REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER REICHSFREMDE, STAATSFREMDE UND DRITTAUSL?NDER

14.02.2013 Aufrufe

144 "Es ist überhaupt charakteristisch für diesen österreichischen Entwurf, dass er seinen grössten Radikalismus in billigen, aber wenig wirkungsvollen Verboten austobt, dagegen bei der Schaffung von positiven Einrichtungen, die das Budget belasten könnten, die stärkste Zurückhaltung beobachtet." 212 Die Sozialdemokratie in Österreich lehnt sich im internationalen Bereich an die Beschlüsse des Stuttgarter Kongress" der internationalen Sozialdemokratie von 1907 an. Hiernach waren sämtliche Einschränkungen der individuellen Bewegungsfreiheit als grundsätzlich reaktionär und arbeitnehmerfeindlich abzulehnen. Es hat sich deshalb auch der Kongress von Stuttgart gegen alle Ausnahmsregeln und Beschränkungen der individuellen Freizügigkeit ausgesprochen, wohl wissend, dass derartige reaktionäre Versuche in letzter Linie immer dahin führen werden, den auf dem Proletariat lastenden Druck zu befestigen". 213 Innenpolitisch forderten die Sozialdemokraten die Einführung eines nach dem italienischen Vorbild konzipierten autonomen Auswanderungskommissariats. Als Bindeglied zwischen der Regierung und den Auswanderern sollte es die Bevölkerung über sämtliche Details der Auswanderung informieren und den Kontakt zwischen den einzelnen Beratungsorganen und den zentralen Behörden garantieren. Die Sozialdemokratie lehnten die Modelle, wie sie von Regierungskreisen in Ungarn und Österreich oder auch von der "Oesterreichisch-Ungarischen Colonialgesellschaft" konzipiert wurden, kategorisch ab. Das Kommissariat und die dazugehörigen regionalen und lokalen Beratungs- und Inspektionsorgane mussten ihrer Meinung nach paritätisch bestellt werden. Damit gemeint war sicherlich, dass der Sozialdemokratie eine bedeutende, wenn nicht dominierende Stellung bei der Gestaltung der Wanderungspolitik eingeräumt werden sollte. 214 Auf gesamtstaatlicher Ebene ist es weder den Befürwörtern einer Einschränkung der Freizügigkeit noch den Vertretern einer Frühform der "Sozialpartnerschaft" bis 1914 gelungen, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Somit blieb Cisleithanien ohne eine in einem Guß entworfene Wanderungspolitik. Prägendes Element dieser Zeit war die Überlagerung 212 Fischer 1909, 88. 213 Fischer 1909, 90.

145 von einer Vielzahl von Auswanderungs- und Verleitungsverboten und -bestimmungen aus den Jahren 1803 (Gesetz: Verbot der Verleitung zur Auswanderung), 1832 (Auswanderungspatent), 1833 (Hofkanzleidekret: zur Einschränkung der Agententätigkeit), 1852 (Erlaß: Verbot der Einrichtung von Anwerbeagenturen), 1863 (Staatsministerial-Erlaß: zur Hofkanzleidekret von 1833), 1852 (Erlaß: zur Regelung der Tätigkeit der Reisebureaus), 1867 (Staatsgrundgesetz: führt die Freizügigkeit ein), 1897 (Gesetz: Verbot der Mißbrauch in Auswanderungsangelegenheiten). Hierzu kamen die Vorschläge der amtlicherseits hoch angesehenen "Oesterreichisch-Ungarischen Colonialgesellschaft" (1894) sowie die richtungsweisenden Regierungsentwürfe und Vorarbeiten zum Auswanderungsgesetz von 1904, 1908 und 1912/1913. 215 Diese gesetzlichen Überschneidungen führten nicht nur bei den betroffenen Auswanderern und Gemeindevertretern zu einer an Gleichgültigkeit grenzenden Verwirrung. Auch die Wiener Bürokratie konnte sich in vielen Fällen auf keine eindeutige Interpretation der Rechtslage einigen. Bei einer Stellungnahme zur Wirkungskraft der unterschiedlichen Bestimmungen und ihre Rückwirkung aufeinander stellte das Präsidium des k.k. Ministeriums des Innern 1903 trocken fest: dass "über das Mass dieser Rückwirkung (auf die verschiedenen Bestimmungen, E.S.) jedoch bestehen Meinungsverschiedenheiten ziemlich tiefgreifender Art (...) wobei allerdings wieder die Meinungen darüber sehr geteilt sind, welche Bestimmungen dies eigentlich seien". 216 c. Verwilderung der Wanderungspolitik Da weder aus Wien noch aus Budapest brauchbare Leitlinien für die Auswanderung und Durchwanderungpolitik kamen, sahen sich die Betroffenen mehr oder weniger gezwungen, eine "wilde" Wanderungspolitik von unten zu gestalten. Die Gemeinden hatten vor allem an der Ausreise der heimatberechtigten Bevölkerung ein großes Interesse. Im Gegensatz zu den Ortsfremden, die ab der Reform des Heimatrechtsgesetz 1863 ohne größere Schwierigkeiten aus der Gemeinde ausgewiesen werden konnten, genossen Gemeindemitglieder das Recht auf Armenfürsorge. Aus diesem Grund versuchten viele Gemeinden, ihre Armut in Amerika zu "entsorgen". Bettler, Kranke und Kriminelle wurde die Ausreise nahegelegt und in manchen Fällen sogar von der Gemeinde direkt veranlaßt. Als die amerikanischen 214 Fischer, 1909, 89. 215 vgl. Deák 1974, 168-169. 216 betr.: Ausbürgerung von Conte Vojnovic, Aeusserung des Dep.21a, ÖStA/AVA, MdI/Präs, Kt: 1550/P.Nr.1069/1903 (AIS:I/39/1069/1903).

144<br />

"Es ist überhaupt charakteristisch für diesen österreichischen Entwurf, dass er seinen grössten<br />

Radikalismus in billigen, aber wenig wirkungsvollen Verboten austobt, dagegen bei der<br />

Schaffung von positiven Einrichtungen, die das Budget belasten könnten, die stärkste<br />

Zurückhaltung beobachtet." 212<br />

Die Sozialdemokratie in Österreich lehnt sich im internationalen Bereich an die Beschlüsse<br />

des Stuttgarter Kongress" der internationalen Sozialdemokratie von 1907 an. Hiernach waren<br />

sämtliche Einschränkungen der individuellen Bewegungsfreiheit als grundsätzlich reaktionär<br />

und arbeitnehmerfeindlich abzulehnen.<br />

Es hat sich deshalb auch der Kongress von Stuttgart gegen alle Ausnahmsregeln und<br />

Beschränkungen der individuellen Freizügigkeit ausgesprochen, wohl wissend, dass derartige<br />

reaktionäre Versuche in letzter Linie immer dahin führen werden, den auf dem Proletariat<br />

lastenden Druck zu befestigen". 213<br />

Innenpolitisch forderten die Sozialdemokraten die Einführung eines nach dem italienischen<br />

Vorbild konzipierten autonomen Auswanderungskommissariats. Als Bindeglied zwischen der<br />

Regierung und den Auswanderern sollte es die Bevölkerung über sämtliche Details der<br />

Auswanderung informieren und den Kontakt zwischen den einzelnen Beratungsorganen und<br />

den zentralen Behörden garantieren. Die Sozialdemokratie lehnten die Modelle, wie sie von<br />

Regierungskreisen in Ungarn und Österreich oder auch von der "Oesterreichisch-Ungarischen<br />

Colonialgesellschaft" konzipiert wurden, kategorisch ab. Das Kommissariat und die<br />

dazugehörigen regionalen und lokalen Beratungs- und Inspektionsorgane mussten ihrer<br />

Meinung nach paritätisch bestellt werden. Damit gemeint war sicherlich, dass der<br />

Sozialdemokratie eine bedeutende, wenn nicht dominierende Stellung bei der Gestaltung der<br />

Wanderungspolitik eingeräumt werden sollte. 214<br />

Auf gesamtstaatlicher Ebene ist es weder den Befürwörtern einer Einschränkung der<br />

Freizügigkeit noch den Vertretern einer Frühform der "Sozialpartnerschaft" bis 1914<br />

gelungen, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Somit blieb Cisleithanien ohne eine in einem<br />

Guß entworfene Wanderungspolitik. Prägendes Element dieser Zeit war die Überlagerung<br />

212 Fischer 1909, 88.<br />

213 Fischer 1909, 90.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!