REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

188 Grenzgängern konnte man beispielsweise bis in die 1980er Jahre in der heimischen Presse lesen. 291 Das Zusammentreffen von besonders skrupellosen Werbern und Schleppern mit einer besonders rückgratlosen Bevölkerung war für viele Beamten eine ebenso willkommene wie einfache Erklärung für ein ihnen unerklärliches Phänomen. Wäre nämlich die Bevölkerung und das organisierte Verbrechertum an der ganzen Misere Schuld, so wäre die Politik und Verwaltung aus ihrer arbeitsmarktpolitischen Verantwortung, die Binnenwanderung in den heimischen Industriezentren zu gestalten endlich entlassen. Diese Vermutung lässt sich durch eine "von der heutigen slowakischen Wissenschaft geäußerten Meinung, (dass) die ungarischen Behörden (...) - um sich die Arbeit zu ersparen - absichtlich immer (nicht bestätigte) Meldungen geliefert (hätten), weil dies am einfachsten war (...)"erhärten. 292 Nach Jones lässt sich Migration weder durch extreme Armut, besondere Leichtgläubigkeit noch durch die Machenschaften ausländischer Schlepperbanden erklären. Einen allgemeinen Richtwert bezüglich der Wanderungsbereitschaft sieht er in der sozialen und wirtschaftlichen Gefährdung von gesellschaftlich gut situierten Schichten. Durch die Untergrabung ihrer Position entscheiden sich - in der Regel Familien - für die Auswanderung einiger ihrer Mitglieder. Ziel ist es, das im Ausland erarbeitete Einkommen in der heimatlichen Familienwirtschaft zu investieren. "Though emigration had now (nach den Neapoleanischen Kriegen, E.S.) become financially possible for a poorer class than ever before, it would be wrong to conclude that the movement we have been considering consisted wholy of the impoverished. If generalization were possible about a movement so far-ranging, protracted, and diverse, one might say that it consisted rather of people who feared a future loss of status rather than of those already reduced to the last extremity of want". 293 Die These, dass Migration nicht als Reflex oder Verleitung sondern als von einer Gemeinschaft bewußt und gezielt eingesetzte Rettungs- oder Aufstiegsstrategie angewendet wurde, wird heute von einem Großteil der gesellschaftskritischen Wanderungsforschung 291 Sensenig 1996 292 Glettler 1980, 365. 293 Jones 1992, 91.

189 geteilt. 294 Auch die zeitgenössischen Darstellungen, die einen den Budapester und Wiener Behörden gegenüber kritischen Ansatz vertraten, kamen zu diesen Ergebnis. Ein fast klassisches Beispiel für einen oral history Ansatz in der Migrationsforschung um die Jahrhundertwende ist der Bericht des New Yorker Korrespondenten des ungarischen Handelsmuseums Emil Zerkowitz. Im Gegensatz zur üblichen Vorgangsweise österreichischer und ungarischer Behörden und Regierungsvertretern bei der Erhebung der Ursachen der Migration verließ sich Zerkowitz nicht auf die Aussagen der Behörden, Experten und "Führer" der nach Amerika ausgewanderten ehemaligen Untertanen der ungarischen Königreiches. Er nahm vielmehr direkten Kontakt zu den "untersten Volksschichten" auf. "(Er) beschränkte seinen Bericht einerseits auf die Feststellung jener Verhältnisse, die den ungarländischen Auswanderern das Leben und Arbeiten in den amerikanischen Bergwerken attraktiv erscheinen ließen und andererseits - aus rein ungarischer Perspektive - auf jene Umstände, die für die Modalitäten und Methoden der Repatriierung dienlich sein konnten. (...) "Um möglichst gründliche Information zu erlangen, verdingte sich der damals 38jährige Ingenieur und Wirtschaftskorrespondent (...) als einfacher Arbeiter in den Kohlengruben der Staaten Pennsylvania, West-Virginia und Ohio und beobachtete die Auswanderer in ihren Logierhäusern und Saloons." 295 Aus dieser Perspektive von unten war es Zerkowitz möglich, authentische Information über die Motivation und Wanderungsstrukturen seiner Landsleute zu sammeln. Seine Darstellung verdeutlicht - in Übereinstimmung mit vielen sowohl amtlichen wie nichtamtlichen zeitgenössischen Berichten und modernen Studien zu diesem Phänomen - dass die Wanderungsnetzwerke, bestehend aus Familienmitgliedern und Bekannten die eigentlichen Motoren der Migration waren. Die oben aufgelisteten Verdrängungsmomente (push) und die im Aufnahmeland herrschende Nachfrage an Arbeitskraft bildete die Voraussetzungen dafür, dass Migration attraktiv schien. Organisiert wurden die Reisevorbereitungen, Fahrt, Ankunft und Integration von den bestehenden Netzwerken in den Herkunfts- und Aufnahmeregionen. Hierbei spielten die Werbebüros und Schlepper vor allem eine nicht zu unterschätzende 294 vgl. Yans-McLaughlin 1990. 295 Glettler 1980, 296.

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geteilt. 294 Auch die zeitgenössischen Darstellungen, die einen den Budapester und Wiener<br />

Behörden gegenüber kritischen Ansatz vertraten, kamen zu diesen Ergebnis. Ein fast<br />

klassisches Beispiel für einen oral history Ansatz in der Migrationsforschung um die<br />

Jahrhundertwende ist der Bericht des New Yorker Korrespondenten des ungarischen<br />

Handelsmuseums Emil Zerkowitz. Im Gegensatz zur üblichen Vorgangsweise<br />

österreichischer und ungarischer Behörden und Regierungsvertretern bei der Erhebung der<br />

Ursachen der Migration verließ sich Zerkowitz nicht auf die Aussagen der Behörden,<br />

Experten und "Führer" der nach Amerika ausgewanderten ehemaligen Untertanen der<br />

ungarischen Königreiches. Er nahm vielmehr direkten Kontakt zu den "untersten<br />

Volksschichten" auf.<br />

"(Er) beschränkte seinen Bericht einerseits auf die Feststellung jener Verhältnisse, die den<br />

ungarländischen Auswanderern das Leben und Arbeiten in den amerikanischen Bergwerken<br />

attraktiv erscheinen ließen und andererseits - aus rein ungarischer Perspektive - auf jene<br />

Umstände, die für die Modalitäten und Methoden der Repatriierung dienlich sein konnten.<br />

(...) "Um möglichst gründliche Information zu erlangen, verdingte sich der damals 38jährige<br />

Ingenieur und Wirtschaftskorrespondent (...) als einfacher Arbeiter in den Kohlengruben der<br />

Staaten Pennsylvania, West-Virginia und Ohio und beobachtete die Auswanderer in ihren<br />

Logierhäusern und Saloons." 295<br />

Aus dieser Perspektive von unten war es Zerkowitz möglich, authentische Information über<br />

die Motivation und Wanderungsstrukturen seiner Landsleute zu sammeln. Seine Darstellung<br />

verdeutlicht - in Übereinstimmung mit vielen sowohl amtlichen wie nichtamtlichen<br />

zeitgenössischen Berichten und modernen Studien zu diesem Phänomen - dass die<br />

Wanderungsnetzwerke, bestehend aus Familienmitgliedern und Bekannten die eigentlichen<br />

Motoren der Migration waren. Die oben aufgelisteten Verdrängungsmomente (push) und die<br />

im Aufnahmeland herrschende Nachfrage an Arbeitskraft bildete die Voraussetzungen dafür,<br />

dass Migration attraktiv schien. Organisiert wurden die Reisevorbereitungen, Fahrt, Ankunft<br />

und Integration von den bestehenden Netzwerken in den Herkunfts- und Aufnahmeregionen.<br />

Hierbei spielten die Werbebüros und Schlepper vor allem eine nicht zu unterschätzende<br />

294 vgl. Yans-McLaughlin 1990.<br />

295 Glettler 1980, 296.

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