REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

152 nicht bei der Erhöhung der Geburtenzahlen und Senkung der Sterblichkeit ansetzen sollte, da dies weder die Kapitalakkumulation noch die Wanderungsbewegungen unmittelbar beeinflussen würde. Er stellte die Standortfrage in den Vordergrund. Nach Varga wanderten sowohl die Menschen wie das Kapital dorthin, wo günstige Standortbedingungen vorherrschten (pull effect, E.S.). "Die glänzende wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands ist nicht der raschen natürlichen Volksvermehrung, sondern den grossen Standortvorteilen zuzuschreiben, welche Deutschland für die Industrie bildet. (...) Die grosse Vorteile, welche Nordamerika sowohl der Landwirtschaft wie der Industrie bietet, (...) erklären es, dass Kapital und Arbeitskraft gleichzeitig nach Amerika wanderten. Nicht die Ueber- oder Unterakkumulation, sondern die Möglichkeiten hoher Löhne und hoher Profite haben dies verursacht". Wesentlich für die Argumentationsweise Vargas und typisch für die Sozialdemokratie nach dem Weltkrieg ist die Vorstellung, dass die Arbeiterbewegung in die Wanderungsprozesse direkt eingreifen sollte. Im Gegensatz zu Bauer lehnt Varga das Konzept des "nationalen Kapitals" ab. Um das internationale Kapital an einen nationalen Standort zu binden, fordert er einerseits die Verbesserung der Produktionsbedingungen in Österreich-Ungarn und andererseits die Verbesserung der Qualifikationen der Arbeiter in den unterentwickelten Regionen. "Wo es an einer gelernten Arbeiterschaft mangelt, dort ist die Entwicklung der Industrie - mögen die natürlichen Standortverhältnisse noch so günstig sein - erschwert. Nicht die Zunahme der Bevölkerung schlechthin, sondern das Vorhandensein oder das Fehlen gelernter Arbeitskräfte ist für die wirtschaftliche Entwicklung von Bedeutung! (...) (D)as Fehlen einer entsprechenden gelernten Arbeiterschicht (kann) durch die Heranziehung ausländischer und die Ausbildung frischer Arbeitskräfte leicht behoben werden (...)". Der ausschlaggebende Unterschied zwischen den Forderungen Bauers und Vargas ist ihr Verständnis der Rolle der Politik gegenüber der Arbeiterwanderung. Beide Theoretiker gehen von der Freizügigkeit am Arbeitsmarkt als integralem Bestandteil des Kapitalismus aus. 1919. In den Funktion eines Volkskommissars und später des Vorsitzenden des Obersten Volkswirtschaftsrates gehörte Eugen Varga zu den führenden Persönlichkeiten der Ungarischen Räterepublik‟.

153 Während Bauer die österreichischen Frauen auffordert, mehr und gesündere Kinder zu gebären, um dadurch mittelfristig den kulturell fremden Zuwanderer vom deutschöstereichischen Arbeitsmarkt zu verdrängen, will Varga arbeitsmarktpolitische Maßnahmen einführen, um die Standortbedingungen am Ausgangspunkt der Auswanderung zu verbessern. Es stehen hierbei ein biologistisches deutschnationales Sozialismuskonzept einem ökonomistischen kosmopolitischen Sozialismusentwurf gegenüber. Da es niemals zur Anwendung der drei österreichischen grenzüberschreitenden Wanderungsgesetzentwürfe (1904, 1908, 1912/1913) kam, konnten diese zwei sich widersprechenden Positionen innerhalb der österreichisch-ungarischen Sozialdemokratie nie die tatsächlichen politischen Entscheidungen in Österreich beeinflussen. In den drei hier behandelten Beiträgen von Julius Fischer in "Der Kampf" zur Auswanderung wird aber deutlich, dass die biologistischen Ansätze von Otto Bauer in der Migrationsdebatte dieser Jahre keine reale Rolle spielten. Fischers Artikel verdeutlichen vielmehr, dass die revisionistischen Ansätze, die bereits in der Frage der Arbeitsbeiräte und der Arbeiterausschüsse wirksam wurden 227 , auch in der Wanderungspolitik tragfähig gewesen wären, wäre es jemals zu einer ernsthaften Diskussion der Wanderungspolitik im Reichsrat gekommen. Durch die Hinwendung zum Staat als Träger einschneidender sozialer Reformen im Migrationsbereich befand sich Fischer somit in der ideologischen Nähe des ungarischen Sozialdemokraten Eugen Varga. In den Jahren unmittelbar vor dem Beginn des "österreichischen Jahrzehnts der Auswanderung" (1900-1910) hatte sich innerhalb der Sozialdemokratie hinsichtlich der Rolle der Sozialpolitik eine Wandlung vollzogen. Die frühe Arbeiterbewegung sah in den sozialen Reformen eine Voraussetzung für die Sicherung der Reproduktion ihrer Arbeitskräfte. Mit der Durchsetzung von Sicherheits-, Gesundheits-, Wohlfahrts- und Mitbestimmungsregelungen erhofften sie sich eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Stellung. Dadurch sollte ihre Schlagkraft im Kampf mit den Unternehmern und dem dieser Klasse dienenden "Klassenstaat" erhöht werden. Ziel war eine revolutionäre Umwälzung der Klassenverhältnisse und die Übernahme der staatlichen Macht durch die Arbeiterklasse. Am Ende des 19. Jahrhunderts erkannte die inzwischen revisionistisch eingestellte Führung der Sozialdemokratie in der Sozialpolitik eine Möglichkeit, ihren Führungsanspruch durch die

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nicht bei der Erhöhung der Geburtenzahlen und Senkung der Sterblichkeit ansetzen sollte, da<br />

dies weder die Kapitalakkumulation noch die Wanderungsbewegungen unmittelbar<br />

beeinflussen würde. Er stellte die Standortfrage in den Vordergrund. Nach Varga wanderten<br />

sowohl die Menschen wie das Kapital dorthin, wo günstige Standortbedingungen<br />

vorherrschten (pull effect, E.S.).<br />

"Die glänzende wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands ist nicht der raschen natürlichen<br />

Volksvermehrung, sondern den grossen Standortvorteilen zuzuschreiben, welche Deutschland<br />

für die Industrie bildet. (...) Die grosse Vorteile, welche Nordamerika sowohl der<br />

Landwirtschaft wie der Industrie bietet, (...) erklären es, dass Kapital und Arbeitskraft<br />

gleichzeitig nach Amerika wanderten. Nicht die Ueber- oder Unterakkumulation, sondern die<br />

Möglichkeiten hoher Löhne und hoher Profite haben dies verursacht".<br />

Wesentlich für die Argumentationsweise Vargas und typisch für die Sozialdemokratie nach<br />

dem Weltkrieg ist die Vorstellung, dass die Arbeiterbewegung in die Wanderungsprozesse<br />

direkt eingreifen sollte. Im Gegensatz zu Bauer lehnt Varga das Konzept des "nationalen<br />

Kapitals" ab. Um das internationale Kapital an einen nationalen Standort zu binden, fordert er<br />

einerseits die Verbesserung der Produktionsbedingungen in Österreich-Ungarn und<br />

andererseits die Verbesserung der Qualifikationen der Arbeiter in den unterentwickelten<br />

Regionen.<br />

"Wo es an einer gelernten Arbeiterschaft mangelt, dort ist die Entwicklung der Industrie -<br />

mögen die natürlichen Standortverhältnisse noch so günstig sein - erschwert. Nicht die<br />

Zunahme der Bevölkerung schlechthin, sondern das Vorhandensein oder das Fehlen gelernter<br />

Arbeitskräfte ist für die wirtschaftliche Entwicklung von Bedeutung! (...) (D)as Fehlen einer<br />

entsprechenden gelernten Arbeiterschicht (kann) durch die Heranziehung ausländischer und<br />

die Ausbildung frischer Arbeitskräfte leicht behoben werden (...)".<br />

Der ausschlaggebende Unterschied zwischen den Forderungen Bauers und Vargas ist ihr<br />

Verständnis der Rolle der Politik gegenüber der Arbeiterwanderung. Beide Theoretiker gehen<br />

von der Freizügigkeit am Arbeitsmarkt als integralem Bestandteil des Kapitalismus aus.<br />

1919. In den Funktion eines Volkskommissars und später des Vorsitzenden des Obersten Volkswirtschaftsrates gehörte<br />

Eugen Varga zu den führenden Persönlichkeiten der Ungarischen Räterepublik‟.

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