REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

162 2. Schlepperbanden, Stellungsflüchtlinge, Reedereien, Korrupte Behörden und Honoratioren "Am 29. Oktober (1913, E.S.) bei dem um 5h 21' früh über die Tauern ankommenden Schnellzug stieg ein gewisser Josef Krutak, 1874 in Somogy, Komitat Nagy-Astad, geboren und zuständig, katholisch, verheiratet, aus und begab sich eilends zum bayrischen Schalter. Dort wurde er in dem Augenblicke festgenommen, als er 6 Fahrkarten nach Lindau löste. Die 5 anderen Kroaten waren im Wagen sitzen geblieben, wurden ebenfalls angehalten und ihnen durch das Ergebnis der Leibesdurchsuchung die Absicht der Auswanderung einwandfrei nachgewiesen". 239 Josef Krutak war eindeutig als Mitglied einer Schlepperbande unterwegs. Er wollte seine "Opfer" über den Bodensee nach Rorschach in der Nähe der Kantonshauptstadt St. Gallen bringen, von wo aus sie bequem mit dem Zug nach Buchs weiterfahren hätten können. Anhand der Person Krutak wird deutlich, aus welchem Personenkreis das Fußvolk der Fluchthelfer dieser Vorkriegsjahre bestanden hat. Krutak war nämlich weder arm noch sozial randständig. Er dürfte auch das Umfeld, wenn nicht sogar die Familien seiner Klienten gut gekannt haben. Dies macht der Detailbericht der k.k. Polizei-Expositur am Bahnhof in Salzburg mehr als deutlich. "Was die Person des Josef Krutak betrifft, dürfte man kaum fehlgehen, in ihm einen Subagenten zu vermuten, weil er in der Heimat Mühlen- und Wirtschaftsbesitzer ist, Familie besitzt und nicht recht erklärlich ist, was ihn bewegen könnte, fünf Landsleute nach Lindau zu führen. (...) Was das Alter der Angehaltenen betrifft, schwankt es zwischen 17 und 32 Jahren". 240 Die Schlepper, die in den Berichten des Innenministeriums auch als "skrupellose Auswanderungsagenten", "Auswandererhyänen" und "Verführer" bezeichnet wurden, scheinen in den Herkunftsgemeinden der Stellungsflüchtlinge wohl bekannt gewesen zu sein. Durch die Anwerbung von Subagenten aus der unmittelbaren Region genossen sie auch das Vertrauen ihrer Klientel. Da sich die Gemeindevertreter in den Heimatgemeinden dieser 239 betr.: Bericht der Polizeidirektion Salzburg 27.Okt. 1913, in: Organisierung des Ueberwachungsdienstes/Wehrpflichtiger, ÖStA/AVA, MdI/Präs, Kt: 1551/P.Nr.12658/1913 (AIS:I/18/12658/1913). 240 betr.: Bericht der Polizeidirektion Salzburg 27.Okt. 1913, in: Organisierung des Ueberwachungsdienstes/Wehrpflichtiger, ÖStA/AVA, MdI/Präs, Kt: 1551/P.Nr.12658/1913 (AIS:I/18/12658/1913).

163 vorwiegend kroatischen "Wehrdienstverweigerer" bei der Aufklärung und Retournierung festgenommener Auswanderer wenig kooperativ zeigten, kann man annehmen, dass sie sich in vielen Fällen den Schleppern gegenüber neutral oder sogar fördernd verhielten. Sowohl in Österreich wie in Ungarn verschleppten die örtlichen Gemeindebehörden die Verfolgung der Zentralregierung gegen die illegalen Auswanderungsagenten, in manchen Fällen begünstigten die Gemeindevertreter und Honoratioren sogar die Arbeit der Schlepper. Hierfür gab es viele Gründe: der illegale Menschenschmuggel führte zu einer Reduzierung der Arbeitslosenbevölkerung vor Ort und verringerte dadurch die Belastung der Gemeindekassen; weil viele Stellungsflüchtlinge aus dem Kreis der Verwandten und befreundeten Familien dieser Ortsvertreter stammten, hatten sie am Gelingen der Schlepperei auch familiäre Interessen; schließlich waren in vielen Fällen auch sehr angesehene Personen im Ort aus rein finanziellen Überlegungen am Menschenschmuggel beteiligt. Ausgegangen ist der Menschenschmuggel aus und durch Österreich von den Nordsee Reedereien. Als die Massenauswanderung aus Deutschland und der Schweiz in der Zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum abebben begann, suchten die Besitzer der großen transatlantischen Schiffahrtsgesellschaften neue Kundenkreise. Fündig wurden sie in den unterentwickelten Gebieten Rußlands und Österreich-Ungarns, wo sich ab 1870/1880 eine Massenauswanderung nach Amerika abzuzeichnen begann. a. "Gebet uns die von der C(anadian) P(acific) R(ailway) entführten zwei Armeekorps wieder!" 241 Ohne den Konkurrenzkampf zwischen den deutschen und britischen Reedereien nach der Durchsetzung der Hochseedampfer im Laufe der 1870er Jahre wäre es nie zu dem Ausbau eines Netzwerks von zehntausenden Auswanderungsagenten und -Subagenten in Mittel- und Osteuropa gekommen. Die Schuld für die Massenauswanderung aus Österreich-Ungarn ab Anfang der 90er Jahre und den zunehmenden Schmuggel von Stellungsflüchtlingen zehn Jahre danach bei den Reedereien zu suchen würde allerdings bedeuten, die Ursachen der Migration auf einen einzigen Faktor zu reduzieren. Die Tendenz, eine monokausale Erklärung für die rasch ansteigende Wanderung von Katholiken, Ostorthodoxen und Juden aus Mittel-, 241 Hermann Diamant (1914, 359) versuchte durch diese ironische Überspitzung die wanderungsfeindlichen Propaganda des Kriegsministeriums zu entlarven. Nach seiner Berechnungen wanderten nicht, wie vom offizieller Seite behauptet 100.000 Rekruten sondern lediglich zwischen 5.000 und 30.000 Rekruten aus Österreich-Ungarn illegal aus.

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vorwiegend kroatischen "Wehrdienstverweigerer" bei der Aufklärung und Retournierung<br />

festgenommener Auswanderer wenig kooperativ zeigten, kann man annehmen, dass sie sich<br />

in vielen Fällen den Schleppern gegenüber neutral oder sogar fördernd verhielten. Sowohl in<br />

Österreich wie in Ungarn verschleppten die örtlichen Gemeindebehörden die Verfolgung der<br />

Zentralregierung gegen die illegalen Auswanderungsagenten, in manchen Fällen begünstigten<br />

die Gemeindevertreter und Honoratioren sogar die Arbeit der Schlepper. Hierfür gab es viele<br />

Gründe: der illegale Menschenschmuggel führte zu einer Reduzierung der<br />

Arbeitslosenbevölkerung vor Ort und verringerte dadurch die Belastung der Gemeindekassen;<br />

weil viele Stellungsflüchtlinge aus dem Kreis der Verwandten und befreundeten Familien<br />

dieser Ortsvertreter stammten, hatten sie am Gelingen der Schlepperei auch familiäre<br />

Interessen; schließlich waren in vielen Fällen auch sehr angesehene Personen im Ort aus rein<br />

finanziellen Überlegungen am Menschenschmuggel beteiligt.<br />

Ausgegangen ist der Menschenschmuggel aus und durch Österreich von den Nordsee<br />

Reedereien. Als die Massenauswanderung aus Deutschland und der Schweiz in der Zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts zum abebben begann, suchten die Besitzer der großen<br />

transatlantischen Schiffahrtsgesellschaften neue Kundenkreise. Fündig wurden sie in den<br />

unterentwickelten Gebieten Rußlands und Österreich-Ungarns, wo sich ab 1870/1880 eine<br />

Massenauswanderung nach Amerika abzuzeichnen begann.<br />

a. "Gebet uns die von der C(anadian) P(acific) R(ailway) entführten zwei Armeekorps<br />

wieder!" 241<br />

Ohne den Konkurrenzkampf zwischen den deutschen und britischen Reedereien nach der<br />

Durchsetzung der Hochseedampfer im Laufe der 1870er Jahre wäre es nie zu dem Ausbau<br />

eines Netzwerks von zehntausenden Auswanderungsagenten und -Subagenten in Mittel- und<br />

Osteuropa gekommen. Die Schuld für die Massenauswanderung aus Österreich-Ungarn ab<br />

Anfang der 90er Jahre und den zunehmenden Schmuggel von Stellungsflüchtlingen zehn<br />

Jahre danach bei den Reedereien zu suchen würde allerdings bedeuten, die Ursachen der<br />

Migration auf einen einzigen Faktor zu reduzieren. Die Tendenz, eine monokausale Erklärung<br />

für die rasch ansteigende Wanderung von Katholiken, Ostorthodoxen und Juden aus Mittel-,<br />

241 Hermann Diamant (1914, 359) versuchte durch diese ironische Überspitzung die wanderungsfeindlichen Propaganda des<br />

Kriegsministeriums zu entlarven. Nach seiner Berechnungen wanderten nicht, wie vom offizieller Seite behauptet 100.000<br />

Rekruten sondern lediglich zwischen 5.000 und 30.000 Rekruten aus Österreich-Ungarn illegal aus.

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