REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

270 er ihn ab und dem schnell herbeigeeilten Arzte gelang es nach einiger Mühe, den Selbstmordkandidaten ins Leben zurückzurufen. Die beiden Partienführer der Serben und Russen wurden ebenfalls in den Arrest gebracht, weil sie jedenfalls von der Stimmung unter den Gefangenen gewußt haben und es wohl absichtlich unterließen, der Wachmannschaft pflichtgemäß davon Mitteilung zu machen. Wie wir erfahren, sind die Gefangenen aus Frastanz die Wurzel allen Uebels, sie hetzen fortwährend die anderen Gefangenen auf, selbst die Mazedonier, die bisher die ordentlichsten und willigsten Menschen waren." Der Autor führt fort, dass die Internierten eine reale Gefahr für die Bevölkerung werden könnten und dass deswegen die Wachmannschaften verstärkt und die Behandlung strafweise verschlechtert werden sollte. Aus dieser stark gefärbten Beschreibung des Tatvorganges wird jedoch klar, dass die Meinung der Kufsteiner Leserschaft dieser Zeitung zuungunsten der internierten feindlichen Ausländer beeinflußt werden sollte. Andererseits wird aber sichtbar, dass die Frastanzer als Rädelsführer des Aufstandes eine andere Einstellung zu ihrer Lage in Cisleithanien hatten als die anderen Gefangenen. Es ist anzunehmen, dass die ursprüngliche Belegschaft von etwa 200 Russen, Polen und Südslawen mehrheitlich aus in Österreich oder im Deutschen Reich beschäftigten Fremdarbeitern bestand. Die Frastanzer hingegen waren in ihrer überwiegenden Mehrzahl entweder polnische und jüdische Heimkehrer aus Südamerika oder Juden aus Rußland, die auf dem Weg nach Übersee aufgehalten wurden. Ihr als gefährlich eingeschätztes Gruppenverhalten und ihr Widerstandswille zeigt, dass sie sich durch ihre Erfahrung im Ausland beziehungsweise Lebensplanung vor der Abreise aus Rußland Organisations- und Politikfähigkeiten angeeignet hatten. 385 Etwa ein Jahr später (Februar 1916) wurden die Insassen der Tiroler Internierungslager nach Ostösterreich verlegt. Die 1916 (siehe oben) angeführte Begründung hierfür - Frontnähe - hat sicherlich eine Rolle gespielt. Es ist aber viel eher zu vermuten, dass das System der dezentralen kleinen, ethnisch gemischten Gemeindelager und mittleren Konzentrationslager - wie die in Kufstein - sich nicht bewährt hatte. Man entschied sich nun für wenige 385 Tilly (1990) betont, daß die Überseemigranten dieser Zeit in ausgeprägten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Netzwerken ihrer jeweiligen Gemeinden (communities) eingebettet waren. Diese Migranten hatten organisatorische Fertigkeiten (skills) entwickelt, die es ihnen ermöglichte, über großen Distanzen zu kommunizieren und ihre Lebensplanung zu koordinieren.

271 Großlagerkomplexe, wo allem Anschein nach - wie im Fall von Thalerhof 386 - gezielt, ethnisch getrennt und mit aller Härte gegen Ungehorsam seitens der Internierten vorgegangen werden konnte. "Die in Tirol bestehenden Internierungsstationen Schwaz und Kufstein werden aufgelöst. Die dort internierten russischen Juden (64 Personen) sind nach Markl, die Serben und Montenegriner (66 Personen) nach Drosendorf, die Franzosen, Engländer, Belgier und Holländer (insgesamt 16 Personen) nach Grossau (alle drei Internierungsstationen befinden sich im Bereiche der Bezirkshauptmannschaft Waidhofen a/d. Thaya), die Russen und Polen (428) sind an die Internierungsstation Enzersdorf, Bezirkshauptmannschaft Oberhollabrunn, zu überstellen. Das Eintreffen dieser Personen ist der Bezirkshauptmannschaft Waidhofen a/d. Thaya, bezw. dem Vorstande der Konzentrationsstationen (sic!, E.S.) Oberhollabrunn mindestens 24 Stunden vorher zu avisieren. Der Transport ist bei der Zentral-Transportleitung mit Angabe des Marschbereitschaftstages anzumelden." (MdI,1916,19/3,1822,57828) 2. bemittelt und unbemittelte Galizier Kaum waren die im Bezirk Feldkirch konzentrierten feindlichen Ausländer im Internierungslager Frastanz einquartiert, standen die Vorarlberger Gemeinden vor einer neuen und noch viel größeren Herausforderung. Zum großen Erstaunen der gemeinsamen habsburgerschen Heeresverwaltung stieß die Armee des russischen Reiches im Herbst 1914 tief in den österreichisch-ungarischen Nordosten hinein. Nach dem gescheiterten Versuch, die ostgalizische Stadt Lemberg zurückzuerobern, zogen sich die k.u.k. Truppen aus Galizien zurück. Die Oberbefehlshaber suchten für diese Niederlage eine Erklärung und fanden sie nicht bei sich. Die ruthenische Russophilie und die jüdische Feigheit sollte an allem Schuld sein. Die k.u.k. Armee rächte sich nun an der nichtdeutschen Bevölkerung. Nur die katholisch-polnischen Galizier wurden, wegen ihren notorischen Ablehnung alles Russischen teilweise von diesem Rachefeldzug verschont. 386 Zu Thalerhof und sonstige rassistisch und nationalistisch motivierte Mißhandlungen und Verbrechen an der inländischen Zivilbevölkerung siehe (von Mentzel zitiert) Mandl 1986, und die parlamentarischen Interpellationen und Stellungnahmen im Jahre 1917 (Haus der Abgeordneten) von den Abgeordneten Tresic-Pavicic (19.10.); Gröger, Pittoni, Grigorovici (15.Juni); Georg Stribrny (5.Juni); Kost-Lewnchyj (5.Juni); Julian Romanczuk, Kost-Lewnckyj, Wladmimir Ritter von Schilling-Singalewncz, Leo Lewickyj (5. Juni); Dr. de Gentili (16. Juni); Jiri Stribrny (14. und 15.Juni); Dr. A. Degasperi (12.Juni), alle in SoWiDok/AK Wien.

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er ihn ab und dem schnell herbeigeeilten Arzte gelang es nach einiger Mühe, den<br />

Selbstmordkandidaten ins Leben zurückzurufen.<br />

Die beiden Partienführer der Serben und Russen wurden ebenfalls in den Arrest gebracht,<br />

weil sie jedenfalls von der Stimmung unter den Gefangenen gewußt haben und es wohl<br />

absichtlich unterließen, der Wachmannschaft pflichtgemäß davon Mitteilung zu machen. Wie<br />

wir erfahren, sind die Gefangenen aus Frastanz die Wurzel allen Uebels, sie hetzen<br />

fortwährend die anderen Gefangenen auf, selbst die Mazedonier, die bisher die ordentlichsten<br />

und willigsten Menschen waren."<br />

Der Autor führt fort, dass die Internierten eine reale Gefahr für die Bevölkerung werden<br />

könnten und dass deswegen die Wachmannschaften verstärkt und die Behandlung strafweise<br />

verschlechtert werden sollte. Aus dieser stark gefärbten Beschreibung des Tatvorganges wird<br />

jedoch klar, dass die Meinung der Kufsteiner Leserschaft dieser Zeitung zuungunsten der<br />

internierten feindlichen Ausländer beeinflußt werden sollte. Andererseits wird aber sichtbar,<br />

dass die Frastanzer als Rädelsführer des Aufstandes eine andere Einstellung zu ihrer Lage in<br />

Cisleithanien hatten als die anderen Gefangenen. Es ist anzunehmen, dass die ursprüngliche<br />

Belegschaft von etwa 200 Russen, Polen und Südslawen mehrheitlich aus in Österreich oder<br />

im Deutschen Reich beschäftigten Fremdarbeitern bestand. Die Frastanzer hingegen waren in<br />

ihrer überwiegenden Mehrzahl entweder polnische und jüdische Heimkehrer aus Südamerika<br />

oder Juden aus Rußland, die auf dem Weg nach Übersee aufgehalten wurden. Ihr als<br />

gefährlich eingeschätztes Gruppenverhalten und ihr Widerstandswille zeigt, dass sie sich<br />

durch ihre Erfahrung im Ausland beziehungsweise Lebensplanung vor der Abreise aus<br />

Rußland Organisations- und Politikfähigkeiten angeeignet hatten. 385<br />

Etwa ein Jahr später (Februar 1916) wurden die Insassen der Tiroler Internierungslager nach<br />

Ostösterreich verlegt. Die 1916 (siehe oben) angeführte Begründung hierfür - Frontnähe - hat<br />

sicherlich eine Rolle gespielt. Es ist aber viel eher zu vermuten, dass das System der<br />

dezentralen kleinen, ethnisch gemischten Gemeindelager und mittleren Konzentrationslager -<br />

wie die in Kufstein - sich nicht bewährt hatte. Man entschied sich nun für wenige<br />

385 Tilly (1990) betont, daß die Überseemigranten dieser Zeit in ausgeprägten sozialen, wirtschaftlichen und politischen<br />

Netzwerken ihrer jeweiligen Gemeinden (communities) eingebettet waren. Diese Migranten hatten organisatorische<br />

Fertigkeiten (skills) entwickelt, die es ihnen ermöglichte, über großen Distanzen zu kommunizieren und ihre Lebensplanung<br />

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