<strong>und</strong>enakquise <strong>und</strong> damit auch das Anpreisen ihrer persönlichen<br />

ärztlichen Dienstleistung einher. Dass der Patient zum K<strong>und</strong>e wird, erachten<br />

insbesondere <strong>die</strong> Stayer als grobe Fahrlässigkeit. Die Arzt-Patienten-<br />

Beziehung zeichnet sich durch ein grosses Vertrauen aus, das der Patient dem<br />

Arzt gegenüber erbringen muss, durch eine nahezu unüberwindbare Informationsasymmetrie,<br />

eine starke Abhängigkeit <strong>des</strong> Patienten vom Arzt <strong>und</strong> seiner<br />

Expertise, sowie der Tatsache, dass das ihr zugr<strong>und</strong>eliegende Produkt, eben<br />

keine Ware darstellt, sondern ein öffentliches <strong>und</strong> universelles Gut, das nicht<br />

der ökonomischen Logik gehorcht <strong>und</strong> mit einer spezifischen Legitimität <strong>und</strong><br />

symbolischen Wirkung versehen ist (Schultheis, 2012, S. 1). Emil E. verdeutlicht<br />

<strong>die</strong>se Unvergleichbarkeit einer Arzt-Patienten-Beziehung zu einem K<strong>und</strong>en-<br />

Anbieter-Verhältnis exemplarisch: „Wissen Sie, irgendwie ist <strong>die</strong>s<br />

immer ein privilegierter Beruf. Man sieht den Menschen häufig<br />

in Grenzsituationen. Der Beruf hat mir Zugang zu vielen<br />

Leuten gegeben, einen Zugang, den ich vielleicht nie so<br />

hätte. Wenn ich nun Banker wäre, dann würde ich mit Ihnen<br />

darüber sprechen, was ein gutes Investment für Sie wäre,<br />

636


wie Sie Ihre Firma am besten mergen. Sie würden mir aber<br />

nicht sagen, dass Sie Angst vor dem Tod haben, da Sie Krebs<br />

haben, <strong>und</strong> ich habe <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes in meinem Leben falsch<br />

gemacht. Sie würden mir all <strong>die</strong>s, was Grenzsituationen so<br />

hockkommen lassen, nicht sagen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ist existentiell.<br />

Ich glaube, dass <strong>die</strong>s ein Privileg ist.“<br />

Das selbstständige Unternehmertum, auf welches sich <strong>die</strong> Leaver oft berufen,<br />

entwickelt sich zur Rechtfertigungsproblematik, insbesondere dann, wenn <strong>die</strong><br />

Thematik der Patientenselektion zur Sprache kommt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Leaver ihren<br />

ethischen Konflikt erkennen. Dieser wird massgeblich durch <strong>die</strong> vereinbarten<br />

oder individuell festgelegten Umsatzziele ausgelöst, <strong>die</strong> teilweise dazu beitragen,<br />

dass nicht lukrative Behandlungen, wie polymorbide Patienten oder komplexe<br />

Fälle, <strong>die</strong> langwierige Genesungsprozedere zur Folge haben, sogleich ins<br />

öffentliche Spital verlegt werden. In Bezug auf <strong>die</strong> Patientenselektion teilen sich<br />

<strong>die</strong> Leaver in zwei unterschiedliche Lager; <strong>die</strong> einen wollen den Beweis erbringen,<br />

dass das Privatspital nebst den Zusatzversicherten auch Allgemeinversicherte<br />

behandelt <strong>und</strong> demzufolge nicht von Selektion gesprochen werden kann.<br />

Andere veranschaulichen anhand einer Rechenaufgabe, dass Allgemeinversicherte<br />

nun mal einfach nicht kostendeckend zu behandeln seien, da dem Privatspital<br />

keine staatlichen Subventionen zukämen, infolge<strong>des</strong>sen eine Behandlung<br />

von Allgemeinversicherten unrentabel sei. Die Rechenaufgabe von Bernd<br />

A. hört sich folgendermassen an: „Wenn Sie jetzt allgemeinversichert<br />

sind, dann sage ich zu Ihnen, dass Sie für jeden Tag,<br />

für welchen Sie hier sind, ein Defizit von 250 Franken verursachen.<br />

Gehen Sie als Privatperson einen Handel mit einem<br />

K<strong>und</strong>en ein, bei welchem Sie jeden Tag 250 Franken einfach<br />

so drauflegen?“ Die erste Gruppe revi<strong>die</strong>rte ihre Aussage rasch <strong>und</strong> legitimierte<br />

<strong>die</strong> Selektion, indem auf das Abspracheprozedere mit den Versicherungen<br />

hinsichtlich der Kostenübernahme hingewiesen wird, das bei Gr<strong>und</strong>versicherten,<br />

<strong>die</strong> sich bei einem Belegarzt im Privatspital behandeln lassen wollen,<br />

teilweise langwierig sein kann. Dies hat sehr oft zur Folge, dass von einer Behandlung<br />

im Privatspital abgesehen wird. Gleichzeitig räumen <strong>die</strong>se Leaver<br />

ein, dass auch das Privatspital nur eine begrenzte Bettenanzahl zur Verfügung<br />

habe, weshalb Allgemeinversicherte aus Platzmangel ans öffentliche Spital<br />

verlegt werden. Das Argument der fehlenden staatlichen Subventionen verliert<br />

seine Gültigkeit, seit Einführung der Fallpauschalen <strong>und</strong> der Möglichkeit sich<br />

auch als Privatspital auf <strong>die</strong> Spitalliste setzen zu lassen <strong>und</strong> demzufolge in den<br />

637


Genuss staatlicher Subventionen zu kommen. Die Stayer lassen solche Rechtfertigungen,<br />

<strong>die</strong> als Abschwächung der an <strong>die</strong> Leaver gerichteten Vorwürfe <strong>die</strong>nen<br />

sollen, nicht mehr gelten, da <strong>die</strong> marktwirtschaftliche Ausrichtung <strong>des</strong><br />

Privatspitals massgeblich zur umsatzorientierten Handlungsmaxime der Arztes<br />

<strong>und</strong> der kontinuierlichen Abschöpfung ärztlicher Experten beiträgt, wie <strong>die</strong><br />

Aussage von Emil E. exemplarisch verdeutlicht: „Die kaufen einfach den<br />

Markt. In bestimmten Bereichen kauft sich <strong>die</strong> berühmteste<br />

Schweizer Privatklinikgruppe einfach den Markt. Sie haben<br />

nun beispielsweise aus einem Stadtspital eine gute Gruppe<br />

von Spezialisten abgeworben. Die Privatklinik hat ihre Beziehungen,<br />

<strong>und</strong> dann kauft sie <strong>die</strong>se Gruppe einfach. Sie<br />

kauft einfach den Markt.“ In der Aussage wird auf eine wesentliche<br />

Problematik Bezug genommen, <strong>die</strong> <strong>des</strong> geringen bis teils inexistenten Beitrags<br />

<strong>des</strong> Privatspitals an <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>ausbildung der angehenden Ärzte bzw. Assistenzärzte.<br />

Die Investition in <strong>die</strong> Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses wollen Privatspitäler<br />

nicht erbringen. Dass ihre Abwerbung erfahrener Kaderärzte, in deren<br />

Ausbildung ausschliesslich das öffentliche Spital investiert hat, von einem offensichtlich<br />

„parasitären“ Verhalten zeugt, scheint das Privatspital nicht zu<br />

stören. Insbesondere Emil E., aber auch andere seiner Stayer Kollegen, erachten<br />

<strong>die</strong> Ausbildung <strong>des</strong> Nachwuchses <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende Aufrechterhaltung<br />

<strong>des</strong> Lehrspitals als essentiell <strong>und</strong> <strong>die</strong>s, insbesondere auch in Bezug auf <strong>die</strong><br />

spitalinterne Qualitätskontrolle.<br />

In Bezug auf <strong>die</strong> Qualität medizinischer Leistungen <strong>und</strong> ihre Messung hat sich<br />

ein höchst differenziertes <strong>und</strong> diversifiziertes Antworten-Sammelsurium ergeben.<br />

Die Leaver plä<strong>die</strong>rten für eine Strategie der Qualitätssicherung, gemäss der<br />

<strong>die</strong> Zufriedenheit der Patienten als Massstab definiert wurde. Dieser solle massgeblich<br />

über den Erfolg bzw. Misserfolg eines Arztes <strong>und</strong> demzufolge auch<br />

über <strong>die</strong> erbrachte Qualität seiner ärztlichen Dienstleistung entscheiden. Die<br />

Arzt-Patienten-Beziehung ist u.a. wegen der ihr zugr<strong>und</strong>eliegenden Informationsasymmetrie<br />

fragil <strong>und</strong> ausseralltäglich. Diese Asymmetrie bewirkt aber,<br />

dass Patienten nur bei massiven ärztlichen Fehlhandlungen qualitative Mängel<br />

erkennen können, bei allen anderen Fällen können Ärzte ihren Fehler mit Argumenten<br />

begegnen oder werden nur durch das Einholen von Zweit- bzw.<br />

Drittmeinungen erkannt <strong>und</strong> bestätigt. Die Stayer erachten das Hinterfragen<br />

ihrer Leistung durch ihre Kollegen am Spital, ihre stetige Weiterbildung <strong>und</strong><br />

ihre Forschungstätigkeit als wesentlichen Qualitätsindikator. Einige Stayer<br />

638


liessen aber auch verlauten, dass eine ärztliche Leistung nicht lapidar als gut<br />

oder schlecht beurteilt werden könne, da kein abschliessender Massstab existie-<br />

re. Emil E. beispielsweise vertritt <strong>die</strong> Meinung, dass <strong>die</strong> Anzahl erfolgter ärztlicher<br />

Behandlungen nicht unbedingt von einer besseren medizinischen Versorgung<br />

zeuge; „... mehr ist nicht unbedingt besser“, lautete seine<br />

Aussage. Emil E. ist nicht der Einzige, der eine solche Meinung vertritt, denn<br />

einige Ärzte, sowohl Stayer als auch Leaver, verdeutlichten, indem sie auf <strong>die</strong><br />

Macht verweisen, <strong>die</strong> ihnen aufgr<strong>und</strong> ihrer Expertenfunktion zukommt, wie<br />

Kollegen <strong>die</strong>se Funktion für ihre Gunst bzw. Bereicherung auszunutzen. Hierzu<br />

Petra S.: „Es ist eine riesen Gefahr in einem privaten Spital<br />

einfach <strong>die</strong>jenige Medizin zu machen, <strong>die</strong> Geld bringt. Sie<br />

können jedem Patienten alles verklickern.“ Und Victor H.: „Betrachtet<br />

man <strong>die</strong>s nun mal kritisch, so ist <strong>die</strong> Versuchung<br />

grösser, wenn man in einer Position sitzt, in welcher ich<br />

hier sitze, als <strong>die</strong>s in einem öffentlichen Spital der Fall<br />

ist. Wenn sie in einem öffentlichen Spital eine Untersuchung<br />

indizieren, dann können sie nicht eins zu eins den<br />

Profit daraus ziehen, weil sie einen Lohn <strong>und</strong> vielleicht<br />

ein paar Poolsachen haben, aber der grosse Teil <strong>des</strong> Gewinns,<br />

der daraus erwirtschaftet wird, geht ans Spital.“ In<br />

den Interviews verdeutlichte sich eine breit vertretene Meinung innerhalb der<br />

befragten Ärzteschaft, wonach <strong>die</strong> Indikationsstellung, nebst der Gefahr der<br />

Mengenausweitung, auch <strong>die</strong> Gefahr <strong>des</strong> unnötigen Indizierens ärztlicher Behandlungen<br />

in sich berge <strong>und</strong> folglich Diagnosen gestellt <strong>und</strong> Behandlungen<br />

vorgenommen werden, <strong>die</strong> nicht der Genesung, sondern der monetären Bereicherung<br />

<strong>die</strong>nlich sind. Kommen wir nun nochmals auf <strong>die</strong> strukturellen Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> ihren Einfluss auf den berufsethischen Habitus <strong>des</strong> Arztes<br />

zurück.<br />

Im Hinblick auf <strong>die</strong> hierarchischen Strukturen im öffentlichen Spital ist eine<br />

Umstrukturierungswelle innerhalb der öffentlichen Spitäler sichtbar, <strong>die</strong> dazu<br />

beitrug, dass einerseits Weihen zu <strong>Chefärzte</strong>n vorgenommen wurden, andererseits<br />

aber auch Leitende Ärzte ihre Posten beibehielten. Adrian L. beispielsweise,<br />

der nicht in den Genuss <strong>die</strong>ser Konsekration kam, fühlte sich gewissermassen<br />

als Verlierer <strong>die</strong>ses Erneuerungsprozesses, überdachte seine Karriere im<br />

öffentlichen Spital nochmals <strong>und</strong> erwog, nachdem eine Anfrage <strong>des</strong> Privatspitals<br />

an ihn gerichtet wurde, abzuwandern. Adrian L. erachtete den Verbleib auf<br />

639


Stufe Leitender Arzt als vermeintliches Ende seiner Karriere am öffentlichen<br />

Spital, womit er sich nicht abfinden wollte. Solche Tatbestände führten zu Kar-<br />

rierebrüchen, <strong>die</strong> dazu beitrugen, dass das Privatspital, das sich zumeist in<br />

derselben Region befand, zur willkommenen Alternative wurde. Die Tatsache,<br />

dass Adrian L. vom CEO <strong>des</strong> Privatspitals persönlich angefragt wurde, dass er<br />

auf <strong>die</strong> Ausgestaltung seiner Gehaltsstruktur massgeblich Einfluss nehmen<br />

konnte (keine Lohndeckelung, Umsatzbeteiligung <strong>und</strong> stark leistungsorientierte<br />

Ausgestaltung) <strong>und</strong> ihm eine Selbstständigkeit mit einer eigenen Praxis im<br />

Privatspital schmackhaft gemacht wurde, trug zum Abwanderungsentscheid<br />

wesentlich bei. Adrian L. fühlte sich nicht mehr als Verlierer, sondern als wertgeschätzter<br />

Gewinner. Auf <strong>die</strong> teils mangelnde Wertschätzung im öffentlichen<br />

Spital verweist beispielsweise auch der Stayer Daniel S., der selber mehrere<br />

Angebote seitens Privatspitäler ausschlug. Er erachtet nicht <strong>die</strong> Umstrukturierungsprozesse<br />

bzw. den daraus möglicherweise resultierenden Karrierebruch<br />

als ursächlich für <strong>die</strong> mangelnde Wertschätzung, sondern ermisst <strong>die</strong> geringe<br />

Achtung, <strong>die</strong> teilweise gegenüber Ärzten erbracht wurde, als Mangel: „Das<br />

zweite ist, dass <strong>die</strong> Spitäler explo<strong>die</strong>rt sind. Man hat weniger<br />

Mittel, weniger Raum <strong>und</strong> vor allem unter nichtakademischem<br />

Personal gelitten. Man hatte das Gefühl, dass<br />

man das akademische Personal sowieso hat <strong>und</strong> es folglich<br />

wie Dreck wegwerfen kann <strong>und</strong> man sich auch nicht darum kümmern<br />

muss.“ Sehr ähnlich klingen auch <strong>die</strong> Vorwürfe einiger Stayer, <strong>die</strong> sie,<br />

in Bezug auf <strong>die</strong> zunehmende Herrschaft der Ökonomen an der Spitalspitze,<br />

ans öffentliche Spital richten. Hierbei beziehen sie sich auf <strong>die</strong> teils befürchtete<br />

Einschränkung ihres Mitsprache- <strong>und</strong> Entscheidungsrechts als Ärzte <strong>und</strong> insbesondere<br />

als <strong>Chefärzte</strong>, was im folgenden Abschnitt verdeutlicht wird.<br />

Nebst den von den Leavern <strong>und</strong> Stayern bemängelten langen Entscheidungswege<br />

im öffentlichen Spital, blicken insbesondere <strong>die</strong> Stayer skeptisch auf <strong>die</strong><br />

verstärkte Besetzung der Verwaltungsebene mit Ökonomen. Die Implementierung,<br />

der von der Wirtschaft entnommenen Strategien, Modelle <strong>und</strong> Prozesse<br />

in den strukturellen Rahmen <strong>des</strong> öffentlichen Krankenhauses, stösst mehrheitlich<br />

auf Unverständnis, was mit dem mangelnden betriebswirtschaftlichen<br />

Know-how der Ärzte, dem Bedenken hinsichtlich <strong>des</strong> anhaltenden Leistungs<strong>und</strong><br />

Kostendrucks <strong>und</strong> der Befürchtung einer anhalten Zunahme an administrativen<br />

Tätigkeiten <strong>und</strong> langwierigen Strategiesitzungen bzw. Projektausarbeitungen<br />

einhergeht. Bei <strong>die</strong>sen Stayern offenbarte sich einerseits <strong>die</strong> Angst der<br />

640


Demontage ihres Status als Kaderarzt durch <strong>die</strong> eigene Institution <strong>und</strong> anderer-<br />

seits der Verdacht der Zunahme sogenannter Alibifunktionen, <strong>die</strong> vermeintlich<br />

dazu <strong>die</strong>nen dem Kaderarzt ein Mitspracherecht zu gewähren. An <strong>die</strong> Umsetzung<br />

der in den zahlreichen Strategiesitzungen besprochenen Pläne glauben<br />

jedoch <strong>die</strong> wenigsten. Hinsichtlich der Angleichung <strong>des</strong> öffentlichen Spitals<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Führung an <strong>die</strong> eines Industrieunternehmens bzw. Grosskonzerns,<br />

wird von allen Stayern gleichermassen Besorgnis geäussert. Im Hinblick auf <strong>die</strong><br />

Spitalstrukturen, <strong>die</strong> sich von der Chefarzt-, zur Dreibein- <strong>und</strong> anschliessend<br />

zur CEO-Struktur gewandelt haben, ist <strong>die</strong> Besorgnis <strong>die</strong>ser Ärzte auch berechtigt.<br />

Dem Wandel der Chefarzttradition zur Dreibeinstruktur lag <strong>die</strong> Idee der<br />

gleichberechtigten Führung eines Spitals durch einen Vertreter der Ärzteschaft,<br />

der Pflege <strong>und</strong> der Verwaltung zugr<strong>und</strong>e, was im Hinblick auf eine gleichberechtigte<br />

Führung durch <strong>die</strong> zentralen Akteure eines Krankenhauses ein Fortschritt<br />

darstellte. Dieser Wandel läutete dann aber eine Wende hin zur CEO-<br />

Struktur ein, <strong>die</strong> den finalen Entscheid dem CEO überlässt, <strong>des</strong>sen Posten<br />

mehrheitlich von einem Ökonom bekleidet wird. Besonders letztere Struktur<br />

erachten <strong>die</strong> Stayer als problematisch <strong>und</strong> <strong>die</strong>s aus den soeben genannten<br />

Gründen. Bei einigen Ärzten konnte ein regelrechtes Festhalten an der „alten<br />

Schule“ festgestellt werden, was teilweise auch den Anschein nach einer übersteigerten<br />

Verzauberung der traditionellen Chefarztstrukturen hinterliess. Von<br />

denjenigen Stayern, <strong>die</strong> nebst ihrem Chefarztposten einen Sitz in der Geschäftsleitung<br />

<strong>des</strong> Krankenhauses einnehmen, ist ein merklich höheres Verständnis<br />

gegenüber der unternehmerischen Ausrichtung der öffentlichen Spitalstruktur<br />

zu entnehmen. Petra S. verdeutlicht <strong>die</strong> anteilige Inkorporierung ihres unternehmerischen<br />

Habitus exemplarisch: „Da ich nun seit fünf Jahren<br />

Mitglied der Geschäftsleitung bin <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb viel, viel<br />

mehr den unternehmerischen Hut trage. Ich habe natürlich<br />

sehr, sehr viel gelernt jetzt. (…) Ich habe, beziehungsweise<br />

wir im Departement, wir versuchen unsere Leute auf den<br />

finanziellen Bereich oder finanziellen Aspekt zu sensibilisieren.<br />

(…) Es hat eine Sensibilisierung <strong>des</strong> gesamten Spitals<br />

dahingehend stattgef<strong>und</strong>en, dass wir wirklich ein Unternehmen<br />

sind. Ab einer gewissen Führungsetage spürt man<br />

<strong>die</strong>s auch <strong>und</strong> man spürt den Mitarbeiter. Das sind aber<br />

nicht nur <strong>die</strong> Ärzte, sondern auch <strong>die</strong> Pflege, das Sekretariat,<br />

<strong>die</strong> Querschnittsfunktionen, <strong>die</strong> realisieren, dass wir<br />

ein Unternehmen sind.“ Als Begründung für ihr unternehmerisches Han-<br />

641


deln nennt Petra S. <strong>die</strong> mit der Erzielung schlechter ökonomischer Ergebnisse<br />

allenfalls einhergehenden Kündigungswellen <strong>und</strong> ihr Anspruch an eine tech-<br />

nisch hochinnovative Infrastruktur der Fachbereiche, um der Konkurrenz der<br />

Privatspitäler entgegenhalten zu können: „Dann sagt man dort, Superergebnis,<br />

Materialverbrauch so, Laborkosten so <strong>und</strong> dann<br />

wird gesagt, dass <strong>die</strong> Leistungserfassung besser sein muss,<br />

mehr sparen <strong>und</strong> so. Und so sensibilisiert man <strong>die</strong> Leute. Da<br />

<strong>die</strong> Leute auch wissen, dass wenn zu viel ausgegeben wird,<br />

eventuell auch Stellen gekürzt werden müssen, da man kein<br />

Geld mehr hat. Jeder ist so sensibilisiert. (…) Wir haben<br />

dadurch auch eine sehr gute Investitionspolitik, wenn Sie<br />

meinen Laden betrachten, dann sehen Sie, dass <strong>die</strong>s das Modernste<br />

ist, das man haben kann. Dann kann <strong>die</strong> Privatklinik<br />

zusammenpacken.“ Obwohl Petra S. <strong>die</strong> Relevanz der wirtschaftlichen Ausrichtung<br />

<strong>des</strong> öffentlichen Spitals betont, räumt sie ein, dass das öffentliche Spital<br />

nicht mit einer marktwirtschaftlichen Produktionsstätte verglichen werden<br />

darf, da das höchste Gut, das ein Spital <strong>und</strong> seine Akteure sicherzustellen haben,<br />

das Gemeinwohl aller Patienten darstellt: „Einer der wichtigsten<br />

Kernsätze <strong>des</strong> VR-Präsidenten lautete, ein Spital ist ein<br />

Unternehmen wie kein anderes. Das hat er gelernt. Man hat<br />

nicht Äpfel, <strong>die</strong> man einkauft <strong>und</strong> verkauft. (…) Wenn er<br />

jetzt bei mir ist, so kann ich ihm ein Plastikschläuchlein<br />

hineintun, das zwölf Franken kostet. Ich weiss dann aber,<br />

dass er in sechs Wochen nochmals kommen muss, damit ich ihm<br />

dann ein richtiges aus Metall hineintun kann, welches fünfzehnh<strong>und</strong>ert<br />

kostet. Solche Sachen sind dann schon Überlegungen,<br />

<strong>die</strong> wir uns machen <strong>und</strong> uns Mühe bereiten, dass wir<br />

das, was für den Patienten jetzt am besten ist, tun. Das<br />

ist aber nicht immer einfach.“ Petra S. hat als erste Frau in ihrem<br />

Fachbereich an einem der grössten Schweizer Universitätsspitäler habilitiert,<br />

hat durch ihren Vater, der Hausarzt war, <strong>die</strong> Liebe zu ihrem Beruf entwickelt,<br />

<strong>und</strong> offenbarte das gesamte Gespräch hindurch eine exemplarische Inkorporierung<br />

ihre „totalen sozialen Rolle“ als Ärztin. Anhand ihrer Aussagen verdeutlicht<br />

sich aber exemplarisch das Spannungsverhältnis zwischen dem wirtschaftlich<br />

als sinnvoll erachteten <strong>und</strong> dem berufsethisch richtigem Handeln, sowie<br />

<strong>die</strong> Unvereinbarkeit beider Handlungsmaximen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kaderärzte tagtäglich<br />

vor eine schwierige Herausforderung stellen <strong>und</strong> <strong>die</strong>s insbesondere im öffentlichen<br />

Spital. Einige Kaderärzte haben dem Druck nachgegeben <strong>und</strong> gleichen<br />

ihren Habitus an den <strong>des</strong> Wirtschaftsmenschen kontinuierlich an, andere halten<br />

642


<strong>die</strong> Spannung aufrecht <strong>und</strong> verurteilen all jene strukturellen oder personellen<br />

Rahmenbedingungen, <strong>die</strong> zum wirtschaftlichen Handeln anhalten. Bei beiden<br />

treten sowohl kognitive <strong>und</strong> moralische Dissonanzen als auch Rechtfertigungsproblematiken<br />

auf, denn jeder will seine Position als <strong>die</strong> legitime definiert sehen.<br />

6.2 Ärztliche Denk- <strong>und</strong> Handlungsschemata: zwischen Humanismus<br />

<strong>und</strong> Entrepreneurship<br />

Die objektiven <strong>und</strong> strukturellen Wandelungsprozesse, <strong>die</strong> sich massgeblich<br />

aus der <strong>Ökonomisierung</strong> <strong>des</strong> Krankenhauswesens ergeben, tragen zu merklichen<br />

subjektiven Veränderungen seitens der darin agierenden Akteure <strong>und</strong><br />

ihrer Dispositionen bei. Diese sollen in den folgenden Abschnitten nochmals<br />

zusammenfassend verdeutlicht werden.<br />

Die Gruppe der zwanzig interviewten Kaderärzte setzte sich aus zwei Frauen<br />

(beide Chefärztinnen) <strong>und</strong> achtzehn Männern (acht <strong>Chefärzte</strong>, drei Leitende<br />

Ärzte <strong>und</strong> sieben Ärzte aus Privatspitälern, davon hatten davor vier einen<br />

Chefarztposten <strong>und</strong> drei eine Funktion als Leitender Arzt im öffentlichen Spital<br />

inne) zusammen; ein Ratio, das im Hinblick auf <strong>die</strong> Studenten, <strong>die</strong> ein Studium<br />

der Humanmedizin absolvieren <strong>und</strong> abschliessen, nicht mehr der Realität entspricht,<br />

da heute weitaus mehr Frauen den Arztberuf ergreifen als Männer. Auf<br />

Stufe Chefarzt verdeutlicht sich ein massgeblich anderes Bild, denn nur jede<br />

zehnte Chefarztstelle hat eine Frau inne <strong>und</strong> auf Stufe Leitender Arzt ist nur<br />

jeder fünfte Posten von einer Frau besetzt. Beide interviewten Chefärztinnen<br />

haben eine vorbildliche Ausbildung <strong>und</strong> anschliessende Karriere absolviert,<br />

wobei beide sich gegen ihre Vorgesetzten durchsetzten mussten. Diese vertraten<br />

<strong>die</strong> Meinung, dass Frauen von ihren Vorgesetzten nicht auf Chefarztposten<br />

gewählt würden, <strong>des</strong>halb eine leitende Position auch wenig Sinn mache. Oder<br />

aber <strong>die</strong> weibliche biologische Uhr bedingt <strong>die</strong> Schaffung einer Teilzeitstelle,<br />

einen Abbruch der Ausbildung oder einen Unterbruch aufgr<strong>und</strong> eines Mutterschaftsurlaubs,<br />

was <strong>die</strong> Vorgesetzten oft nicht goutierten. Beide waren sich im<br />

Klaren darüber, dass nur herausragende Leistung gegen solch patriarchalische<br />

Strukturen ankommt, wodurch sie sich stetig zu Höchstleistungen verpflichtet<br />

fühlten <strong>und</strong> <strong>die</strong>se auch erbrachten. Gemäss der durch <strong>die</strong> Verbindung der<br />

Schweizer Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzte jährlich publizierten Ärztestatistik scheint <strong>die</strong><br />

643


Möglichkeit einer Teilzeitanstellung im ambulanten Sektor wesentlich stärker<br />

gewährleistet als im stationären Sektor, was nicht zuletzt damit zusammen-<br />

hängt, dass sich im ambulanten Sektor der Bedarf an Zusammenarbeitsmög-<br />

lichkeiten wie beispielsweise Gruppenpraxen kontinuierlich vergrössert hat<br />

(FMH, 2012, S. 402). Dieser Bedarf hat sich allenfalls aber auch erst durch den<br />

Anstieg teilzeittätiger Ärztinnen verdeutlicht <strong>und</strong> stieg mit der Anzahl Ärztinnen<br />

an, <strong>die</strong> erkennen mussten, dass sich <strong>die</strong> Schaffung einer Teilzeitstelle im<br />

stationären Sektor als schwierig herausstellte. Nebst <strong>die</strong>ser Feminisierungstendenz<br />

haben auch <strong>die</strong> seitens der jungen Ärzte geforderten Arbeitszeitregelungen<br />

(50-St<strong>und</strong>en-Wochen) <strong>und</strong> <strong>die</strong> damit einhergehende Work-Life-Balance<br />

einen massgeblichen Wandel innerhalb <strong>des</strong> ärztlichen Berufsstan<strong>des</strong> eingeläutet.<br />

Für letztere Forderungen hegte <strong>die</strong> Mehrheit der befragten Kaderärzte wenig<br />

Verständnis. Zumeist beriefen sie sich auf ihre eigene höchstanspruchsvolle<br />

Ausbildung. Gemäss ihrer Aussagen, muss man den Preis in Form geringer bis<br />

inexistenter Freizeit in der Ausbildung <strong>und</strong> den Assistenzarztjahren bezahlen,<br />

was massgeblich zur Inkorporierung der „totalen sozialen Rolle“ eines Arztes<br />

beitrage. Mit der seitens <strong>des</strong> Nachwuchses zunehmend geforderten Work-Life-<br />

Balance sehen <strong>die</strong> befragten Kaderärzte <strong>die</strong> Gefahr einer kontinuierlichen Distanzierung<br />

von der Berufung zum Arzt einhergehen. Diese verdeutliche sich<br />

bereits heute exemplarisch anhand der Beziehung <strong>des</strong> jungen Arztes zu seinen<br />

Patienten. Durch <strong>die</strong> gesetzlich verankerte Arbeitszeitregelung würde, laut den<br />

Kaderärzten, das Verantwortungsbewusstsein <strong>des</strong> Assistenzarztes seinem Patienten<br />

gegenüber schwinden, da ihm der Überblick über den kontinuierlichen<br />

Krankheitsverlauf oder Genesungsprozess zusehends abhandenkäme <strong>und</strong> er<br />

sich folglich dem Patienten gegenüber zu wenig verpflichtet fühle. Die Einforderung<br />

einer ausgeglichenen Work-Life-Balance, wie der Name ja bereits impliziert,<br />

ist nicht nur seitens der Assistenzärzte sondern auch zusehends seitens<br />

der Oberärzte <strong>und</strong> Leitenden Ärzte zu vernehmen. Diese Forderung basiert<br />

zumeist in der geringen Freizeit für <strong>die</strong> Familie <strong>und</strong>, wie Petra S. veranschaulicht,<br />

auch in der verstärkten Einforderung einer gemeinsamen Kinderbetreuung<br />

durch <strong>die</strong> Partnerinnen.<br />

Ein kurzer Exkurs in den Werdegang eines Kaderarztes soll den Weiheprozess<br />

nochmals exemplarisch verdeutlichen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Konstitution der „totalen sozialen<br />

Rolle“ aufzeigen. Die biographischen Flugbahnen haben verdeutlicht, dass<br />

eine Minderheit der befragten Kaderärzte aus Ärztefamilien stammt. Diejeni-<br />

644


gen, <strong>die</strong> auf eine ärztlich geprägte Herkunftsfamilie zurückblicken können,<br />

erzählten zumeist ausschweifend über <strong>die</strong> Erfahrungen, <strong>die</strong> sie mit ihren Eltern,<br />

wobei zumeist der Vater den Arztberuf ausübte, oder mit ihren Geschwistern<br />

machten, <strong>die</strong> wie sie selber den Beruf <strong>des</strong> Arztes erwählten. Petra S. (Stayer)<br />

beispielsweise stammt aus einer Hausarztfamilie, in welcher <strong>die</strong> Mutter dem<br />

Vater, der <strong>die</strong> Hausarztpraxis führte, entlastend zur Seite stand, <strong>die</strong> Buchführung<br />

der Praxis erledigte, ihn teilweise als Assistentin unterstützte <strong>und</strong> neben<br />

all dem <strong>die</strong> Familie betreute. Petra S. verdeutlicht, inwiefern der Beruf <strong>des</strong> Vaters<br />

den Tagesablauf der Familie beeinflusste <strong>und</strong> wie fliessend <strong>die</strong> Übergänge<br />

von der Hausarztpraxis ins familiäre Wohnhaus gehandhabt wurden. In ihren<br />

Erzählungen schwingt ein grosser Stolz für ihren Vater <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen „totale<br />

soziale Rolle“ mit, der er sich verpflichtet fühlte, <strong>und</strong> <strong>die</strong> als B<strong>und</strong> der Professions-,<br />

Organisations- <strong>und</strong> Privatrolle (Manzeschke & Nagel, 2006, S. 2) erachtet<br />

werden kann. Petra S. war lange Zeit fest der Überzeugung, dass sie in <strong>die</strong><br />

Fussstapfen ihres Vaters treten wird, denn <strong>die</strong> Hausärzte seien es, <strong>die</strong> massgeblich<br />

<strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung einer Region sicherstellten würden. Sie schätzte an<br />

der Hausarzttätigkeit insbesondere den engen Kontakt zu den Patienten <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Betreuung von Krankheitsverläufen bzw. Genesungsprozessen einer gesamten<br />

Familie über Jahrzehnte hinweg.<br />

Die grosse Mehrheit der befragten Kaderärzte stammt überraschenderweise aus<br />

der Arbeiter- oder Mittelschicht, zumeist übten <strong>die</strong> Väter einen handwerklichen<br />

Beruf aus. Auffällig war, dass <strong>die</strong> Herkunftsfamilie bei <strong>die</strong>ser Mehrheit nicht<br />

oder nur geringfügig thematisiert wurde. Einige Ärzte, wie der Stayer Martin<br />

A. oder der Stayer Hans S., waren lange Zeit der Meinung, dass ihnen ein solch<br />

ehrvoller Beruf nicht zustehen würde, da sie zumeist <strong>die</strong> einzigen ihrer Familie<br />

<strong>und</strong> über Familiengenerationen hinweg darstellten, <strong>die</strong> den Beruf <strong>des</strong> Mediziners<br />

ergriffen. Sie verdeutlichten, dass ein Medizinstudium zumeist auch hohe<br />

finanzielle Aufwände verursacht, weshalb das Studium so rasch wie möglich<br />

absolviert werden musste <strong>und</strong> Weiterbildungen im Ausland teilweise aufgr<strong>und</strong><br />

fehlender finanzieller Möglichkeiten nicht umgesetzt werden konnten, so beispielsweise<br />

Martin A.<br />

Die Karriereverläufe der Probanden sind keine rein individuell geplanten bzw.<br />

planbaren, geradlinigen beruflichen Laufbahnverläufe. Sie sind sowohl durch<br />

Brüche gekennzeichnet, als auch durch Karrieresprünge, <strong>die</strong> von den Proban-<br />

645


den meist als Glück oder als Zufallsmomente bezeichnet werden. Die Absolvie-<br />

rung <strong>des</strong> Studiums der Humanmedizin <strong>und</strong> <strong>die</strong> Erlangung der ersten Würde<br />

durch das eidgenössische Arztdiplom, das als Gr<strong>und</strong>lage für <strong>die</strong> anschliessende<br />

Weiterbildung zum Facharzt erachtet wird, setzen den ersten Gr<strong>und</strong>stein einer<br />

ärztlichen Karriere. Eine exemplarische berufliche Laufbahn im stationären<br />

Versorgungssektor nimmt zumeist ihren Anfang als Assistenzarzt in einem<br />

Kantonsspital, wo meistens auch <strong>die</strong> Entscheidung über das spätere Fachgebiet,<br />

in welchem der Facharzttitel erlangt werden soll, gefällt wird. Nach fünf Jahren<br />

folgt eine Oberarztstelle, <strong>die</strong> zumeist in einem Universitätsspital gef<strong>und</strong>en<br />

wird, um auch <strong>die</strong> akademische Weiterbildung <strong>und</strong> Forschungstätigkeit vertiefen<br />

zu können. Gleichzeitig bietet sich von da aus oft eine Möglichkeit für einen<br />

Forschungsaufenthalt in den Vereinigten Staaten oder in England an. Dieser<br />

Aufenthalt legte mehrheitlich <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage für <strong>die</strong> spätere Habilitation, <strong>die</strong><br />

zumeist ein bis zwei Jahre nach der Rückkehr aus dem sechs- bis zwölfmonatigen<br />

Research Fellow-Programm eingereicht wurde. Die Antritte auf Posten wie<br />

<strong>die</strong> eines Leitenden Arztes <strong>und</strong> insbesondere <strong>die</strong> eines Chefarztes erfolgten bei<br />

erfolgreichen Karrieren durch Anfragen. Nebst dem Auslandsaufenthalt <strong>und</strong><br />

einer erfolgreichen Habilitation spielten auch Förderer, Vorgesetzte, eine bedeutende<br />

Rolle, <strong>die</strong> sich zum Ziel gemacht haben den Arzt an weitere fachlich<br />

auserwiesene Kollegen zu vermitteln, zu unterstützen <strong>und</strong> zu beraten. Gewisse<br />

Kaderärzte bedauern, dass sie <strong>die</strong>se Funktion gegenüber ihrem Nachwuchs<br />

heute in geringerem Umfang erfüllen. Bei den Leavern ist <strong>die</strong> Fördertätigkeit<br />

nicht anzutreffen, was mit der nahezu inexistenten Ausbildung von Assistenzärzten<br />

im Privatspital einhergeht. Diese Ärzte kommen ihrer Ausbildungspflicht<br />

nicht oder nur geringfügig nach <strong>und</strong> <strong>die</strong>s ganz zum Leidwesen <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Nachwuchses. Die Ernennung zum Chefarzt durch den Vorgesetzten<br />

oder der Erhalt eines Stellenangebots seitens eines Kollegen oder <strong>des</strong> noch<br />

amtierenden Chefarztes stellt ein wesentlicher Weiheakt dar, durch welchen <strong>die</strong><br />

Mehrheit der befragten <strong>Chefärzte</strong> <strong>des</strong> öffentlichen Spitals zu ihren Positionen<br />

gelangten.<br />

Den Preis einer ärztlichen Karriere, den <strong>die</strong> Mehrheit der befragten Kaderärzte<br />

in Kauf nehmen musste, bestimmt sich im Wesentlichen aus dem enormen<br />

Zeitaufwand <strong>und</strong> -druck <strong>und</strong> der hohen Arbeitsintensität. Besonders im Laufe<br />

der Ausbildung der jungen bzw. angehenden Ärzte <strong>und</strong> anschliessend auf<br />

Stufe Assistenzarzt <strong>und</strong> Oberarzt musste <strong>die</strong>ser Preis bezahlt werden. Diesen<br />

646


Preis, der teilweise auch als Opfer bezeichnet wurde, bezahlten <strong>die</strong> jungen<br />

Ärzte aber gerne, da <strong>die</strong> Faszination für den Arztberuf <strong>die</strong> Mühen anscheinend<br />

immer überstieg. Der Leaver Yann S. hingegen vertritt <strong>die</strong> Meinung, dass das in<br />

Kauf nehmen der Strapazen mit dem in Aussicht gestellten finanziellen Kapital<br />

einherging, in <strong>des</strong>sen Genuss der Arzt auf Stufe Leitender Arzt <strong>und</strong> später<br />

Chefarzt kommen würde. Die Mehrheit der Kaderärzte berichtete aber von<br />

einer Leidenschaft, <strong>die</strong> sich aus dem Interesse am Patienten <strong>und</strong> seinem Wohl,<br />

der detektivischen Ursachenforschung <strong>und</strong> dem Forschungsspektrum der Medizin<br />

zusammensetzte. Dass <strong>die</strong>ser Preis in Form langer Arbeitstage, zahlreicher<br />

Nacht- <strong>und</strong> Wochenendeinsätze <strong>und</strong> geringer Möglichkeit zur Freizeitgestaltung<br />

heute auf Stufe Assistenzarzt nicht mehr erbracht bzw. verlangt wird,<br />

was massgeblich durch <strong>die</strong> 50-St<strong>und</strong>en-Woche bedingt ist, erachtet eine grosse<br />

Mehrheit der befragten leitenden Ärzte als Fehler, was sich besonders auf <strong>die</strong><br />

Arzt-Patienten-Beziehung, aber auch auf das berufsethische Selbstverständnis<br />

der jungen Ärzte auswirkt. Gemäss den Kaderärzten zählen <strong>die</strong> mangelnde<br />

Übernahme von Verantwortung für den behandelten Patienten, <strong>die</strong> zahlreichen<br />

Abwesenheiten durch Weiterbildungen oder gesetzlich festgelegte zeitliche<br />

Restriktionen <strong>und</strong> <strong>die</strong> hierdurch verursachte längere Lernkurve, <strong>die</strong> insbesondere<br />

Fachgebiete innerhalb der Chirurgie bzw. jener Gebiete trifft, wo operative<br />

Handgriffe erst mit der Erfahrung an Präzision gewonnen werden, zum heutigen<br />

Preis, den ein junger Arzt zu bezahlen hat <strong>und</strong> der sich vermutlich inskünftig<br />

auf <strong>die</strong> Qualität der ärztlichen Leistung auswirken wird. Diesen Wandel<br />

beurteilen gewisse Kaderärzte auch als Prozess einer Deprofessionalisierung.<br />

Ebenso erachten sie <strong>die</strong> steigende Anzahl an Ärzten, <strong>die</strong> sich auf einen spezifischen<br />

Fachbereich spezialisieren, denen vermeintlich der Blick für <strong>die</strong> ganzheitliche<br />

Betrachtung eines Patienten abhandenkommt, als Deprofessionalisierung<br />

ihres Berufsstan<strong>des</strong>.<br />

Einigen war <strong>die</strong> erläuterte Weihe zum Chefarzt durch <strong>die</strong> Vorgesetzten versagt.<br />

Die Gründe dafür wurden nicht genannt, in einem Karrierebruch resultierten<br />

sie aber für all jene, <strong>die</strong> einen Chefarztposten anstrebten. Gründe für den Weggang<br />

aus der öffentlichen Institution, <strong>die</strong> bei den Leavern Victor H. <strong>und</strong> Adrian<br />

L. vermutlich an den Karrierebruch gekoppelt sind, sind <strong>die</strong> verstärkte Vormacht<br />

von Ökonomen an der Spitalspitze, <strong>die</strong> zu enge Verflechtung <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Spitals mit der Politik <strong>und</strong> <strong>die</strong> durch eine Vielzahl an administrativen<br />

Tätigkeiten verursachte kontinuierliche Einschränkung <strong>des</strong> Gleichgewichts<br />

647


zwischen Berufsalltag <strong>und</strong> Privatleben. Die Bürokratie innerhalb eines Kan-<br />

tonsspitals empfinden Leaver sowie Stayer als schwerfällig. Beide betonen, dass<br />

sie einen hohen administrativen Aufwand verursache, der sowohl auf den<br />

Assistenz- <strong>und</strong> Oberärzten als auch auf den Kaderärzten laste. Mit der Abwanderung<br />

hofften viele <strong>die</strong>ser Tätigkeit zu entkommen, <strong>die</strong> Realität belehrte sie<br />

jedoch eines Besseren. Die Leaver berichteten von ihrer ganzheitlichen Patientenbetreuung<br />

<strong>und</strong> ihres Unternehmertums <strong>und</strong> verdeutlichten in ihren weiteren<br />

Erzählungen, dass <strong>die</strong> Buchführung, <strong>die</strong> Leistungserfassung, <strong>die</strong> Absprachen<br />

mit Versicherungen etc. noch immer auf ihren Schultern lastet, was teilweise<br />

auch mit der fehlenden Möglichkeit der Delegation an einen Assistenzarzt<br />

einhergeht. Auch wenn der Leaver möglicherweise nicht jede administrative<br />

Aufgabe selber erfüllt, kommt ihm entsprechend seiner Selbstständigkeit <strong>die</strong><br />

Oberaufsicht zu. Teilweise verdeutlichten <strong>die</strong> Leaver im Rahmen ihrer Aussagen<br />

auch, dass <strong>die</strong> langen Präsenzzeiten, <strong>die</strong> zahlreichen Sitzungen in unterschiedlichen<br />

Gremien <strong>und</strong> <strong>die</strong> Führungsfunktionen im öffentlichen Spital in<br />

einem ungerechtfertigten Missverhältnis zur Entlohnung stünden, vor allem<br />

dann wenn <strong>die</strong> abgewanderten Kollegen aus dem Privatspital ihr Gehalt bezifferten.<br />

Dieser Vergleich zwischen der eigenen Kaderarztposition <strong>und</strong> der Position<br />

eines Kollegen im Privatspital, der oft in einem Vergleich der Gehaltsstruktur<br />

resultiert, <strong>und</strong> <strong>die</strong> teils offensiv vorgenommene Abwerbung seitens der<br />

Spitalleitung <strong>des</strong> privaten medizinischen Anbieters spielen im Abwanderungsprozess<br />

wesentliche Rollen. Oft liessen <strong>die</strong> Leaver auch verlauten, wie sie sich<br />

durch den Akt <strong>des</strong> Abwerbens seitens der Spitalleitung <strong>und</strong> besonders seitens<br />

<strong>des</strong> CEOs wertgeschätzt fühlten <strong>und</strong> wie sehr <strong>die</strong> Leitung auf ihre Bedingungen<br />

<strong>und</strong> Wünsche (u.a. in Bezug auf Anstellungsbedingungen <strong>und</strong> Gehaltsstrukturen)<br />

eingingen. Die beruflichen Laufbahnen der Leaver <strong>und</strong> einige Aussagen<br />

von Stayern, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Frage der Abwanderung ebenso stellten wie <strong>die</strong><br />

Leaver <strong>und</strong> denen auch Angebote der Privatspitäler vorlagen, verdeutlichten<br />

ein höchst relevanten Unterschied zwischen einer Abwerbung seitens der privaten<br />

Spitäler <strong>und</strong> einer aktiven, individuell eingereichten Bewerbung. Ihren<br />

Berichten ist zu entnehmen, dass <strong>die</strong> Anstellungsbedingungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Höhe<br />

<strong>des</strong> Gehalts bzw. der Umsatzbeteiligung sich massgeblich differenzieren <strong>und</strong><br />

umso besser ausgestaltet sind, je stärker das Spital um den ärztlichen Experten<br />

buhlt. Dementsprechend konnte beispielsweise der Leaver Adrian L. darauf<br />

bestehen, dass sein Einkommen bzw. seine Umsatzbeteiligung keiner Plafonierung<br />

bzw. Deckelung unterliegt. Andere Spezialisten, insbesondere <strong>die</strong>jenigen,<br />

648


<strong>die</strong> in Fachgebieten arbeiten, <strong>die</strong> teilweise als Dienstleistungsfachgebiete erach-<br />

tet werden (bspw. Anästhesie), sehen sich zunehmend zu einer vertraglichen<br />

Festanstellung verpflichtet. Der CEO einer bedeutenden Schweizer Privatkli-<br />

nikgruppe, Louis B., will dadurch <strong>die</strong> Gefahr der Machtausübung, beispiels-<br />

weise seitens <strong>des</strong> Chirurgen auf den Anästhesist, dämmen. Er vertritt <strong>die</strong> Mei-<br />

nung, dass wenn der Anästhesist angestellt ist <strong>und</strong> er den „Hut <strong>des</strong> Unterneh-<br />

mens“ trägt, er demzufolge auch im Sinne <strong>des</strong> Unternehmens handelt. Würde<br />

er aber auf eigene Rechnung am Spital tätig sein, könnte er Gefahr laufen, dass<br />

ein Arzt eines anderen Fachbereichs, mit welchem er übergreifend zusammen-<br />

arbeitet, ihn dermassen unter Druck setzt, dass er seiner ärztlichen Tätigkeit<br />

nicht mehr im vollen <strong>und</strong> möglicherweise auch ethisch vertretbaren Umfange<br />

nachkommt: „Wenn der Anästhesist meinen Hut auf hat, dann<br />

vertritt er <strong>die</strong> Unternehmensinteressen, wenn er <strong>die</strong>s nicht<br />

tut, dann muss er nicht mehr bei uns arbeiten. Und dann<br />

wird der dem Chirurgen gegenüber auch sagen: mein Fre<strong>und</strong>,<br />

hör mal zu, wir haben hier um halb neun gesagt, <strong>und</strong> du<br />

kommst nun erst um zehn vor neun, das geht einfach nicht.<br />

Nächstes Mal um halb neun, ansonsten mache ich keine Narkose<br />

mehr für dich. Das kann er mit dem Spital im Rücken sagen,<br />

als selbstständiger Unternehmer wird er <strong>die</strong>s eher<br />

nicht sagen, dann ist er eher der Dienstleister für den<br />

Chirurgen.“ Die Aussagen der Leaver haben einen kleinen Einblick in <strong>die</strong><br />

mannigfaltige Ausgestaltung der Anstellungsbedingungen am Privatspital<br />

gewährt, <strong>und</strong> dennoch nahm keiner der Leaver zu den unterschiedlichen fixen<br />

bzw. variablen Bestandteilen der Gehaltsstrukturen Stellung. Mit den Stayern<br />

hingegen wurde ausführlich über ihre Entlohnungsstrukturen gesprochen,<br />

zumeist beschäftigte sie <strong>die</strong> Frage, ob eher eine geringe bzw. ob eher eine stärkere<br />

Ausgestaltung der Gehälter nach leistungsorientierten Parametern aus<br />

berufsethischem <strong>und</strong> finanziellem Blickwinkel sinnvoller sei. Diejenigen, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> fixen Gehälter als angenehmer empfanden, verwiesen auf <strong>die</strong> dadurch geringe<br />

Ausrichtung <strong>des</strong> eigenen Handelns an ökonomischen Kennzahlen bzw.<br />

Umsatzzielen <strong>und</strong> den damit einhergehenden geringeren Leistungsdruck <strong>und</strong><br />

finanziellen Druck. Andere jedoch wollten von den leistungsorientierten Strukturen<br />

profitieren, da sie insbesondere das durch <strong>die</strong> persönlich erbrachte Leistung<br />

am zusatzversicherten Patienten generierte Honorar für sich beanspruchen<br />

wollten. Teilweise offenbarten Stayer eine wahrlich positive Einstellung<br />

zum monetären Kalkül, beispielsweise Joachim A., der zu den wenigen gehörte,<br />

649


<strong>die</strong> sich gegen eine Poollösung <strong>und</strong> eine ad personam Honorarzuschreibung<br />

aussprachen: „Eine positive Tendenz ist sicherlich, dass man<br />

wirtschaftlich denkt, das muss man auch. Dies macht man<br />

natürlich auch, wenn man sich in einer solchen Position<br />

befindet. Dies ist mal eine positive Tendenz, das Fördern<br />

<strong>des</strong> wirtschaftlichen Denkens.“ Diese ad personam Zuschreibung der<br />

Honorare war nur in einem der drei Kantonsspitäler möglich, alle anderen<br />

„poolten“ <strong>die</strong>se Einnahmen <strong>und</strong> verteilten sie, nach einem, durch den Chefarzt<br />

oder den CEO definierten, Verteilungsschlüssel auf <strong>die</strong> Kaderärzte (inkl. Oberärzte<br />

teilweise auch Assistenzärzte). Die Gehaltsstrukturen in den Kantonsspitälern<br />

unterschieden sich in der Ausgestaltung der fixen <strong>und</strong> variablen Lohnanteile.<br />

In Bezug auf das fixe Gehalt waren sie transparent ausgestaltet. Der variable<br />

Anteil hingegen, der <strong>die</strong> Einnahmen aus stationären Leistungen an zusatzversicherten<br />

Patienten, <strong>die</strong> persönlich erbrachten ambulanten Leistungen, <strong>die</strong><br />

Umsatzbeteiligung (auf Stufe Spital <strong>und</strong> Fachbereich) oder das Initiieren <strong>und</strong><br />

Durchführen von spitalinternen Projekten inklu<strong>die</strong>rte, variiert je nach Fachgebiet<br />

<strong>und</strong> Hierarchiestufe.<br />

Eine solch offene Gesprächsführung seitens der Stayer in Bezug auf <strong>die</strong> Ausgestaltung<br />

ihrer Gehälter wäre vor wenigen Jahrzehnten noch <strong>und</strong>enkbar gewesen.<br />

Dass <strong>die</strong> Leaver weniger zu den Anstellungsbedingungen <strong>und</strong> Gehaltsstrukturen<br />

Stellung nahmen, hängt vermutlich auch mit dem berechtigten<br />

Vorwurf seitens gewisser Stayer in Bezug auf <strong>die</strong> Patientenselektion <strong>und</strong> den<br />

damit einhergehenden merklich höheren Gehaltsklassen zusammen. Die<br />

Marktvergesellschaftung <strong>des</strong> Krankenhauswesens hat dazu beigetragen, dass<br />

<strong>die</strong> Leaver einerseits offensichtlich <strong>die</strong> Spielregeln, <strong>die</strong> im öffentlichen Spital<br />

gelten <strong>und</strong> von ihnen seit Beginn ihrer Ausbildung zum Arzt auch aufrechterhalten<br />

wurden, in Frage stellen <strong>und</strong> mit ihrer offenen Demonstration <strong>des</strong><br />

Verbrämten, also der Verkennung der ökonomischen Dimension <strong>des</strong> ärztlichen<br />

Handelns, <strong>die</strong> „Illusio“ <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> entzaubern. Ihr Abwerben von Kollegen aus<br />

öffentlichen Spitälern hängt u.a. auch damit zusammen, dass jeder weitere<br />

Leaver eine Legitimierung ihrer eigenen Position im Privatspital darstellt. Die<br />

Abwendung hat eine Orientierung an der Marktgläubigkeit offenbart <strong>und</strong> zugleich<br />

<strong>die</strong> Regeln <strong>des</strong> Spiels <strong>des</strong> Privatkrankenhauses verdeutlicht, <strong>die</strong> aber<br />

nicht von allen Leavern gleichermassen befolgt werden: bewusst induziertes<br />

konkurrieren<strong>des</strong> Verhalten, Profitmaximierung zur eigenen Bereicherung <strong>und</strong><br />

derjenigen <strong>des</strong> Spitals <strong>und</strong> eine Ausrichtung <strong>des</strong> ärztlichen Angebots an lukra-<br />

650


tiven Eingriffen. Diese Angleichung der ärztlichen berufsethischen Hand-<br />

lungsmaxime an zweckrationalem Handeln ist konträr dem Habitus <strong>des</strong> Arztes<br />

<strong>und</strong> offenbart eine Annäherung bzw. allmähliche Inkorporierung <strong>des</strong> Habitus<br />

<strong>des</strong> Wirtschaftsmenschen. In Webers Erläuterungen zur Entstehung <strong>des</strong> Kapitalismus<br />

verdeutlicht sich eine zunehmende Entfernung der Akteure von affektiven,<br />

traditionellen <strong>und</strong> auch wertrationalen Bindungen <strong>und</strong> eine kontinuierliche<br />

Anpassung der individuellen Handlungen an ökonomischen Chancen, an<br />

Berechenbarkeit <strong>und</strong> an der Zweckrationalität (Mikl-Horche, 2010, zit. in Maurer,<br />

2010, S. 109). Der Markt mit seiner gr<strong>und</strong>legenden Ausrichtung an der<br />

Wirtschaftslogik bildet seine eigene Marktethik aus, um <strong>die</strong> massgeblich an<br />

monetären Wert orientierten Handlungsmaximen zu legitimieren. Die zunehmende<br />

Privatisierung öffentlicher Krankenhäuser zeugt exemplarisch von einer<br />

anhaltenden Marktvergesellschaftung: „Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit<br />

überlassen ist, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person,<br />

keine Brüderlichkeits- <strong>und</strong> Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den<br />

persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen. (…) Rationale<br />

Zweckinteressen bestimmen <strong>die</strong> Marktvorgänge in besonders hohem<br />

Masse, <strong>und</strong> rationale Legalität … (…) Der ,freie‘, d.h. der durch ethische Normen<br />

nicht geb<strong>und</strong>ene Markt mit seiner Ausnutzung der Interessenkonstellation<br />

<strong>und</strong> Monopollage <strong>und</strong> seinem Feilschen gilt jeder Ethik als unter Brüdern verworfen.“<br />

(Weber, 1922/1972, S. 383) Die Leaver haben mit ihrem Akt der Abwanderung,<br />

mit welchem sie ein deutliches Zeichen gegen eine ärztliche Tätigkeit<br />

im öffentlichen Spital setzten, <strong>und</strong> der teilweise impliziten Ausrichtung<br />

ihres Handelns am monetären Gegenwert, <strong>die</strong> nackte Wahrheit, der schon immer<br />

auch gegebenen Orientierung <strong>des</strong> ärztlichen Handelns an Geldwerten,<br />

offenbart. Das offene Demonstrieren <strong>des</strong> bisher Verbrämten – beispielsweise<br />

Patientenselektion anhand <strong>des</strong> Versicherungsstatus oder übermässige Indikationsstellung<br />

zur Umsatzgenerierung – kann zum Verlust der Legitimation der<br />

nicht ökonomischen Gesinnung <strong>und</strong> Praxis beitragen. Joachim A. beispielsweise<br />

argumentierte in Bezug auf seine Aussage, dass nebst dem fachlichen Interesse<br />

<strong>und</strong> dem breiten Patientengut, <strong>die</strong> monetäre Entlohnung massgeblich zur Zufriedenheit<br />

<strong>und</strong> zum Verbleib bzw. zur Abwanderung beiträgt, mit den Worten:<br />

„Man kann sich gar nicht so einsetzen, wenn man keine unmittelbare<br />

Erfolgsbeteiligung hat. Das kann doch kein<br />

Mensch!“ Das offenk<strong>und</strong>ige Demonstrieren, dass <strong>die</strong> persönliche Bereicherung<br />

als Massstab der individuellen Arbeitszufriedenheit gilt, <strong>und</strong> <strong>die</strong> lakonische<br />

651


Berufung auf <strong>die</strong> menschlichen Denk- <strong>und</strong> Handlungsschemata, wonach der<br />

Mensch nun mal nach Geld <strong>und</strong> Reichtum strebt, verdeutlichen <strong>die</strong> heutige<br />

Selbstverständlichkeit mit der, über <strong>die</strong> zum Teil vollzogene Orientierung <strong>des</strong><br />

ärztlichen Dienstes an der monetären Bereicherung, gesprochen wird. Diese<br />

Ansicht, <strong>die</strong> auch andere Kollegen mit Joachim A. teilen, könnte dazu führen,<br />

dass in wenigen Jahren <strong>die</strong>se als tonangebend <strong>und</strong> <strong>die</strong> nicht ökonomische Gesinnung<br />

als archaisch erachtet wird, wodurch <strong>die</strong> Legimitierung obsolet werden<br />

würde <strong>und</strong> <strong>die</strong> symbolische Wirkkraft verloren ginge.<br />

Dieser erneute Exkurs in <strong>die</strong> Ethik der Gabe verdeutlicht, dass Mauss wie auch<br />

Bour<strong>die</strong>u in der Ethik der Gabe, der moralischen Verpflichtung zur Grosszügigkeit<br />

<strong>und</strong> der aus ihr hervorgehenden Ehre, ein exemplarisches symbolisches<br />

Kapital sehen, das dem Individuum nur von aussen zugesprochen werden<br />

kann <strong>und</strong> nur solange bestand hat, solange <strong>die</strong> Anerkennung als legitim erachtet<br />

wird (Schultheis, 2007, S. 70 f.). Beim Gabentausch geht es entsprechend<br />

Mauss <strong>und</strong> Bour<strong>die</strong>u also um genau <strong>die</strong>ses symbolische Kapital. Die Anerkennung<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> ihr zugr<strong>und</strong>eliegenden Spielregeln bedingen eine systematische<br />

Aufrechterhaltung der Verleugnung der materiellen Nützlichkeitserwägungen<br />

<strong>und</strong> instrumentellen Vernunft (ebd.). Diese Regeln sind in Bezug auf das öffentliche<br />

Spital <strong>und</strong> <strong>die</strong> Legitimierung der als anti-ökonomisch <strong>und</strong> antiutilitaristisch<br />

geltenden Ausrichtung <strong>des</strong> ärztlichen Handeln massgeblich, denn<br />

<strong>die</strong> Legitimationszuschreibung seitens der Laien setzt <strong>die</strong> Sicherung <strong>des</strong> universellen,<br />

nicht-warenkonformen Gutes Ges<strong>und</strong>heit durch <strong>die</strong> Ärzteschaft<br />

voraus (Schultheis, 2012, S. 7). Diese sorgt durch ihren Dienst für <strong>die</strong> Allgemeinheit<br />

<strong>und</strong> der damit einhergehenden Aufrechterhaltung <strong>des</strong> öffentlichen<br />

Gutes, dass sie in den Genuss von Ehre, Privilegien <strong>und</strong> einem ausseralltäglichen<br />

Status kommt, <strong>die</strong> ihnen von der Öffentlichkeit <strong>und</strong> insbesondere dem<br />

Patienten zugesprochen werden. Die Tatsache, dass heute mehr <strong>und</strong> mehr Patienten<br />

teilweise eine misstrauische Haltung dem Arzt gegenüber hegen, sie den<br />

Versuch unternehmen <strong>die</strong> Informationsasymmetrie zwischen dem Laien <strong>und</strong><br />

dem Experten mit Hilfe der neuen Me<strong>die</strong>n zu begegnen, <strong>die</strong> sich nur teilweise<br />

als gute Informationsquellen herausstellen, <strong>und</strong> vermehrt auf ihr Recht zum<br />

Einholen einer Zweitmeinung pochen, erachten einige der befragten Ärzte als<br />

offensichtliche Anzweiflung der ärztlichen Fachkompetenz, wodurch <strong>die</strong> Befürchtung<br />

eines Imageabbaus einhergeht. Andere wiederum sehen darin eine<br />

ges<strong>und</strong>e Skepsis, <strong>die</strong> heutzutage auch angebracht sei. In Bezug auf <strong>die</strong> Zweit-<br />

652


meinung werden <strong>die</strong> Kosten nur unter bestimmten Umständen, <strong>die</strong> von Kran-<br />

kenversicherung zu Krankenversicherung divergieren, von der Gr<strong>und</strong>versiche-<br />

rung getragen, <strong>die</strong> Zusatzversicherung hingegen gewährleistet <strong>die</strong>se Form der<br />

Absicherung. Einige Ärzte sehen in der teils verstärkt selbstbestimmten Hal-<br />

tung der Patienten einen Fortschritt. Gewisse Ärzte sprechen von einer Partner-<br />

schaft, <strong>die</strong> sie mit dem Patienten gemeinsam wahrnehmen wollen, was von<br />

einer klaren Abgrenzung von der Idee <strong>des</strong> Patienten als K<strong>und</strong>en zeugt. Damit<br />

einher geht aber auch ein stärkeres zur Verantwortung ziehen <strong>des</strong> Patienten<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> anhaltende Forderung der Ärzte, dass ihre Patienten selbstverantwortlich<br />

gegenüber der eigenen Ges<strong>und</strong>heit handeln, was massgeblich zum propagierten<br />

Bild <strong>des</strong> mündigen Patienten beiträgt. Einige Diskussionen im Bereich<br />

Public Health bzw. New Public Health haben auf den mit <strong>die</strong>sem Bild einhergehenden<br />

Trugschluss verwiesen <strong>und</strong> verdeutlicht, dass <strong>die</strong> Versorgungsnutzung<br />

durch Ressourcenungleichheiten eingeschränkt oder gar verunmöglicht<br />

werden kann <strong>und</strong> dadurch zu weiteren sozialen Ungleichheiten beiträgt (Bauer<br />

& Büscher, 2007, S. 305 ff.).<br />

Obwohl <strong>die</strong> Zahl der abgewanderten Kaderärzte noch kein allarmieren<strong>des</strong><br />

Ausmass angenommen hat, stellt <strong>die</strong> Abwanderung <strong>die</strong>ser medizinischen Experten<br />

ein bedrohliches Zeichen im Hinblick auf <strong>die</strong> Entwicklungsdynamiken<br />

<strong>des</strong> gesamten Versorgungssystems dar. Da <strong>die</strong> Leaver mit ihrem Schritt ins<br />

Privatspital <strong>die</strong> Machbarkeit einer solchen Abwendung vom öffentlichen Spital<br />

<strong>und</strong> von ihrer Pflicht zur Gr<strong>und</strong>versorgung <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>ausbildung offenbart<br />

haben, <strong>und</strong> durch <strong>die</strong> Verbreitung <strong>die</strong>ser Praxis ein zunächst moralisch anstössiges<br />

Verhalten mehr <strong>und</strong> mehr banalisiert <strong>und</strong> normalisiert zu drohen scheint,<br />

werden für alle potentiell Betroffenen, auch <strong>die</strong> Stayer, gr<strong>und</strong>legende Fragen<br />

aufgeworfen. Beachtet man, dass <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>versorgung heute mehrheitlich <strong>und</strong><br />

teils ausschliesslich durch <strong>die</strong> öffentlichen Spitäler gewährleistet wird, <strong>die</strong> Forschung,<br />

Infrastruktur, Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung bis anhin sowohl ökonomisch<br />

als auch strukturell gemeinschaftlich aufrechterhalten wurde <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>ausbildung<br />

anhaltend durch <strong>die</strong> öffentlichen Krankenhäuser erbracht wird,<br />

verdeutlicht sich seitens der Privatspitäler, ihrer Leitung <strong>und</strong> Ärzteschaft, ein<br />

zum Teil deutliches parasitäres, profitorientiertes <strong>und</strong> konkurrieren<strong>des</strong> Verhalten,<br />

dass das Spannungsverhältnis zwischen Ethik <strong>und</strong> kommerziellem Unternehmertum<br />

innerhalb <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung inskünftig verschärfen<br />

wird. Durch <strong>die</strong> Kommodifizierung <strong>des</strong> Gutes Ges<strong>und</strong>heit geht ihre<br />

653


Essenz <strong>des</strong> öffentlichen, kollektiven <strong>und</strong> universellen Gutes verloren <strong>und</strong> der<br />

Berufsethos <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> sein ärztliches Handeln, das idealer Weise als unei-<br />

gennützig <strong>und</strong> frei von Zweckorientierung <strong>und</strong> Rechenhaftigkeit galt <strong>und</strong> mas-<br />

sgeblich zur Sicherung <strong>des</strong> Gemeinwohls beitrug, wobei damit auch <strong>die</strong> Ver-<br />

kennung der ökonomischen Dimension <strong>des</strong> ärztlichen Handelns einher ging,<br />

wird langsam aber kontinuierlich entzaubert. Vor fünfzig Jahren wäre eine<br />

solche Herrschaft der Ökonomie im Ges<strong>und</strong>heitswesen noch <strong>und</strong>enkbar gewesen,<br />

heute ist eine regelrechte Anpassung der strukturellen Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> vor allem auch der habituellen Wahrnehmungs-, Denk- <strong>und</strong> Handlungsschemata<br />

der Ärzte an <strong>die</strong> Gesetzte der Wirtschaftlichkeit feststellbar. In<br />

fünfzig Jahren wird sich <strong>die</strong> Marktvergesellschaftung möglicherweise bereits<br />

vollständig durchgesetzt haben. Den Preis, den der Patient <strong>und</strong> der ärztliche<br />

Berufsstand für <strong>die</strong> Transformation zahlen wird, kann heute nur erahnt werden;<br />

neue Formen der Ungleichheit sind aber bereits heute sichtbar, leider erst<br />

für alle jene, <strong>die</strong> sie auch sehen wollen.<br />

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Appendix A: Interviewleitfaden <strong>und</strong> Transkriptionsregeln<br />

Interviewleitfaden zum Berufsethos <strong>des</strong> Arztes <strong>und</strong> zur zunehmenden Abwanderung<br />

aus öffentlichen Schweizer Spitälern hin zu privaten Krankenhäusern<br />

Forschungsprojekt: Schweizer Kantonsspital/Soziologisches Seminar der<br />

Universität St.Gallen (HSG)<br />

Ihre Antworten werden vertraulich behandelt <strong>und</strong> bei der Auswertung anonymisiert.<br />

Das Gespräch wird ungefähr eine St<strong>und</strong>e dauern.<br />

A) Herkunft/Kindheit<br />

Familiärer Status, Herkunftsfamilie, Wunschberuf, Beweggründe für<br />

Entscheid <strong>des</strong> Arztberufs<br />

1. Eisbrecher Frage: Mögen Sie sich an den Zeitpunkt erinnern, an welchem<br />

Sie den Entscheid trafen Arzt zu werden? Was hat Ihren damaligen Entscheid<br />

beeinflusst (Verwandtschaft, Ereignisse etc.)?<br />

2. Waren Ihre Eltern oder Grosseltern bereits Ärzte? Falls ja, hat <strong>die</strong>se Tatsache<br />

Ihren Entscheid Mediziner zu werden mit beeinflusst?<br />

3. Haben Sie Geschwister? Falls ja, sind <strong>die</strong>se im medizinischen Umfeld tätig?<br />

4. Gibt es klare Faktoren, welche Ihren Entscheid Mediziner zu werden beeinflusst<br />

haben? Was hat Sie an <strong>die</strong>sem Beruf fasziniert? (Hatten Sie Bedenken,<br />

beispielsweise hinsichtlich Faktoren wie hohe Arbeitsbelastung,<br />

wenig Zeit für Familie, Fre<strong>und</strong>e, hohe Anforderung?)<br />

B) Medizinstudium<br />

Etappen der Erwerbsbiographie, Motivation, Diskrepanz zwischen<br />

Vorstellung <strong>und</strong> Erwartung<br />

5. Wo haben Sie stu<strong>die</strong>rt? Weshalb haben Sie <strong>die</strong>se Universität ausgewählt?<br />

6. Welche Erwartungen hatten Sie an das Studium? Wurden <strong>die</strong>se Erwartungen<br />

erfüllt?<br />

677


678<br />

7. Wie würden Sie Ihre Stu<strong>die</strong>nzeit beschreiben?<br />

C) Assistenzarztstelle<br />

Etappen der Erwerbsbiographie, Motivation <strong>und</strong> Faszination am Arzt-<br />

beruf, Diskrepanz zwischen Vorstellung <strong>und</strong> Erwartung, Work-Life-<br />

Balance<br />

8. Wann sind Sie zum ersten Mal in Berührung mit dem Spitalalltag ge-<br />

kommen? Fand <strong>die</strong>ser Erstkontakt bereits während Ihres Studiums<br />

(Praktikum) oder danach als Assistenzarzt statt?<br />

9. Wie darf ich mir Ihre erste Stelle als Assistenzarzt vorstellen? Wie sah Ihr<br />

Umfeld aus? War <strong>die</strong> Arbeitsbelastung hoch? Falls ja, hatten Sie mit einer<br />

solchen Belastung gerechnet? Wie gingen Sie mit <strong>die</strong>ser Belastung um?<br />

Was bedeutete <strong>die</strong>s für Ihr Privatleben? Mussten Sie Ihr Leben gr<strong>und</strong>le-<br />

gend umstellen? (Partnerschaft, Familie, Fre<strong>und</strong>e ...)<br />

10. Darf man von Karriereplanung sprechen als es zur Auslesung der an-<br />

schliessenden Assistenzstellen kam? Haben Sie sich bewusst für <strong>die</strong>ses<br />

oder jenes Spital interessiert oder herrschte Arbeitsplatzmangel <strong>und</strong> Sie<br />

nahmen <strong>die</strong>jenige Stelle an, welche ihnen gerade angeboten wurde?<br />

11. Worin unterschieden sich Ihre Assistenzstellen?<br />

12. Nach Ihrer Assistenzarztzeit wurden Sie zum Oberarzt ernannt, nach<br />

welchen Kriterien haben Sie Ihre Spezialität ausgewählt? Was hat Sie an<br />

<strong>die</strong>ser Richtung interessiert, vielleicht sogar fasziniert?<br />

D) Familienleben <strong>und</strong> privates Umfeld<br />

13. Fragen zu Familie, Partnerschaft, Kinder ... einplanen – aus dem Inter-<br />

view heraus spontan nachfragen.<br />

E) Werdegang auf Stufe Oberarzt<br />

Etappen der Karriere (akademische versus klinische Karriere, Habilita-<br />

tion, Auslandaufenthalte, Anfragen seitens Privatkliniken)<br />

14. An welchen Spitälern waren Sie als Oberarzt tätig (falls Stellenwechsel,<br />

weshalb ein Stellenwechsel - worin lag Ihre Motivation <strong>die</strong> Stelle zu<br />

wechseln)? Welche Unterschiede existierten von Stelle zu Stelle? Stärken<br />

<strong>und</strong> Schwächen <strong>die</strong>ser neuen Stelle? Wer hat Sie beim Entscheidungs-<br />

prozess das Spital zu verlassen <strong>und</strong> an einem anderen Spital tätig zu<br />

werden unterstützt (Sie alleine oder wurde der Entscheid mit dem Ehepartner,<br />

der Familie oder Fre<strong>und</strong>en getroffen)?


15. Falls <strong>die</strong> Oberarztstelle bereits an einem der Kantonsspitäler war – wes-<br />

halb sind Sie am Kantonsspital geblieben? Auswahl: Oder, weshalb haben<br />

Sie das Kantonsspital verlassen <strong>und</strong> sind an ein anderes öffentliches Spi-<br />

tal gewechselt? Weshalb haben Sie sich für <strong>die</strong> Selbstständigkeit ent-<br />

schieden? Weshalb sind Sie zu einer Privatklinik gewechselt?<br />

F) Berufliche Identität <strong>und</strong> Werdegang auf Stufe Leitender Arzt<br />

Karriereverlauf, externe Karriereförderung, Funktionsstatus, Berufs-<br />

ethos <strong>und</strong> Berufsstolz, Herausforderungen in Bezug auf Arbeitsalltag,<br />

Entwicklungsperspektiven<br />

16. Wie darf ich mir eine Beförderung zum Leitenden Arzt vorstellen? Wie<br />

schaut ein solcher Prozess im medizinischen Umfeld aus? Wird man als<br />

Oberarzt bei der Beförderung zum Leitenden Arzt für eine spezifische<br />

Stelle empfohlen?<br />

17. Inwiefern hat sich Ihr Arbeitsalltag nach <strong>die</strong>ser Beförderung verändert?<br />

Worin liegt der Unterschied Ihrer damaligen zu Ihrer heutigen Arbeitstätigkeit?<br />

Wie viel Zeit benötigen Sie für administrative Arbeiten, wie viel<br />

für Visiten am Patienten etc.? Worin unterscheidet sich Ihre Zusammenarbeit<br />

mit dem Team heute, im Vergleich zu Ihrer Zeit als Oberarzt?<br />

G) Arbeitswelt: Anstellungsform, Gehaltsstruktur, Organisationsstruktur<br />

<strong>und</strong> -kultur, Betriebsklima, administrativer Aufwand (Differenzierung<br />

bzw. Anpassung der Fragen in Bezug auf Interviewkontext: öffentliches<br />

Spital versus Privatklinik)<br />

Transformation in Bezug auf Arbeitsalltag: Arbeitszeiten, Hierarchie,<br />

Anstellungsbedingungen/-formen, Umstrukturierungen <strong>und</strong> Entzauberung:<br />

berufliches Selbstverständnis, Managerialisierung, Professionalisierung<br />

versus Deprofessionalisierung, Work-Life-Balance<br />

18. Arzt im öffentlichen Spital: Welches sind <strong>die</strong> Vor- <strong>und</strong> Nachteil einer Anstellung<br />

im Kantonsspital? Was fasziniert Sie an <strong>die</strong>sem Arbeitsumfeld?<br />

Worin unterscheidet sich Ihrer Meinung nach (bzw. basierend auf eigenen<br />

Erfahrungen oder Hören-Sagen) Ihre Arbeit von derjenigen eines Arztes auf<br />

gleicher Stufe in einer privaten Klinik?<br />

19. Arzt im öffentlichen Spital: Sie sind seit ... am öffentlichen Spital tätig, haben<br />

folglich beispielsweise <strong>die</strong> Privatisierung <strong>des</strong> Kantonsspitals oder interne<br />

Neu- <strong>und</strong> Umorganisationen miterlebt – wie haben Sie <strong>die</strong>se Veränderungen<br />

erlebt? Was bedeuteten <strong>die</strong>se Massnahmen für Sie konkret?<br />

679


680<br />

20. Arzt im öffentlichen Spital: Haben Sie schon einmal in einem Privatspital<br />

gearbeitet?<br />

a. Falls ja, in welchem? Wie sahen <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen aus? Wo-<br />

rin unterschieden sich <strong>die</strong>se Bedingungen von Ihren jetzigen Be-<br />

dingungen? Wie sahen <strong>die</strong> Möglichkeiten (hinsichtlich Karriere, flexible<br />

Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit, Mutterschaftsurlaub etc.) aus? Welche<br />

Stärken <strong>und</strong> Schwächen existieren innerhalb Ihres heutigen<br />

Arbeitsalltags? Bitte vergleichen Sie <strong>die</strong>sen in dem Sie Ihren heutigen<br />

Arbeitsalltag mit demjenigen im Privatspital, in welchem Sie<br />

tätig waren, vergleichen.<br />

b. Sind Sie der Meinung, dass <strong>die</strong> Arbeit in einem öffentlichen bzw.<br />

öffentlich subventionierten Spital sich von der Arbeit in einem<br />

Privatspital unterscheidet? Falls ja, von welcher Art von Unterschieden<br />

sprechen wir <strong>und</strong> welches sind <strong>die</strong> Gründe für <strong>die</strong>se Unterschiede?<br />

Verursachen <strong>die</strong> Patienten, <strong>die</strong> Arztkollegen oder das<br />

Management <strong>des</strong> Spitals <strong>die</strong> grossen Unterschiede?<br />

21. Arzt im öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spital: Wenn Sie Ihren heutigen Arbeitgeber<br />

mit einem Ihrer früheren Arbeitgeber (öffentliches Spital) vergleichen,<br />

worin liegen <strong>die</strong> Stärken <strong>und</strong> Schwächen Ihres heutigen Arbeitgebers?<br />

22. Arzt im öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spital: Worin liegen <strong>die</strong> Hauptunterschiede<br />

bezüglich einer Anstellung in einem öffentlichen Spital <strong>und</strong> einer Anstellung<br />

in einer privaten Klinik?<br />

23. Arzt im öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spital: Würden Sie von einer hohen oder<br />

eher flachen Hierarchie in Ihrem jetzigen Arbeitsumfeld sprechen? Wie<br />

sahen <strong>die</strong> hierarchischen Strukturen bei Ihren ehemaligen Arbeitgebern<br />

aus?<br />

24. Arzt im öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spital: Wie muss ich mir einen typischen<br />

Tag in Ihrem Alltag als Leitender Arzt oder Chefarzt vorstellen? Um<br />

welche Uhrzeit beginnt Ihr Arbeitstag, welches sind Ihre ersten Arbeitsschritte,<br />

gibt es persönliche Rituale, sind <strong>die</strong> Zeiten fix geregelt etc.?<br />

Schaut jeder Tag ungefähr gleich aus?<br />

25. Arzt im öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spital: Welche Arbeitsschritte bzw. Tätigkeiten<br />

bereiten Ihnen als Mediziner im Laufe eines Tages besonders<br />

Freude? Welche Tätigkeiten bereiten Ihnen weniger Freude?<br />

26. Arzt im öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spital: Wie sind Sie mit den Arbeitsbedingungen,<br />

Anforderungen, Möglichkeiten (hinsichtlich Karriere, flexib-


le Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit, Mutterschaftsurlaub etc.), <strong>die</strong> Ihnen in Ih-<br />

rem jetzigen Arbeitsumfeld zuteil kommen, zufrieden? Welche Verände-<br />

rungen, <strong>die</strong> in Ihrem jetzigen Umfeld noch nicht umgesetzt wurden,<br />

würden Sie sich wünschen?<br />

27. Arzt im öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spital: Was vermissen Sie an Ihrer Arbeit<br />

im jetzigen Spital (Mitspracherecht, Teaching, mehr Eigenverantwor-<br />

tung, Teamarbeit, Führungstätigkeit)?<br />

28. Arzt im öffentlichen <strong>und</strong> privaten Spital, falls Tätigkeit im Ausland stattfand:<br />

Wie sah Ihr Arbeitsalltag in ... aus? Worin unterschied sich Ihr Arbeitsall-<br />

tag im Ausland von demjenigen hier in der Schweiz? Wie wurden Sie<br />

dort als Arzt wahrgenommen? Welches waren <strong>die</strong> Herausforderungen,<br />

<strong>die</strong> an Sie als Mensch <strong>und</strong> an Sie als Mediziner in <strong>die</strong>ser neuen Kul-<br />

tur/Umgebung gestellt wurden? Was hat Ihnen an <strong>die</strong>ser Auslandserfah-<br />

rung besonders gefallen, was nicht gefallen? Wenn Sie das Ges<strong>und</strong>-<br />

heitswesen in ... betrachten <strong>und</strong> es mit dem Schweizer Ges<strong>und</strong>heitswe-<br />

sen vergleichen, welches sind <strong>die</strong> Stärken <strong>und</strong> Schwächen <strong>des</strong> Schweizer<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesens?<br />

H) Berufsethisches Selbstverständnis <strong>des</strong> Arztes<br />

Veränderungstendenzen hinsichtlich Berufsethos, Berufsstolz, Status<br />

<strong>und</strong> Image der Ärzteschaft, Imagewandel, Work-Life-Balance, Sinn<br />

<strong>und</strong> Qualität der ärztlichen Tätigkeit, Vergleich gegenwärtige <strong>und</strong><br />

nachfolgende Generation<br />

29. Sie sind seit ca. ... Jahren im medizinischen Umfeld tätig – welche Veränderungen<br />

haben sich über <strong>die</strong>se Jahre hinweg für Sie, Ihre Kollegen, Ihre<br />

Berufsgattung, Ihr Umfeld, Ihren Arbeitsalltag, <strong>die</strong> Anforderungen, welche<br />

an Sie gestellt werden, ergeben?<br />

30. Was fasziniert Sie heute an Ihrem Beruf?<br />

31. Haben Sie das Gefühl, dass der „Arzt“ heute ein anderes Image in der<br />

Öffentlichkeit hat als <strong>die</strong>s in Ihren Anfängen oder vor gut einem Jahrzehnt<br />

der Fall war?<br />

32. Wenn Sie <strong>die</strong> heutige Ärztegeneration, „<strong>die</strong> Neulinge“ (Assistenzärzte),<br />

mit derjenigen Generation an Assistenzärzten, zu welcher Sie gehörten,<br />

vergleichen, welches sind Ihrer Meinung nach <strong>die</strong> massgeblichen Unterschiede?<br />

681


682<br />

33. Hat sich <strong>die</strong> Stellung <strong>des</strong> Arztes in der Gesellschaft bzw. der Beruf <strong>des</strong><br />

Arztes, sein Ethos, durch <strong>die</strong>se Tendenzen verändert? Wodurch wurden<br />

<strong>die</strong>se Veränderungen Ihrer Meinung nach herbeigeführt?<br />

I) Das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen, <strong>Ökonomisierung</strong>s- <strong>und</strong> Privatisierungstendenzen,<br />

Managerialisierung, neue Spitalfinanzierung/DRG, Gehaltsstruktur<br />

(Poollösungen, Honorare, Belegarztsstruktur)<br />

34. Wenn Sie einen Vergleich anstellen würden – worin liegen <strong>die</strong> Hauptunterschiede<br />

<strong>des</strong> heutigen Ges<strong>und</strong>heitswesens zum Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />

welches Sie kennengelernt haben, als Sie den Entscheid trafen, Mediziner<br />

zu werden?<br />

35. Welche Folgen haben Ihrer Meinung nach <strong>die</strong> Privatisierungs- <strong>und</strong> <strong>Ökonomisierung</strong>stendenzen<br />

im Ges<strong>und</strong>heitswesen (Schweiz <strong>und</strong> weltweit)?<br />

36. Wie machen sich <strong>die</strong>se Folgen in Ihrem Arbeitsalltag bemerkbar?<br />

37. Wie stehen Sie zur Einführung <strong>des</strong> DRG, das ab 2012 geplant ist?<br />

38. Wird Ihre Arbeit an leistungsorientierten Parametern gemessen? Wenn<br />

ja, inwiefern wirkt sich <strong>die</strong>s auf Ihren Arbeitsalltag aus?<br />

J) Resümee <strong>und</strong> Ausblick<br />

39. Nehmen wir an, Sie ständen wieder am Anfang Ihrer medizinischen<br />

Laufbahn, würden Sie den Beruf <strong>des</strong> Arztes wieder wählen? Falls ja,<br />

würde Sie eine neue Ausrichtung in Betracht ziehen? Falls nein, welchen<br />

Beruf würden Sie heute wählen?<br />

Transkriptionsregeln<br />

(…) Auslassungen von Satzbauteilen oder Sätzen<br />

(lachen) parasprachliche Äusserungen<br />

(Anonymisierung) Anonymisierung von Personennamen,<br />

Fachbereichen, Spitalnamen, geographischen<br />

Regionen<br />

(Anm.d.A.) Erklärungen zu Fachbegrifflichkeiten oder sprachlichen<br />

Unterschieden (Schweizerdeutsch/Schriftdeutsch)<br />

... Satzabbrüche, unvollständiger Satz


Anonymisierung der Interviews<br />

Name <strong>des</strong> Interviewpartners Abkürzung mit Pseudonym, wie beispielsweise<br />

Lena C. <strong>und</strong> Daniel S.<br />

Persönliche Daten (Alter etc.) Hinweis in Klammer auf <strong>die</strong> Nichtnennung aus<br />

Gründen der Anonymität<br />

Krankenhaus Beschränkung auf Nennung der Trägerschaft:<br />

Kantonsspital <strong>und</strong> Privatklinik;<br />

keine regionalen Bezeichnungen oder Zugehörigkeiten<br />

zu Spitalgruppen<br />

Personennamen keine Nennung der im Interview erwähnten Personennamen<br />

von Arztkollegen, Mitarbeitern oder<br />

weiteren Persönlichkeiten;<br />

Hinweis in Klammer auf <strong>die</strong> Nichtnennung aus<br />

Gründen der Anonymität<br />

Fachgebiet Beschränkung auf Innere Medizin <strong>und</strong> Chirurgie<br />

Fachbereiche keine Nennung von Fachbereichen wie beispielsweise<br />

Onkologie, Urologie oder Gefässchirurgie;<br />

Hinweis in Klammer auf <strong>die</strong> Nichtnennung aus<br />

Gründen der Anonymität<br />

683


Appendix B: Austritte aus drei Kantonsspitälern 65 von 1998-<br />

2008<br />

684<br />

Departement<br />

Funktion<br />

66 Anrede Austritt Arbeitsjahre Alter 67 Austrittgr<strong>und</strong> 68<br />

1 Anästhesie LA Herr 31.03.1998 0.25 43 Andere Gründe<br />

2 Medizinische Klinik LA Herr 14.03.1999 29 64 Kündigung AN<br />

3 Frauenklinik LA Herr 30.06.1999 5 40 Kündigung AN<br />

4 Medizinische Klinik LA Herr 31.12.1999 0 40 Kündigung AN<br />

5 Augenklinik LA Herr 31.01.2000 7 41 Kündigung AN<br />

6 Urologische Klinik LA Herr 31.01.2001 7 48 Kündigung AN<br />

7 Othopädische Klinik LA Herr 31.12.2002 5 41 Kündigung AN<br />

8 Röntgeninstitut KSL LA Herr 31.03.2003 12 43 Kündigung AN<br />

9 Kinderspital Luzern LA Herr 31.03.2003 16 52 Kündigung AN<br />

10 Chirurgie Departement CA Herr 31.08.2003 5 49 Kündigung AN<br />

11 Medizinische Klinik LA Herr 29.02.2004 8 60 Kündigung AN<br />

12 Chirurgie Departement LA Herr 31.12.2005 3 45 Kündigung AN<br />

13 Institute LA Herr 28.02.2006 11 46 Kündigung AN<br />

14 Institute LA Herr 31.03.2006 4 47 Kündigung AN<br />

15 Spezialkliniken LA Frau 31.05.2006 11 42 Kündigung AN<br />

16 Chirurgie Co-CA Herr 31.05.2006 5 41 Kündigung AN<br />

17 Chirurgie LA Herr 31.08.2006 0.5 39 Kündigung AN<br />

18 Chirurgie LA Herr 31.12.2006 5 46 Kündigung AN<br />

19 Medizin LA Herr 31.12.2006 11 47 Kündigung AN<br />

20 Institute LA Herr 31.07.2007 2 44 Kündigung AN<br />

21 Institute LA Herr 30.09.2008 7 42 Kündigung AN<br />

21 Total Austritte div. Gründe<br />

1<br />

2<br />

PENSIONIERUNG<br />

Pathologisches Institut LA Herr 30.06.1998 15 64<br />

Kinderspital Luzern CA Herr 30.04.1999 28 65<br />

3 Medizinische Klinik LA Herr 30.06.1999 25 63<br />

4<br />

5<br />

Kinderspital Luzern LA Herr 31.03.2000 29 65<br />

Pathologisches Institut LA Herr 30.06.2000 21 64<br />

6 Medizinische Klinik CA Herr 31.12.2000 18 64<br />

7 HNO-Klinik CA Herr 30.06.2001 9 63<br />

8<br />

Chirurgie Departement LA Herr 30.11.2001 3 62<br />

9<br />

Zentrum für med. Labordiagnostik<br />

CA Herr 31.08.2002 19 62<br />

10 Urologische Klinik CA Herr 30.06.2004 19 65<br />

11 Medizinische Klinik LA Herr 31.12.2004 26 63<br />

12 M<strong>und</strong>-Kiefer-Gesichts-<br />

Chirurgie CA Herr 31.07.2005 31 65<br />

13<br />

14<br />

Institute CA Herr 31.12.2006 18 65<br />

Institute CA Herr 31.03.2007 28 65<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

65 Die drei Kantonsspitäler A, B, C entsprechen denjenigen Spitälern, an welchen <strong>die</strong> Interviews durchgeführt wurden.<br />

66 LA steht für Leitender Arzt <strong>und</strong> CA für Chefarzt bzw. Co-CA für Co-Chefarzt (angewandt auf alle drei Tabellen).<br />

67 Das Alter wurde basierend auf dem Austrittsdatum berechnet (angewandt auf alle drei Tabellen)<br />

68 AN steht für Arbeitnehmer <strong>und</strong> AG für Arbeitgeber (angewandt auf alle drei Tabellen)


15 Chirurgie CA Herr 31.05.2008 19 65<br />

15<br />

1<br />

Total Austritte<br />

Pensionierung<br />

BEFRISTETES<br />

DIENSTVERHÄLTNIS<br />

Anästhesie LA Herr 31.12.2001 23 65<br />

2 Chirurgie Departement LA Herr 31.05.2002 2 41<br />

3<br />

Pathologisches Institut LA Herr 30.06.2005 5 42<br />

3 Total Austritte Befrist.DV.<br />

39 Total Austritte 1998-2008<br />

Pensionierung/Teil-<br />

Pensionierung<br />

Befristetes Dienstverhältnis<br />

Befristetes Dienstverhältnis<br />

Befristetes Dienstverhältnis<br />

Tabelle 13: Anzahl Austritte der <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leitenden Ärzte <strong>des</strong> Kantonsspitals A 69 inkl. Kündigungen,<br />

Pensionierungen <strong>und</strong> befristete Arbeitsverhältnisse<br />

(eigene Darstellung)<br />

69 Spitalname bekannt, wird aber aus Gründen der Anonymität nicht genannt<br />

685


686<br />

Departement Funktion Anrede Austritt Arbeitsjahre Alter Austrittgr<strong>und</strong><br />

Kündigung durch AN/AG<br />

1 Allgem. Innere Medizin CA Herr 31.05.1998 6 44 Kündigung AN<br />

2 Urologie CA Herr 31.07.2001 6 51 Kündigung AN<br />

3 Augenklinik LA Herr 30.06.2003 6 42 Kündigung AN<br />

4 unbekannt LA Herr 31.12.2003 15 54 Kündigung AN<br />

5 Nephrologie LA Herr 31.12.2003 4 46 Kündigung AN<br />

6 Orthopädische Chirurgie LA Herr 31.03.2004 5 49 Kündigung AN<br />

7 Radiologie CA Herr 31.08.2005 2 47 Kündigung AG<br />

8 Orthopädische Chirurgie LA Herr 30.11.2005 8 49 Kündigung AG<br />

9 Orthopädische Chirurgie LA Herr 30.11.2005 14 59 Kündigung AN<br />

10 Frauenklinik LA Herr 31.05.2006 16 50 Kündigung AN<br />

Administrativer<br />

11 Radiologie LA Herr 30.06.2008 14 44 Austritt<br />

12 Anästhesie LA Herr 30.06.2008 9 53 Kündigung AN<br />

12 Total Austritte div. Gründe<br />

PENSIONIERUNG<br />

1 Anästhesiologie CA Herr 30.06.2001 14 65 Pensionierung<br />

2 Hals-Nasen-Ohrenklink LA Herr 30.04.2003 30 63 Pensionierung<br />

3 Psychosomatik LA Herr 30.06.2003 25 63 Pensionierung<br />

4 Radiologie CA Herr 30.06.2003 32 62 Pensionierung<br />

5 Chirurgie CA Herr 31.08.2004 10 63 Pensionierung<br />

6 Kardiologie CA Herr 30.09.2004 24 65 Pensionierung<br />

7 Allgem. Innere Medizin CA Herr 30.09.2004 19 63 Pensionierung<br />

8 Leit. Fachb.Chirurgie LA Herr 31.12.2007 4 63 Pensionierung<br />

9 Hals-Nasen-Ohrenklink CA Herr 31.01.2008 24 65 Pensionierung<br />

10 Radio-Onkologie CA Herr 29.02.2008 20 65 Pensionierung<br />

11 Pathologie LA Herr 29.02.2008 38 64 Pensionierung<br />

12 Frauenklinik CA Herr 30.04.2008 18 63 Pensionierung<br />

13 Pathologie<br />

Total Austritte Pensionie-<br />

CA Herr 31.05.2008 32 65 Pensionierung<br />

13 rung<br />

25 Total Austritte 1998-2008<br />

Tabelle 14: Anzahl Austritte der <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leitenden Ärzte <strong>des</strong> Kantonsspitals B inkl. Kündigungen,<br />

Pensionierungen <strong>und</strong> befristete Arbeitsverhältnisse<br />

(eigene Darstellung)


Departement Funktion Anrede Austritt Arbeitsjahre Alter Austrittgr<strong>und</strong><br />

Kündigung durch AN/AG<br />

1 Departement unbekannt LA Herr 30.09.1998 20 51 Gr<strong>und</strong> unbekannt<br />

2 Departement unbekannt LA Frau 18.12.1998 2 38 Gr<strong>und</strong> unbekannt<br />

3 Departement unbekannt LA Herr 30.06.2000 14 52 Gr<strong>und</strong> unbekannt<br />

4 Traumatologie LA Herr 30.06.2001 4 40 Gr<strong>und</strong> unbekannt<br />

5 Angiologie LA Herr 31.08.2001 5 44 Gr<strong>und</strong> unbekannt<br />

6 Plastische Chirurgie CA Herr 28.02.2002 7 48 Gr<strong>und</strong> unbekannt<br />

7 Rheumatologie CA Herr 31.05.2002 6 44 Gr<strong>und</strong> unbekannt<br />

8 Urologie LA Herr 30.09.2002 2 40 Gr<strong>und</strong> unbekannt<br />

9 Gynäkologie LA Herr 28.02.2003 8 39 Gr<strong>und</strong> unbekannt<br />

Neue berufl.<br />

10 Inst. f. Radio-Onkologie LA Herr 31.01.2005 21 47 Herausforderung<br />

Neue berufl.<br />

11 Kardiologie LA Herr 30.09.2005 10 45 Herausforderung<br />

Neue berufl.<br />

12 Neurochirurgie LA Herr 30.04.2006 29 59 Herausforderung<br />

Neue berufl.<br />

13 Dermatologie CA Herr 31.05.2006 9 50 Herausforderung<br />

Neue berufl.<br />

14 Inst. f. Radio-Onkologie LA Herr 31.12.2006 1 39 Herausforderung<br />

Neue berufl.<br />

15 Gefässchirurgie LA Herr 31.01.2007 14 46 Herausforderung<br />

Neue berufl.<br />

16 Anästhesie u. op. IPS CA Herr 31.05.2007 23 59 Herausforderung<br />

Neue berufl.<br />

17 Institut für Radiologie LA Herr 30.09.2007 12 42 Herausforderung<br />

Neue berufl.<br />

18 Plast.- u. Wiederh.-Chir. LA Herr 30.04.2008 23 58 Herausforderung<br />

19 Kardiologie LA Herr 30.09.2008 3 42 Familiäre Gründe<br />

Neue berufl.<br />

20 Pneumologie CA Herr 31.03.2009 1 44 Herausforderung<br />

Neue berufl.<br />

21 Viszerale Chirurgie LA Herr 31.05.2009 11 48 Herausforderung<br />

22 Onkologie LA Frau 30.06.2009 13 47 Führung<br />

Neue berufl.<br />

23 Viszerale Chirurgie CA Herr 31.08.2009 11 54 Herausforderung<br />

23 Total Austritte div. Gründe<br />

PENSIONIERUNG<br />

1 Departement unbekannt LA Herr 30.04.1998 25 65 Pensionierung<br />

2 Departement unbekannt CA Herr 31.12.1998 28 64 Pensionierung<br />

3 Departement unbekannt CA Herr 31.12.1998 1 66 Pensionierung<br />

4 Departement unbekannt CA Herr 31.08.1999 28 63 Pensionierung<br />

5 Departement unbekannt LA Frau 31.05.2000 9 63 Pensionierung<br />

6 Departement unbekannt CA Herr 31.01.2001 22 63 Pensionierung<br />

7 Kinderklinik LA Herr 31.12.2002 21 63 Pensionierung<br />

8 Nuklearmedizin CA Herr 31.03.2003 29 65 Pensionierung<br />

9 Strahlentherapie CA Herr 31.10.2003 24 65 Pensionierung<br />

10 Pathologisches Institut LA Frau 31.12.2005 6 69 Pensionierung<br />

11 Kinderklinik LA Herr 31.07.2006 15 63 Pensionierung<br />

12 Pathologisches Institut CA Herr 31.12.2006 11 62 Pensionierung<br />

13 Nuklearmedizin LA Herr 31.12.2006 27 65 Pensionierung<br />

14 Op. Intensivmed. Chir 122 CA Herr 30.06.2007 28 63 Pensionierung<br />

15 Orthopädische Klinik CA Herr 30.09.2007 2 63 Pensionierung<br />

16 Hyg.-mikrob. Institut CA Herr 29.02.2008 21 64 Pensionierung<br />

17 Institut für Radiologie LA Herr 29.02.2008 21 65 Pensionierung<br />

18 Innere Medizin / Sekr. CA Herr 31.03.2008 21 65 Pensionierung<br />

19 Pneumologie CA Herr 30.04.2008 19 65 Pensionierung<br />

20 Kinderklinik CA Herr 31.08.2008 22 64 Pensionierung<br />

687


21 Pathologisches Institut CA Herr 31.01.2009 19 65 Pensionierung<br />

21 Total Austritte Pensionierung<br />

44 Total von 01.1998-08.2009<br />

Tabelle 15: Anzahl Austritte der <strong>Chefärzte</strong> <strong>und</strong> Leitenden Ärzte <strong>des</strong> Kantonsspitals C inkl. Kündigungen,<br />

Pensionierungen <strong>und</strong> befristete Arbeitsverhältnisse<br />

(eigene Darstellung)<br />

688


Lebenslauf Tina-Maria Willner<br />

geboren am 08. Mai 1982 in Zürich, Schweiz<br />

Ausbildung<br />

2009 - 2012 Doktorandenstudium an der Universität St.Gallen<br />

2005 - 2006 Master in Marketing, Services and Communication Management<br />

an der Universität St.Gallen<br />

2001 - 2005 Bachelor der Betriebswirtschaft an der Universität St.Gallen<br />

Praktische Erfahrung<br />

2008 - 2009 Business Manager bei uvision, Zürich<br />

2006 - 2008 Marketingverantwortliche bei Churchill Capital, Frankreich<br />

Wissenschaftliche Tätigkeiten <strong>und</strong> Lehre<br />

HS 2012 Lehrauftrag an der Universität St.Gallen – Kurs im Doktoratsprogramm<br />

„Organisation <strong>und</strong> Kultur“: „Dynamiken der Kunstwelt“<br />

(zusammen mit Prof. Franz Schultheis)<br />

2012 - heute Wissenschaftliche Assistentin <strong>und</strong> Projektkoordinatorin <strong>des</strong> SNF-<br />

Projektes „Kunst <strong>und</strong> Kapital. Zur Ökonomie symbolischer Güter<br />

am Beispiel einer Ethnographie der Art Basel“ am Soziologischen<br />

Seminar der Universität St.Gallen (Leitung: Prof. Franz Schultheis)<br />

FS 2012 Unterrichtsassistenz an der Universität St.Gallen – Atelier „Der<br />

globale Kunstmarkt als soziokultureller Event“ im Master Organisation<br />

<strong>und</strong> Kultur (Fachverantwortlicher: Prof. Franz Schultheis)<br />

2011 - 2012 Wissenschaftliche Assistentin am Soziologischen Seminar der<br />

Universität St.Gallen im Rahmen <strong>des</strong> GFF-Projektes „The Making<br />

of «Business Elites»“<br />

2009 - 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Schweizer Kantonsspital<br />

– sozialwissenschaftliche Untersuchung zur Migration von Kaderärzten<br />

aus öffentlichen Spitälern

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