REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

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14.02.2013 Aufrufe

148 vom Wesen des Kapitalismus eben so unzertrennliche Erscheinungen sind, wie die Arbeitslosigkeit, Ueberproduktion und Unterskonsum der Arbeiter'; wir können daher ihre Ursachen nur bekämpfen, so wie wir den Kapitalismus als Ganzes bekämpfen". 220 Mit diesem Hinweis auf die Stuttgarter Beschlüsse der II. Internationale (1907) kritisierte der St. Pöltner Rechtsanwalt und Migrationsexperte Julius Fischer im Novemberheft der sozialdemokratischen Zeitschrift "Der Kampf" (1908-1909) die bestehende Wanderungsdebatte in Cisleithanien. Nach Fischer hat sich die internationale Sozialdemokratie mit Recht für den Schutz und Ausbau der Freizügigkeit am Arbeitsmarkt und gegen die Versuche, Wanderungspolitik zu nationalisieren, energisch ausgesprochen. Die Vorstellungen der Sozialdemokratie gegenüber dem internationalen Wanderungsphänomen wurden weder in der zeitgenössischen 221 noch der gegenwärtigen Fachliteratur ausreichend berücksichtigt. Dies mag damit zu tun haben, dass sich die weltweiten wie auch die cisleithanischen Sozialisten abgesehen von wohlklingenden Resolutionen bei internationalen Tagungen vor 1919 in die Diskussion um die transnationale Wanderungsfrage kaum einbringen konnten. Im österreichischen wissenschaftlichen Diskurs wurde die sozialdemokratische Wanderungsdebatte in der Monarchie bisher kaum berücksichtigt. Dies stimmt sowohl für die Untersuchungen, die sich direkt mit der grenzüberschreitenden Wanderung beschäftigen, wie auch für die Publikationen, die die sozialdemokratische Arbeitsmarktpolitik aufgearbeitet haben. Sind für die einen die Ausländer in der Sozialpolitik der Monarchie kein Thema, so spielten für die Anderen die Sozialdemokraten in den Jahren, in denen Millionen von Menschen aus, durch und nach Österreich wanderten, keine Rolle. Obwohl diese Vernachlässigung, was die politische Einflußnahme der Sozialdemokraten anbelangt, durchaus gerechtfertigt ist, so versäumt man durch diese Praxis die Möglichkeit, die Entstehung des österreichischen Sonderweges in der Wanderungsfrage bis in die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zurück zu verfolgen. 222 219 Fischer 1909, 86. 220 Fischer 1909, 90. 221 Fischer beklagt sich beispielsweise darüber, daß der Migrationsexperte Leopold Caro in seinem 1909 erschienen Buch über die österreichischen Wanderungspolitik „jede Würdigung der spezifisch proletarischen Aus- und Einwanderungspolitik unterlassen hat. (...) Diese Unterlassung ist umso befremdlicher, als dem Verfasser der vorwiegend proletarische Charakter des Auswanderungsphänomens und die Notwendigkeit seiner Regelung von proletarische Gesichtspunkten nicht entgegen zu sein schient (...)‟. Fischer 1910, 528. 222 Eine detailierte Darstellung dieses Sonderweges befindet sich an einen andern Ort in dieser Studie.

149 In ideologischer Hinsicht vertraten die cisleithanischen Sozialdemokraten in der Wanderungsfrage die Position der Mehrheitsfraktion der II. Sozialdemokratischen Internationale. Grenzüberschreitende Einwanderung kam in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in Österreich kaum vor. Mit der wichtigen Ausnahme von Vorarlberg stellten die Zuwanderer, die außerhalb der Grenzen Österreich-Ungarns heimatberechtigt waren, eine verschwindend kleine Minderheit dar. Die ausländischen Zuwanderer, die sich tatsächlich in Österreich niederließen, stammten vor allem aus dem Deutschen Reich und dem Königreich Italien und fielen kulturell nicht auf. Wanderungspolitik und somit auch die Migrationsdebatte war auf das vordergründige Krisenphänomen der Massenauswanderung und - ab Mitte der 10er Jahre - die illegale Transitwanderung beschränkt. Innerhalb dieser vergleichsweise engen Parameter entwickelten die österreichischen Sozialdemokraten jedoch sehr wohl eine Position, die als Fundament für die Migrationsdebatte nach dem Ersten Weltkrieg gelten darf. Konfrontiert mit einer vollständigen Gestaltungsunfähig- und Unwilligkeit seitens der Ministerien in Wien und der Behörden vor Ort, machten die Sozialdemokraten den Versuch, Reformkonzepte anzudiskutieren, die eine Demokratisierung und Bürokratisierung der Wanderung in Österreich mit sich gebracht hatten. Angesichts der Schwäche der Sozialdemokraten bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer auf Reichsebene im Jahre 1907 und die durch das Kuriensystem auf Landesebene weiterhin bestehende politische Diskriminierung der Arbeiterorganisationen in den Landtagen und Gemeinden, war die Umsetzung der in den sozialistischen Blättern propagierten Maßnahmen bis zum Untergang der Monarchie wohl illusorisch. Diese Debatte hatte jedoch sicherlich einen Einfluß auf das Weltbild der sozialdemokratisch gesinnten Minister, Beamten, Landtagsabgeordneten und Gemeindevertretern nach 1918. Wie im folgenden dargestellt wird, decken sich die wanderungspolitischen Positionen der Sozialdemokratie zu einem hohen Anteil mit den tatsächlich umgesetzten Maßnahmen in der Ersten Republik. Abgesehen von der Berichterstattung über die krisenhaften Auswirkungen der Auswanderung und den immer häufiger auffliegenden Skandalen im Bereich der illegalen Agenturen und des Schlepperwesens in der Tagespresse, konzentrierte sich die sozialdemokratische Wanderungsdebatte auf die Monatszeitschrift "Der Kampf". 223 Fundament dieser Diskussion 223 In der Tagespresse (Arbeiterzeitung) wurde über den „Massenflucht aus Österreich‟ (AZ 17.6.1913) und seiner Begleiterscheinungen berichtet. Auch in „Die Neue Zeit‟ (z.B. Otto Bauer; Wanderungen, XXV. Jahrgang) meldeten sich österreichischen Sozialdemokraten zur Ausländerfrage zur Wort. In diesem Abschnitt wird die Frage der fremdsprachigen

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vom Wesen des Kapitalismus eben so unzertrennliche Erscheinungen sind, wie die<br />

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Ursachen nur bekämpfen, so wie wir den Kapitalismus als Ganzes bekämpfen". 220<br />

Mit diesem Hinweis auf die Stuttgarter Beschlüsse der II. Internationale (1907) kritisierte der<br />

St. Pöltner Rechtsanwalt und Migrationsexperte Julius Fischer im Novemberheft der<br />

sozialdemokratischen Zeitschrift "Der Kampf" (1908-1909) die bestehende<br />

Wanderungsdebatte in Cisleithanien. Nach Fischer hat sich die internationale<br />

Sozialdemokratie mit Recht für den Schutz und Ausbau der Freizügigkeit am Arbeitsmarkt<br />

und gegen die Versuche, Wanderungspolitik zu nationalisieren, energisch ausgesprochen. Die<br />

Vorstellungen der Sozialdemokratie gegenüber dem internationalen Wanderungsphänomen<br />

wurden weder in der zeitgenössischen 221 noch der gegenwärtigen Fachliteratur ausreichend<br />

berücksichtigt. Dies mag damit zu tun haben, dass sich die weltweiten wie auch die<br />

cisleithanischen Sozialisten abgesehen von wohlklingenden Resolutionen bei internationalen<br />

Tagungen vor 1919 in die Diskussion um die transnationale Wanderungsfrage kaum<br />

einbringen konnten. Im österreichischen wissenschaftlichen Diskurs wurde die<br />

sozialdemokratische Wanderungsdebatte in der Monarchie bisher kaum berücksichtigt. Dies<br />

stimmt sowohl für die Untersuchungen, die sich direkt mit der grenzüberschreitenden<br />

Wanderung beschäftigen, wie auch für die Publikationen, die die sozialdemokratische<br />

Arbeitsmarktpolitik aufgearbeitet haben. Sind für die einen die Ausländer in der Sozialpolitik<br />

der Monarchie kein Thema, so spielten für die Anderen die Sozialdemokraten in den Jahren,<br />

in denen Millionen von Menschen aus, durch und nach Österreich wanderten, keine Rolle.<br />

Obwohl diese Vernachlässigung, was die politische Einflußnahme der Sozialdemokraten<br />

anbelangt, durchaus gerechtfertigt ist, so versäumt man durch diese Praxis die Möglichkeit,<br />

die Entstehung des österreichischen Sonderweges in der Wanderungsfrage bis in die<br />

Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zurück zu verfolgen. 222<br />

219 Fischer 1909, 86.<br />

220 Fischer 1909, 90.<br />

221 Fischer beklagt sich beispielsweise darüber, daß der Migrationsexperte Leopold Caro in seinem 1909 erschienen Buch<br />

über die österreichischen Wanderungspolitik „jede Würdigung der spezifisch proletarischen Aus- und Einwanderungspolitik<br />

unterlassen hat. (...) Diese Unterlassung ist umso befremdlicher, als dem Verfasser der vorwiegend proletarische Charakter<br />

des Auswanderungsphänomens und die Notwendigkeit seiner Regelung von proletarische Gesichtspunkten nicht entgegen<br />

zu sein schient (...)‟. Fischer 1910, 528.<br />

222 Eine detailierte Darstellung dieses Sonderweges befindet sich an einen andern Ort in dieser Studie.

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