13.02.2013 Aufrufe

Ausgabe 1975 - Hohenzollerischer Geschichtsverein

Ausgabe 1975 - Hohenzollerischer Geschichtsverein

Ausgabe 1975 - Hohenzollerischer Geschichtsverein

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Das Sein liegt als unbewiesene Voraussetzung dem<br />

Denksystem unseres Philosophen zugrunde, es wird dogmatisch<br />

statuiert, unkritisch hingenommen. Der Neukantianismus<br />

konnte dem Philosophen dieses Dogma nicht<br />

verzeihen. Man sprach von einem Rückfall in vorkantische,<br />

ontologische Metaphysik. Bilharz aber wollte -<br />

wie der Titel einer seiner Schriften heißt - „Mit Kant<br />

- über Kant hinaus."<br />

Der Philosoph, der unermüdlich weiterforscht, seine Erkenntnis<br />

kritisch prüft, bleibt im praktischen Leben<br />

nicht untätig. Während seiner Amtszeit bis 1907 hat das<br />

Landesspital in Sigmaringen eine außerordentliche Entwicklung<br />

genommen. Bilharz hat dank seinen Kenntnissen<br />

der Bedürfnisse des Landes und seiner Bewohner,<br />

dank seiner reichen Erfahrung als Arzt und Wissenschaftler<br />

die Wege zu dieser Entwicklung gewiesen. Besonders<br />

am Herzen lag ihm, dem Menschenfreund, der<br />

Ausbau der damals wenig beachteten sogenannten Irrenabteilung.<br />

Er sorgte dafür, daß an dem Spital für diese<br />

Patienten nicht nur zweckmäßige, sondern neuzeitliche,<br />

menschliche räumliche Verhältnisse geschaffen wurden.<br />

Und als Alphons Bilharz 1907 wegen eines sich immer<br />

mehr verschlechternden Augenleidens das Amt in jüngere<br />

Hände übergab, hatte er den Hohenzollerischen Landeskommunalverband<br />

veranlaßt, vier neue Stationsgebäude<br />

und ein zeitgemäßes Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude<br />

zu errichten. Was bei seinem Amtsantritt<br />

eine höchst unbefriedigend ausgestattete, in veralteten<br />

Gebäuden unzulänglich untergebrachte, wenig beachtete<br />

Anstalt gewesen war, entsprach nun den modernen Anforderungen<br />

und Erkenntnissen.<br />

Bis dahin hatte sich jedoch nicht nur das philosophische<br />

Werk auf sechs Bände ausgedehnt, auch der Umfang der<br />

medizinisch wissenschaftlichen Arbeiten war gewachsen,<br />

und diese Abhandlungen fanden mehr Beachtung, als das<br />

Werk des schwäbischen Denkers, dem jedoch bald zwei<br />

treue unverbrüchliche, wenn auch wesentlich jüngere<br />

Freunde und Anhänger seiner Lehre sich gesellten.<br />

Allerdings: trotz der exakten Darstellung des Gedachten,<br />

trotz dem Erkenntnisinhalt dieser denkerischen Ergebnisse,<br />

die Anerkennung der Fachwelt blieb seltsamerweise<br />

aus. Es war immer nur ein kleiner Kreis, der sich<br />

mit den Gedanken des Philosophen Bilharz beschäftigte.<br />

Es schien also, als sollte der erblindende Arzt und Philosoph,<br />

der sich lange Zeit bei fast allen seinen wissenschaftlichen<br />

Arbeiten der Hand einer seiner Töchter bedienen<br />

mußte, vereinsamen, als ihm das Land Hohenzollern<br />

noch einmal dringend brauchte. Er sollte die Leitung<br />

des Landesspitals noch einmal übernehmen, weil sein<br />

Nachfolger während des Krieges plötzlich gestorben<br />

war. „Jetzt gehe ich halt wieder zu meinen Narren, da<br />

gehöre ich hin", soll er damals gesagt haben.<br />

„Gelassenheit ist eine Tugend", war eine seiner Weisheiten,<br />

die auf eine schwere Probe gestellt wurde, als 1914<br />

die Gattin starb, 1917 der einzige Sohn gefallen ist. Aber<br />

dies samt der Enttäuschung, die es ihm bereitete, daß seine<br />

Lehre so geringes Echo fand, machte ihn nicht zum<br />

Misanthropen. Der Arzt und Gelehrte blieb im Grunde<br />

immer der gütige Mensch. Das offenbart sich auch in<br />

den Altersbriefen an Gottfried Graf 10 . Diese Briefe<br />

stammen aus den letzten drei Lebensjahren des Philosophen<br />

und der zweitletzte Brief 11 an den Maler ist so etwas<br />

wie ein Vermächtnis, so etwas wie eine letzte Interpretation<br />

seiner Lehre.<br />

Er schrieb am 26. Februar 1925, drei Monate vor seinem<br />

Tod:<br />

„Verehrter Freund. Das ganze letzte Jahr hindurch war<br />

meine Gesundheit so wacklich, daß ich nicht glaubte,<br />

36<br />

noch einmal zur Feder greifen zu können. Nun aber<br />

scheint es sich doch wieder etwas bessern zu wollen, und<br />

es ist Aussicht vorhanden, daß Ihr Horoskop sich erfüllen<br />

könnte, so daß ich nun den Mut habe, meine Einladung<br />

(natürlich für beide) zu wiederholen.<br />

Doch zum Gegenstand dieses Briefes.<br />

Sie werden zum Grund der Sache, das heißt zu meinem<br />

Seinsbegriff nie gelangen, wenn Sie nicht von vornherein<br />

die Welt (nicht dem Denken, sondern dem Sein nach) in<br />

zwei Hälften teilen, von denen Sie die eine (subjektive)<br />

ganz und ausschließlich mit ihrem Sein einnehmen. Das<br />

ist das vereinende oder denkende Sein. Die ganze andere<br />

Seinshälfte ist gedachtes Sein, Objekt, und Ihnen sonst<br />

völlig unbekannt, als Seinsinhalt für Ihr rein formales<br />

Erkennen transzendent, außerdem durch die zwischen<br />

den zwei Seinsinhalten durchlaufende, bisher ganz<br />

unbeachtet gebliebene Seinsgrenze für immer von der<br />

Erkenntnis ausgeschlossen: Ding an sich.<br />

Diese drei gegensätzlichen Seinsbegriffe bilden die<br />

Grundlage der Dreidimensionalität des synthetisch construierten<br />

gedachten Weltenraumes und aller darin unterbrachten<br />

Gegenstände. Wo Ausdehnung, da ist gedachtes<br />

Wesen. Sein ist nur punktual, muß aber mit Ausdehnung<br />

begabt werden, wenn es gedacht und vorgestellt<br />

werden soll. Daher ist das Quadrat der erste und einzige<br />

Ausdruck unseres Denkens als Darstellung der begrenzten<br />

Seinsgröße — und die Wiederholung dieser Synthese<br />

ergibt den Weltraum, den Cubus. Ganz eng an die Betrachtung<br />

schließt sich das Verhältnis von Raum und<br />

Zeit an. Hier hat Kant den Meisterstreich geführt, indem<br />

er diese beiden Kategorien als Begriffe der transzendentalen<br />

Ästhetik trennte und vereinigte, das heißt<br />

als formal und subjektiv. Die Gegensätzlichkeit tritt bei<br />

richtiger Anordnung sofort hervor. Ihre Gleichung verwischt<br />

alles. Erkenntnistheoretisch richtig ist, s/t = a.<br />

Hier trennt das Gleichheitszeichen die Welthälften Subjekt<br />

= Objekt, und die Bedeutung der Zeit als Formbegriff<br />

in seinem Reziprozitätsverhältnis zu dem Constanten<br />

a, dem objektiven Seinsinhaltsklumpen, tritt sofort<br />

hervor. Man sieht, wie der in dünne Schichten zerlegte<br />

Laib der formalen Erkenntnis zugeführt werden und die<br />

objektive Welthälfte trotz der Seinsgrenze in eine Erkenntnis<br />

übergeführt werden kann . . .<br />

Es wäre merkwürdig wenn die direkten Erben der Descartes'schen<br />

Philosophie die von uns dargebotenen Ideen<br />

zuerst erfassen würden. Was haben wir uns mit Navier<br />

und Duhamel herumquälen müssen! Besonders ersterer<br />

stand im Ruf, so klar zu sein, daß nur der Dümmste ihn<br />

nicht verstehen könne. Trotzdem verhielt ich mich dem<br />

Unendlich kleineren gegenüber ganz refraktär. Wie<br />

leicht ist es aber jetzt, einzusehen, was man synthetisch<br />

aufgebaut hat, auch analytisch wieder auseinanderlegen<br />

kann. Und das 3mal wiederholt.<br />

Dadurch allein unterscheidet sich die menschliche Vernunfterkenntnis<br />

von der tierischen, daß sie durch die<br />

Sprache ihre neuen Differentialbegriffe festhalten kann,<br />

z. B. den Mittelbegriff beim Pferd, Einhufigkeit, oder<br />

c ' \ mit aller Exaktheit,<br />

dx-<br />

Trotzdem weiß ich nicht, was der in Gefühlen schwelgende<br />

Künstler mit diesem exakten Wissen anzufangen<br />

gedenkt, wozu er es braucht.<br />

Das Schreiben wird mir schwer und ich bitte um Entschuldigung.<br />

Also senden wir einstweilen noch herzliche<br />

Grüße an Sie und Ihre liebe Frau<br />

Ihr Dr. Bilharz

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!