REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

180 Autorin hebt eine Beschwerde hervor, die anscheinend einmalig war und auf ein extremes Beispiel von Landflucht zurückzuführen ist. "Am 25. November 1882 richtete der Untergespan von Abauj-Torna an den Szepser Untergespan ein Schreiben, in dem er auf den Rekrutenstand hinwies. Da die Auswanderer im Komitat Szepes in den Zug stiegen, ersuchte der Untergespan die Behörden in Szepes, allen jenen die Abreise zu verwehren, die keinen Reisepaß besaßen. "1888 hatte die Auswanderung laut Mitteilung des Untergespans an den Innenminister auch auf die Gebiete übergegriffen, in denen bisher noch Ruhe geherrscht hatte. Schuld daran waren fremde Auswandereragenten, hauptsächlich eine Wiener Agentur. Hier griff erstmals die Bevölkerung ein: Neun Einwohner der Gemeinde Rozgony (Rozhanovce, Bez. Kosice) richteten im Mai 1888 an den Untergespan einen Brief, in dem sie darüber klagten, dass sich kaum noch arbeitsfähige Leute im Dorf befanden. Die nötigen landwirtschaftlichen Arbeiten durchzuführen sei geradezu unmöglich; diese Situation müsse sich auch auf den Staat negativ auswirken, da das Volk keine Steuern mehr zahlen könne. Auch die Auswanderer selbst würden dem Staat Schaden einbringen, weil sie während ihres Aufenthaltes in Amerika keine Gewerbesteuern zahlten und weil der größte Teil von ihnen wehrpflichtig war. Die Bewohner baten um eine behördliche Verhinderung der Auswanderung, da sonst die Landwirtschaft infolge des Mangels an Arbeitskräften vollkommen lahmgelegt werde". 267 Solche Stellungnahmen stammten jedoch in der Regel nicht von den einfachen Bürgern einer Gemeinde - also den Nachbarn der Subagenten und Auswanderer - sondern eher von Großgrundbesitzern, die sich um die Niedrighaltung der Löhne einer immer knapper werdenden Arbeitskraftreserve am Lande sorgten. Diese ungarischen Feudalagrarier begannen sich jedoch in dem Moment mit der Auswanderung anzufreunden, in dem heimgekehrte ehemalige Landarbeiter ihr in Amerika erspartes Geld in den Aufkauf von Grundstücken zu investieren versuchten. "Dem Bauern, dem auch nach seiner Auswanderung als höchstes Ideal der Erwerb eines Stücks heimischen Feldes vorschwebt, wird nun Feld in grossen Massen angeboten. (...) Der Staat kauft von zugrunde gegangenen Aristokraten grosse Güter zu horrenden Preisen und 266 vgl Barton 1978; Kraljic 1985; Tilly 1990; Klemencic 1994. 267 Glettler 1980, 376.

181 parzelliert sie; unter der Patronanz von Feudalagrariern gegründete Banken tun dasselbe und ein ganzes Heer von verschuldeten Aristokraten und Adeligen, von Advokaten und Spekulanten eifert diesen Beispielen nach. All das jagt nach dem amerikanischen Gold (...)". 268 Somit fanden die Behörden unter der Bevölkerung bald keine Unterstützung mehr für ihren Kampf gegen die illegalen Wanderungsagenten und Stellungsflüchtlinge. Ein letzter verzweifelter Versuch der ungarischen Behörden, dem Entweichen über die deutsche und österreichische Grenzen durch eine strengere Kontrolle der Ausgabe von Reisepässen in den Griff zu bekommen, schlug fehl, da illegale Auswanderer durch die gründliche Vorarbeit und das umfassende Leistungspaket der Schlepperbanden gewappnet, ohnehin nicht auf Ausweise angewiesen waren. Diese Situation verdeutlicht eine heftige Kritik der Sároser Munizipalbehörde an das Budapester Innenministerium aus dem Jahr 1882. "Interessant ist jedoch, dass z.B. auch das Verbot der Ausgabe von Reisepässe als völlig realitätsfremder Standpunkt verworfen wurde, dass man Polizeikontrollen für absolut zwecklos hielt, weil in 380 Gemeinden nur 40 Gendarmen zur Verfügung standen und dass es keinen einzigen Fall gab, wo offiziell um die Genehmigung, mit einer Auswanderungsagentur in Verbindung zu treten, angesucht war. Dies macht deutlich, in welchem Widerspruch die gesetzlichen Anordnungen zur Alltagspraxis standen". 269 Die ungarischen und österreichischen Behörden durften in ihrem verzweifelten und aussichtslosen Kampf gegen die illegale Auswanderung prinzipiell nur gegen Werbungsagenten, Schlepper und Stellungsflüchtlinge vorgehen. In einem Bereich überschritten sie ihre Befugnisse so weit, dass sie eindeutig das liberale Prinzip der Bewegungsfreiheit verletzten. Im Rahmen der "American Aktion" hatte der ungarische Staat eine ganze Reihe verläßlicher evangelischer, katholischer und ostorthodoxer Seelsorger mit Erfolg in die Vereinigten Staaten vermittelt, um den Antimagyarismus und Panslawismus zu bekämpfen. Andererseits achtete man genauso darauf, dass keine unpatriotischen, dynastiefeindlichen Geistlichen aus Ungarn entweichen konnten. In Zusammenarbeit mit der 268 Diner-Dénes 1909, 308. 269 Glettler 1980, 370.

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Autorin hebt eine Beschwerde hervor, die anscheinend einmalig war und auf ein extremes<br />

Beispiel von Landflucht zurückzuführen ist.<br />

"Am 25. November 1882 richtete der Untergespan von Abauj-Torna an den Szepser<br />

Untergespan ein Schreiben, in dem er auf den Rekrutenstand hinwies. Da die Auswanderer im<br />

Komitat Szepes in den Zug stiegen, ersuchte der Untergespan die Behörden in Szepes, allen<br />

jenen die Abreise zu verwehren, die keinen Reisepaß besaßen. "1888 hatte die Auswanderung<br />

laut Mitteilung des Untergespans an den Innenminister auch auf die Gebiete übergegriffen, in<br />

denen bisher noch Ruhe geherrscht hatte. Schuld daran waren fremde Auswandereragenten,<br />

hauptsächlich eine Wiener Agentur. Hier griff erstmals die Bevölkerung ein: Neun Einwohner<br />

der Gemeinde Rozgony (Rozhanovce, Bez. Kosice) richteten im Mai 1888 an den<br />

Untergespan einen Brief, in dem sie darüber klagten, dass sich kaum noch arbeitsfähige Leute<br />

im Dorf befanden. Die nötigen landwirtschaftlichen Arbeiten durchzuführen sei geradezu<br />

unmöglich; diese Situation müsse sich auch auf den Staat negativ auswirken, da das Volk<br />

keine Steuern mehr zahlen könne. Auch die Auswanderer selbst würden dem Staat Schaden<br />

einbringen, weil sie während ihres Aufenthaltes in Amerika keine Gewerbesteuern zahlten<br />

und weil der größte Teil von ihnen wehrpflichtig war. Die Bewohner baten um eine<br />

behördliche Verhinderung der Auswanderung, da sonst die Landwirtschaft infolge des<br />

Mangels an Arbeitskräften vollkommen lahmgelegt werde". 267<br />

Solche Stellungnahmen stammten jedoch in der Regel nicht von den einfachen Bürgern einer<br />

Gemeinde - also den Nachbarn der Subagenten und Auswanderer - sondern eher von<br />

Großgrundbesitzern, die sich um die Niedrighaltung der Löhne einer immer knapper<br />

werdenden Arbeitskraftreserve am Lande sorgten. Diese ungarischen Feudalagrarier begannen<br />

sich jedoch in dem Moment mit der Auswanderung anzufreunden, in dem heimgekehrte<br />

ehemalige Landarbeiter ihr in Amerika erspartes Geld in den Aufkauf von Grundstücken zu<br />

investieren versuchten.<br />

"Dem Bauern, dem auch nach seiner Auswanderung als höchstes Ideal der Erwerb eines<br />

Stücks heimischen Feldes vorschwebt, wird nun Feld in grossen Massen angeboten. (...) Der<br />

Staat kauft von zugrunde gegangenen Aristokraten grosse Güter zu horrenden Preisen und<br />

266 vgl Barton 1978; Kraljic 1985; Tilly 1990; Klemencic 1994.<br />

267 Glettler 1980, 376.

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