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Ausstellungstexte deutsch - Haus kirchlicher Dienste

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Wenn das traute Heim zum Tatort wird<br />

Vom Partner verprügelt, vergewaltigt oder getötet: Körperliche Übergriffe im Intimbereich erfassen<br />

nur einen Teil des alltäglichen Terrors. Häusliche Gewalt kennt noch viele andere Formen.<br />

Rechtlich liegt häusliche Gewalt vor, wenn Personen innerhalb einer Familie körperliche, seelische<br />

oder sexuelle Gewalt ausüben oder androhen. Dabei spielt es in Deutschland mittlerweile<br />

keine Rolle, ob es sich um eine noch bestehende oder bereits aufgelöste Familienstruktur, um<br />

eine eheliche oder eheähnliche Beziehung handelt, in der dies geschieht.<br />

»Andauernde häusliche Gewalt zwingt zu einem Leben in ständiger<br />

Angst vor dem nächsten unberechenbaren Gewaltausbruch.«<br />

Dr. Birgit Schweikert, Leiterin des Referates Schutz von Frauen vor Gewalt im Bundesministerium für Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend<br />

Manche WissenschaftlerInnen betrachten häusliche Gewalt umfassender als »jede Verletzung<br />

der körperlichen oder seelischen Integrität einer Person, die unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses<br />

durch die strukturell stärkere Person zugefügt wird« (Andrea Büchler: Gewalt in Ehe<br />

und Partnerschaft, München 1998)<br />

ККККК КККККК ККК КККККККККК КККККК КККККККККККК<br />

ККККК, ККККККККККККК, КККККККК, ККККККККККК ККККККККК: КККККККККК ККККККК К КККККККК ККККК – КККК ККККК ККККККККК ККККККК. К ККККККК К ККККК<br />

ККККК КККККК КККК.<br />

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ККК<br />

Rosenstraße<br />

ККККККККК. ККККККККККККК К КККККККК КККК ККККК КККК ККК К КККККККККК КККККККККККК, ККК К К ККККККККККК ККККК, ККК К ККККККК,<br />

76<br />

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Häusliche Gewalt überwinden<br />

ККККККККК ККККККККК К ККККККККК КККККККККК ККККККК К ККККК К ККККККК КККККК ККК «ККККК ККККККККК КККККККККК ККК ККККККККК ККККККККККК КККККККК,<br />

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Willkommen<br />

[ Definitionen häuslicher Gewalt ]<br />

[ Определения насилия в семье ]


Gefördert durch:<br />

In Kooperation mit:<br />

Rosenstraße 76 –<br />

Häusliche Gewalt überwinden<br />

www.rosenstrasse76.info<br />

Herausgeber: <strong>Haus</strong> <strong>kirchlicher</strong> <strong>Dienste</strong> der Evangelisch-lutherischen<br />

Landeskirche Hannovers<br />

Verantwortlich: Arbeit mit Frauen (Frauenwerk) (v.i.S.d.P.),<br />

Männerarbeit, Friedensarbeit<br />

Gestaltung: AH!Design · www.andrea-horn.com<br />

Fotos: Klaus G. Kohn, Andrea Horn, iStockphotos, Pixelio<br />

<strong>Haus</strong>anschrift: Archivstraße 3, 30169 Hannover<br />

Postanschrift: Postfach 265, 30002 Hannover<br />

Fon: 0511 1241-425, Fax: 0511 1241-186<br />

E-Mail: rosenstrasse76@kirchliche-dienste.de<br />

Internet: www.kirchliche-dienste.de


Liebe Besucherin, lieber Besucher,<br />

vor der Tür gepflegte Blumenbeete, auf dem Schuhabstreifer Willkommensgrüße – und doch<br />

steht das <strong>Haus</strong> Rosen straße 76 exemplarisch für Räume, in denen Gewalt an der Tagesordnung<br />

und der Terror zu <strong>Haus</strong>e ist. Dies ist einer der brutalen Orte, an dem Menschen psychisch und<br />

sexuell erniedrigt, geschlagen, vergewaltigt und manchmal auch getötet werden.<br />

Was hinter den Türen der Rosenstraße 76 geschieht, könnte überall passieren: in Deutschland<br />

oder anderen Nationen, in engen Großstadtwohnungen oder vornehmen Villen, in von Arbeitslosigkeit<br />

betroffenen Familien oder bei den oberen Zehntausend – sogar in Ihrem unmittelbaren<br />

Umfeld!<br />

Die meisten Menschen wissen nicht, dass häusliche Gewalt die häufigste Form von Gewalt ist.<br />

Sie wissen nicht, dass allein in Deutschland jährlich rund 40.000 Frauen mit ihren Kindern in<br />

ein Frauenhaus flüchten. Und dass es auf der ganzen Welt wahrscheinlicher für eine Frau zwischen<br />

16 und 45 ist, von ihrem Partner oder einem nahen Ange hörigen verletzt oder getötet<br />

zu werden, als durch Krieg oder Terrorismus.<br />

Bitte lassen Sie sich auf das <strong>Haus</strong> Rosenstraße 76 ein! Hier werden Sie noch viel mehr Neues<br />

erfahren, sofern Sie es wie auf einer Entdeckungsreise durchstreifen. Scheuen Sie sich daher<br />

nicht, den Anrufbeantworter abzurufen oder im Bücherregal zu stöbern. Entspannen Sie ein<br />

paar Minuten vor dem Fernseher oder setzen Sie sich an den Computer im Kinderzimmer. Alltägliche<br />

Gegenstände reden über Zahlen, Fakten und Schicksale, wenn sie diese mit offenen<br />

Augen betrachten.<br />

Bei aller Tragik, die Ihnen die Rosenstraße 76 aufzeigt, ist dieses <strong>Haus</strong> ein wichtiges Instrument<br />

gegen die Machtlosigkeit! Denn Wege aus der Gewalt sind erst möglich, wenn das Schweigen<br />

gebrochen wird. Brot für die Welt engagiert sich dafür auf vielen Ebenen und mit erfolgreichen<br />

Strategien. Im Forum, das Sie mit dem Verlassen des <strong>Haus</strong>es betreten, informieren wir Sie<br />

darüber.<br />

Wir freuen uns über Ihren Besuch.


Wenn das traute Heim zum Tatort wird<br />

Vom Partner verprügelt, vergewaltigt oder getötet: Körperliche Übergriffe im Intimbereich erfassen<br />

nur einen Teil des alltäglichen Terrors. Häusliche Gewalt kennt noch viele andere Formen.<br />

Rechtlich liegt häusliche Gewalt vor, wenn Personen innerhalb einer Familie körperliche, seelische<br />

oder sexuelle Gewalt ausüben oder androhen. Dabei spielt es in Deutschland mittlerweile<br />

keine Rolle, ob es sich um eine noch bestehende oder bereits aufgelöste Familienstruktur, um<br />

eine eheliche oder eheähnliche Beziehung handelt, in der dies geschieht.<br />

»Andauernde häusliche Gewalt zwingt zu einem Leben in ständiger<br />

Angst vor dem nächsten unberechenbaren Gewaltausbruch.«<br />

Dr. Birgit Schweikert, Leiterin des Referates Schutz von Frauen vor Gewalt im Bundesministerium für Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend<br />

Manche WissenschaftlerInnen betrachten häusliche Gewalt umfassender als „jede Verletzung<br />

der körperlichen oder seelischen Integrität einer Person, die unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses<br />

durch die strukturell stärkere Person zugefügt wird“ (Andrea Büchler: Gewalt in Ehe<br />

und Partnerschaft, München 1998).<br />

[ Definitionen häuslicher Gewalt ]


Der alltägliche Terror<br />

Viele Menschen suchen Sicherheit in der eigenen Wohnung, bei der eigenen Familie. Doch für<br />

Frauen ist gerade dieser Ort der gefährlichste. Die Gewaltkommission der Bundesregierung<br />

stuft familiäre Gewalt als die in unserer Gesellschaft am häufigsten ausgeübte Gewalt ein.<br />

Erstmalig hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 2004 in<br />

Deutschland untersucht, wie viele Frauen Opfer von Gewalt wurden. „Die ermittelten Befunde<br />

zu häuslicher Gewalt bestätigen die bisherigen Schätzungen: rund 25 % der in Deutschland<br />

lebenden Frauen haben Formen körperlicher oder sexueller Gewalt (oder beides) durch ...Beziehungspartner<br />

erlebt.“<br />

»Die größte Bedrohung für die Gesundheit und das Leben von Frauen<br />

in Europa, im Alter von 16 bis 44 Jahren, ist häusliche Gewalt: mehr<br />

als Krebs oder Autounfälle.«<br />

Europarat<br />

Das höchste Gewaltrisiko geht für Frauen von Männern in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld<br />

aus – von Verwandten, Lebens- oder Ehepartnern. Tatort ist in 70 % aller Fälle die eigene<br />

Wohnung. Die schwerste Gewalt widerfährt Frauen in Paarbeziehungen, sowohl was den<br />

Verletzungsgrad als auch die Häufigkeit der Gewaltanwendung angeht.<br />

Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet Gewalt gegen Mädchen und Frauen sogar als<br />

eines der größten Gesundheitsrisiken weltweit. (WHO Multi-country Study on Women‘s Health<br />

and Domestic Violence against Women 2005).<br />

[ Ausmaß häuslicher Gewalt ]


Wer schlägt muss gehen<br />

Seit 2002 schützt ein Gesetz vor Gewalt in der Familie. Die Opfer dürfen auch ohne Gerichtsverfahren<br />

zunächst zu <strong>Haus</strong>e wohnen bleiben. Wer die Tat begangen hat, muss die Wohnung<br />

verlassen.<br />

Das Gesetz ist ein erster wichtiger Schritt, um vor allem Frauen vor gewalttätigen Männern<br />

zu schützen. Dennoch scheuen sich viele Opfer aus Scham oder Angst vor dem Täter und aus<br />

mangelndem Vertrauen in staatliche Stellen, die Straftat anzuzeigen.<br />

»Kaum ein Verbrechen bleibt so systematisch ungesühnt<br />

wie Gewalt gegen Frauen.«<br />

Micheline Calmy-Rey, Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten in der Schweiz<br />

Für eine erfolgreiche Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes müssen daher verschiedene Ebenen<br />

zusammen arbeiten. Hierzu gehören beispielsweise Hilfsangebote und Informationskampagnen,<br />

die Frauen ermutigen, ihre Rechte einzufordern. Auch Schulungen für VertreterInnen der<br />

Polizei, RichterInnen und ÄrztInnen helfen dabei, die Ziele des Gesetzgebers möglichst schnell<br />

und zielgenau umzusetzen. Die ersten Erfolge solcher begleitenden Maßnahmen sind durch<br />

Studien belegt. Dennoch stehen sie derzeit auf der Kürzungsliste vieler Landesregierungen.<br />

[ Gewaltschutzgesetz ]


Systematisch zermürbt<br />

Unterdrückung kennt viele Formen. Manchmal ist sie auch leise und unblutig. Erst wenn eine<br />

Tat zur anderen kommt, entsteht Terror.<br />

Häusliche Gewalt ist in der Regel kein einmaliges Ereignis! Es handelt sich vielmehr um ein<br />

System von Misshandlungen mit vielschichtigen Verhaltensweisen. Ziel der Tatperson ist es,<br />

Macht und Kontrolle über eine andere Person, über deren Handeln und Denken zu gewinnen.<br />

»Jedoch gibt es Menschen, die einen anderen tatsächlich durch fortgesetztes<br />

seelisches Quälen vernichten, was man mit Fug und Recht<br />

›psychischen‹ Mord nennen kann.«<br />

Marie-France Hirigoyen in „Masken der Niedertracht“ 1998<br />

Dies kann offen durch körperliche und sexuelle Gewalt oder auch unterschwellig geschehen. So<br />

werden die Unabhängigkeit, das Selbstvertrauen, das Kontrollbewusstsein und die Handlungsspielräume<br />

der Betroffenen unterlaufen und Abhängigkeiten aufgebaut und gefestigt. Gerade<br />

in diesem Bereich ist ein polizeiliches oder gerichtliches Vorgehen fast nicht möglich, da kein<br />

handfester Tatbestand vorliegt.<br />

[ Kombination und Wiederholung ]


Schlagende Argumente<br />

Gewalt durch den Partner gehört für viele Frauen und deren Kinder zum Alltag. Insgesamt<br />

erleiden Frauen mehr Verletzungen durch Schläge als durch Autounfälle, Straßenüberfälle und<br />

Vergewaltigungen zusammengenommen.<br />

»Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!«<br />

Friedrich Nietzsche, <strong>deutsch</strong>er Philosoph des 19. Jahrhunderts, in „Also sprach Zarathustra“<br />

Nach einer aktuellen Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />

von 2007 gaben rund 25 % aller in Deutschland befragten Frauen zwischen 16 und 85 Jahren<br />

an, mindestens einmal körperliche und / oder sexuelle Übergriffe durch ihren Partner erfahren<br />

zu haben.<br />

Im Einzelnen waren dies:<br />

nur Drohungen (3,2 %); nur wütendes Wegschubsen / leichte Ohrfeige (25,9 %); Handlungen,<br />

die weh taten, Angst machten, bedrohlich waren (43,1 %).<br />

Darüber hinaus: mindestens verprügeln/mit Fäusten schlagen (15,4 %).<br />

Darüber hinaus: lebensbedrohliche Handlungen, ohne Waffen, wie Ersticken/Würgen, selten<br />

auch Verbrühungen / Verbrennungen (9,8 %).<br />

Darüber hinaus: Waffengewalt (6.3 %).<br />

[ Körperliche Gewalt ]


Prävention ist billiger<br />

Häusliche Gewalt kostet – sowohl die Betroffenen als auch die Gemeinschaft zahlen einen<br />

hohen Preis.<br />

Wer die Kosten häuslicher Gewalt berechnen will, muss viele Faktoren in die Rechnung einbeziehen:<br />

Durch die gesundheitliche Belastung der Opfer entstehen Kosten durch Ambulanz<br />

und medizinische Versorgung, durch Arbeitsausfall und zeitweise oder dauerhafte Arbeitsunfähigkeit.<br />

Rechtliche Kosten wie die für Polizei, Gerichte, Strafvollzug sowie soziale <strong>Dienste</strong> und<br />

Zufluchtstellen sind weitere Bestandteile der Kosten häuslicher Gewalt, die bisher noch nicht<br />

untersucht wurden.<br />

»Es bleibt zu hoffen, dass in Zeiten einer Politik des Rechenstiftes nicht<br />

an der falschen Stelle gespart wird. Es könnte teuer werden.«<br />

Dieter Schmoll, Psychotherapeut bei der Männerberatung, Wien<br />

Nach vorsichtigen Schätzungen verursacht Partnergewalt in den USA 12,6 Milliarden Dollar<br />

Kosten pro Jahr. Die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) beziffert die Kosten<br />

häuslicher Gewalt im lateinamerikanischen Raum auf 14,2 Prozent des Bruttoinlandproduktes.<br />

Die Folgekosten von Männergewalt werden in der Bundesrepublik auf etwa 14,8 Mrd. pro<br />

Jahr geschätzt – hierin enthalten sind die Kosten für Justiz und Polizei, aber auch für ärztliche<br />

Behandlungen, Ausfallzeiten am Arbeitsplatz usw. (vgl. BT-Drs. 14/849, S. 3, Niedersächsisches<br />

Sozialministerium).<br />

Studien zeigen, dass es günstiger ist, Prävention zu betreiben, als die Folgekosten häuslicher<br />

Gewalt zu bezahlen. So hat beispielsweise der präventive Aktionsplan „Gewalt gegen Frauen“<br />

in den USA 16,4 Milliarden Dollar eingespart.<br />

[ Kosten häuslicher Gewalt ]


Von der großen Liebe<br />

Die Hochzeit gilt landläufig als der größte Tag im Leben eines Paares. Und so erleben wir durch<br />

die Medien ständig herzergreifende Liebesgeschichten, die zum Ideal einer harmonischen<br />

Partnerschaft stilisiert werden.<br />

Schwierigkeiten im Zusammenleben werden nur unzu reichend zur Sprache gebracht. Gewaltfreie<br />

Konfliktlösungsmöglichkeiten werden nicht eingeübt. Auf die Herausforderungen,<br />

vielleicht sogar Überforderungen, die durch die Geburt eines oder mehrer Kinder auf ein Paar<br />

zukommen können, sind die wenigsten Paare eingestellt. Traditionelle Rollenbilder – ob sie<br />

übernommen oder ab gelehnt werden – stellen eine weitere Belastungsprobe für die Partnerschaft<br />

dar und werden dabei von Frauen und Männern unterschiedlich wahrgenommen.<br />

»Gewalt hängt ... auch damit zusammen, dass die gesellschaftlich<br />

propa gierte Fiktion von der heilen Familie und vom trauten Glück<br />

zu zweit eine Neu rosenursache erster Ordnung ist.«<br />

Joachim Kersten, Professor für Soziologie an der Fachhochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen, über die<br />

Motivation der Täter<br />

Diese Vorstellungen der idealen Liebe und die Phantasien aus den Medien, besonders der<br />

Regenbogenpresse, werden miteinander verflochten. Dies trägt dazu bei, dass traditionelle<br />

Lebenszusammenhänge aufrecht erhalten werden: einerseits der Glaube an die große Liebe,<br />

andererseits die klaglose Ergebenheit in den Ehealltag.<br />

[ Vorstellungen von Liebe ]


Der geschlagene Mann<br />

Auch Männer sind Opfer von häuslicher Gewalt. Gewalt im häuslichen Umfeld gegen Jungen<br />

und Männer unterliegt besonderen Tabus.<br />

Die Ursache liegt in festgelegten Geschlechtervorstellungen, die Männer zu Tätern und Frauen<br />

zu Opfern macht. Übergriffe bleiben oft unerkannt, denn Opfer zu sein, ist für Jungen und<br />

Männer nicht leicht einzugestehen und noch schwerer preiszugeben. Unter drückung, Bevormundung<br />

und Kontrolle zu erleben, ist eine unterschwellige Gewalterfahrung, die aber oft als<br />

solche kaum wahrgenommen, geschweige denn angesprochen wird.<br />

»Das sexistische Bild, nach dem der Mann zwingend der Täter und die<br />

Frau das Opfer ist, muss korrigiert werden.«<br />

Sophie Torrent, wissenschaftliche Autorin<br />

Das Verschweigen oder Nichtwahrnehmen von Gewalt erfahrungen trifft besonders auf die<br />

sexualisierte Gewalt gegen Männer zu, die auch von Frauen ausgeübt wird.<br />

Nach einer 2004 durchgeführten Pilotstudie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend wurden 5-10 Prozent der befragten Männer in der aktuellen oder<br />

letzten Partnerschaft Opfer von eindeutig häuslicher Gewalt.<br />

Ungefähr fünf Prozent der Befragten haben im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt mindestens<br />

einmal eine Verletzung davongetragen. Der gleiche Anteil von Männern hat bei einer<br />

oder mehreren dieser Situationen schon einmal Angst gehabt, ernsthaft oder lebensgefährlich<br />

verletzt zu werden.<br />

[ Männlichkeit und Opferrolle ]


Spiel mir das Lied vom Tod<br />

Die Zunahme der Gewalt in der realen Welt hängt auch mit ihrer Darstellung in den Medien<br />

zusammen. Fernsehen und Filmindustrie produzieren jährlich Filme und Serien im Wert von<br />

vielen Milliarden Euro – und nicht selten spielt Gewalt dabei die Hauptrolle.<br />

Diese Zahlen des Medienforschers Jo Groebel alarmieren: 48 Prozent aller Fernsehsendungen in<br />

Deutschland zeigen uns aggressives Verhalten. Täglich flimmern im Durchschnitt 70 Morde und<br />

390 Gewaltszenen über den Bildschirm. Ein Zwölfjähriger hat in seinem jungen Leben bereits<br />

rund 14.000 Morde gesehen.<br />

»Das Medium Fernsehen kalkuliert die Sensation – auch die blutige<br />

Karam bolage auf der Formel-1-Rennstrecke – mit ein und unterstreicht<br />

das Bild von einer Männergesellschaft, die im Namen des Sports auch<br />

Tote hinterlässt.«<br />

Christian Hörburger, Hörspiel- und Fernsehkritiker<br />

Gewalt in den Medien heißt nicht nur Mord und Totschlag. Auch die oberflächliche Berichterstattung<br />

von Kinder arbeit, Prostitution, Armut oder die verborgene oder offene Benachteiligung<br />

von Frauen in Werbesendungen, zeigen eine Kultur, die ungleiche Lebenschancen und<br />

Machtver hältnisse rechtfertigt. Selbst viele Sportsendungen vermitteln eine Gewaltkultur,<br />

indem sie den Sieg des Einzelnen gegenüber seinen Konkurrenten mit gewalttätigen Mustern<br />

ins Bild setzen.<br />

[ Gewalt in Medien ]


Schutz vor Gewalt<br />

Häusliche Gewalt ist kein privates Problem individueller Opfer! Es muss als gesellschaftliches<br />

Problem und Menschenrechtsverletzung angegangen werden.<br />

Auf internationaler Ebene gibt es erste Fortschritte zur Überwindung häuslicher Gewalt: So haben<br />

bereits 186 Staaten die Konvention aus dem Jahre 1979 „Übereinkommen zur Beseitigung<br />

von jeder Form von Diskriminierung der Frau“ (CEDAW) unterzeichnet.<br />

Sie enthält ein vielfältiges Verzeichnis von Diskriminierungstatbeständen und spricht die Themen<br />

Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt ausdrücklich an. Ein wichtiges Signal setzte<br />

auch die Menschenrechtskonvention 1993 in Wien, in der die Staatengemeinschaft Frauenrechte<br />

erstmalig als Menschenrechte anerkannte.<br />

»Aus dem Streben nach der Ver wirklichung von Menschenrechten für<br />

alle Bevölkerungsgruppen ergibt sich zwangsläufig auch die Forderung<br />

nach Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern.«<br />

UNICEF<br />

Tatsächlich war im Jahre 2006 häusliche Gewalt in 89 Ländern gesetzlich verboten. Trotzdem<br />

können uns die Daten keine klaren Hinweise geben, ob häusliche Gewalt tatsächlich abgenommen<br />

hat. In manchen Ländern wird sogar ein Zuwachs der Gewalt gegen Frauen vermutet. Bis<br />

heute besteht ein großer Bedarf, die neuen Gesetze wirkungsvoller umzusetzen und Frauen zu<br />

ermutigen, ihre Rechte einzufordern. In jüngster Zeit werden auch häufiger Männer in Kampagnen<br />

angesprochen, um festgelegte Rollenzuschreibungen zu hinterfragen und Verhaltensänderungen<br />

zu bewirken – doch auch hier gibt es noch viel Handlungsbedarf.<br />

[ Menschenrechte ]


Unter ständiger Beobachtung<br />

Manche Frauen und Männer sind emotional von ihren PartnerInnen abhängig und besessen von<br />

der Angst, sie zu verlieren. Dies versuchen sie mit totaler Kontrolle zu verhindern und lassen<br />

auch lange nach einer Trennung von der Beziehungsperson nicht ab.<br />

Der Begriff „Stalking“ hat sich mittlerweile für die andauernde Beobachtung, Beschattung und<br />

Bedrohung einer Person etabliert. Dies reicht von Auflauern oder Erschrecken über Telefonterror<br />

oder Beschädigungen am <strong>Haus</strong> oder Auto des Opfers bis hin zu Folter oder Mordversuchen. In<br />

den meisten Fällen kennen die Stalker ihre Opfer, häufig sind sie die Ex-PartnerInnen.<br />

»Das Problem:<br />

Jemanden zu lieben, und sei es noch so heftig, ist nicht strafbar.«<br />

Thilo Knop, Polizeioberkommissar<br />

In Deutschland gibt es schätzungsweise 600.000 Stalking-Opfer – 90 Prozent sind Frauen. Sie<br />

verlieren durch die ständigen Attacken das Vertrauen in die Umwelt, ziehen sich in die Isolation<br />

zurück oder versuchen, dem Täter durch ständigen Wohnungswechsel zu entkommen. Häufig<br />

zeigen die Opfer ihren Stalker aus Schamgefühl oder Angst nicht an.<br />

Seit 2007 schützt ein Gesetz mit dem Straftatbestand „Nachstellung“ die Stalking-Opfer. TäterInnen<br />

können zu einer Haftstrafe bis zu drei Jahren für eine einfache Nachstellung verurteilt<br />

werden. Als sofort wirksame Maßnahme kann Stalkern auferlegt werden, sich dem Opfer bis auf<br />

eine bestimmte Entfernung nicht mehr zu nähern.<br />

[ Stalking ]


Schläge oder Abschiebung<br />

Vor einer besonders aussichtslosen Situation stehen viele Migrantinnen ohne sicheren Aufenthaltsstatus:<br />

Wollen sie der Gewalt des Mannes entfliehen, riskieren sie die Abschiebung – ohne<br />

ihre Kinder.<br />

Wo sind Nachbarn, Freunde, Verwandte? In der fremden Welt leben Migrantinnen aufgrund<br />

sprachlicher und kultureller Barrieren häufig sehr isoliert. Die engen Netzwerke gegenseitiger<br />

Hilfe, die sie von zu <strong>Haus</strong>e kennen, funktionieren in der neuen Heimat nicht mehr. Oft geht mit<br />

der Migration auch der Statusverlust des Mannes einher. Und selten kennen diese Frauen ihre<br />

Rechte und fordern sie ein. All dies erhöht die Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden.<br />

»Trotz ihrer Unterschiedlichkeit haben Migrantinnen und <strong>deutsch</strong>e<br />

Frauen aber eines gemeinsam: Sie erleiden dieselben Misshandlungen<br />

und Gewalttätigkeiten.«<br />

Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familien und Gesundheit<br />

Es scheint zudem, dass Migrantenfamilien in besonderem Maße ihre Kultur pflegen. Sie halten<br />

oft noch stärker als in ihrem Heimatland an traditionellen Werten fest, zu denen auch Praktiken<br />

zählen, die die Rechte der Frauen beschneiden.<br />

[ Migration ]


König Alkohol<br />

Weltweit ist Alkohol die am weitesten verbreitete Droge. Seine enthemmende Wirkung macht<br />

ihn entsprechend häufig zum Begleiter von gewalttätigen Übergriffen. Internationale Studien<br />

belegen allerdings auch, dass Alkohol nicht die Ursache für die gesellschaftlich geduldete Gewalt<br />

ist, aber dazu beitragen kann, häusliche Gewalt zu verstärken.<br />

Das Zusammenleben mit einer alkoholabhängigen Person bedeutet häufig, in zunehmend<br />

schwere Auseinandersetzungen verwickelt zu werden. Insbesondere Frauen haben in solchen<br />

Beziehungen ein erheblich höheres Risiko, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden. Das ergab<br />

eine Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation 2002 in ihrem Weltbericht über Gewalt<br />

und Gesundheit. Allerdings ist es falsch zu behaupten, dass Alkohol immer Gewalt hervorruft.<br />

Denn wer im nüchternen Zustand kein Gewaltverhalten zeigt, tut dies mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

auch nicht unter Einfluss von Alkohol.<br />

»Alkohol und Gewalt stehen in einer unheiligen Allianz.«<br />

Jens-Peter Dreyer, Schweriner Selbsthilfe<br />

Alkohol dient TäterInnen häufig als Entschuldigung, keine Verantwortung für ihre Tat übernehmen<br />

zu müssen. Aber auch die Opfer von Gewalttätigkeiten entschuldigen manchmal das<br />

Verhalten ihres Partners bzw. ihrer Partnerin, indem sie auf den Einfluss von Alkohol verweisen.<br />

Auch ohne dass es zu Gewalttaten kommt, belastet Alkoholabhängigkeit die Beziehung. 90<br />

Prozent der Frauen, die in einer Beziehung mit einem Alkoholabhängigen leben, verlassen<br />

ihren Partner, unabhängig davon, ob es zu körperlichen Gewalttaten gekommen ist oder nicht.<br />

[ Alkohol und Gewalt ]


Früchte des Zorns<br />

Keine gewalttätige Handlung kommt aus dem Nichts. Sie ist häufig sogar Teil der Kultur, da sie<br />

von gesellschaftlichen, politischen und religiösen Persönlichkeiten über Jahrzehnte gefördert<br />

wird.<br />

Überall dort, wo im gesellschaftlichen Bereich und familiären Umfeld Unterdrückung, Gewalt<br />

und Unsicherheit herrschen, ist auch häusliche Gewalt zu finden. Kulturelle Wertvorstellungen,<br />

gesellschaftliche Rollenverteilungen und gewalttätige Vorbilder festigen eine Art zu denken und<br />

zu handeln, die Gewalt als „Problemlösung“ zulässt.<br />

»Gewaltkulturen werden von einer in die nächste Generation weitervererbt.<br />

Man lernt von der Gewalt der Vorväter, Opfer lernen von ihren<br />

Peinigern und die Gewalt produzierenden gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

bleiben ungehindert bestehen.«<br />

Nelson Mandela, ehemaliger Präsident von Südafrika, Friedensnobelpreisträger (in: Weltbericht Gewalt und<br />

Gesundheit 2002)<br />

Oft werden ungleiche Machtverhältnisse zwischen Partner Innen nicht als Problem wahrgenommen<br />

und als natürlich oder normal angesehen. Die daraus folgende Gewalt in<br />

der Familie wird verschwiegen und – auch wenn sie ans Licht kommt – nicht bestraft. Wer aber<br />

diese Form des Machtmissbrauchs hinnimmt, verstärkt eine Kultur, die letztlich auch die Gewalt<br />

von Kriegen, Militarisierung und andere Formen gewaltsamer Unterdrückung und Konfliktaustragung<br />

akzeptiert.<br />

[ Gewaltkultur ]


Unterdrückung aus Tradition<br />

Die alltägliche Gewalt, die Frauen in allen Teilen unserer Erde erleiden, wird durch traditionelle<br />

Rollenverständnisse legitimiert. Sie bilden die Grundlage persönlicher und struktureller Gewalt.<br />

Vielen Frauen bleibt keine Wahl, ob sie sich für den Kochtopf oder die Karriere entscheiden. Die<br />

Tradition gebietet ihnen, zu heiraten und die althergebrachten Aufgaben einer fürsorglichen<br />

Mutter und aufopfernden Ehefrau zu übernehmen. Hinzu kommt, dass in vielen Gesellschaften<br />

die Eltern den Partner wählen – häufig gegen den Willen der zukünftigen Braut. Dieses<br />

erzwungene Aufeinanderprallen unterschiedlicher Lebenskonzepte bietet ein hohes Potenzial<br />

für Konflikte und Gewalt.<br />

»Gewalt ist, wenn eines der folgenden Grundbedürfnisse des<br />

Menschen verletzt wird: das Überleben, das allgemeine körperliche<br />

Wohlbefinden, die persönliche Identität oder die Freiheit, zwischen<br />

verschiedenen Möglichkeiten auswählen zu können.«<br />

Johan Galtung, norwegischer Friedensforscher<br />

Unterdrückung hat viele Gesichter: In vielen Ländern dürfen Frauen erst als letzte in der Familie<br />

essen und sind damit in schlechten Zeiten die ersten, die hungern. Eine weitere, besonders<br />

grausame Form der kulturell legitimierten Gewalt ist die Klitoris-Beschneidung. Auch wenn sie<br />

weltweit am Pranger steht, ist sie immer noch in Teilen Afrikas und Asiens weit verbreitet. Junge<br />

Mädchen müssen sich dieser schmerzhaften und gefährlichen Prozedur fügen. Denn das Recht<br />

auf Lust ist in diesen Ländern noch immer männlich.<br />

[ Kulturelle Gewalt ]


Die finale Lösung<br />

In jedem zweiten Fall von Mord oder Totschlag an einer Frau ist der Täter mit dem Opfer verwandt.<br />

Meist ist es der eigene Partner.<br />

»Der Mord an der 37-jährigen Frau, die heute Morgen gegen vier Uhr in<br />

Blumenthal auf offener Straße verbrannt wurde, ist aufgeklärt.<br />

Ihr 35-jähriger, <strong>deutsch</strong>er Mann hat die Tat gegenüber der Polizei gestanden.<br />

Nachdem er sich gegen acht Uhr am Tatort einfand und angab, seine<br />

Frau seit dem gestrigen Abend zu vermissen, wurde er zur Aufklärung<br />

mit auf’s Präsidium genommen, wo er sich in Widersprüche verstrickte.<br />

Als Motiv gab er die seit längerem bestehenden Eheprobleme aufgrund<br />

der Krankheit (Multiple-Sklerose) seiner Frau an. Nachdem er den Entschluss<br />

zur Tötung seiner Frau getroffen hatte, mischte er Tabletten in<br />

ihr Essen und erstickte sie, nachdem sie eingeschlafen war. Am Morgen<br />

übergoss er sie dann mit einer brennbaren Flüssigkeit und legte sie<br />

auf der Straße ab.«<br />

citybeat.de, Bremen<br />

[ Mord ]


Wunden müssen nicht bluten<br />

Beleidigen, provozieren, demütigen, drohen – auch diese vermeintlich harmlosen Formen häuslicher<br />

Gewalt haben schwerwiegende psychische und körperliche Folgen!<br />

Nach einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2004<br />

fühlen sich 55 Prozent der Betroffenen minderwertig, 46 Prozent erkranken an Depressionen<br />

und 33 Prozent klagen über Schlafstörungen. Andere berichten von Schuldgefühlen oder<br />

Angstzuständen – bis hin zu Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken.<br />

»Die erlebte Gewalt verletzt die psychische Integrität und führt<br />

manchmal bis zur Zerstörung der Persönlichkeit.«<br />

Monica Kunz, Fachstelle häusliche Gewalt in Thurgau, Schweiz<br />

Demütigungen und Herabsetzungen funktionieren durch ein vielschichtiges System von Bemerkungen<br />

und Gesten, denen man mit rechtlichen Mitteln kaum begegnen kann: beispielsweise<br />

die immer wiederkehrende Kritik an Freundinnen, Freunden und Verwandten, die ständige<br />

Kontrolle aller Kontakte der Frau oder das Unterschlagen von Anrufen und Briefen.<br />

[ Psychische Gewalt ]


Für immer gezeichnet<br />

Säure ist in Bangladesch und anderen Ländern Südostasiens eine billige und tödliche Waffe:<br />

ein Becher Autobatterie säure reicht aus, um ein Leben zu zerstören. Meist wird sie den Opfern<br />

über Kopf und Körper gegossen.<br />

Allein in Bangladesch werden jedes Jahr mindestens 200 Frauen und junge Mädchen Opfer<br />

dieser brutalen Form von Gewalt. Meistens geschieht dies bei häuslichen Meinungsverschiedenheiten,<br />

wenn Mädchen oder Frauen einen Heiratsantrag ablehnen oder wenn über Eigentum<br />

oder Mitgift gestritten wird. Die Säure verätzt das Gesicht oder andere Körperteile bis auf die<br />

Knochen. Wer einen solchen Anschlag überlebt, ist lebenslänglich gezeichnet.<br />

»Kaum ein Attentäter wird verurteilt, oft nicht einmal angeklagt.<br />

Statt dessen einigen sich die beteiligten Familien außergerichtlich –<br />

durch eine Heirat zwischen Täter und Opfer.«<br />

amnesty international<br />

Häufig wird das Opfer von der Familie und der Öffentlichkeit für die Tat mitverantwortlich<br />

gemacht. Sie hätte das Verbrechen durch „aufreizendes Verhalten“ selbst herausgefordert.<br />

So ist es kein Wunder, dass vielen Frauen das nötige Selbstwertgefühl fehlt, um sich gegen<br />

die Täter aufzulehnen. Eine aktuelle Studie bestätigt: Mehr als die Hälfte der befragten Frauen<br />

rechtfertigen die erlittene Gewalt und geben sich selbst die Schuld.<br />

[ Säureattentate ]


Die Schuld ist weiblich<br />

Wenn es um die Schuldfrage geht, sind die Geschlechterrollen in vielen Gesellschaften eindeutig<br />

festgelegt: Die Frau ist für das gewalttätige Verhalten ihres Mannes verantwortlich.<br />

Viele Frauen identifizieren sich mit klassischen Vorstellungen, nach denen sie für das Wohlergehen<br />

der gesamten Familie verantwortlich sind. In Bangladesch und Sri Lanka berichten<br />

Frauen, die sich hilfe- und ratsuchend an die Polizei oder religiöse Würdenträger wendeten, sie<br />

seien wieder nach <strong>Haus</strong>e geschickt worden – mit Belehrungen, wie sie eine bessere Ehefrau<br />

sein könnten.<br />

»Welches Schicksal auch immer der Familie widerfährt, die Ehefrau<br />

trägt die Schuld. Auch wenn der Gatte an einem Autounfall stirbt.«<br />

Betty Luma, Leiterin einer Frauenrechtsorganisation in Kamerun<br />

Auch in Deutschland zeigt eine Studie, dass Frauen häufig meinen, mit den gewalttätigen<br />

Auseinandersetzungen begonnen zu haben. Erst bei genauerem Nachfragen erweist sich:<br />

Sie meinen, sich falsch verhalten zu haben, weil sie ihrem Partner widersprachen oder seine<br />

Erwartungen nicht erfüllten.<br />

[ Schuldzuweisung ]


Wehe Du gehst …<br />

Die Trennung ist sicherlich eine Möglichkeit, der täglichen Gewalt des Partners/der Partnerin<br />

zu entfliehen.<br />

Sie bedeutet aber gleichzeitig ein riesiges Risiko. Besonders Frauen, die ihr Eheproblem bekannt<br />

machen und sich von ihrem Partner trennen, leben gefährlich. Die Forschung im In- und Ausland<br />

belegt einstimmig, dass sie von erhöhter Gewalt bedroht sind.<br />

Nach einer <strong>deutsch</strong>en Studie berichtet jede vierte Frau, die sich von ihrem Partner getrennt hatte,<br />

von Nachstellungen, Androhungen und auch Ausübung von Gewalt durch den Ex-Partner.<br />

Eine Studie aus Kanada ergab sogar: Das Risiko während der Trennungssituation ermordet zu<br />

werden, ist fünf mal höher als vor der Trennung. Zu besonders blutigen Beziehungsdramen<br />

kommt es häufig nach einer „letzten“ Auseinandersetzung. Nicht selten bringen sich die Täter<br />

danach selbst um.<br />

»Wenn ich sie nicht haben kann, soll sie keiner haben.«<br />

Joachim Kersten, Professor für Soziologie an der Fachhochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen, über die<br />

Motivation der Täter<br />

„Die Zahl der Frauen, die in Trennungssituationen getötet werden, ist signifikant hoch“, sagt<br />

Marion Steffens, Mitarbeiterin der Bund-Länder-Kommission „Gegen Gewalt gegen Frauen“.<br />

Die Gewalt gegen Frauen gehe durch alle sozialen Schichten und durch alle Altersgruppen. Am<br />

meisten betroffen sei aber die Altersgruppe zwischen 20 und 45 Jahren. (Bericht von 2005).<br />

[ Gewalt in der Trennungsphase ]


Stumme Zeugen<br />

Die Gewalt der Eltern nimmt ihren Kindern die Sorglosigkeit. Sie verlieren das Grundvertrauen<br />

in die Welt und die Menschen.<br />

Kinder verstehen häufig nicht bewusst, warum ihre Eltern streiten. Aber sie sehen die Schläge<br />

und Tritte; sie hören die Schreie und das Weinen; sie spüren den Zorn und die Angst. Sie stürzen<br />

in ein Gefühlschaos widersprüchlicher Gefühle – Angst, Mitleid, Hass, Scham, Ohnmacht und<br />

dem Gefühl helfen zu müssen – und können nicht allein herausfinden.<br />

»Kinderaugen weinen trocken ...<br />

Kinderherzen schreien stumm ...<br />

Kinderseelen sterben leise ...«<br />

www.kinderschreie.de<br />

Doch selbst, wenn sie nicht unmittelbar Zeuge der Gewaltsituation waren, leiden Kinder unter<br />

dem angespannten Verhältnis der Eltern. Sie fragen sich nach dem Grund und suchen manchmal<br />

sogar die Schuld bei sich selbst.<br />

[ Wie Kinder Gewalt erleben ]


Belastete Seelen<br />

Was ist, wenn Kinder in einem Bereich, in dem sie sich sicher und geliebt fühlen sollten, brutalste<br />

Gewalt erleben? Was ist, wenn die Familie keinen Schutz bietet, sondern das Gegenteil: den<br />

Raum, um ungestraft Gewalt auszuüben?<br />

In einer Untersuchung des Kriminologischen Forschungs institutes Niedersachsen gaben 21,3 Prozent<br />

der Befragten zwischen 16 und 29 Jahren an, mit Gewalt zwischen den Eltern konfrontiert<br />

worden zu sein. Seelische Störungen durch häusliche Gewalt begleiten Kinder oft ein Leben lang.<br />

Wenn sie den seelischen Schock nicht bewältigen können und von ihren Gefühlen überflutet<br />

werden, kommt es zu einem seelischen Trauma.<br />

»Man muss ein Kind nicht schlagen, um es zu verletzen.«<br />

Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (Plakataktion zum Thema „Mehr Respekt vor<br />

Kindern“ im Jahr 2000)<br />

50 bis 70 Prozent der Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, leiden anschließend unter<br />

Stressstörungen, Alpträumen sowie Beeinträchtigungen der Konzentrationsfähigkeit.<br />

Kleinere Kinder zeigen oft Entwicklungs- und Schlafstörungen, starke Reaktionen im Magen-<br />

und Darmbereich, Unruhe mit Schreien und schnelle Verunsicherung mit Angst- und Wutausbrüchen.<br />

Ältere Kinder leiden fast durchweg unter Entwicklungs- und Lernstörungen. Die meisten von<br />

ihnen ziehen sich traurig von der Welt zurück, andere machen eher durch unangepasstes und<br />

störendes Verhalten auf sich aufmerksam. Zu den gefühlsmäßigen Auswirkungen gehören<br />

Gefühle von Verantwortung und Schuld, Wut, Angst und Wertlosigkeit bis hin zur Depression.<br />

[ Gewalt gegen Kinder ]


Ein grausames Erbe?<br />

Gewalterfahrungen in der Kindheit erhöhen die Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches, später<br />

selbst TäterIn oder Opfer von Gewalt zu werden. Zahlreiche Studien ergaben, dass die Beobachtung<br />

von Gewalt, zum Beispiel unter den Eltern, das Leben der Kinder mindestens genauso<br />

beeinflusst wie selbst erlittene Misshandlungen.<br />

Wenn Kinder Gewalt erleben oder missbraucht werden, lernen sie Gewalt als Bestandteil von<br />

Liebe kennen. Diese Erfahrung prägt ihr gesamtes Leben: So entscheiden sie sich bei der Partnerwahl<br />

häufig wieder für Gewalttäter. Und da sie zudem selten erleben, dass die Täter bestraft<br />

werden, lernen sie, dass die Gewalt vermeintlich siegt.<br />

»Selig sind, die auf Gewalt verzichten, sie werden das Erdreich besitzen.«<br />

Die Bibel, Matthäus-Evangelium Kap. 5, 5<br />

Kindern aus Familien, in denen häusliche Gewalt herrscht, mangelt es oftmals an der Fähigkeit<br />

zur friedlichen Konfliktbewältigung. Weil sie es von klein auf so gewöhnt sind, lösen sie<br />

Auseinandersetzungen häufiger als andere, indem sie sich nicht ausreichend behaupten oder<br />

gegen Gewalt wehren. Andere reagieren selbst auf aggressive Art und Weise bei Problemen<br />

mit PartnerInnen oder Kindern.<br />

In den USA haben 63 Prozent aller Täter Misshandlungen miterlebt oder wurden misshandelt.<br />

Bei zwei Dritteln aller Mörder unter 20 handelt es sich um Söhne, die den Mann umbringen,<br />

der ihre Mutter misshandelt.<br />

Das „Erbe der Gewalt“ kann aber auch abgelehnt werden: Viele Kinder, die häusliche Gewalt<br />

erfahren haben, entscheiden sich, den Kreislauf zu durchbrechen und nicht zuzulassen, was sie<br />

als Kind nicht verhindern konnten. Sie sind sozial bemühte und kompetente gute PartnerInnen<br />

und Eltern.<br />

[ Kinder als Träger einer Kultur ]


Um die Kindheit betrogen<br />

Vernachlässigt, geschlagen, missbraucht: Kinder leiden meist ihr ganzes Leben an Gewaltfolgen<br />

– körperlich und seelisch.<br />

Kinder, die missbraucht werden, dürfen keine Kinder sein. Sie sind kleine „Erwachsene“, denen<br />

mehr Last auf die Schultern gelegt wird, als viele Erwachsene je tragen müssen. Sie werden<br />

durch das Verbrechen nach und nach zerstört und ihrer Rechte als Kinder beraubt. Sie werden<br />

benutzt, so wie es dem Täter oder der Täterin gerade gefällt; sie müssen sich fügen, müssen<br />

gehorchen, müssen funktionieren. Und vor allem müssen sie schweigen!<br />

»Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch<br />

ein unglückliches Kind auf Erden gibt.«<br />

Albert Einstein, <strong>deutsch</strong>er Physiker und Nobelpreisträger im 20. Jahrhundert<br />

Häusliche Gewalt ist oft mit direkter Gewalt gegen die Kinder verbunden. Nach Untersuchungen<br />

des Deutschen Jugendinstituts liegt die Wahrscheinlichkeit direkter Gewalt gegen die<br />

Kinder bei fast 100Prozent, wenn es wöchentlich Gewalttaten gegen die Mutter gibt.<br />

Der <strong>deutsch</strong>e Kinderschutzbund (dksb) vermutet, dass bundesweit etwa eine Million Kinder<br />

mit Gegenständen geschlagen und misshandelt werden – 300.000 bis 400.000 davon massiv.<br />

Im April 2010 veröffentlichte der dksb: Im Jahr 2008 sind 23.301 Straftaten wegen sexueller<br />

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zur Anzeige in den Polizei-revieren Deutschlands<br />

gekommen, wobei gerade in diesem Bereich die Dunkelziffer besonders hoch ist. So geht<br />

die Bundesregierung davon aus, dass jährlich etwa 400.000 Kinder und Jugendliche sexuell<br />

missbraucht werden.<br />

[ Kindesmisshandlung ]


In den Freitod getrieben<br />

Der Gesundheitszustand der von Gewalt betroffenen Frauen ist signifikant schlechter als bei<br />

Frauen ohne Gewalterfahrungen: Körper und Seele streiken! Dies ist ein Ergebnis des Forschungsprojektes<br />

„Gleichstellung“ der Stadt Zürich und der Maternité Inselhof Triemli.<br />

Fast die Hälfte aller Frauen, die in stärkerem Maße von Gewalt betroffen waren, trugen sich<br />

schon mit Suizidgedanken. Jede zehnte von Gewalt betroffene Frau hat schon einmal versucht,<br />

sich das Leben zu nehmen. In Russland setzen jährlich 2000 dieser Frauen ihrem Leben ein Ende.<br />

»Und wenn die Verzweiflung Tausende dazu bringt, ihrem Elend durch<br />

Drogen oder Selbstmord zu entkommen – ist das kein Krieg?«<br />

Stanley Kubrick, US-amerikanischer Regisseur<br />

Betroffene konsumieren überdurchschnittlich häufig Medikamente, Alkohol und Drogen. Sie<br />

leiden außerdem in stärkerem Maß an psychosomatischen Beschwerden.<br />

[ Sucht und Suizid ]


Reich und friedlich?<br />

Das alte Sprichwort „Pack schlägt sich – Pack verträgt sich“ ist falsch. Häusliche Gewalt kommt<br />

in allen gesellschaft lichen Schichten vor. Allerdings gibt es bestimmte Risiko faktoren, die das<br />

Entstehen von Gewalt begünstigen.<br />

Ein erhöhtes Risiko für schwere Misshandlungen findet sich in der Altersgruppe der unter<br />

35-jährigen bei Arbeitslosigkeit des Mannes und dem Angewiesensein auf Sozial leistungen<br />

(Studie „Gewalt in Paarbeziehungen“, Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und<br />

Jugend 2008).<br />

Auch die Weltgesundheitsorganisation weist in einer Studie von 2005 darauf hin, dass Frauen<br />

weltweit in einkommens schwachen Familien stärker bedroht sind, Opfer von häuslicher Gewalt<br />

zu werden. Das mag daran liegen, dass viele arme Frauen oft kulturelle Schranken überschreiten<br />

müssen, um die Familie zu versorgen – wie beispielsweise das Verbot, ohne ihren Mann das<br />

<strong>Haus</strong> zu verlassen. Aber auch finanzielle Schwierigkeiten oder der Neid des weib lichen Erfolges<br />

können der Auslöser für Konflikte werden, die gewalttätig enden.<br />

Oft gilt: »Die Ehemänner erfolgreicher Frauen versuchen ihre verlorene<br />

wirtschaftliche Kontrolle durch erhöhte Gewalt auszugleichen.«<br />

Zandile Nhlengetwa, Leiterin von SINANI, des südafrikanischen Partners von „Brot für die Welt“<br />

So haben Projekte, die lediglich die finanzielle Lage von Frauen verbessern wollen, gezeigt,<br />

dass höhere Einkommen nicht von selbst die Gewalt in der Familie verringern. Im Gegenteil:<br />

Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen von ihrem Partner führte zu noch häufigerer<br />

und intensi verer Gewalt.<br />

Auch in Deutschland gilt: bei der Altersgruppe von Frauen ab 45 Jahren in der mittleren oder<br />

gehobenen Einkommenslage, die beruflich höher positioniert sind oder waren, kommt es im<br />

Lebensverlauf zu häufigerer körperlicher und/oder sexueller Gewalt. (Studie „Gewalt in Paarbeziehungen“,<br />

Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend 2008).<br />

[ Armut und Gewalt ]


Vom Arzt verkannt<br />

Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Hör- und Sehminderungen können Folgen dauerhafter<br />

Gewalteinwirkungen und unbehandelter Verletzungen sein. Leider nehmen ÄrztInnen die Gewalt<br />

als Auslöser häufig nicht wahr.<br />

So werden den PatientInnen oftmals auf die Seele einwirkende Medikamente gegen Depression<br />

verschrieben. Sie sollen helfen, die belastenden Lebenserfahrungen leichter zu ertragen. Auf<br />

Dauer hilfreicher wäre es, die Betroffenen beim vielschichtigen Prozess zu unterstützen, durch<br />

den sie ihre seelische und körperliche Stabilität zurück gewinnen.<br />

»Die im Gesundheitssystem Beschäftigten müssen umdenken und<br />

ihren Blick auf gesundheitliche Störungen insgesamt um den Aspekt<br />

›Gewalt‹ als eine mögliche Ursache erweitern.«<br />

Koordinationsstelle Frauen und Gesundheit Nordrhein-Westfalen in Köln<br />

Auch in der Frauenheilkunde werden Zusammenhänge von Gewalterlebnissen und Unterleibsbeschwerden<br />

häufig nicht erkannt. So berichten ÄrztInnen in psychosomatischen Kliniken und<br />

Rehabilitationskliniken, dass viele PatientInnen schon mehrfach ohne nennenswerte Erfolge<br />

operiert wurden. Eine angemessene Behandlung der Ursachen für diese Beschwerden bleibt<br />

oft über Jahre aus.<br />

[ Fehldiagnosen ]


Flucht ins Ungewisse<br />

Jährlich suchen 40.000 Frauen in einem Frauenhaus Schutz vor weiteren Misshandlungen (15.<br />

Deutscher Präventionstag 2010). Auch wenn die Opfer und ihre Kinder dort Zuflucht finden<br />

und umfassende Unterstützung bekommen, kehren viele zu ihrem Mann zurück – und erleiden<br />

weitere Gewalt.<br />

Die Angst vor der endgültigen Trennung hat viele Ursachen: So fürchten sich Frauen zu Recht<br />

vor noch größerer Brutalität und glauben gleichzeitig nicht, dass die Übergriffe geahndet<br />

werden – beides treibt sie zurück zu ihrem Peiniger. Finanzielle und praktische Schwierigkeiten<br />

verhindern ebenfalls, dass sich Frauen trauen, allein mit ihren Kindern ein neues Leben<br />

zu beginnen. Durch die Rückkehr werden auch die Kinder weiter der zerstörerischen Gewalt<br />

ausgesetzt.<br />

»Im Frauenhaus habe ich das erste Mal nach den vielen Jahren tief und<br />

fest schlafen können. Das Gefühl der Sicherheit war unbeschreiblich«<br />

Ursula, 43 Jahre, 4 Kinder<br />

Soziologen stellen fest, dass Gewalterlebnisse die Bindung an den Partner sogar häufig noch<br />

enger, zuweilen unlösbar erscheinen lässt. Hinzu kommt, dass viele Männer ihren Frauen immer<br />

wieder Hoffnung machen, sie würden sich ändern.<br />

[ Frauenhäuser ]


Macht und Ohnmacht der Männer<br />

Täter empfinden in Konfliktsituationen oftmals eine persönliche Hilflosigkeit und Ohnmacht.<br />

Sie fühlen sich bedroht, wenn ihre Vorherrschaft in Frage gestellt wird.<br />

Ein zentrales Moment bei der Ausübung von Gewalt ist ein Herrschaftsanspruch. Die Arbeit mit<br />

Männern, die zu Tätern wurden, zeigt: Sie erleben ihre Partnerin in bestimmten Momenten<br />

als übermächtig und fühlen sich ihr gegenüber hilflos, wenn sie nicht im gewohnten Maße<br />

unterwürfig handelt. Im Augenblick der Gewalt erleben viele Männer den Rausch der Macht,<br />

um schließlich später zu erkennen, dass der Gewaltakt nicht mehr als ihre pure Ohnmacht zum<br />

Ausdruck bringt. Zu untersuchen ist, wie sozial konstruierte Rollen und Wertvorstellungen diese<br />

Verhaltensweisen aus lösen und fördern.<br />

»Was man mit Gewalt gewinnt, kann man nur mit Gewalt behalten.«<br />

Mahatma Gandhi, indischer Rechtsanwalt und Friedensnobelpreisträger im 20. Jahrhundert<br />

Dementsprechend suchen Gewalttäter nur äußerst selten Beratung, um ihr Problem zu besprechen.<br />

Wer zum Täter geworden ist, versucht dies vielmehr zu verbergen. Der Schritt in<br />

die Beratung setzt schon eine Anerkenntnis der Tat vor aus, ebenso wie Einsicht in die eigene<br />

Hilflosigkeit, schwierige Situationen friedlich zu klären. Es bedarf früh erlernter Konfliktlösungsstrategien,<br />

um zu verhindern, dass Hilflosigkeit sich in Gewalt entlädt.<br />

[ Männlichkeit ]


Ganze Kerle<br />

Männer folgen wie Frauen in ihrem Verhalten gesellschaftlich hergestellten Rollenzuweisungen.<br />

Studien aus den verschiedensten Kontinenten zeigen, dass dem Mannsein übereinstimmend<br />

Attribute wie Versorger, Beschützer und Erzeuger zugeordnet sind.<br />

Gelebtes Mannsein geschieht nicht von selbst. Es ist ein Zustand, der von klein auf erlernt wird.<br />

Wertesysteme männlicher Vorherrschaft entstehen durch das entsprechende Umfeld der eigenen<br />

Kultur und werden durch Sprache und Handeln aufrechterhalten. In manchen Umfeldern<br />

wird dabei auch Gewalt als Mittel sich zu behaupten erlernt und weitergegeben. Damit wird<br />

ein Zerrbild von Männlichkeit vermittelt, das schädlich ist und den tatsächlichen Anforderungen<br />

entgegen steht. Toleranz und Konfliktfähigkeit sind wesentliche Kompetenzen, die von Männern<br />

ebenso wie von Frauen gefordert werden.<br />

»Man kann nicht immer ein Held sein,<br />

aber man kann immer ein Mann sein.«<br />

Johann Wolfgang von Goethe, <strong>deutsch</strong>er Dischter des 18./19. Jahrhunderts<br />

Wertesysteme unterliegen einem stetigen Wandel: Alternative Lebensmuster differenzieren sich<br />

heraus. Traditionelle Einstellungen gehen zurück. Ungleiche Voraussetzungen für Männer und<br />

Frauen werden abgelehnt.<br />

So gehören nach einer Studie rund 20 Prozent der <strong>deutsch</strong>en Männer zu den so genannten<br />

„neuen Männern“. Sie verstehen zunehmend die Partnerschaft, in der sie leben, als gleichberechtigt.<br />

Sie beteiligen sich an der <strong>Haus</strong>- und Familienarbeit, unterstützen die Partnerin bei ihrer<br />

Berufstätigkeit und lehnen Gewalt als Mittel zur Konflikt lösung eindeutig ab. Sie beeinflussen<br />

damit auch die gesellschaftlichen Erwartungen, in denen Jungen und Mädchen aufwachsen.<br />

Stereotype Normen und Rollenklischees werden nicht mehr akzeptiert. Hierarchien werden<br />

abgebaut. Frauen und Männer erwarten gleiche Möglichkeiten, in denen sie ihre individuellen<br />

Lebensentscheidungen treffen. Familie, Beruf, Freizeit und Individualität miteinander zu<br />

vereinbaren, muss Männern und Frauen möglich sein.<br />

[ Gelebtes Mannsein ]


Gewalt mit Gottes Segen?<br />

„Ihr Frauen ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn“ (Epheser 5, 22): Dieses Wort<br />

des Apostels Paulus scheint ungerechte Geschlechterrollen zu unterstützen. So ist es kein Wunder,<br />

dass die Bibel immer wieder dazu herhalten muss, um häusliche Gewalt zu rechtfertigen.<br />

Dabei heißt es bereits in der Schöpfungsgeschichte: „Gott schuf die Menschheit zu seinem<br />

Bilde, im Bilde Gottes schuf er sie; männlich und weiblich“ (Genesis 1, 27; Die Bibel). Darum<br />

trifft jede Gewalt, die einer Frau oder einem Mann angetan wird, auch Gott selbst.<br />

»Hier gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Griechen,<br />

SklavInnen und freien Menschen, Mann und Frau. Denn durch eure<br />

Verbindung mit Jesus Christus seid ihr alle zusammen ein neuer<br />

Mensch geworden.«<br />

Brief des Apostels Paulus an die Galater 3,28<br />

Und doch sind Herrschaftsverhältnisse wie die Unterordnung der Frau unter den Mann Jahrhunderte<br />

lang mit der Bibel gerechtfertigt worden. Solcher Missbrauch geschieht bis heute:<br />

• etwa dadurch, dass einzelne Sätze aus ihrem Zusam menhang gerissen und in ihrer Aussageabsicht<br />

umgebogen werden,<br />

• oder dadurch, dass die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die<br />

biblischen Texte ent s tanden sind, nicht beachtet werden. Die Texte werden dann nahtlos in<br />

ganz andere Situationen übertragen und so verfälscht.<br />

• oder dadurch, dass einzelne Sätze in fundamentalistischer Weise „wörtlich“ missverstanden<br />

und gegen die zentralen Grundaussagen der biblischen Botschaft gewendet werden.<br />

[ Glaube und Gewalt ]


Aus Scham gelähmt<br />

Die meisten Opfer bringen die Straftat ihres Partners/ihrer Partnerin nicht zur Anzeige<br />

und verleugnen die Tat bei den ÄrztInnen. Angst, Hilflosigkeit, aber auch Scham lassen<br />

die Betroffenen schweigen – und die Schmerzen weiterhin erdulden.<br />

Traditionelle Frauenrollen kreisen um Aspekte wie Mütterlichkeit, Selbstlosigkeit und das Dasein<br />

für andere. Dieses Bild teilen sie häufig mit ihrem Partner, so dass daraus ein Beziehungsmuster<br />

entsteht, das Frauen für die Qualität der Beziehung verantwortlich macht. Sie hat es in der<br />

Hand, ob er glücklich ist. Das heißt somit auch, dass sie versagt, wenn dies nicht der Fall ist.<br />

Nur sie ist diejenige, die über genügend Liebeskraft verfügt, die Beziehung zum Guten zu<br />

wenden. Umgekehrt wird auch der Mann daran gehindert, seine eigene Rollenzuschreibung<br />

zu hinterfragen und das Tabu der Scham zu durchbrechen.<br />

»Es ist niemals schwieriger, das rechte Wort zu finden,<br />

als wenn man sich schämt.«<br />

François de La Rochefoucauld, französischer Schriftsteller<br />

Selbst nach Gewalttaten des Partners/der Partnerin bleibt die Verbundenheit ihm/ihr gegenüber<br />

und die Verantwortung für die Beziehung bestehen. Die Gewalt des Partners/der Partnerin<br />

bedeutet ein Scheitern an den vermeintlich selbst gesetzten Idealen. Anstatt aufzubegehren,<br />

schämen sie sich stellvertretend für die brutale Tat und das Scheitern der Beziehung. Häufig<br />

suchen sie die Schuld in unbedachten Äußerungen oder widerstrebenden Handlungen. Und<br />

selbst wenn ärztliche Hilfe unerlässlich ist, wird mal wieder ein Treppensturz vorgetäuscht, der<br />

als Erklärung für blaue Flecken, Brüche oder offene Wunden herhalten muss.<br />

[ Verschweigen der Tat ]


Die eheliche Pflicht: Freibrief zur Vergewaltigung<br />

Die Heiratsurkunde verpflichtet zu einem verantwortungsvollen Umgang der Partner miteinander.<br />

Doch in vielen Ländern legalisiert sie zugleich sexuelle Übergriffe.<br />

Weltweit leiden Frauen unter sexueller Gewalt durch ihren Intimpartner. Nach dem Bericht der<br />

WHO „Gewalt und Gesundheit“ betrifft dies in einigen Ländern nahezu jede vierte Frau. Bis zu<br />

einem Drittel der Mädchen im Teenageralter geben in dieser Studie an, zum ersten Geschlechtsverkehr<br />

gezwungen worden zu sein. Auch berichteten 23 Prozent der in London befragten<br />

Frauen, dass sie im Laufe ihres Lebens das Opfer einer versuchten oder vollendeten Vergewaltigung<br />

durch einen Partner gewesen sind. Im Rahmen einer repräsentativen Studie in Indien<br />

gaben 29 Prozent der 6.000 befragten Männer an, ihre Frauen sexuell missbraucht zu haben.<br />

»Im Schutz der Ehe werden Frauen gedemütigt, misshandelt<br />

und vergewaltigt.«<br />

Ilse Ridder-Melchers, SPD-Ministerin a. D. für die Gleichstellung von Frau und Mann in Nordrhein-Westfalen<br />

Die erste repräsentative Studie zur Lebenssituation von Frauen in Deutschland zeigt auf, dass 13<br />

Prozent der Befragten, also fast jede 7. Frau, Formen sexualisierter Gewalt erlebt hat (bei einer<br />

engen strafrechtlichen Definition) und mindestens jede 4. Frau körperliche oder sexualisierte<br />

Gewalt in einer Partnerschaft durch den Beziehungspartner erlebt hat. (Studie des Bundesministeriums<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend „Zur Lebenssituation, Sicherheit und<br />

Gesundheit von Frauen in Deutschland“ 2004 ) In Deutschland galt das Delikt Vergewaltigung<br />

vor der Strafrechtsreform im Juli 1997 nur außerehelich als strafbar. In vielen Ländern sind<br />

erzwungene sexuelle Handlungen in der Ehe bis heute nicht strafbar.<br />

[ Sexuelle Gewalt ]


Den Peinigern hilflos ausgeliefert<br />

Immer häufiger berichten Medien von der Gewalt an Schutzbefohlenen. Pflegebedürftige und<br />

behinderte Menschen sind aufgrund ihrer Schwäche brutalen Übergriffen besonders schutzlos<br />

ausgeliefert.<br />

Menschen mit Behinderung und Pflegebedürftige sind nach UNO-Angaben etwa doppelt so<br />

häufig von sexueller Gewalt betroffen wie nicht behinderte. Die große Abhängigkeit der Opfer<br />

von ihren vermeintlichen HelferInnen macht es Gewalttätern besonders leicht, ihre Tat im Verborgenen<br />

zu halten. Betroffene bekommen auch oft deshalb keine Hilfe, weil sie nicht in der<br />

Lage sind, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen.<br />

»Ich glaube, es gibt keine komplette Heilung für mich. Ich kann mich<br />

höchstens bemühen, mit meinen Erinnerungsfetzen und Erfahrungen<br />

so umzugehen, dass sie mich nicht zerstören.«<br />

Saskia T., sehbehindertes Opfer sexueller Gewalt<br />

Ausgeliefert und nicht ernst genommen: Bei pflegebe dürftigen Menschen werden Verletzungen<br />

wie Knochen brüche oder Hämatome oft mit selbstverschuldeten Stürzen begründet. Das<br />

geschieht wesentlich häufiger, als dies bei Nichtbehinderten der Fall ist. Und wer sich nicht oder<br />

nur schlecht artikulieren kann, wird oft auch dann nicht ernst genommen, wenn er versucht,<br />

das Unrecht öffentlich zu machen.<br />

[ Schutzbefohlene ]


Pflege als Stress<br />

Die Pflege eines Angehörigen über viele Jahre stellt eine Dauerbelastung dar, die an die Grenzen<br />

der seelischen und körperlichen Belastbarkeit geht.<br />

Häusliche Pflege ist eine Vollzeit-Aufgabe:<br />

• 64 % aller Hauptpflegepersonen stehen dem unterstützungsbedürftigen Menschen rund um<br />

die Uhr zur Verfügung.<br />

• 76 % aller Pflegepersonen müssen die Nachtruhe mehr als einmal unterbrechen.<br />

• 36,7 Stunden pro Woche sind die Hauptpflegepersonen in Pflegeaufgaben und Unterstützung<br />

eingebunden.<br />

• 32 % aller Hauptpflegepersonen sind älter als 65 Jahre und gehören gewöhnlich derselben<br />

Generation an wie die unterstützungsbedürftige Person.<br />

• 54 % d.h. jede zweite Pflegeperson ist zwischen 40 und 64 Jahren alt.<br />

Die täglich am häufigsten erbrachte Aufgabe ist die persönliche Fürsorge z. B. in Form von<br />

Gesprächen, dicht gefolgt von täglicher oder fast täglicher Hilfe in der persönlichen Hygiene,<br />

dem Ankleiden, Unterstützung bei den Mahlzeiten und der <strong>Haus</strong>haltsführung. Hinzu kommen<br />

die Regelung bürokratischer Angelegenheiten, Unterstützung und Begleitung bei der Pflege<br />

sozialer Kontakte sowie die Organisation zusätz licher Personen für die unterstützungsbedürftige<br />

Person.<br />

»Sie haben gut reden. Sie können auch wieder gehen, aber ich habe<br />

meinen Mann 24 Stunden und 7 Tage die Woche um die Ohren und<br />

ich kann nicht gehen, wann ich will.«<br />

Eine pflegende Angehörige bei der Beratung<br />

Ältere Pflegepersonen haben häufig eigene Beeinträchtigungen in ihrer Gesundheit. Viele<br />

schaffen es nicht, regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen oder bei bestehenden Krankheiten einen<br />

Arzt aufzusuchen. Das eigene Leben wird aufgegeben, es bleibt keine Zeit mehr, um Sport<br />

zu treiben, soziale Kontakte aufrecht zu erhalten, einfach nur mal spazieren zu gehen oder<br />

einen Gesprächskreis zu besuchen. Viele Angehörige können auf Grund der häuslichen Pflege<br />

nur eingeschränkt oder gar nicht ihrer Berufstätigkeit nachgehen. Dies kann zu finanziellen<br />

Schwierigkeiten, geringen Rentenansprüchen oder auch Schulden führen.<br />

[ Langzeitpflege ]


Miteinander leben trotz(t) dem Vergessen<br />

Insgesamt leben heute in Deutschland etwa 1,2 Mio Menschen mit einer demenziellen Erkrankung.<br />

Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko an Demenz zu erkranken. Derzeit treten<br />

jährlich mehr als 280.000 Neuerkrankungen in Deutschland auf. Forschung und Wissenschaft<br />

gehen von mindestens einer Verdoppelung dieser Erkrankungszahl bis ins Jahr 2050 aus, sofern<br />

weder im Bereich von Prävention noch bei der medizinischen Behandlung und Therapie<br />

entscheidende Fortschritte erzielt werden.<br />

»Die Person sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus.«<br />

Arno Geiger<br />

Im Zusammenleben mit einem Demenzkranken können unterschiedliche Anlässe zu aggressivem<br />

Verhalten führen, z. B.:<br />

• Überschreitung einer Schutzzone, die ein Demenzkranker um sich herum aufgebaut hat.<br />

So können z. B. im Bereich der Körperhygiene Scham und Angst bei Überschreitung dieser<br />

Schutzzone durch eine Pflegeperson zu Überreaktionen und aggressivem Verhalten führen.<br />

• Übertriebene Unterstützungs- und Hilfeangebote können das Gefühl hervorrufen, selbst<br />

nichts regeln zu können, und führen zu aggressivem Verhalten.<br />

• Der Verlust von gewohnten Menschen und Lebensumständen kann Aggressionen hervorrufen.<br />

• Unvorhersehbare Ereignisse und schnelle Handlungen können aggressionsfördernd sein.<br />

Niemals ist eine Person ständig aggressiv, sondern immer in bestimmten Sachzusammenhängen,<br />

die analysiert werden müssen.<br />

Aggressionen bei Demenzkranken rufen entsprechende Reaktionen bei nicht geschulten und/<br />

oder überforderten Angehörigen und Pflegekräften hervor. Aggressions-/Gewaltspiralen werden<br />

entstehen und sind von den betroffenen Personen nicht mehr beherrschbar. Es ist deshalb<br />

unabdingbar, dass insbesondere Angehörige, aber auch Pflegekräfte spezielle Schulungen im<br />

Umgang mit Demenzerkrankten absolvieren, um in solchen Situationen richtig reagieren zu<br />

können.<br />

[ Demenz ]


Verlust der Intimsphäre<br />

»War nicht dies ganze Leben peinlich?<br />

Ein seltenes Ineinander von Glanz und Qual.«<br />

Thomas Mann, Tagebücher<br />

Inkontinenz ruft neben der Scham beim Pflegebedürftigen häufig ein Ausgeliefertsein in der<br />

Pflege hervor. Oft steht dieses Gefühl im Zusammenhang mit einer Nacktheitsscham, die in<br />

unserer Kultur verinnerlicht wurde: Ich bin den Blicken der Pflegenden ausgesetzt. Diese sehen<br />

meine intimsten Bereiche: Ich kann mich nicht mehr schützen. Ich kann nicht mehr das Wasser<br />

halten – oder sogar nicht mehr den Stuhlgang regulieren.<br />

Manche Ältere können ihr Schamgefühl adaptieren und den neuen Verhältnissen anpassen, für<br />

andere ist es eine ständige Qual.<br />

Von den Pflegenden nackt gesehen zu werden und die grundlegendsten Reinlichkeitsdinge<br />

nicht mehr selbst regeln zu können, gehören zu den Schamkonflikten, die als ein stilles Leiden<br />

bezeichnet werden können. Es kommt zeitweise zu Überkompensationen, die häufig mit Aggressionen,<br />

Gewalt und unangemessenen Reaktionen beantwortet werden: z. B. bei älteren<br />

demenzkranken Ordensschwestern, die sich ständig entkleiden, bei Demenzkranken, die ausgiebig<br />

mit ihren Exkrementen spielen u. a.<br />

[ Scham und Ekel ]


Angst vor Inkontinenz<br />

Viele Seniorinnen und Senioren trinken deutlich zu wenig aus Angst vor häufigen nächtlichen<br />

Toilettengängen oder Angst vor Inkontinenz.<br />

Der Wunsch nach einer geringeren Urinmenge kann ein wichtiges Trinkhemmnis sein und<br />

macht den älteren Menschen anfällig für eine Dehydration (Austrocknungszustand). Mit zunehmendem<br />

Alter nehmen einerseits der Wassergehalt des Körpers und andererseits das<br />

Durstgefühl deutlich ab.<br />

Ein Wasserdefizit im Körper führt zu einer reduzierten Harnproduktion. Dies hat deutliche Auswirkungen:<br />

Bei noch stärkerem Wasserdefizit treten ein beschleunigter Puls, ein Anstieg der<br />

Körpertemperatur, Schwindel, Schwäche sowie eine Abnahme der körperlichen und geistigen<br />

Leistungs fähigkeit auf. Eintretende Desorientiertheit, Verwirrtheitszustände, Apathie und ein<br />

lebensbedrohlicher Kreislaufkollaps mit Bewusstlosigkeit oder gar schwerwiegende Stürze sind<br />

die Folge. Oftmals ist eine Einweisung ins Krankenhaus erforderlich. Diese Auswirkungen bedeuten<br />

für pflegende Angehörige einen weiteren Arbeits- und Betreuungsaufwand.<br />

»Harninkontinenz ist ein häufiges,<br />

jedoch immer noch stark tabuisiertes Problem.«<br />

Inkontinenz Selbsthilfe e.V.<br />

Enttäuschung und Verletztheit sind die Folge, wenn gut gemeinte Fürsorge nicht angenommen<br />

wird und die erhoffte Dankbarkeit für die Aufopferung in der Versorgung und Pflege ausbleibt,<br />

was bei dementen Menschen häufig vorkommt.<br />

Die Fürsorge wird dann nur noch gezwungen als moralische Verpflichtung durchgeführt, es<br />

entsteht Stress und häufig entwickelt sich eine rigide und destruktive Beziehung.<br />

[ Dehydration ]


Wenn Demenzkranke weglaufen<br />

Die Hinlauftendenz wurde früher als Weglauftendenz bezeichnet – weil Demenzkranke weglaufen,<br />

einem inneren Drang folgend „ausbüxen“. Diese Ausflüge können jedoch sehr gefährlich<br />

werden.<br />

Mittlerweile weiß man, dass die Patienten nicht einfach nur „ausbüxen wollen“, sondern sich<br />

mit einem Ziel auf den Weg machen. Wo sie hinwollen ist nicht immer nachvollziehbar, aber der<br />

Demenzkranke folgt einem inneren Drang: Er meint, an einem bestimmten Ort etwas erledigen<br />

zu müssen. Beispielsweise kann es sein, dass er meint, noch zu arbeiten und sich auf den Weg<br />

ins Büro macht, oder meint er müsse seine Kinder von der Schule abholen.<br />

»Hinlauftendenz ist der Drang, etwas zu erledigen. Gleichzeitig ist dies<br />

auch eine große Gefahrenquelle.«<br />

Eine professionelle Pflegekraft<br />

Wenn ein Demenzkranker eine Hinlauftendenz zeigt, kann das zu gefährlichen Situationen<br />

führen. Zeitliche und räumliche Orientierungsschwierigkeiten verhindern oft, dass er sein Ziel<br />

auch erreicht oder wieder nach <strong>Haus</strong>e zurückfindet – der Demenzkranke irrt bis zur Erschöpfung<br />

umher. Auch die Gefahren im Straßenverkehr kann er nicht mehr einschätzen, so dass<br />

das Unfallrisiko sehr hoch ist.<br />

Besonders in der häuslichen Pflege wissen sich die pflegenden Angehörigen häufig nur zu<br />

helfen, in dem sie ihre zu pflegende Person einsperren, d.h. sie verschließen die <strong>Haus</strong>- oder<br />

Wohnungstür.<br />

Diese Einschränkung persönlicher Freiheit kann als willkür liche Zwangsmaßnahme verstanden<br />

werden und zu gewalttätigen Auseinandersetzung führen.<br />

[ Hinlauftendenzen ]


Vom Einmischen<br />

„Schon wieder aufgewacht. Woher kommt der Lärm? Hört sich an, als wenn er aus unserem<br />

viergeschossigen <strong>Haus</strong> käme. Erst vor etwa zwei Monaten war das Glas in der Wohnungstür<br />

im Erdgeschoss morgens zerbrochen.<br />

Die Mieterin im Erdgeschoss hat einen neuen Freund. Er schien sie vermöbelt zu haben. Jedenfalls<br />

war sie danach tagelang nicht zu sehen. Er schon. Jetzt ein Rumsen, lautes Klirren. Kracht<br />

es also schon wieder? Runtergehen? Bringt wohl nichts. Dann bekomme ich auch eine auf die<br />

Nase. Oder sie solidarisiert sich mit ihm. Auf die Frage, was denn los war, hat sie mich neulich<br />

abgewimmelt, mit der Bemerkung ich solle meine Nase in meine eigenen Angelegen heiten<br />

stecken.<br />

Es poltert schon wieder. Meine Hände werden feucht. Die Polizei rufen? Vielleicht ist es ja<br />

jetzt vorbei, und ich steh‘ als Petze da. Es hört nicht auf. Mein Herz pocht immer schneller. Die<br />

anderen Mitbewohner sind im Urlaub. Ich bin mit den beiden von unten allein im <strong>Haus</strong>. Doch<br />

runtergehen?<br />

Ich bin nicht gegangen. Jemand aus der Nachbarschaft war entschlossener als ich und hat mich<br />

aus meiner Agonie befreit. Er oder sie hat die Polizei gerufen. Ich habe aufgeatmet, als sich<br />

das Martinshorn unserem <strong>Haus</strong> näherte und genau davor anhielt. Heute wäre ich sicherer. Ich<br />

würde sofort jemanden zu Hilfe holen und an der Wohnungstür klingeln oder gleich die Polizei<br />

rufen. Täter und Opfer sollen merken, dass wir anderen Bewohner ihr Verhalten mitbekommen<br />

und nicht tolerieren. Das hat nichts mit unbefugtem Einmischen zu tun. Sie sollen wissen, dass<br />

wir Gewalt nicht akzeptieren. Beide.“ (Erfahrungsbericht Gertrud Rogg)

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