REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

482 mangelnde Fähigkeit und geringe Bereitschaft der Jugoslawen in Österreich, sich für die Einführung des Betriebsratswahlrecht für Ausländer zu engagieren, erklären. In den politisch prägenden 620 60er Jahren standen die Gastarbeiter aus dem EU-Land Italien bei den meisten westeuropäischen Aufnahmeländer an erster Stelle; gefolgt von westlichen Drittländern mit längerer Auswanderungstradition wie etwa Spanien, Portugal, Irland, Österreich und Griechenland. So arbeiteten beispielsweise 1961 in der BRD rund 224.000 Italiener, 65.000 Niederländer, 61.000 Spanier, 43.000 Österreicher, 52.000 Griechen, 23.000 Jugoslawen und 18.000 Türken (Sensenig 1990, 139). Erst im Laufe der 70er Jahren wurden die Ausländer aus Italien und den Staaten der EG-Süderweiterung 621 (Spanien, Portugal und Griechenland) von den Zuwanderern aus Trikontländern - wie der Türkei, Algerien, Marokko, Pakistan oder Indien - von ihrer Position als politisch bestimmende Ausländerbevölkerung verdrängt. Mit Ausnahme der Flüchtlingswellen aus Ungarn 1956, der CSSR 1968, Polen 1981 und der DDR 1989 spielten Zuwanderer aus den Ländern des Realen Sozialismus nur eine marginale Rolle. Bei der Gastarbeiterbeschäftigung in Österreich hingegen dominierten die Jugoslawen von Anfang an. Stand das Verhältnis Italien zu Jugoslawien bei den Ausländern in der BRD 1961 bei 224.600 zu 23.600 - also zehn zu eins - so war sie in Österreich im gleichen Jahr nur 8.662 622 zu 4.565 - also zwei zu eins. Zehn Jahre später war das Verhältnis Italiener zu Jugoslawen in Österreich 7.728 zu 67.689 - also fast eins zu zehn. Mit 7.543 kurdischen und türkischen Gastarbeitern in Österreich spielte die Türkei noch keine Rolle. 623 Bei der Volkszählung 1971 stellten die Jugoslawen 76% aller Gastarbeiter dar. Dieser Anteil erreichte im Jahr der weltweiten Rezesssion 1973 mit 78.5% der insgesamt 226,800 ausländischen Beschäftigten ihren Höhepunkt. Mit 2.5% und 11.8% waren die Bundesdeutschen beziehungsweise Türken zu dieser Zeit nur von marginaler Bedeutung. Gastarbeiter waren gleich Jugoslawen; waren gleich Arbeitnehmer aus dem Realen den US-amerikanischen und österreichischen Gewerkschaften in der unmittelbaren Nachkriegszeit sich ausschließlich auf amerikanischen Quellen stutzen. (Sensenig 1987) 620 Die Gewerkschaften sahen sich erst Anfang der 60er Jahre mit der Masseneinwanderung als Dauererscheinung konfrontiert. Ihre Reaktionen waren widersprüchlich. Die Haltung des DGB ist exemplarisch für dieser gewerkschaftliche Ambivalenz. Der DGB pendelte in den 60er Jahren zwischen Ablehnung und Solidarität. Als die Konjunkturphase dann Anfang der 70er Jahre zu Ende ging, forderten zwar die bundesdeutschen Gewerkschaften einen Anwerbestopp, gleichzeitig setzten sie jedoch durch, daß sowohl EU-Ausländer (vorwiegend Italien) wie auch Drittausländer (v.a. Spanier, Türken, Jugoslawen, Griechen, Portugiesen) das passiven Wahlrecht zum Betriebsrats erhielten (Dohse 1981; Langguth 1993). Man sollte hier betonen, daß es aus der Weimarer Republik - im Gegensatz zur österreichischen Ersten Republik - keine Tradition der multikulturellen Mitbestimmung gab. (siehe oben). 621 Die Auswanderung von Irland nach Großbritannien stellt eine Ausnahme dar, auf die hier nicht näher eingegangen wird. 622 Davon lebten über ein Drittel in einem Bundesland, nämlich Tirol. Es ist also anzunehmen, daß ein Großteil dieser Ausländer der Tiroler Minderheit in Italien angehörten. 623 Die Daten von den österreichischen Volkszählungen (Wien, 1964 und 1974) beziehen sich auf die Wohnbevölkerung.

483 Sozialismus. Im Jahr des Inkrafttretens des Ausländerbeschäftigungsgesetzes (1976) war das Verhältnis Jugoslawen zu Türken 70.2% zu 14,2% der gesamten Gastarbeitergruppe. Als im Jahr 1981 ein neuerlicher Gastarbeiterabbau eingeleitet wurde, lag das Verhältnis noch bei 64.5% zu 16.9%. Somit wird deutlich, dass rein quantitativ die Arbeitnehmer mit einem kommunistisch geprägten Zugang zur Gesellschaftspolitik und dem Umgang mit Massenorganisationen im gesamten Zeitraum, in dem die österreichische Ausländerpolitik formuliert wurde, in der absoluten Mehrzahl waren. Viele der führenden Aktivisten innerhalb der Initiativen zur Verbesserung der Lage von Gastarbeitern in den einzelnen (EG) EU-Staaten stammten in den 60er, 70er und 80er Jahren entweder aus dem südlichen EU-Raum oder aus den wichtigsten islamischen Herkunftsländern. 624 Ein Großteil dieser Aktivisten brachte organisatorische Erfahrung aus der gewerkschaftlichen und parteipolitischen Arbeit in der ehemaligen Heimat mit. Andere konnten an einfache zivilgesellschaftliche oder religionsgemeinschaftliche Vereinsarbeit beziehungsweise unternehmerisches Wissen anknüpfen. Von zentraler Bedeutung war die Tatsache, dass unabhängig der Natur der organisatorischen Erfahrung im Herkunftsland die Gastarbeiter diese Tätigkeit im Rahmen der Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit in der neuen Heimat fortsetzen konnten. Diese Möglichkeit der Übertragung von zivilgesellschaftlichen Fertigkeiten (skills) aus einer Alltagssituation in eine andere, befähigte die Gastarbeiter - aus so divergenten Ländern wie Pakistan, Algerien, Irland, Griechenland, Italien oder der Türkei - das jeweilige politische System in der neuen Heimat wie etwa in Großbritannien, der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich, in Schweden oder in den Niederlanden - rasch kennenzulernen (Langguth 1993; Wrench 1996). Hierzu wäre ein Vergleich zwischen den wichtigsten EU-Aufnahmeländern und Österreich aufschlußreich, da es verdeutlichen könnte, wie stark die gleichgestellten - und dadurch politisch und sozial privilegierten - EU-Gastarbeiter innerhalb der gesamten Gastarbeiterbevölkerung kurz vor dem Fall des Eiseren Vorhangs tatsächlich waren. 624 Die bestätigen Gespräche des Autors mit einschlägigen Ausländervertreter (Gewerkschaft, Ausländerbeiräte, Grünen, Sozialdemokraten) aus der BRD, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und der Schweiz.

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mangelnde Fähigkeit und geringe Bereitschaft der Jugoslawen in Österreich, sich für die<br />

Einführung des Betriebsratswahlrecht für Ausländer zu engagieren, erklären.<br />

In den politisch prägenden 620 60er Jahren standen die Gastarbeiter aus dem EU-Land Italien<br />

bei den meisten westeuropäischen Aufnahmeländer an erster Stelle; gefolgt von westlichen<br />

Drittländern mit längerer Auswanderungstradition wie etwa Spanien, Portugal, Irland,<br />

Österreich und Griechenland. So arbeiteten beispielsweise 1961 in der BRD rund 224.000<br />

Italiener, 65.000 Niederländer, 61.000 Spanier, 43.000 Österreicher, 52.000 Griechen, 23.000<br />

Jugoslawen und 18.000 Türken (Sensenig 1990, 139). Erst im Laufe der 70er Jahren wurden<br />

die Ausländer aus Italien und den Staaten der EG-Süderweiterung 621 (Spanien, Portugal und<br />

Griechenland) von den Zuwanderern aus Trikontländern - wie der Türkei, Algerien, Marokko,<br />

Pakistan oder Indien - von ihrer Position als politisch bestimmende Ausländerbevölkerung<br />

verdrängt. Mit Ausnahme der Flüchtlingswellen aus Ungarn 1956, der CSSR 1968, Polen<br />

1981 und der DDR 1989 spielten Zuwanderer aus den Ländern des Realen Sozialismus nur<br />

eine marginale Rolle. Bei der Gastarbeiterbeschäftigung in Österreich hingegen dominierten<br />

die Jugoslawen von Anfang an. Stand das Verhältnis Italien zu Jugoslawien bei den<br />

Ausländern in der BRD 1961 bei 224.600 zu 23.600 - also zehn zu eins - so war sie in<br />

Österreich im gleichen Jahr nur 8.662 622 zu 4.565 - also zwei zu eins. Zehn Jahre später war<br />

das Verhältnis Italiener zu Jugoslawen in Österreich 7.728 zu 67.689 - also fast eins zu zehn.<br />

Mit 7.543 kurdischen und türkischen Gastarbeitern in Österreich spielte die Türkei noch<br />

keine Rolle. 623 Bei der Volkszählung 1971 stellten die Jugoslawen 76% aller Gastarbeiter dar.<br />

Dieser Anteil erreichte im Jahr der weltweiten Rezesssion 1973 mit 78.5% der insgesamt<br />

226,800 ausländischen Beschäftigten ihren Höhepunkt. Mit 2.5% und 11.8% waren die<br />

Bundesdeutschen beziehungsweise Türken zu dieser Zeit nur von marginaler Bedeutung.<br />

Gastarbeiter waren gleich Jugoslawen; waren gleich Arbeitnehmer aus dem Realen<br />

den US-amerikanischen und österreichischen Gewerkschaften in der unmittelbaren Nachkriegszeit sich ausschließlich auf<br />

amerikanischen Quellen stutzen. (Sensenig 1987)<br />

620 Die Gewerkschaften sahen sich erst Anfang der 60er Jahre mit der Masseneinwanderung als Dauererscheinung<br />

konfrontiert. Ihre Reaktionen waren widersprüchlich. Die Haltung des DGB ist exemplarisch für dieser gewerkschaftliche<br />

Ambivalenz. Der DGB pendelte in den 60er Jahren zwischen Ablehnung und Solidarität. Als die Konjunkturphase dann<br />

Anfang der 70er Jahre zu Ende ging, forderten zwar die bundesdeutschen Gewerkschaften einen Anwerbestopp, gleichzeitig<br />

setzten sie jedoch durch, daß sowohl EU-Ausländer (vorwiegend Italien) wie auch Drittausländer (v.a. Spanier, Türken,<br />

Jugoslawen, Griechen, Portugiesen) das passiven Wahlrecht zum Betriebsrats erhielten (Dohse 1981; Langguth 1993). Man<br />

sollte hier betonen, daß es aus der Weimarer Republik - im Gegensatz zur österreichischen Ersten Republik - keine Tradition<br />

der multikulturellen Mitbestimmung gab. (siehe oben).<br />

621 Die Auswanderung von Irland nach Großbritannien stellt eine Ausnahme dar, auf die hier nicht näher eingegangen wird.<br />

622 Davon lebten über ein Drittel in einem Bundesland, nämlich Tirol. Es ist also anzunehmen, daß ein Großteil dieser<br />

Ausländer der Tiroler Minderheit in Italien angehörten.<br />

623 Die Daten von den österreichischen Volkszählungen (Wien, 1964 und 1974) beziehen sich auf die Wohnbevölkerung.

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