REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

. Die Erfahrungen der Gewerkschaften mit der Vermittlung von In- und Ausländern 72 Die Gewerkschaften waren die einzigen Arbeitsvermittler, die ihre Klientel gezielt auch im Ausland vermittelten. Dies hat mehrere Ursachen: Zu erst erhofften sich die Gewerkschaften hierdurch, dass ihre Mitglieder der Gewerkschaft dadurch erhalten blieben. Bei einer eventuellen Rückkehr wurden österreichischen Auswanderern durch die reichsdeutschen und schweizerischen Schwesterorganisationen rückvermittelt; zweitens erhöhten sie in die umgekehrte Richtung den Organisationsgrad der staatsfremden Arbeiter, da die reichsdeutschen, reichsitalienischen und schweizerischen Gewerkschaftsmitglieder, die nach Österreich vermittelt wurden, in der Regel auch in Österreich Gewerkschaftsmitglied bleiben; drittens wurde vor allem in Krisenzeiten beziehungsweise Krisenregionen die Auswanderung von der Sozialdemokratie bewußt gefördert, um das Angebot an Arbeitskräften zu reduzieren; viertens wurden gewerkschaftliche Vermittlungsbüros stets über bevorstehende Arbeitskämpfe im Ausland informiert, wodurch sie nicht nur ihre eigene Vermittlung in der bestreikten Industrie oder Region einstellen konnten, sondern dies von ihren Schwesterorganisationen genauso erwarten konnten, darüber hinaus bot eine gut funktionierende gewerkschaftliche Arbeitsvermittlung auch eine Möglichkeit, nicht gewerkschaftlich vermittelte Arbeitnehmer von der Abwerbung durch einen bestreikten Betrieb abzuhalten; sechstens wanderten Arbeiter in der Regel von weniger in höher entwickelte Industrieregionen aus, und die Erfahrungen, die sie dort machten, galten für die Heimatregionen als äußerst nützlich; und siebtens fand die Arbeitsvermittlung ins Ausland im ideologischen Rahmen der internationalen Solidarität statt, die Unterstützung und Beratung von gewerkschaftlich organisierten Ausländern galt somit als proletarische und revolutionäre Pflicht. 98 Gemessenen an diesen wichtigen Beweggründen fällt der Anteil der Gewerkschaften, die nicht nur mit ausländischen Gewerkschaften kooperierten, sondern im Ausland tatsächlich auch in der Lage waren, dem einzelnen Gewerkschaftsmitglied einen bestimmten Arbeitsplatz zu besorgen, niedrig aus. Nach Mataja haben 249 Gewerkschaftsorganisationen in Cisleithanien haben im Jahre 1895 eine Arbeitsvermittlung betrieben. Davon waren allein 84 in Niederösterreich (inklusive Wien). Böhmen lag mit 82 fast genauso hoch. Im gesamtcisleithanischen Überblick betrachtet, war die Streuung nach Berufszweigen relativ

gleichmäßig. Internationale Arbeitsvermittlung gab es in den Bereichen "Steinen, Erden, 73 Thon, Glas", "Leder, Häuten", "Textil" und "Bekleidung und Putzwaren". In absoluten Zahlen war dieses Abgebot jedoch sehr bescheiden. In den oben genannten Industriezweigen boten zwar 110 Einzelgewerkschaften Arbeitsvermittlung an, nur sieben davon ins Ausland. Faßt man die Gewerkschaften der Alpenländer und Niederösterreich zusammen, boten insgesamt 118 Einzelgewerkschaften Arbeitsvermittlung an: Niederösterreich 84, Oberösterreich 6, Salzburg 2, Steiermark 14, Kärnten 3, Tirol 14 und Vorarlberg 5. Lediglich in Niederösterreich boten diese Gewerkschaften Auslandsvermittlung an, und zwar 3 von den insgesamt 7 in ganz Cisleithanien. Die anderen 4 waren in Böhmen (2) und Mähren (2). 99 Es kann also angenommen werden, dass die gewerkschaftlich organisierten Ausländer, die nach Österreich einwanderten, dies in der Regel ohne die direkte Vermittlung ihrer Gewerkschaftsorganisation taten. Dies sagt jedoch nichts über den gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Ausländer beziehungsweise den Anteil der Ausländer aus, die sich vor Ort an die gewerkschaftlichen Vermittlungsbüros wandten. Es ist anzunehmen, dass sich vor allem die größeren Einwanderernationen der Deutschen und Italiener entsprechend ihres Organisationsgrads im Herkunftsland verhielten und sich zu einem relativ hohen Prozentsatz gewerkschaftlich organisieren und vermitteln ließen. Hierzu kommt, dass sich Einwanderer aus dem Deutschen Reich, dem Italienischen Königreich und der Schweiz ohne sprachliche und organisationskulturelle Schwierigkeiten mit den deutschen und italienischen Bürgern Cisleithaniens verständigen konnten. Der Anreiz, sich von den Gewerkschaften vermitteln zu lassen, war in bestimmten Industrien relativ groß. 1895 hatte beispielsweise jeder Zweite, der sich bei den Gewerkschaften als arbeitssuchend meldete, tatsächlich auch durch die Gewerkschaft eine Stelle gefunden. Berufszweige, in denen sich viele Arbeiter als stellensuchend meldeten, konnten im selben Jahr den folgenden Vermittlungserfolg aufweisen. 98 vgl. Diamand 1914; Fuchs 1993; Rónai 1925; Seidel 1985. 99 Diese Daten stammen von Mataja 1898, 46-82.

. Die Erfahrungen der Gewerkschaften mit der Vermittlung von In- und Ausländern<br />

72<br />

Die Gewerkschaften waren die einzigen Arbeitsvermittler, die ihre Klientel gezielt auch im<br />

Ausland vermittelten. Dies hat mehrere Ursachen: Zu erst erhofften sich die Gewerkschaften<br />

hierdurch, dass ihre Mitglieder der Gewerkschaft dadurch erhalten blieben. Bei einer<br />

eventuellen Rückkehr wurden österreichischen Auswanderern durch die reichsdeutschen und<br />

schweizerischen Schwesterorganisationen rückvermittelt; zweitens erhöhten sie in die<br />

umgekehrte Richtung den Organisationsgrad der staatsfremden Arbeiter, da die<br />

reichsdeutschen, reichsitalienischen und schweizerischen Gewerkschaftsmitglieder, die nach<br />

Österreich vermittelt wurden, in der Regel auch in Österreich Gewerkschaftsmitglied bleiben;<br />

drittens wurde vor allem in Krisenzeiten beziehungsweise Krisenregionen die Auswanderung<br />

von der Sozialdemokratie bewußt gefördert, um das Angebot an Arbeitskräften zu reduzieren;<br />

viertens wurden gewerkschaftliche Vermittlungsbüros stets über bevorstehende<br />

Arbeitskämpfe im Ausland informiert, wodurch sie nicht nur ihre eigene Vermittlung in der<br />

bestreikten Industrie oder Region einstellen konnten, sondern dies von ihren<br />

Schwesterorganisationen genauso erwarten konnten, darüber hinaus bot eine gut<br />

funktionierende gewerkschaftliche Arbeitsvermittlung auch eine Möglichkeit, nicht<br />

gewerkschaftlich vermittelte Arbeitnehmer von der Abwerbung durch einen bestreikten<br />

Betrieb abzuhalten; sechstens wanderten Arbeiter in der Regel von weniger in höher<br />

entwickelte Industrieregionen aus, und die Erfahrungen, die sie dort machten, galten für die<br />

Heimatregionen als äußerst nützlich; und siebtens fand die Arbeitsvermittlung ins Ausland im<br />

ideologischen Rahmen der internationalen Solidarität statt, die Unterstützung und Beratung<br />

von gewerkschaftlich organisierten Ausländern galt somit als proletarische und revolutionäre<br />

Pflicht. 98<br />

Gemessenen an diesen wichtigen Beweggründen fällt der Anteil der Gewerkschaften, die<br />

nicht nur mit ausländischen Gewerkschaften kooperierten, sondern im Ausland tatsächlich<br />

auch in der Lage waren, dem einzelnen Gewerkschaftsmitglied einen bestimmten Arbeitsplatz<br />

zu besorgen, niedrig aus. Nach Mataja haben 249 Gewerkschaftsorganisationen in<br />

Cisleithanien haben im Jahre 1895 eine Arbeitsvermittlung betrieben. Davon waren allein 84<br />

in Niederösterreich (inklusive Wien). Böhmen lag mit 82 fast genauso hoch. Im<br />

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