Dr. Friederike Benthaus-Apel, Köln. - Haus kirchlicher Dienste

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13.02.2013 Aufrufe

Friederike Benthaus-Apel „Wieviel Institution braucht Religion?“ Welche Erfahrungen haben Christen und Nichtchristen mit der Institution Kirche, Einleitung: welche Erwartungen haben sie? Eine soziologische Sicht Vortrag anläßlich des 1. Forum zur Begegnung von Christen und Muslimen in Niedersachsen am 12. Dezember 2003 im Haus kirchlicher Dienste in Hannover Ich bin gebeten worden, Ihnen anhand der Daten aus der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsstu- die einen Eindruck davon zu vermitteln, welches Verhältnis evangelische Christen zu ihrer Kirche haben: Wie sehen evangelische Kirchenmitglieder die Institution Kirche, welches Ver- ständnis haben sie von ihrer Kirchenmitgliedschaft, und wie gestaltet sich ihre Beteiligung am kirchlichen Leben? Unter dem Titel dieser Veranstaltung „Wieviel Institution braucht Religion?“ und dem Titel meines Vortrages „Welche Erfahrungen haben Christen und Nichtchristen mit der Institution Kirche, welche Erwartungen haben sie ?“ sind eine Vielfalt von Fragestellungen angespro- chen, welche hier sicher nicht alle gleichermaßen beantwortet werden können. Lassen Sie mich deshalb einige ordnende Vorbemerkungen machen: 1. Im Titel meines Vortrages wird nach den Erwartungen der Christen im Hinblick auf ihre Kirche gefragt. Die Mitgliedschaftsstudie der EKD richtet ihr Interesse auf die evangeli- schen Christen, wenngleich aus der religionssoziologischen Forschung viele Parallelen, aber eben auch manche typischen Unterschiede, z.B. im Gottesdienstbesuch zwischen e- vangelischen und katholischen Christen, bekannt sind. Wenn hier aus der EKD Studie be- richtet wird, so bezieht sich dies also nur auf die evangelischen Kirchenmitglieder. Ich 1

<strong>Friederike</strong> <strong>Benthaus</strong>-<strong>Apel</strong><br />

„Wieviel Institution braucht Religion?“<br />

Welche Erfahrungen haben Christen und Nichtchristen mit der Institution Kirche,<br />

Einleitung:<br />

welche Erwartungen haben sie? Eine soziologische Sicht<br />

Vortrag anläßlich des<br />

1. Forum zur Begegnung von Christen und Muslimen in Niedersachsen<br />

am 12. Dezember 2003<br />

im <strong>Haus</strong> <strong>kirchlicher</strong> <strong>Dienste</strong> in Hannover<br />

Ich bin gebeten worden, Ihnen anhand der Daten aus der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsstu-<br />

die einen Eindruck davon zu vermitteln, welches Verhältnis evangelische Christen zu ihrer<br />

Kirche haben: Wie sehen evangelische Kirchenmitglieder die Institution Kirche, welches Ver-<br />

ständnis haben sie von ihrer Kirchenmitgliedschaft, und wie gestaltet sich ihre Beteiligung am<br />

kirchlichen Leben?<br />

Unter dem Titel dieser Veranstaltung „Wieviel Institution braucht Religion?“ und dem Titel<br />

meines Vortrages „Welche Erfahrungen haben Christen und Nichtchristen mit der Institution<br />

Kirche, welche Erwartungen haben sie ?“ sind eine Vielfalt von Fragestellungen angespro-<br />

chen, welche hier sicher nicht alle gleichermaßen beantwortet werden können. Lassen Sie<br />

mich deshalb einige ordnende Vorbemerkungen machen:<br />

1. Im Titel meines Vortrages wird nach den Erwartungen der Christen im Hinblick auf ihre<br />

Kirche gefragt. Die Mitgliedschaftsstudie der EKD richtet ihr Interesse auf die evangeli-<br />

schen Christen, wenngleich aus der religionssoziologischen Forschung viele Parallelen,<br />

aber eben auch manche typischen Unterschiede, z.B. im Gottesdienstbesuch zwischen e-<br />

vangelischen und katholischen Christen, bekannt sind. Wenn hier aus der EKD Studie be-<br />

richtet wird, so bezieht sich dies also nur auf die evangelischen Kirchenmitglieder. Ich<br />

1


werde in der Regel Zahlenmaterial über die westdeutschen evangelischen Kirchenmitglie-<br />

der präsentieren, da für diese Gruppe Zeitreihen seit 1972 vorliegen.<br />

2. Der Titel „Wieviel Institution braucht Religion?“ spielt auf die Differenz zwischen Reli-<br />

giösität und Kirchlichkeit an. Hierzu kann aus den Kirchenmitgliedschaftsstudien einiges<br />

gesagt werden, da sie es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Differenz näher auszu-<br />

leuchten und zu verstehen, wie evangelische Kirchenmitglieder ihre (christliche) Religio-<br />

sität verstehen und sie sie in dem institutionellen Rahmen der Kirchenmitgliedschaft auf-<br />

gehoben und verankert sehen.<br />

In diesem Zusammenhang steht auch die religionssoziologische Frage zur Diskussion, in-<br />

wieweit sich durch den geringer werdenden Grad der Institutionalisierung von Religion in<br />

der bundesrepublikanischen Gesellschaft (Kirchenaustritte, Rückgang in der Teilnahme<br />

am Gottesdienst) auch insgesamt ein wachsender Trend zur Säkularisierung abzeichnet.<br />

3. Die Frage nach dem nötigen oder für notwendig erachteten Grad der Institutionalisierung<br />

von Religion läßt sich jedoch weder unabhängig von der Rolle der Institution Kirche in<br />

der bundesrepublikanischen Gesellschaft noch unabhängig von ihrer Bedeutung in sozial-<br />

historischer Perspektive beantworten. Auf diese Fragen kann ich in meinem Vortrag nicht<br />

ausführlich eingehen, möchte aber dennoch andeuten, welche Aspekte in diesem Zusam-<br />

menhang m.E. von Bedeutung sind:<br />

3a) Das Mitgliedschaftsverständnis vieler Kirchenmitglieder ist mit geprägt durch die staats-<br />

kirchliche Tradition der evangelischen Kirche. „Seit der Reformation war die Kirche einer-<br />

seits institutionell bis nach dem 1. Weltkrieg vom Staat getragen, was auch in die volkskirch-<br />

lichen Verhältnisse seitdem nachwirkte. Andererseits haben Reformation und Aufklärung die<br />

Freiheit des Gewissens, Denkens und Urteilens befördert. Die Kombination beider Faktoren<br />

scheint in der Mitgliedschaft bei allen Größenverhältnissen gleichbleibend ein relatives<br />

Gleichgewicht von Distanz und Nähe zu bewirken“(Schloz 2003 :10).<br />

3b) Da die Kirchenmitgliedschaft in der Regel durch die Kindestaufe zustande gekommen ist,<br />

wird sie dementsprechend in der persönlichen Biographie zunächst als ein zugeschriebenes<br />

Merkmal erfahren. Erst im Verlauf der eigenen Lebensgeschichte unterliegt sie unterschiedli-<br />

chen Wandlungen und Ausgestaltungen. Die in Elternhaus und Schule erlebte religiöse Sozia-<br />

lisation ist deshalb von nicht unerheblicher Bedeutung für das eigene Mitgliedschaftsver-<br />

ständnis. D.h., für eine angemessene Erklärung der Art und Weise der Kirchenmitgliedschaft<br />

und ihrer Gestaltung von Nähe und Distanz ist der hier angedeutete sozialisationsbedingte<br />

Hintergrund zu berücksichtigen.<br />

2


3c) Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die für die evangelische (wie katholi-<br />

sche) Kirche typische sozialräumliche Prägung der Kirchenmitgliedschaft. Kirchenmitglied-<br />

schaft gestaltet sich in wichtigen Teilaspekten im Rahmen einer gewachsenen parochialen<br />

Struktur. So wird die Zugehörigkeit zu einer Ortsgemeinde z.B. nach einem Wohnortwechsel<br />

gleichsam „automatisch“, d.h. durch Meldung beim Einwohnermeldeamt, wiederhergestellt.<br />

Die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche drückt sich damit in der Zugehörigkeit zu einer<br />

Kirchengemeinde des Wohnortes aus. Mit anderen Worten: Man ist qua Wohnort einer be-<br />

stimmten Kirchengemeinde zugewiesen, sucht sich diese nicht selber aus. In welcher Weise<br />

Kirchenmitglieder das kirchliche Angebot dann an ihrem Wohnort nutzen, bleibt ihrer Gestal-<br />

tung überlassen und ist naturgemäß sehr unterschiedlich.<br />

3d) Zu bedenken ist, dass nicht nur die bis zum 1. Weltkrieg bestehende Verknüpfung von<br />

Staat und Kirche, sondern auch die heutige Situation der evangelischen Kirche als einer Kör-<br />

perschaft des öffentlichen Rechtes dazu führt, dass ihr eine wichtige gesellschaftliche Funkti-<br />

on zugeschrieben wird, welche sich in den Erwartungen - vielleicht aber auch in manchen<br />

Befürchtungen - der Kirchenmitglieder widerspiegelt. Von der Kirche erwartet man, dass sie<br />

als Institution ihre diakonischen Aufgaben in der Gesellschaft wahrnimmt, und man hält ande-<br />

rerseits - vielleicht auch gewohnheitsmäßig - Distanz zu einer Kirche, die von ihrer Tradition<br />

her häufig als eine „Herrschafsinstitution“ wahrgenommen wurde.<br />

Ich möchte nun, nach diesen ausführlicheren Vorbemerkungen, zur Ausgangsfragestellung<br />

zurückkehren: Welche Erfahrungen haben Christen und Nichtchristen mit der Institution Kir-<br />

che, welche Erwartungen haben sie? Ich werde in drei Schritten vorgehen.<br />

1. Die Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD, ihre Zielsetzungen und Datenbasis<br />

2. Aktuelle Ergebnisse aus der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zu den The-<br />

men: Kirchenbindung, Verständnis des Evangelisch-Seins, Mitgliedschaftsgründe,<br />

Erwartungen an die Kirche und Gottesglaube<br />

3. Ausblick: Erwartungen an die Kirche – die Perspektive der Konfessionslosen (West)<br />

1. Die vierte Kirchenmitgliedschaftsstudie: Zielsetzung und Datenbasis<br />

1.1 Zielsetzung der Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD<br />

3


Die evangelische Kirche Deutschlands führt seit 1972, jeweils im Abstand von 10 Jahren,<br />

Kirchenmitgliedschaftsstudien durch. Ausgangspunkt der ersten Kirchenmitgliedschaftsstudie<br />

war die Ende der 60er Jahre stark angestiegene Zahl der Kirchenaustritte, die Anlass dafür<br />

gaben, nach dem Verhältnis der Kirchenmitglieder zur ihrer Kirche zu fragen. So wurde zu-<br />

nächst stärker aus der Organisationsperspektive das Teilnahmeverhalten der Kirchenmitglie-<br />

der erfragt. Mit den Folgeuntersuchungen setzte sich jedoch immer stärker auch die Überzeu-<br />

gung durch, dass das Selbstverständnis der Kirchenmitglieder hinsichtlich der Bedeutung der<br />

Institution Kirche, wie des Religiösen allgemein, im gesamten Lebenskontext zu untersuchen<br />

sei. In diesem Zusammenhang brachte die 1992 vorgenommene Kirchenmitgliedschaftsunter-<br />

suchung besondere Neuerungen: Es wurde erstmals mit qualitativen Verfahren gearbeitet, um<br />

mehr (als mit quantitativen Methoden möglich) über das Selbstverständnis der Kirchenmit-<br />

glieder zu erfahren. Darüber hinaus brachte die Wiedervereinigung einige Veränderungen mit<br />

sich: Erstmals konnten Kirchenmitglieder aus den alten und den neuen Bundesländern befragt<br />

werden. Hinzu kam der vergleichende Blick auf die Konfessionslosen in Ost- und West-<br />

deutschland.<br />

Auf diesen Hintergrund baut die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsstudie auf. Sie umfasst erneut<br />

einen quantitativen und einen qualitativen Untersuchungsteil. Ein Großteil des Fragebestandes<br />

wurde aus den vorangegangenen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen übernommen, um die<br />

Längsschnittperspektive zu sichern. In Anknüpfung an die vorangegangen Untersuchungen<br />

wurde die Frage nach dem Selbstverständnis der Kirchenmitglieder im Umgang mit Religion<br />

und Kirchlichkeit intensiviert. Dabei sind drei weitere Schwerpunktthemen aufgenommen<br />

worden: Die Frage nach den Weltsichten evangelischer Kirchenmitglieder und Konfessionslo-<br />

ser in Ost- und Westdeutschland, die Frage nach dem Zusammenhang von Lebensstil und<br />

Kirchlichkeit und Religiosität sowie die Frage nach den Auswirkungen von Religiosität und<br />

Kirchlichkeit auf die praktische Lebensführung.<br />

1.2 Datenbasis<br />

Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung basiert auf einer repräsentativen Bevölke-<br />

rungsstichprobe aus der Grundgesamtheit der deutschen Wohnbevölkerung ab 14 Jahren. Es<br />

wurden aus der Grundgesamtheit zwei Teilpopulationen, die evangelischen Kirchenmitglieder<br />

und die Konfessionslosen ermittelt. Insgesamt wurden 2701 Personen befragt, davon 1821<br />

evangelische Kirchenmitglieder und 880 Konfessionslose. Ich werde mich in diesem Vortrag<br />

vor allem auf die evangelischen Kirchenmitglieder in den alten Bundesländern beziehen. Das<br />

sind 1532 Befragte.<br />

4


2. Aktuelle Ergebnisse aus der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung<br />

2.1 Verbundenheit mit der evangelischen Kirche<br />

Eine Basisfrage, die seit 1972 in den Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD gestellt wird, ist<br />

die Frage nach der Verbundenheit der Kirchenmitglieder mit ihrer Kirche. Diese Frage stellt<br />

einen verlässlichen Indikator zur Erfassung des Verhältnisses der Kirchenmitglieder zur Insti-<br />

tution Kirche dar. Mit dieser Frage wird die gefühlsmäßige Nähe bzw. Distanz zur Kirche<br />

erfasst, unabhängig davon, ob man sich am kirchlichen Leben beteiligt, die Inhalte der christ-<br />

lichen Botschaft bejaht oder welche Erwartungen man an die Kirche hat (vgl. Pollack 2003:<br />

13).<br />

Graphik 1: Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche<br />

Gefühl der Verbundenheit mit der Evangelischen Kirche<br />

in den alten Bundesländern im Zeitvergleich (in %)<br />

Quelle: KMU I bis KMU IV<br />

sehr verbunden<br />

ziemlich verbunden<br />

etwas verbunden<br />

kaum verbunden<br />

überhaupt nicht verbunden<br />

5<br />

12<br />

14<br />

10<br />

13<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

25<br />

22<br />

29<br />

24<br />

20<br />

22<br />

18<br />

20<br />

31<br />

32<br />

35<br />

37<br />

0 10 20 30 40 50<br />

1972<br />

Basis: 2.000 Befragte<br />

1992<br />

Basis: 1.585 Befragte<br />

1982<br />

Basis: 1.523 Befragte<br />

2002<br />

Basis: 1.532 Befragte


Graphik 1 veranschaulicht, dass über die letzten 30 Jahre hinweg die Verbundenheit mit der<br />

Institution ein hohes Ausmaß an Stabilität aufweist. Betrachtet man die Angaben der evange-<br />

lischen Kirchenmitglieder in den alten Bundesländern von 2002 so geben 13% der Kirchen-<br />

mitglieder an, sich der Kirche sehr verbunden zu fühlen, 24% fühlen sich der Kirche ziemlich<br />

verbunden. Das sind zusammengenommen 37% evangelische Kirchenmitglieder, die sich<br />

ihrer Kirche gefühlsmäßig durchaus sehr nahe fühlen. Die „etwas Verbundenen“ nehmen mit<br />

37% einen gleichgroßen Anteil ein. Diese Gruppe ist über die letzten 30 Jahre angewachsen.<br />

D.h., ein zunehmender Anteil evangelischer Kirchenmitglieder positioniert sich in einer Mit-<br />

tellage von Nähe und Distanz zur Institution Kirche. Diese Gruppe wird häufig als Gruppe<br />

derjenigen Kirchenmitglieder bezeichnet, die in „freundlicher Distanz“ zur Kirche stehen. Der<br />

Anteil der „kaum verbundenen“ Kirchenmitglieder ist mit 20% über die letzten 30 Jahre hin-<br />

weg eine recht stabile Größe, während der Anteil der überhaupt nicht verbundenen stetig<br />

sinkt; er liegt 2002 bei 6% der evangelischen Kirchenmitglieder.<br />

Dieses - über drei Jahrzehnte - recht konstante Bild hat, im Zusammenhang mit anderen Indi-<br />

katoren wie der Teilnahme am Gottesdienst und dem Gottesglauben dazu geführt, dass man<br />

ganz grob drei Gruppen von Kirchenmitgliedern unterscheidet: Die sogenannten Kernmitglie-<br />

der, die sich der Kirche sehr verbunden fühlen, regelmäßig den Gottesdienst besuchen und<br />

sich in der Regel auch aktiv am gemeindlichen Leben z.B. in Gesprächskreisen u.ä. beteili-<br />

gen. In dieser Gruppe ist die Differenz zwischen Kirchlichkeit einerseits, d.h. Teilnahme in<br />

und Bindung an die evangelische Kirche, und der christlich-religiösen Überzeugung und Pra-<br />

xis andererseits am geringsten: Diese Gruppe umfasst um die 13% der evangelischen Kir-<br />

chenmitglieder.<br />

Die überwältigende Mehrheit von ca. 70% evangelischer Kirchenmitglieder werden als soge-<br />

nannte distanzierte Kirchenmitglieder bezeichnet. Diese Gruppe ist hinsichtlich der aktiven<br />

Teilnahme am kirchlichen Leben und der christlichen Glaubensüberzeugungen heterogen.<br />

Typisch für diese Gruppe ist, dass sich diese Kirchenmitglieder ab und zu am kirchlichen Le-<br />

ben beteiligen, zu hohen kirchlichen Feiertagen oder familiären Anlässen den Gottesdienst<br />

besuchen und dem christlichen Glauben zum Teil nahe stehen, zum Teil diesen aber auch<br />

immer wieder anzweifeln bzw. ein Glaubensverständnis bevorzugen, welches sich im Glau-<br />

ben an eine höhere Macht ausdrückt und nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche beschreibt.<br />

Für diese Gruppe ist weiterhin kennzeichnend, dass eine Differenz zwischen persönlichen<br />

Glaubensüberzeugungen und dem christlichen Gottesglauben einerseits und der eigenen reli-<br />

giösen Praxis und dem von der Kirche erwarteten Teilnahmeverhalten andererseits besteht.<br />

Dennoch verstehen sich diese Kirchenmitglieder als der Kirche verbunden. Dieser Gruppe,<br />

6


welche früher häufig als bloße „Taufscheinchristen“ diffamiert wurde, galt das besondere<br />

Interesse der dritten und der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsstudie. Insbesondere in den Er-<br />

zählinterviews der dritten Kirchenmitgliedschaftsstudie wurde deutlich, dass die erzählte Le-<br />

bensgeschichte der „Sitz der Religion“ ist (vgl. Engelhardt/Loewenich/Steinacker 1997:61).<br />

D.h., Kirchenbindung und christlich religiöse Glaubensüberzeugungen sind erst im Kontext<br />

der Lebensphasen und zentraler biographischer Ereignisse angemessen zu verstehen und zu<br />

erklären.<br />

Man kann darüber hinaus ca. 15% evangelischer Kirchenmitglieder erfassen, welche der Kir-<br />

che eher fern stehen und mit dem Gedanken spielen, aus der Kirche auszutreten.<br />

Graphik 2: Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche nach Geschlecht<br />

Ich möchte ihnen nun noch zwei Graphiken zur Verbundenheit mit der Kirche zeigen, die<br />

einen deutlichen Alters- und Geschlechtseffekt bezüglich der Verbundenheit mit der Kirche<br />

veranschaulichen.<br />

Gefühl der Verbundenheit mit der Evangelischen Kirche in den<br />

alten Bundesländern (in %)<br />

sehr/ziemlich verbunden<br />

Quelle: KMU IV<br />

etwas verbunden<br />

kaum/überhaupt<br />

nicht verbunden<br />

nach Geschlecht<br />

7<br />

21<br />

31<br />

33<br />

36<br />

37<br />

42<br />

0 10 20 30 40 50<br />

Männer Frauen


Graphik 2 zeigt, dass unter den hochverbundenen Kirchenmitgliedern Frauen um rund 10<br />

Prozentpunkte häufiger vertreten sind als Männer. Jene sind hingegen unter den kaum ver-<br />

bundenen stärker vertreten. Dieser Sachverhalt ist hinlänglich bekannt, wenngleich die religi-<br />

onssoziologische Forschung zeigt, dass es der Tendenz nach in der jüngeren Generation zu<br />

einer Angleichung zwischen Männern und Frauen bezüglich des christlich religiös-kirchlichen<br />

Handelns kommt. „Dieser Prozeß geht offensichtlich mit Veränderungen im gelebten Ge-<br />

schlechterverhältnis einher“ und „ist insbesondere mit einem verstärkten Zugang von Frauen<br />

zur Berufswelt und zum öffentlichen Raum verbunden.“ (Lukatis/Sommer/Wolf 2000: 15).<br />

Ebenso eindeutig ist der Alterseffekt bezüglich der Kirchenbindung. Die älteren Kirchenmit-<br />

glieder geben häufiger als die jüngeren an, sich der Kirche sehr bzw. ziemlich verbunden zu<br />

fühlen. So ist einerseits deutlich, dass es vor allem die jüngeren Kirchenmitglieder sind, wel-<br />

che eine gewisse Distanz zur Kirche zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus wissen wir aus<br />

der Analyse der Lebensstile, dass die sogenannten Kernmitglieder von Kirchengemeinden<br />

überdurchschnittlich häufig aus ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen stammen: Es sind zu-<br />

meist ältere Menschen und überdurchschnittlich oft Frauen, die dem konservativ gehobenen<br />

Milieu oder dem kleinbürgerlichen Milieu angehören, und als aktive Kirchenmitglieder das<br />

Bild der Kerngemeinde stärker prägen als die jüngeren Kirchenmitglieder (vgl. <strong>Benthaus</strong>-<br />

<strong>Apel</strong> 2003).<br />

Graphik 3: Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche nach Alter<br />

Verbundenheit mit der Kirche nach Altersgruppen im Zeitvergleich<br />

(in%)<br />

West<br />

sehr verbunden und ziemlich verbunden (1+2)<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

Quelle: KMU IV<br />

21<br />

16<br />

20<br />

19<br />

27<br />

23<br />

21<br />

19<br />

37<br />

36<br />

33<br />

29<br />

8<br />

42<br />

47<br />

46<br />

45<br />

67<br />

60<br />

59<br />

58<br />

14-24 25 - 34 35 - 49 50 - 64 65 und älter<br />

1972 1982 1992 2002


Dieser Sachverhalt wird in der Forschung als eine gewisse Milieuverengung der Kerngemein-<br />

de beschrieben.<br />

2.2 Bedeutung des Evangelisch-Seins<br />

Was erwarten nun die evangelischen Kirchenmitglieder von ihrer Kirche und was gehört für<br />

sie unbedingt zum Evangelisch sein dazu?<br />

Graphik 4 zeigt, dass die evangelischen Kirchenmitglieder den institutionellen Aspekten von<br />

Kirchenmitgliedschaft große Bedeutung beimessen. D.h., es gehört zum Evangelisch-Sein<br />

unbedingt dazu, dass man getauft, konfirmiert und Mitglied der evangelischen Kirche ist. Mit<br />

der institutionellen Zugehörigkeit verbunden wird eine innere Haltung, welche sich darin aus-<br />

drückt, dass man „sich bemüht, ein anständiger Mensch zu sein“, „seinem Gewissen zu fol-<br />

gen“ und „die Freiheit anderer zu achten“.<br />

Graphik 4: Merkmale des Evangelisch-Seins<br />

*1982: man Kirchensteuer zahlt<br />

**bis 1992: bewußt als Christ lebt<br />

Quelle: KMU II bis KMU IV<br />

Merkmale des Evangelischseins im Zeitvergleich<br />

alte Bundesländer (in%)<br />

getauft ist<br />

konfirmiert<br />

Mitglied der ev. Kirche ist*<br />

zur Kirche geht<br />

die Bibel liest<br />

mitbekommt,<br />

was in Kirche passiert<br />

als bekennder Christ lebt**<br />

seinem Gewissen folgt<br />

sich bemüht,<br />

anständiger Mensch zu sein<br />

nach den 10 Geboten lebt<br />

an der Botschaft Jesu orientiert<br />

am Abendmahl teilnimmt<br />

gute Werke tut<br />

über seinen Glauben<br />

selbst bestimmt<br />

die Freiheit anderer achtet<br />

Es gehört UNBEDINGT zum Evangelisch-Sein, daß man...<br />

26<br />

36<br />

33<br />

25<br />

21<br />

22<br />

35<br />

34<br />

41<br />

40<br />

46<br />

9<br />

65<br />

59<br />

53<br />

55<br />

54<br />

58<br />

52<br />

50<br />

71<br />

74<br />

76<br />

76<br />

85<br />

91<br />

93<br />

80<br />

84<br />

87<br />

79<br />

77<br />

80<br />

83<br />

1982 Basis: N=1.523<br />

1992 Basis: N=1.585<br />

2002 Basis: N=1.532<br />

0 20 40 60 80 100 120<br />

84<br />

87<br />

86


Ein im engeren Sinne christlich-normatives Verständnis des Evangelisch-Seins wie es die<br />

Aussage „nach den 10 Geboten zu leben“ zum Ausdruck bringt, findet dagegen weniger Zu-<br />

stimmung. „Daran zeigt sich, dass „Evangelisch-Sein“ als eine selbstverantwortete Haltung<br />

der Gewissensbindung und Anständigkeit definiert (wird), den anderen in seinen differenten<br />

Überzeugungen achtet, für sich selbst denselben Respekt einfordert und zu vorgegebenen in-<br />

stitutionellen Anforderungen auf Distanz geht – und zwar je mehr desto enger sie formuliert<br />

sind.“ (Pollack 2002 :19).<br />

Ein im kirchlichen Sinne partizipatorisches Verständnis des Evangelisch-Seins ist nicht sehr<br />

verbreitet: Nur 33% der evangelischen Kirchenmitglieder (West) sehen es als unbedingt er-<br />

forderlich für das Evangelisch-Sein an, dass man zur Kirche geht und am Abendmahl teil-<br />

nimmt (34%). Und nur für 22% gehört es zum Evangelisch Sein unbedingt dazu, dass man die<br />

Bibel liest. Dagegen gehört es für 71% der Kirchenmitglieder unbedingt zum Evangelisch<br />

sein dazu, dass man gute Werke tut. D.h., Evangelisch zu sein, soll nach der Meinung der<br />

evangelischen Kirchenmitglieder durchaus Folgen in der Lebensführung haben, allerdings<br />

werden diese nicht im Kontext <strong>kirchlicher</strong> Partizipation gesucht, sondern eher unabhängig<br />

von der Institution Kirche gestaltet. Zu ergänzen ist hier, dass die evangelischen Kirchenmit-<br />

glieder der neuen Bundesländer von den Kirchenmitgliedern der alten Bundesländer dahinge-<br />

hend in ihrem Urteil über die Bedeutung des Evangelisch-Seins abweichen, dass sie es etwas<br />

häufiger für wichtig erachten, zur Kirche zu gehen und in der Bibel zu lesen.<br />

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die evangelischen Kirchenmitglieder dem institu-<br />

tionellen Aspekt durchaus einen bedeutenden Stellenwert für ihr Selbstverständnis als Chris-<br />

ten beimessen. Man ist evangelischer Christ, weil man (zahlendes) Mitglied der evangelischen<br />

Kirche ist und die von der Institution vorgegebenen integrativen Riten von Taufe und Kon-<br />

firmation vollzogen hat. Das persönliche Glaubensverständnis ist damit jedoch nur partiell<br />

abgedeckt. Die religiöse Praxis und Sinngebung des Evangelischseins folgen individuell ges-<br />

talteten Plausibilitätsstrukturen des Religiösen, welche vor allem auch biographisch verankert<br />

sind.<br />

2.3 Gründe für die Kirchenmitgliedschaft und Erwartungen an die evangelische Kirche<br />

Die Frage nach den Mitgliedschaftsmotiven (vgl. Graphik 5) gibt einen weiteren Einblick, wie<br />

die Kirchenmitglieder ihre Zugehörigkeit zur Institution verstehen.<br />

Es zeigt sich, dass mit 50% die kultische Begleitung der am häufigsten genannte Grund für<br />

die Mitgliedschaft in der Kirche ist, dicht gefolgt von der Begründung, dass „der christliche<br />

10


Glaube einem etwas bedeute (45%)“. D.h., die Kirche ist dem einzelnen wichtig als eine Insti-<br />

tution, „die eine besondere Kompetenz bei der Begehung der biographisch relevanten Über-<br />

gänge besitzt (...)“ (Pollack 2003:15). Dem persönlichen christlichen Glauben wird in den<br />

relevanten biographischen Umbruchsituationen durch die Teilnahme an den kirchlichen Riten<br />

zum Ausdruck verholfen. Dabei ist die Art und Weise, wie dies geschieht sehr verschieden.<br />

Manche suchen die kultische Begleitung durch den Pfarrer/die Pfarrerin und überlassen den<br />

Amtsträgern die Ausgestaltung der Feier, während andere die Möglichkeit zur aktiven Mit-<br />

gestaltung z.B. der Hochzeit oder des Taufgottesdienstes suchen. Jedoch ist mit Letzterem in<br />

der Regel kein Mitgliedschaftsverständnis verbunden, welches generell auf die Mitarbeit in<br />

der Kirche zielt: Die Kirche als ein Ort für sinnvolle Mitarbeit nimmt mit 19% den letzten<br />

Platz unter den Gründen für die Kirchenmitgliedschaft ein.<br />

Graphik 5: Mitgliedschaftsgründe im Zeitvergleich<br />

Quelle: KMU I bis KMU IV<br />

Mitgliedschaftsgründe der Evangelischen Kirchenmitglieder<br />

in den alten Bundesländern im Zeitvergleich (in%)<br />

7-stufige Skala: 1 = trifft überhaupt nicht zu, 7 = trifft genau zu; trifft zu (6+7)<br />

sie viel Gutes tut<br />

sie etwas für Arme, Alte<br />

und Kranke tut<br />

mir der christliche Glaube<br />

etwas bedeutet*<br />

ich der christlichen<br />

Lehre zustimme<br />

ich an das denke,was<br />

nach dem Tod kommt<br />

sich für Gerechtigkeit<br />

in der Welt einsetzt<br />

mir die Möglichkeit zu<br />

sinnvoller Mitarbeit gibt<br />

ich an meine Kinder denke<br />

ich die Gemeinschaft brauche<br />

sie mir Trost in<br />

schweren Stunden gibt<br />

sich das so gehört<br />

ich auf kirchliche Trauuung<br />

oder Beerdigung nicht<br />

ich religiös bin<br />

sie mir einen inneren<br />

Halt gibt<br />

mir Antwort auf die Frage<br />

nach dem Sinn des Lebens<br />

meine Eltern auch in<br />

der Kirche sind bzw. waren<br />

den Blick auf nicht<br />

alltägliche Fragen eröffnet<br />

* bis 1992: ich Christ bin<br />

13<br />

13<br />

15<br />

19<br />

14<br />

17<br />

17<br />

20<br />

15<br />

20<br />

21<br />

11<br />

22<br />

28<br />

24<br />

25<br />

29<br />

26<br />

26<br />

26<br />

28<br />

29<br />

25<br />

24<br />

28<br />

23<br />

26<br />

29<br />

28<br />

25<br />

27<br />

35<br />

33<br />

30<br />

33<br />

34<br />

33<br />

28<br />

28<br />

30<br />

32<br />

25<br />

22<br />

28<br />

26<br />

34<br />

34<br />

34<br />

38<br />

39<br />

43<br />

45<br />

45<br />

46<br />

42<br />

1972 Basis: N=2.000<br />

1982 Basis: N=1.523<br />

1992 Basis: N=1.585<br />

2002 Basis: N=1.532<br />

41<br />

45<br />

49<br />

50<br />

51<br />

52<br />

51<br />

0 10 20 30 40 50 60<br />

51


Deutlich zeigt sich in Graphik 5 auch, dass sowohl der diakonische Aspekt (Bin in der Kirche,<br />

weil sie etwas für Arme, Kranke und Alte tut (43%)) als auch der Aspekt der Tradition (Bin in<br />

der Kirche, weil meine Eltern auch in der Kirche sind bzw. waren (38%)), wichtige Mitglied-<br />

schaftsgründe darstellen, wenngleich der traditionale Aspekt in den letzten 10 Jahren deutlich<br />

an Bedeutung eingebüßt hat.<br />

Auch die Auswertung der Frage nach den Erwartungen, die die evangelischen Kirchenmit-<br />

glieder an ihre Kirche haben, (vgl. Tabelle 1) zeigt, dass man ihre Kernfunktion der Verkün-<br />

digung und rituellen Begleitung sehr schätzt, man es aber für noch bedeutsamer erachtet, dass<br />

die Kirche ihrer diakonischen Aufgaben nachkommt.<br />

Tabelle 1: Erwartungen an die Kirche<br />

Erwartungen an die Kirche<br />

Ich möchte gerne wissen, ob sich die evangelische Kirche Ihrer Meinung nach in den verschiedenen Bereichen<br />

engagieren soll.<br />

Die evangelische Kirche sollte ... 1972 1982 1992 2002<br />

West West West West<br />

Die christliche Botschaft verkündigen<br />

(zeitnah und modern)<br />

Gottesdienste feiern (Gottesdienste,<br />

57 70 76 72<br />

durch die sich die Menschen angesprochen<br />

fühlen)<br />

74 74<br />

Raum für Gebet, Stille und innere<br />

76 68<br />

Zwiegespräche geben<br />

Menschen durch Taufe, Konfirmation,<br />

Hochzeit und Beerdigung an den<br />

Wendepunkten des Lebens begleiten<br />

Einen Beitrag zur Erziehung der<br />

Kinder leisten<br />

12<br />

78<br />

52 60 40<br />

Entwicklungshilfe leisten<br />

Sich zu politischen Grundsatzfragen<br />

73 69 53<br />

äußern (zur Urteilsbildung beitragen,<br />

indem sie sich zu wichtigen Gegenwartsfragen<br />

äußert)<br />

22 41 52 22<br />

Die christlich-abendländischen Werte<br />

verteidigen<br />

42<br />

Sich um Probleme von Menschen in<br />

sozialen Notlagen kümmern<br />

78 77<br />

Das Gespräch mit den nichtchristlichen<br />

Religionen verstärken<br />

39<br />

Sich um Arbeitsalltag und Berufsleben<br />

kümmern<br />

35 43 27<br />

Kulturelle Angebote machen 57 37<br />

Sich gegen Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit<br />

wenden<br />

73 61<br />

Alte, Kranke und Behinderte betreuen<br />

76 90 82 82<br />

N= 2000 1523 1585 1532


So erwarten 78% der Kirchenmitglieder, dass die Kirche Menschen durch Taufe, Konfirmati-<br />

on, Hochzeit und Beerdigung an den Wendepunkten des Lebens begleitet, dass sie Gottes-<br />

dienste feiert (74%) und die christliche Botschaft verkündet (72%). Die Wahrnehmung der<br />

sogenannten Kernaufgaben der Institution werden von den Kirchenmitgliedern also auch in<br />

hohem Maße erwartet. Aber noch höher ist, wie gesagt, die Erwartung, dass die Kirche ihre<br />

diakonischen Aufgaben erfüllt: So erwarten 82% der Kirchenmitglieder, dass die Kirche Alte,<br />

Kranke und Behinderte betreut und sich um Menschen in sozialen Notlagen kümmert (77%).<br />

Hierzu zählt auch, im Sinne des Eintretens eines christlichen Verständnisses des respektvollen<br />

Miteinanders, dass die Kirche sich gegen Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit wendet<br />

(61%). Eine Einflussnahme auf die Gestaltung der Politik oder die alltägliche Lebensführung<br />

wird von den Kirchenmitgliedern in der Regel nicht begrüßt: So nehmen sowohl die Aussage,<br />

„die Kirche solle sich zu politischen Grundsatzfragen äußern“ (22%), als auch „die Kirche<br />

solle sich um Arbeitsalltag und Berufsleben kümmern“ (27%) die hintersten Positionen in der<br />

Rangfolge der Erwartungen an die Kirche ein.<br />

Mit den in den Kirchenmitgliedschaftsumfragen als Zeitreihen angelegten vier Fragen nach<br />

der Verbundenheit der Kirchenmitglieder mit der Kirche, den Mitgliedschaftsgründen, dem<br />

Verständnis des Evangelischsein und den Erwartungen der Kirchenmitglieder an die evange-<br />

lische Kirche habe ich ausführlich das Verhältnis zur und die Erwartungen der evangelischen<br />

Kirchenmitglieder an die Institution Kirche beschrieben. Nun möchte ich mich, die Datenfülle<br />

abschließend, noch einer Frage nach dem christlich-religiösen Selbstverständnis der Kir-<br />

chenmitglieder, nämlich der Frage nach dem Gottesglauben, zuwenden.<br />

2.4 Gottesglaube<br />

Betrachtet man Tabelle 2, so zeigt sich erstens, dass das Antwortverhalten in den fünf Aussa-<br />

gen zum Gottesglauben sich in den letzten 10 Jahren unter den evangelischen Kirchenmitglie-<br />

dern (West) kaum verändert hat. Demnach vertreten 43% einen explizit christlichen Gottes-<br />

glauben, während 27% an Gott glauben, wenngleich Zweifel geäußert werden. 26% der evan-<br />

gelischen Kirchenmitglieder stellen explizit eine Differenz zwischen dem von der Institution<br />

vertretenen christlichen Gottesglauben und dem eigenen Glaubensverständnis her: Sie glau-<br />

ben an eine höhere Macht, aber nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche beschreibt. Eine Min-<br />

derheit der ev. Kirchenmitglieder von 3% bzw. 1% vertritt eine agnostische bzw. atheistische<br />

Position.<br />

13


Die Frage nach dem Gottesglauben verdeutlicht, dass gut 40% der evangelischen Kirchenmit-<br />

glieder den von der Institution Kirche vertreten christlichen Gottesglauben uneingeschränkt<br />

teilen, während die Mehrheit der Kirchenmitglieder sich in mehr oder weniger starker Distanz<br />

zu diesem Gottesglauben ansiedeln. Es zeigt sich in dieser Frage ein typisches Muster des<br />

Eigensinns in der selbstverantworteten Gestaltung der Glaubensüberzeugung.<br />

Tabelle 2: Gottesglauben<br />

Glaube an Gott<br />

Auf dieser Liste stehen fünf Aussagen zum Glauben an<br />

Gott. Welche dieser Aussagen trifft am ehesten auf Sie<br />

selbst zu?<br />

Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus<br />

Christus zu erkennen gegeben hat<br />

Ich glaube an Gott, obwohl ich immer wieder zweifele<br />

und unsicher werde<br />

Ich glaube an eine höhere Kraft, aber nicht an einen<br />

Gott, wie ihn die Kirche beschreibt<br />

Ich glaube weder an einen Gott noch an eine höhere<br />

Kraft<br />

Ich bin überzeugt, dass es keinen Gott gibt<br />

N=<br />

Detlef Pollack hat auf die enge Wechselwirkung zwischen christlichen Gottesglauben und<br />

Kirchlichkeit hingewiesen: „Von denen, die jeden Sonntag zum Gottesdienst gehen, glauben<br />

94% an einen Gott, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat, von denen, die den<br />

Gottesdienst nie besuchen, sind es hingegen nur 10%, die sich zu einem solchen Glauben be-<br />

kennen“ (Pollack 2003: 24).<br />

Wie wir aus der Lebensstilanalyse wissen, sind es, wie bereits erwähnt, vor allem ältere Men-<br />

schen, die mehrheitlich die von Pollack beschriebenen kirchennahen und von der christlichen<br />

Lehre überzeugten Christen stellen. Demgegenüber gestalten die jüngeren Kirchenmitglieder<br />

auf sehr unterschiedliche Art und Weise ihr Verhältnis zur Kirche, zur religiösen Praxis und<br />

zum Gottesglauben. So haben die Auswertungen der Erzählinterviews der dritten Mitglied-<br />

schaftsstudie, welche vor allem mit distanzierten Kirchenmitgliedern der jüngeren Generation<br />

14<br />

Evangelische in %<br />

1992<br />

West<br />

2002<br />

West<br />

42 43<br />

26 27<br />

25 26<br />

6 3<br />

2 1<br />

1585 1532


geführt wurden, gezeigt, wie stark die Nähe und Distanz zur Kirche, wie auch die eigene Re-<br />

ligiosität in dem Gesamtkontext des Verlaufs der Lebensgeschichte eingebunden gesehen<br />

werden muss. „Besonders deutlich lässt unsere Erhebung eine an Lebenslauf-Situationen ori-<br />

entierte Mitgliedschaft hervortreten. Diese ist gebunden an die Amtshandlungen und lebens-<br />

zyklisch orientierten Gottesdienstformen sowie an die pastorale Begleitung in besonderen<br />

Krisenlagen.“ (Engelhardt/Loewenich/Steinacker 1997: 353).<br />

In der dritten wie in der vierten Mitgliedschaftsstudie hat sich gezeigt, dass die traditionell<br />

geprägte christlich-religiöse Sprache bei der Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder<br />

eher auf Unverständnis und zu Teilen sogar auf Ablehnung stößt, was eine lebendige religiöse<br />

Kommunikation erheblich erschwert. Wiederum in den Erzählinterviews der dritten Kirchen-<br />

mitgliedschaftsstudie wurde deutlich, dass bei den kirchlich Distanzierten kaum eine Erzähl-<br />

passage über die persönliche Religiosität (welche mit großer emotionaler Teilnahme und Le-<br />

bendigkeit geführt wurden) in der Tradition explizit christlicher Sprache geführt wurde. „Der<br />

weitreichende Plausibilitätsverlust traditioneller dogmatischer Sprachmuster ist hier mit Hän-<br />

den zu greifen. Die christliche Sprachtradition, <strong>kirchlicher</strong>seits häufig als einzig legitime<br />

Form religiöser Kommunikation akzeptiert, erscheint in den Interviews bestenfalls eine unter<br />

vielen Codierungen, mit denen man sein Leben religiös zu deuten versucht. Woran jemand im<br />

Letzten glaubt; worin der Sinn des Lebens gesucht und was als religiöse Erfahrung qualifiziert<br />

wird, dies alles wird in vielfältigen Sprach- und Bildtraditionen kommuniziert“( Engel-<br />

hardt/Loewenich/Steinacker 1997: 63).<br />

Hieran wird deutlich, dass die Frage „Wieviel Institution Religion denn brauche“ auch fol-<br />

gendermaßen beantwortet werden kann: Die Daten weisen darauf hin, dass für das Selbstver-<br />

ständnis der Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder die Zugehörigkeit zur Institution<br />

Kirche von Bedeutung ist, wenngleich die Lebendigkeit und Erfahrungsfülle der persönlichen<br />

Religiosität auch häufig in der Differenz zur Institution Kirche erfahren und gelebt wird. Die<br />

persönliche Einschätzung einer wachsenden Zahl evangelischer Kirchenmitglieder, sich der<br />

Kirche „etwas“ verbunden zu fühlen, bringt dies m.E. zum Ausdruck. Dass dieser auf den<br />

ersten Blick widersprüchliche Institutionenbezug evangelischer Kirchenmitglieder nicht zu<br />

trennen ist von der sozialgeschichtlichen Bedeutung, welche der Institution Kirche in der<br />

BRD zukommt, hatte ich eingangs bereits gesagt.<br />

3. Ausblick: Erwartungen an die Kirche – die Perspektive der Konfessionslosen<br />

(West)<br />

15


Ich habe mich in meinem Vortrag auf die Gruppe der evangelischen Kirchenmitglieder in den<br />

alten Bundesländern konzentriert. Ich möchte Ihnen nun abschließend einen Eindruck darüber<br />

vermitteln, welche Aufgaben, aus der Sicht der Konfessionslosen - und ich beziehe mich aus<br />

Vergleichsgründen hier auf die Konfessionslosen aus den alten Bundesländern - die Instituti-<br />

on Kirche übernehmen sollte. Auch an die Konfessionslosen wurde die Frage nach den Er-<br />

wartungen an die Institution Kirche gestellt. Die Formulierung lautete: „Die evangelische<br />

Kirche kann ja in ganz verschiedenen Bereichen tätig sein bzw. sich dort engagieren. Ich<br />

möchte gerne wissen, ob sich die evangelische Kirche Ihrer Meinung nach in den verschiede-<br />

nen Bereichen engagieren soll. Vorgegeben war eine Liste von 14 Aussagen, welche identisch<br />

ist mit den Aussagen für die Kirchenmitglieder in dieser Frage (vgl. Tabelle 1).<br />

Im Ergebnis zeigt sich, dass auch unter Konfessionslosen in den alten Bundesländern ge-<br />

wünscht wird, dass die evangelische Kirche ihre diakonischen Aufgaben wahrnimmt. So be-<br />

fürworten 73% der Konfessionslosen ein Engagement der ev. Kirche in der Betreuung von<br />

Alten, Kranken und Behinderten und 69% meinen, die ev. Kirche solle sich um Probleme von<br />

Menschen in sozialen Notlagen kümmern. Auf Platz drei liegt mit 55 % die Erwartung, dass<br />

die ev. Kirche sich gegen Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit wenden solle. D.h., ver-<br />

gleichbar mit den Evangelischen existiert auch unter den Konfessionslosen die Erwartung,<br />

dass die ev. Kirche sich als Institution um soziale Aufgaben – getragen durch ein christliches<br />

Selbstverständnis – zu kümmern habe, welches einschließt, öffentlich die Stimme gegen Aus-<br />

länderfeindlichkeit und Fremdenhaß zu erheben.<br />

Resümee:<br />

Für die hier interessierende Frage nach der Bedeutung des institutionellen Aspekts von Reli-<br />

giosität lässt sich festhalten, dass Evangelische wie Konfessionslose die institutionelle Rolle<br />

der evangelischen Kirche in der Gesellschaft zuerst in der Wahrnehmung ihrer sozialen Auf-<br />

gabenbereiche sehen, dicht gefolgt von dem Bereich der Verkündigung und rituellen Beglei-<br />

tung. Wie wir aus anderen Auswertungszusammenhängen der aktuellen Kirchenmitglied-<br />

schafsstudie wissen (vgl. Wohlrab-Sahr 2003), ist sowohl unter Evangelischen wie unter Kon-<br />

fessionslosen die Einstellung verbreitet, dass das Christentum ein Bestandteil der eigenen<br />

Kultur sei. Die oben genannte Rangfolge der Aufgabenbereiche, die die Institution Kirche<br />

erfüllen soll, ist vor allem auch in ihrem Bedeutungszusammenhang dieses kulturellen Selbst-<br />

verständnisses zu verstehen. Dabei ist anzumerken, dass die Gruppe der Konfessionslosen in<br />

den alten Bundesländern in mancher Hinsicht der Deutungsperspektive einer christlichen<br />

16


Leitkultur skeptischer gegenübersteht als dies für die Konfessionslosen der neuen Bundeslän-<br />

der festzustellen ist.<br />

Literatur:<br />

<strong>Benthaus</strong>-<strong>Apel</strong>, F.: Lebensstile und Kirchenmitgliedschaft. Zur Differenzierung der „treuen<br />

Kirchenfernen“ In: Kirche, Horizont und Lebensrahmen. Vierte EKD-Erhebung über Kir-<br />

chenmitgliedschaft, 2003, S.55-70.<br />

Engelhardt, K./ Loewenich, H./Steinacker, P.: Fremde-Heimat-Kirche: Die dritte EKD-<br />

Erhebung über Kirchenmitgliedschaft ,1997.<br />

Lukatis, I./Sommer, R./Wolf Chr. (Hrsg.): Religion und Geschlechterverhältnis, 2000.<br />

Pollack, D.: Be(un)ruhigende Stabilität. Gleiches Bild- Verschärfte Lage. In: Kirche, Horizont<br />

und Lebensrahmen. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, 2003, S.13-28.<br />

Schloz, R.: Einleitung. In: Kirche, Horizont und Lebensrahmen. Vierte EKD-Erhebung über<br />

Kirchenmitgliedschaft, 2003, S.7-12.<br />

Wohlrab-Sahr, M.: Was uns verbindet – was uns trennt. Weltsichten von Kirchenmitgliedern<br />

und Konfesssionslosen In: Kirche, Horizont und Lebensrahmen. Vierte EKD-Erhebung über<br />

Kirchenmitgliedschaft, 2003, S.7-12.<br />

17

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