REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

164 Ost- und Südosteuropa nach Nordamerika zu finden, war nicht nur jenseits des Atlantiks weit verbreitet. Auch die Innen- und Kriegsministerien in Wien sahen im "Treiben" der Reedereien in Österreich-Ungarn die Hauptursache für die unerwünschte Abwanderung von Millionen Untertanen nach Amerika. Nach Meinung des amerikanischen Historikers Maldwyn Allen Jones (1992, 157) war die These von einer Verschwörung der Reedereien vor allem bei denjenigen beliebt, die entweder von der Materie wenig verstanden bzw. kein Interesse an einer Aufdeckung der wahren Ursachen der Migration hatten. "Thus to ascribe the 'new' immigration simply to steamship advertising was, as a shrewd contemporary remarked, a mere 'rhetorical commonplace,' which appealed to observers in inverse ratio to their knowledge of the subject". Tatsächlich spielten - auch beim illegalen Schmuggel von Wehrpflichtigen - in diesem Zusammenhang eine Vielzahl anderer Gründe eine weit wichtigere Rolle als die Werbetätigkeit der Reedereien allein. 242 Auf die Ursachen von und Motivation zur Migration wird weiter unten im Detail eingegangen. Industrieimmanente Aspekte der Migrationsförderung waren jedoch von zentraler, wenn auch nicht ausschlaggebender Bedeutung. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat die Konkurrenz zwischen den britischen und kontinentalen Häfen und Reedereien begonnen. Während Liverpool von den Iren und Briten eindeutig bevorzugt wurde, waren Le Havre, Bremen und Hamburg bei den Deutschen, Schweizern und Skandinaviern beliebter. Die Preise für eine Überseefahrt sanken zwischen 1810 und 1820 um 70% und 90%. Bereits in diesen Jahren benutzten die Schiffahrtsgesellschaften Agenturen, um Kunden für die Auswanderung nach Amerika zu rekrutieren. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs in den USA Anfang der 60er Jahre konzentrierte sich jedoch das Wanderungsgeschäft auf die riesige Flotte amerikanischer Segelschiffe. Die deutschen und britischen Schiffsbesitzer nutzten die durch den Bürgerkrieg entstandene Marktlücke, um in den folgenden Jahren ihr Angebot an Hochseedampfschiffen enorm auszubauen. Hierbei waren es wiederum die Hafen Bremen (Norddeutsche Lloyd), Hamburg (Hamburg-Amerika) und Liverpool (Cunard und Inman), die den Löwenanteil für sich verbuchen konnten, obwohl auch Le Havre, Rotterdam und Antwerpen nicht ohne Bedeutung waren. Im Mittelmeer spielten vor allem die italienischen Häfen Neapel, Genua 242 Dies wird weiter unten im Detail dargestellt. Hier sollte lediglich festgehalten werden, daß sowohl "pull" und "push" Faktoren, wie auch die Wanderungsplanung der Migranten selber, ähnlich wirksam waren.

165 und Palermo eine Rolle. Die österreichisch-ungarischen Häfen Triest und Fiume konnten sich bis zum Ersten Weltkrieg nie durchsetzen. 243 Für die Transitwanderung von russischen und ungarischen Untertanen durch Österreich waren die Monopolbestrebungen der norddeutschen Reedereien von zentraler Bedeutung. Anfang der 80er Jahre begannen die Briten und Deutschen um die Oberherrschaft der nordatlantischen Seerouten zu konkurrieren. Hierbei spielten die Millionen Zwischendeckpassagiere eine wichtige Rolle, da die Gewinne, die man an diesen, den ärmsten Weltreisenden dieser Jahre, machte, konnten in den Kampf um die Kontrolle der Welthandelswege investiert werden. Die neuen noch nicht ausgebeuteten Migrationsmärkte lagen zu dieser Zeit in Rußland, Österreich-Ungarn, Montenegro, Rumänien, Bulgarien, Serbien und Griechenland. Bei der Erschließung dieser Regionen hatten die Deutschen eindeutig die bessere Ausgangsposition. Seit etwa 1880 gab es gut ausgebaute Eisenbahnverbindungen von den wichtigsten Auswanderungsgebieten Mittel- und Osteuropas nach Hamburg bzw. Bremen. Somit war die Anreise zu den deutschen Häfen auch für viele Auswanderer aus Nordungarn zeitlich am günstigsten. Mit Reisezeiten nach Amerika von zwischen sechs und zehn Tagen lagen die deutschen Reedereien im Spitzenfeld. Preislich waren sie so günstig, dass sie langsam begannen den gesamten ungarischen Markt zu erobern. "In einem Artikel über die 'Auswanderung aus Ungarn' wies das St. Raphaels-Blatt (...) darauf hin, dass die Preise von Bremen und Hamburg inklusive Bahnfahrt von Ungarn dem Passagepreis von Fiume genau entsprächen". 244 Österreich-Ungarn und Rußland waren zu dieser Zeit nicht konkurrenzfähig, da die Fahrt von Triest bzw. Fiume bis zu 20 Tagen, die von dem russisch-lettischen Hafen Libau 12 Tage dauerte. Hinzu kam, dass Stellungsflüchtlinge das Risiko eingingen, von ihren jeweiligen Heimatbehörden festgenommen zu werden. Ein größeres Problem als die Österreicher, Ungarn und Russen stellten für die Deutschen die französischen, niederländischen und belgischen Konkurrenten dar. Le Havre, Antwerpen und Rotterdam waren nicht nur genauso traditionsreich - was die dampfgetriebene Seefahrt nach Amerika anbelangt - sie waren durch 243 vgl.: Jones 1992, 89-91 und 156-161. 244 Just 1988, 46.

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Ost- und Südosteuropa nach Nordamerika zu finden, war nicht nur jenseits des Atlantiks weit<br />

verbreitet. Auch die Innen- und Kriegsministerien in Wien sahen im "Treiben" der Reedereien<br />

in Österreich-Ungarn die Hauptursache für die unerwünschte Abwanderung von Millionen<br />

Untertanen nach Amerika. Nach Meinung des amerikanischen Historikers Maldwyn Allen<br />

Jones (1992, 157) war die These von einer Verschwörung der Reedereien vor allem bei<br />

denjenigen beliebt, die entweder von der Materie wenig verstanden bzw. kein Interesse an<br />

einer Aufdeckung der wahren Ursachen der Migration hatten.<br />

"Thus to ascribe the 'new' immigration simply to steamship advertising was, as a shrewd<br />

contemporary remarked, a mere 'rhetorical commonplace,' which appealed to observers in<br />

inverse ratio to their knowledge of the subject".<br />

Tatsächlich spielten - auch beim illegalen Schmuggel von Wehrpflichtigen - in diesem<br />

Zusammenhang eine Vielzahl anderer Gründe eine weit wichtigere Rolle als die<br />

Werbetätigkeit der Reedereien allein. 242 Auf die Ursachen von und Motivation zur Migration<br />

wird weiter unten im Detail eingegangen. Industrieimmanente Aspekte der<br />

Migrationsförderung waren jedoch von zentraler, wenn auch nicht ausschlaggebender<br />

Bedeutung. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat die Konkurrenz zwischen den<br />

britischen und kontinentalen Häfen und Reedereien begonnen. Während Liverpool von den<br />

Iren und Briten eindeutig bevorzugt wurde, waren Le Havre, Bremen und Hamburg bei den<br />

Deutschen, Schweizern und Skandinaviern beliebter. Die Preise für eine Überseefahrt sanken<br />

zwischen 1810 und 1820 um 70% und 90%. Bereits in diesen Jahren benutzten die<br />

Schiffahrtsgesellschaften Agenturen, um Kunden für die Auswanderung nach Amerika zu<br />

rekrutieren. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs in den USA Anfang der 60er Jahre<br />

konzentrierte sich jedoch das Wanderungsgeschäft auf die riesige Flotte amerikanischer<br />

Segelschiffe. Die deutschen und britischen Schiffsbesitzer nutzten die durch den Bürgerkrieg<br />

entstandene Marktlücke, um in den folgenden Jahren ihr Angebot an Hochseedampfschiffen<br />

enorm auszubauen. Hierbei waren es wiederum die Hafen Bremen (Norddeutsche Lloyd),<br />

Hamburg (Hamburg-Amerika) und Liverpool (Cunard und Inman), die den Löwenanteil für<br />

sich verbuchen konnten, obwohl auch Le Havre, Rotterdam und Antwerpen nicht ohne<br />

Bedeutung waren. Im Mittelmeer spielten vor allem die italienischen Häfen Neapel, Genua<br />

242 Dies wird weiter unten im Detail dargestellt. Hier sollte lediglich festgehalten werden, daß sowohl "pull" und "push"<br />

Faktoren, wie auch die Wanderungsplanung der Migranten selber, ähnlich wirksam waren.

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