REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

314 Diese Mitte Dezember 1922 an das Ministerium für Soziale Verwaltung geschickte Beschwerde des Präsidiums der Landesregierung für Tirol steht mit der Massenarbeitslosigkeit der durch die französische Invasion des Ruhrgebiets ausgelösten reichsdeutschen Wirtschaftskrise im Jahre 1923 in keinem unmittelbaren Zusammenhang 460 . Bereits im Jahre 1919 wurde in Regelungen des Reiches und Preußens verordnet, dass der Arbeitgeber beim lokalen Arbeitsnachweis um die Zulassung von ausländischen Arbeitern ansuchen musste. Dieser musste überprüfen, ob sich überbezirklich reichsdeutsche Arbeitskräfte mobilisieren ließen. Wurde dies verneint, so durften Staatsfremde beschäftigt werden. Diese wurden von der Deutschen Arbeiterzentrale vermittelt. Ab September 1921 wurden jährlich 461 nicht nur Neuzulassungen, sondern auch Verlängerungen der Ausländerzulassungen überprüft. Konnten bei diesem Verfahren auf den fraglichen Arbeitsplatz inzwischen ein Inländer vermittelt werden, so wurde der Ausländer entlassen und abgeschoben. Diese Politik nahm keine Rücksicht auf Rasse, sondern lediglich auf Staatsbürgerschaft und wurde von der SPD und den sozialdemokratischen Gewerkschaften 462 mitgetragen (Dohse 1981, 96-101). Österreich scheint wegen der Ableitung seiner staatlichen Legitimität aus dem Deutschnationalismus zuerst unfähig gewesen zu sein auf diesen Affront aus Berlin zu reagieren. Spätestens bei dieser Krise der Selbstdefinition wird deutlich, dass sich der eingeschlagene Konfrontationskurs zwischen Österreich und der Tschechoslowakei einerseits und der erhofften Annäherung an das Deutsche Reich andererseits in der Sozialpolitik als lähmend auswirken konnte. Als Bundesstaat hat Österreich sechs Jahre (bis 1925) gebraucht, um mit einer entsprechenden Reaktion auf die Ausgrenzung seiner Staatsbürger aus dem reichsdeutschen Arbeitsmarkt zu reagieren. Die Debatte hierüber fing jedoch viel früher an. 460 Frankreich Premierminister Raymond Poincaré schickte am 11. Jänner 1923 Truppen ins Deutsche Reich, um die Reparationszahlungen zu sichern. Dies führte in den besetzten Gebieten zu Streiks, die mittelbar eine der Hauptursachen der Inflation und damit zusammenhängenden Massenarbeitslosigkeit des Jahres 1923 war. Viele Reichsdeutsche verarmten und verelendeten über Nacht und versuchten sich im benachbarten Österreich über Wasser zu halten. 461 Im Erlaß des Präsidenten des Reichsamtes für Arbeitsvermittlung vom 8.September 1921 - II 3291/21 - MBliV. 1921, S. 369 wurde diese Frist auf höchstens ein Jahr festgelegt. Zitiert nach Dohse 1981, 100. 462 Die reichsdeutsche Sozialdemokratie war von Anfang an weniger rassistisch als die österreichische. Die Ausgrenzung von Ausländern wurde bereits 1919 lediglich aus sozialchauvinistischen Überlegungen legitimiert. „Wichtiger als das abstrakte Bekenntnis zum Vorrang der (Reichsdeutschen, E.S.) auf dem Arbeitsmarkt war die Tatsache zu werten, daß die Gewerkschaften paritätisch mit den Arbeitgebern an dem Genehmigungsverfahren beteiligt waren. Damit war im Vergleich zum Kaiserreich die Position der einheimischen Arbeiter erheblich gestärkt. (...) Es entwickelte sich das Regelungsinstrument der am Arbeitgeber ansetzenden Beschäftigungsgenehmigung. Ohne Beschäftigungsgenehmigung durften Arbeitgeber keine Ausländer in Arbeit nehmen. Der legale Zugriff auf das internationale Arbeitskräftereservoir war fortan nur unter Einhaltung eines Genehmigungsverfahrens möglich, an dem die Gewerkschaften beteiligt waren.‟ (Dohse 1981, 98) Diese Politik wirkte sich unmittelbar auf die im Deutschen Reich arbeitenden Deutschen mit österreichischer

315 Die ersten quellenmäßig gut belegten Berichte über den reichsbezogenen, ausländerpolitischen Diskussionsprozeß stammen jedoch aus dem Jahr 1922 463 , als das Deutsche Reich dazu überging, in zwölfmonatlichen Abständen den Aufenthalt und die Beschäftigung sämtlicher Ausländer regelmäßig zu prüfen. Ausländer waren zu dieser Zeit nicht gleich Ausländer. Bei der Debatte über eine angemessene Reaktion auf die Ausländerbestimmung der benachbarten Staaten wurde eine geteilte Strategie eingeschlagen. Hierbei wurde beschlossen, gegenüber den Reichsdeutschen grösstmöglichstes Entgegenkommen zu beweisen, während den anderen Staaten, vor allem der Tschechoslowakei, mit möglichster Entschlossenheit zu begegnen war. Die reichsdeutschen Arbeiter waren lediglich bei der Neuzuwanderung - gekoppelt mit Erstbeschäftigung - zu kontrollieren, um festzustellen, ob sie inländische Arbeitskräfte verdrängten 464 . Für den Umgang mit Staatsangehörigen aus der Tschechoslowakei wurde eine ganze Palette von Maßnahmen überlegt. Diese lassen sich, was ihre Wirkung anbelangt, in drei Kategorien einteilen, keine davon übertrifft die Politik des Reiches in ihrer Radikalität: 1) Ablehnung der Verlängerung von Sichtvermerken; 2) Abschaffung von Mittellosen; 3) Nachreihungen von Ausländern bei der Arbeitsvermittlung. 1922 wurde in Österreich, im Gegensatz zum Deutschen Reich noch nicht erwägt, direkt in den Arbeitsmarkt einzugreifen und die Einführung einer Beschäftigungs- beziehungsweise Arbeitserlaubnis einzuführen. 465 Vor allem gegen Reichsdeutsche wollte man so nicht vorgehen. Zu tief saßen zu dieser Zeit zwei Traditionen: wirtschaftliche Freizügigkeit und Deutschnationalismus. In einem Bericht an das Sozialministerium - "Information für den Herrn Bundesminister für soziale Verwaltung" - vom Dezember 1922 skizzierte das Innenministerium die drei Stufen der Ausländerbekämpfung. Hierbei wurde das Ergebnis des Meinungsbildungsprozesses Staatsangehörigkeit aus, die spätestens ab 1921 durch den paritätischen Ausländerabbau genauso hart betroffen waren wie rassisch Nichtdeutsche aus Polen, Italien oder Rußland. 463 „Im Angelegenheit der Ausweisung österreichischer Bundesbürger aus dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei fanden beim Ministerium für Inneres (Ministerialrat Dr. Montel) bisher zwei Besprechungen (vor September 1922, E.S.) zwischen den Vertretern der in Frage kommenden Zentralstellen und der Polizeidirektion Wien statt, bei welchen die Möglichkeit und der Umfang von Gegenmassregeln erörtert wurden.‟ (MfSVer,1922,494,43324) 464 Wie oben erwähnt wurde galt diese Bestimmung für Österreicher im Deutschen Reich bereits ab dem Jahr 1919. 465 Im Gegensatz zu Cisleithanien kannte das Deutsche Reich vor dem Ersten Weltkrieg sowohl im Beschäftigungs- wie im Aufenthaltsbereich Ausländerbeschränkungen. Die Deutschen im Deutschen Reich konnten an eine Rechtstradition gegenüber Österreicher anknüpfen, die für die Deutschen in Österreich als unangebracht erschien. Nicht zuletzt sollte man bedenken, daß die Österreicher, die vor dem Krieg vorwiegend in Preußen arbeiten, keine Deutschösterreicher waren. Somit stellte sich wahrscheinlich für den Reichsdeutschen nach dem Krieg die Rassenfrage nicht unmittelbar.

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Diese Mitte Dezember 1922 an das Ministerium für Soziale Verwaltung geschickte<br />

Beschwerde des Präsidiums der Landesregierung für Tirol steht mit der<br />

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reichsdeutschen Wirtschaftskrise im Jahre 1923 in keinem unmittelbaren Zusammenhang 460 .<br />

Bereits im Jahre 1919 wurde in Regelungen des Reiches und Preußens verordnet, dass der<br />

Arbeitgeber beim lokalen Arbeitsnachweis um die Zulassung von ausländischen Arbeitern<br />

ansuchen musste. Dieser musste überprüfen, ob sich überbezirklich reichsdeutsche<br />

Arbeitskräfte mobilisieren ließen. Wurde dies verneint, so durften Staatsfremde beschäftigt<br />

werden. Diese wurden von der Deutschen Arbeiterzentrale vermittelt. Ab September 1921<br />

wurden jährlich 461 nicht nur Neuzulassungen, sondern auch Verlängerungen der<br />

Ausländerzulassungen überprüft. Konnten bei diesem Verfahren auf den fraglichen<br />

Arbeitsplatz inzwischen ein Inländer vermittelt werden, so wurde der Ausländer entlassen<br />

und abgeschoben. Diese Politik nahm keine Rücksicht auf Rasse, sondern lediglich auf<br />

Staatsbürgerschaft und wurde von der SPD und den sozialdemokratischen Gewerkschaften 462<br />

mitgetragen (Dohse 1981, 96-101).<br />

Österreich scheint wegen der Ableitung seiner staatlichen Legitimität aus dem<br />

Deutschnationalismus zuerst unfähig gewesen zu sein auf diesen Affront aus Berlin zu<br />

reagieren. Spätestens bei dieser Krise der Selbstdefinition wird deutlich, dass sich der<br />

eingeschlagene Konfrontationskurs zwischen Österreich und der Tschechoslowakei einerseits<br />

und der erhofften Annäherung an das Deutsche Reich andererseits in der Sozialpolitik als<br />

lähmend auswirken konnte. Als Bundesstaat hat Österreich sechs Jahre (bis 1925) gebraucht,<br />

um mit einer entsprechenden Reaktion auf die Ausgrenzung seiner Staatsbürger aus dem<br />

reichsdeutschen Arbeitsmarkt zu reagieren. Die Debatte hierüber fing jedoch viel früher an.<br />

460 Frankreich Premierminister Raymond Poincaré schickte am 11. Jänner 1923 Truppen ins Deutsche Reich, um die<br />

Reparationszahlungen zu sichern. Dies führte in den besetzten Gebieten zu Streiks, die mittelbar eine der Hauptursachen der<br />

Inflation und damit zusammenhängenden Massenarbeitslosigkeit des Jahres 1923 war. Viele Reichsdeutsche verarmten und<br />

verelendeten über Nacht und versuchten sich im benachbarten Österreich über Wasser zu halten.<br />

461 Im Erlaß des Präsidenten des Reichsamtes für Arbeitsvermittlung vom 8.September 1921 - II 3291/21 - MBliV. 1921, S.<br />

369 wurde diese Frist auf höchstens ein Jahr festgelegt. Zitiert nach Dohse 1981, 100.<br />

462 Die reichsdeutsche Sozialdemokratie war von Anfang an weniger rassistisch als die österreichische. Die Ausgrenzung<br />

von Ausländern wurde bereits 1919 lediglich aus sozialchauvinistischen Überlegungen legitimiert. „Wichtiger als das<br />

abstrakte Bekenntnis zum Vorrang der (Reichsdeutschen, E.S.) auf dem Arbeitsmarkt war die Tatsache zu werten, daß die<br />

Gewerkschaften paritätisch mit den Arbeitgebern an dem Genehmigungsverfahren beteiligt waren. Damit war im Vergleich<br />

zum Kaiserreich die Position der einheimischen Arbeiter erheblich gestärkt. (...) Es entwickelte sich das<br />

Regelungsinstrument der am Arbeitgeber ansetzenden Beschäftigungsgenehmigung. Ohne Beschäftigungsgenehmigung<br />

durften Arbeitgeber keine Ausländer in Arbeit nehmen. Der legale Zugriff auf das internationale Arbeitskräftereservoir war<br />

fortan nur unter Einhaltung eines Genehmigungsverfahrens möglich, an dem die Gewerkschaften beteiligt waren.‟ (Dohse<br />

1981, 98) Diese Politik wirkte sich unmittelbar auf die im Deutschen Reich arbeitenden Deutschen mit österreichischer

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