Ausgabe 1975 - Hohenzollerischer Geschichtsverein
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Das Sein liegt als unbewiesene Voraussetzung dem<br />
Denksystem unseres Philosophen zugrunde, es wird dogmatisch<br />
statuiert, unkritisch hingenommen. Der Neukantianismus<br />
konnte dem Philosophen dieses Dogma nicht<br />
verzeihen. Man sprach von einem Rückfall in vorkantische,<br />
ontologische Metaphysik. Bilharz aber wollte -<br />
wie der Titel einer seiner Schriften heißt - „Mit Kant<br />
- über Kant hinaus."<br />
Der Philosoph, der unermüdlich weiterforscht, seine Erkenntnis<br />
kritisch prüft, bleibt im praktischen Leben<br />
nicht untätig. Während seiner Amtszeit bis 1907 hat das<br />
Landesspital in Sigmaringen eine außerordentliche Entwicklung<br />
genommen. Bilharz hat dank seinen Kenntnissen<br />
der Bedürfnisse des Landes und seiner Bewohner,<br />
dank seiner reichen Erfahrung als Arzt und Wissenschaftler<br />
die Wege zu dieser Entwicklung gewiesen. Besonders<br />
am Herzen lag ihm, dem Menschenfreund, der<br />
Ausbau der damals wenig beachteten sogenannten Irrenabteilung.<br />
Er sorgte dafür, daß an dem Spital für diese<br />
Patienten nicht nur zweckmäßige, sondern neuzeitliche,<br />
menschliche räumliche Verhältnisse geschaffen wurden.<br />
Und als Alphons Bilharz 1907 wegen eines sich immer<br />
mehr verschlechternden Augenleidens das Amt in jüngere<br />
Hände übergab, hatte er den Hohenzollerischen Landeskommunalverband<br />
veranlaßt, vier neue Stationsgebäude<br />
und ein zeitgemäßes Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude<br />
zu errichten. Was bei seinem Amtsantritt<br />
eine höchst unbefriedigend ausgestattete, in veralteten<br />
Gebäuden unzulänglich untergebrachte, wenig beachtete<br />
Anstalt gewesen war, entsprach nun den modernen Anforderungen<br />
und Erkenntnissen.<br />
Bis dahin hatte sich jedoch nicht nur das philosophische<br />
Werk auf sechs Bände ausgedehnt, auch der Umfang der<br />
medizinisch wissenschaftlichen Arbeiten war gewachsen,<br />
und diese Abhandlungen fanden mehr Beachtung, als das<br />
Werk des schwäbischen Denkers, dem jedoch bald zwei<br />
treue unverbrüchliche, wenn auch wesentlich jüngere<br />
Freunde und Anhänger seiner Lehre sich gesellten.<br />
Allerdings: trotz der exakten Darstellung des Gedachten,<br />
trotz dem Erkenntnisinhalt dieser denkerischen Ergebnisse,<br />
die Anerkennung der Fachwelt blieb seltsamerweise<br />
aus. Es war immer nur ein kleiner Kreis, der sich<br />
mit den Gedanken des Philosophen Bilharz beschäftigte.<br />
Es schien also, als sollte der erblindende Arzt und Philosoph,<br />
der sich lange Zeit bei fast allen seinen wissenschaftlichen<br />
Arbeiten der Hand einer seiner Töchter bedienen<br />
mußte, vereinsamen, als ihm das Land Hohenzollern<br />
noch einmal dringend brauchte. Er sollte die Leitung<br />
des Landesspitals noch einmal übernehmen, weil sein<br />
Nachfolger während des Krieges plötzlich gestorben<br />
war. „Jetzt gehe ich halt wieder zu meinen Narren, da<br />
gehöre ich hin", soll er damals gesagt haben.<br />
„Gelassenheit ist eine Tugend", war eine seiner Weisheiten,<br />
die auf eine schwere Probe gestellt wurde, als 1914<br />
die Gattin starb, 1917 der einzige Sohn gefallen ist. Aber<br />
dies samt der Enttäuschung, die es ihm bereitete, daß seine<br />
Lehre so geringes Echo fand, machte ihn nicht zum<br />
Misanthropen. Der Arzt und Gelehrte blieb im Grunde<br />
immer der gütige Mensch. Das offenbart sich auch in<br />
den Altersbriefen an Gottfried Graf 10 . Diese Briefe<br />
stammen aus den letzten drei Lebensjahren des Philosophen<br />
und der zweitletzte Brief 11 an den Maler ist so etwas<br />
wie ein Vermächtnis, so etwas wie eine letzte Interpretation<br />
seiner Lehre.<br />
Er schrieb am 26. Februar 1925, drei Monate vor seinem<br />
Tod:<br />
„Verehrter Freund. Das ganze letzte Jahr hindurch war<br />
meine Gesundheit so wacklich, daß ich nicht glaubte,<br />
36<br />
noch einmal zur Feder greifen zu können. Nun aber<br />
scheint es sich doch wieder etwas bessern zu wollen, und<br />
es ist Aussicht vorhanden, daß Ihr Horoskop sich erfüllen<br />
könnte, so daß ich nun den Mut habe, meine Einladung<br />
(natürlich für beide) zu wiederholen.<br />
Doch zum Gegenstand dieses Briefes.<br />
Sie werden zum Grund der Sache, das heißt zu meinem<br />
Seinsbegriff nie gelangen, wenn Sie nicht von vornherein<br />
die Welt (nicht dem Denken, sondern dem Sein nach) in<br />
zwei Hälften teilen, von denen Sie die eine (subjektive)<br />
ganz und ausschließlich mit ihrem Sein einnehmen. Das<br />
ist das vereinende oder denkende Sein. Die ganze andere<br />
Seinshälfte ist gedachtes Sein, Objekt, und Ihnen sonst<br />
völlig unbekannt, als Seinsinhalt für Ihr rein formales<br />
Erkennen transzendent, außerdem durch die zwischen<br />
den zwei Seinsinhalten durchlaufende, bisher ganz<br />
unbeachtet gebliebene Seinsgrenze für immer von der<br />
Erkenntnis ausgeschlossen: Ding an sich.<br />
Diese drei gegensätzlichen Seinsbegriffe bilden die<br />
Grundlage der Dreidimensionalität des synthetisch construierten<br />
gedachten Weltenraumes und aller darin unterbrachten<br />
Gegenstände. Wo Ausdehnung, da ist gedachtes<br />
Wesen. Sein ist nur punktual, muß aber mit Ausdehnung<br />
begabt werden, wenn es gedacht und vorgestellt<br />
werden soll. Daher ist das Quadrat der erste und einzige<br />
Ausdruck unseres Denkens als Darstellung der begrenzten<br />
Seinsgröße — und die Wiederholung dieser Synthese<br />
ergibt den Weltraum, den Cubus. Ganz eng an die Betrachtung<br />
schließt sich das Verhältnis von Raum und<br />
Zeit an. Hier hat Kant den Meisterstreich geführt, indem<br />
er diese beiden Kategorien als Begriffe der transzendentalen<br />
Ästhetik trennte und vereinigte, das heißt<br />
als formal und subjektiv. Die Gegensätzlichkeit tritt bei<br />
richtiger Anordnung sofort hervor. Ihre Gleichung verwischt<br />
alles. Erkenntnistheoretisch richtig ist, s/t = a.<br />
Hier trennt das Gleichheitszeichen die Welthälften Subjekt<br />
= Objekt, und die Bedeutung der Zeit als Formbegriff<br />
in seinem Reziprozitätsverhältnis zu dem Constanten<br />
a, dem objektiven Seinsinhaltsklumpen, tritt sofort<br />
hervor. Man sieht, wie der in dünne Schichten zerlegte<br />
Laib der formalen Erkenntnis zugeführt werden und die<br />
objektive Welthälfte trotz der Seinsgrenze in eine Erkenntnis<br />
übergeführt werden kann . . .<br />
Es wäre merkwürdig wenn die direkten Erben der Descartes'schen<br />
Philosophie die von uns dargebotenen Ideen<br />
zuerst erfassen würden. Was haben wir uns mit Navier<br />
und Duhamel herumquälen müssen! Besonders ersterer<br />
stand im Ruf, so klar zu sein, daß nur der Dümmste ihn<br />
nicht verstehen könne. Trotzdem verhielt ich mich dem<br />
Unendlich kleineren gegenüber ganz refraktär. Wie<br />
leicht ist es aber jetzt, einzusehen, was man synthetisch<br />
aufgebaut hat, auch analytisch wieder auseinanderlegen<br />
kann. Und das 3mal wiederholt.<br />
Dadurch allein unterscheidet sich die menschliche Vernunfterkenntnis<br />
von der tierischen, daß sie durch die<br />
Sprache ihre neuen Differentialbegriffe festhalten kann,<br />
z. B. den Mittelbegriff beim Pferd, Einhufigkeit, oder<br />
c ' \ mit aller Exaktheit,<br />
dx-<br />
Trotzdem weiß ich nicht, was der in Gefühlen schwelgende<br />
Künstler mit diesem exakten Wissen anzufangen<br />
gedenkt, wozu er es braucht.<br />
Das Schreiben wird mir schwer und ich bitte um Entschuldigung.<br />
Also senden wir einstweilen noch herzliche<br />
Grüße an Sie und Ihre liebe Frau<br />
Ihr Dr. Bilharz