REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

166 den Ausbau des europäischen Bahnnetzes fast genauso schnell zu erreichen wie Hamburg und Bremen. Durch die Liberalisierung des Reiseverkehrs im Laufe der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hatten die deutschen Behörden jegliche Handhabe der Wanderungslenkung verloren. So mussten Hamburg-Amerika (Hapag) und Norddeutscher Lloyd zusehen, wie jährlich hunderttausende Auswanderer Deutschland auf dem Weg zu den Konkurrenzhäfen im Westen per Bahn durchquerten. Eine Möglichkeit diese Transitwanderung zu stoppen bot die Choleraepidemie von 1892. Nach Ausbruch der Epidemie sperrte Preußen zuerst die Grenze zu Österreich und Rußland und ließ Auswanderer erst dann durchreisen, nachdem sie ein Netzwerk von Gesundheitsstationen an allen Grenzübergängen eröffnet hatten. Diese Stationen wurden dann den Reedereien Hapag und Lloyd übergeben. Das Ergebnis dieser Maßnahme liegt auf der Hand. "Den Gesellschaften wurde durch die Besetzung der Stationen mit eigenem Personal die Anwerbung der Auswanderer sehr erleichtert. Zwar mussten die deutschen Reedereien für Bau, Unterhaltung und Verwaltung erhebliche Kosten aufbringen, doch der intensive Einsatz der Kontrollstationen als Mittel der Geschäftspolitik beweist, dass sich die Existenz der Stationen für die Gesellschaften lohnte". 245 Ergebnis dieser Politik war eine beinahe Handelsblockade für alle Reedereien, die bisher Migranten aus Österreich-Ungarn und Rußland durch Deutschland nach Amerika transportierten. Hapag und Lloyd verstießen zwar gegen die Regeln der europäischen Freizügigkeit, brachten jedoch den deutschen Häfen und Eisenbahnen und sonstigen Unternehmen im Auswanderungsgeschäft durch diese Umlenkung des Auswanderungsverkehrs so viel Geld ein, dass die Regierung in Berlin bereit war, diese Rechtsbiegung zu tolerieren. Ein logisches Ergebnis dieser Blockade war die Umfahrung ganz Deutschlands. Um von Kiew, Krakau oder Kronstadt nach Le Havre oder Liverpool zu gelangen fuhr man bereits ab spätestens 1894 über Wien oder Zagreb nach Innsbruck, von dort weiter nach Buchs und schließlich zum größten "Trockenhafen" Europas, nach Basel. So berichtete der k.k. Polizeikommissär Franz Markitan 1912 bei einer Versammlung des österreichischen St. Raphael-Vereins folgendes:

167 "Basel ist seit mehr als 30 Jahren eine der bedeutungsvollsten Durchzugsstationen für den europäischen Auswandererverkehr und wird die Zahl der im Jahre 1910 durch diese Stadt gereisten Auswanderer auf 80.000 geschätzt (13). "Die Gründe, welche zahlreiche österreichische Auswanderer aus dem Nordosten unseres Vaterlandes bestimmen, die umständliche Reise durch die Schweiz nach einzelnen nordwest- europäischen Einschiffungshäfen zu unternehmen, dürften vielfach in dem Umstand liegen, dass der Transitverkehr durch das deutsche Staatsgebiet jenen ausländischen Auswanderern erschwert, wenn nicht gar verwehrt wird, die von nichtdeutschen, in Deutschland nicht konzessionierten Schiffsgesellschaften nach überseeischen Ländern gefördert werden (11)." 246 Sowohl die deutschen Reedereien wie auch die deutschen Hafenstädte und die Reichsbehörden in Berlin beobachteten diese Umleitung des Auswanderungsverkehrs über Buchs sehr genau. Einem Bericht des Auswanderungsamtes in Hamburg an das deutsche Reichskanzleramt im Juni 1895 zufolge arbeiteten Agenten der Rotterdamer Reedereien in Österreich-Ungarn, die bemüht waren, die Auswanderer über die österreichische Reichshauptstadt Wien zu dirigieren, um sie dann in die Niederlande oder nach Liverpool zu befördern. Nach deutschen Schätzungen aus dem Jahr 1897 durchwanderten bis zu 100.000 Emigranten jährlich Westösterreich und die Schweiz, um auf indirektem Weg mittels von Deutschland nicht konzessionierter Gesellschaften nach Amerika zu gelangen. 247 Es gab auch Überlegungen diesen Reiseverkehr systematisch auszubauen. Somit hoffte man, genau wie in Deutschland, an der Transitmigration verdienen zu können. Vor einer Auswanderungsenquetekommission des Wiener Handelsministeriums meinte der österreichische Migrationsexperte Sigismund Gargas am 29. März 1912, dass bei Beibehaltung der Freizügigkeit in Österreich, "dass dann den österreichischen Bahnen (...) auch der ausländische (besonders der russische und der polnisch-russische) Durchwanderungsstrom nutzbar (machen) könnten. Die schon heute sehr bedeutende russische Auswanderung scheint in der Zukunft noch weit größere 245 Just 1988, 87. 246 „Zu den in Deutschland konzessionierten ausländischen Schiffahrtsgesellschaften gehören gegenwärtig die Cunard Line, American Line, White Star Line, Red Star Line und die Compagnie Génerale Transatlantique.‟ Markitan 1912, 11. 247 Just 1988, 82 und 87.

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den Ausbau des europäischen Bahnnetzes fast genauso schnell zu erreichen wie Hamburg und<br />

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Durch die Liberalisierung des Reiseverkehrs im Laufe der zweiten Hälfte des Jahrhunderts<br />

hatten die deutschen Behörden jegliche Handhabe der Wanderungslenkung verloren. So<br />

mussten Hamburg-Amerika (Hapag) und Norddeutscher Lloyd zusehen, wie jährlich<br />

hunderttausende Auswanderer Deutschland auf dem Weg zu den Konkurrenzhäfen im<br />

Westen per Bahn durchquerten. Eine Möglichkeit diese Transitwanderung zu stoppen bot die<br />

Choleraepidemie von 1892. Nach Ausbruch der Epidemie sperrte Preußen zuerst die Grenze<br />

zu Österreich und Rußland und ließ Auswanderer erst dann durchreisen, nachdem sie ein<br />

Netzwerk von Gesundheitsstationen an allen Grenzübergängen eröffnet hatten. Diese<br />

Stationen wurden dann den Reedereien Hapag und Lloyd übergeben. Das Ergebnis dieser<br />

Maßnahme liegt auf der Hand.<br />

"Den Gesellschaften wurde durch die Besetzung der Stationen mit eigenem Personal die<br />

Anwerbung der Auswanderer sehr erleichtert. Zwar mussten die deutschen Reedereien für<br />

Bau, Unterhaltung und Verwaltung erhebliche Kosten aufbringen, doch der intensive Einsatz<br />

der Kontrollstationen als Mittel der Geschäftspolitik beweist, dass sich die Existenz der<br />

Stationen für die Gesellschaften lohnte". 245<br />

Ergebnis dieser Politik war eine beinahe Handelsblockade für alle Reedereien, die bisher<br />

Migranten aus Österreich-Ungarn und Rußland durch Deutschland nach Amerika<br />

transportierten. Hapag und Lloyd verstießen zwar gegen die Regeln der europäischen<br />

Freizügigkeit, brachten jedoch den deutschen Häfen und Eisenbahnen und sonstigen<br />

Unternehmen im Auswanderungsgeschäft durch diese Umlenkung des<br />

Auswanderungsverkehrs so viel Geld ein, dass die Regierung in Berlin bereit war, diese<br />

Rechtsbiegung zu tolerieren. Ein logisches Ergebnis dieser Blockade war die Umfahrung<br />

ganz Deutschlands. Um von Kiew, Krakau oder Kronstadt nach Le Havre oder Liverpool zu<br />

gelangen fuhr man bereits ab spätestens 1894 über Wien oder Zagreb nach Innsbruck, von<br />

dort weiter nach Buchs und schließlich zum größten "Trockenhafen" Europas, nach Basel. So<br />

berichtete der k.k. Polizeikommissär Franz Markitan 1912 bei einer Versammlung des<br />

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