Ausgabe 1975 - Hohenzollerischer Geschichtsverein
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„ . .. Wir haben alle Ursache, in Bilharz einen der Unsrigen<br />
zu sehen und zu verehren, der in seiner Einsamkeit<br />
eine denkerische Leistung von hohem Rang vollbracht<br />
hat. Mag sie jetzt noch von Wenigen in ihrem wissenschaftlichen<br />
Wert erkannt werden, so wird sie eine spätere<br />
Zeit mit klarerem Überblick als die jetzige unzweifelhaft<br />
als eine leuchtende Geistestat herausstellen, zum<br />
Ruhme der Heimat" x .<br />
Der das zehn Jahre nach dem Tod des Geheimrats<br />
Dr. med. Alphons Bilharz in Sigmaringen geschrieben<br />
hat, das war der Professor an der Kunstakademie in<br />
Stuttgart, Gottfried Graf 2 . Graf, genau 45 Jahre jünger<br />
als der von ihm so hoch verehrte Philosoph, hat dessen<br />
Lehre nicht nur zu seiner eigenen Sache, ja zur Grundlage<br />
seines künstlerischen Schaffens und Lehrens gemacht<br />
3 , er hat auch alle Hebel in Bewegung gesetzt, um<br />
der Lehre des greisen Freundes und Landsmannes in der<br />
Welt Gehör zu verschaffen. Deshalb war er auch empört,<br />
als ein anderer Schüler von Bilharz, der Heidelberger<br />
Professor Rudolf Metz, schon 1927 im 14. Jahrbuch<br />
der Schopenhauergesellschaft, am Ende einer Würdigung<br />
des Verhältnisses von Bilharz zu Schopenhauer schrieb:<br />
„Bilharzens Tag ist vielleicht schon vorüber, ohne einen<br />
nennenswerten Glanz verbreitet zu haben." Und es sei<br />
„Bilharzens Philosophie, die die Wahrheit mit einem<br />
Griff in ihren Besitz gebracht zu haben glaubte, heute<br />
durchaus unzeitgemäß, und daher ist nicht anzunehmen,<br />
daß unsere Zeit sie erwecken und zur lebendigen Kraft<br />
gestalten wird" 4 .<br />
Wer war dieser Alphons Bilharz, von dem Kröners Philosophisches<br />
Wörterbuch 1921 kein Wort erwähnt, der<br />
bei anderen, wie Metz sagt, mit bloßer Namensnennung<br />
oder einem äußerst bescheidenen Plätzchen vorlieb nehmen<br />
mußte?<br />
Nach eigenem Zeugnis 5 ist Alphons Bilharz am 2. Mai<br />
1836 in Sigmaringen als 7. Kind unter neun Geschwistern<br />
geboren. Sein Vater war Beamter an der Fürstlichen<br />
Hofkammer. Er stammte aus Herbolzheim bei Freiburg,<br />
die Mutter, eine geborene Fehr, aus Frauenfeld im<br />
Kanton Thurgau. „Beide Eltern bekunden somit die rein<br />
alemannische Art unseres Geschlechtes", bekennt der<br />
88jährige stolz in der „Philosophie der Gegenwart in<br />
Selbstdarstellungen", noch kurz vor seinem Tode.<br />
Und weiter heißt es da, er habe nach dem Besuch des<br />
Gymnasiums 1854 die Universität Freiburg bezogen, um<br />
sich zunächst allgemeinen, vorzugsweise naturhistorischen<br />
Studien zu widmen. Schließlich entschied er sich<br />
für Medizin, studierte in Heidelberg, Würzburg, Berlin<br />
und Wien und machte 1859 das medizinische Doktorexamen.<br />
Danach, so heißt es weiter, sei er einer Einladung<br />
des elf Jahre älteren Bruders Theodor gefolgt, der damals<br />
schon ein weltberühmter Professor der Anatomie an<br />
der medizinischen Schule in Kairo gewesen ist.<br />
Schweifen wir kurz ab: Theodor Bilharz, am 23. März<br />
1825, also vor 150 Jahren, geboren, gehört zu jenen<br />
deutschen Pionieren, die in dem Nachbarkontinent mit<br />
wissenschaftlicher Akribie und Leidenschaft dem noch<br />
Unerforschten nachspürten und dabei für das Gesundheitswesen<br />
dieser Länder Ungewöhnliches geleistet haben.<br />
Theodor Bilharz aus Sigmaringen hat den Saugwurm<br />
Schistosoma mansoni als Urheber einer bis heute<br />
bei Mensch und Tier trotz dem Einsatz aller möglichen<br />
Mittel noch nicht ausgerotteten Krankheit entdeckt, die<br />
vor allem in den tropischen afrikanischen, asiatischen<br />
und südamerikanischen Ländern heute noch Millionen<br />
Menschen heimsucht. Die nach dem Entdecker benannte<br />
„Bilharziose" ist eine unerhört schmerzhafte Krankheit<br />
und galt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als unheil-<br />
34<br />
bar. Bilharz hat damals schon Mittel und Wege zur Verhütung<br />
und Bekämpfung der Krankheit gezeigt. Dem<br />
Bruder Theodor rühmt der jüngere Alphons nach, er<br />
habe ihm schon frühzeitig den Sinn für genaue und systematische<br />
Beobachtung der Naturgegenstände geschärft.<br />
Dem Bruder dankt er sicher auch das Thema seiner<br />
Doktorarbeit: »Descriptio anatomica organorum genitalium<br />
eunuchi Aetheopis" die 1859 in den Berliner<br />
Medizinischen Disserationen erschienen ist. Demnach<br />
war Alphons Bilharz - ohne daß er es in seinem Lebensbericht<br />
erwähnt — während seiner Studienzeit vor<br />
1859 in Afrika und kehrte auf Einladung seines Bruders<br />
1859/60 dahin zurück. Er hat die erste Abbildung einer<br />
von Bilharziose befallenen menschlichen Harnblase gezeichnet,<br />
die heute noch bekannt ist 7 .<br />
Der junge Wissenschaftler wollte nicht Arzt werden. Er<br />
ging nach dem Ende seiner Studien in das physiologische<br />
Laboratorium von Emil Du Bois Reymond, um dort die<br />
Nervenphysik genauer kennenzulernen. Du Bois Reymond<br />
hatte 1841 seine revolutionären Untersuchungen<br />
über tierische Elektrizität aufgenommen, und Bilharz<br />
fand hier ein Betätigungsfeld, auf dem sich der junge<br />
Wissenschaftler gleich mit neuen Ideen beschäftigen<br />
konnte. Er glaubte auf Grund seiner Beobachtungen und<br />
Messungen die dreidimensionale Materie durch die dreidimensionale<br />
Kraft definieren zu können. Das schien<br />
eine Aufgabe, der gegenüber jede andere an Bedeutung<br />
verlieren mußte. Sie führte ihn zu Gustav Robert Kirchhoff,<br />
der seit 1854 als Professor der Physik in Heidelberg<br />
lehrte und dessen nach ihm benanntes Gesetz die<br />
Elektrizitätslehre revolutionierte.<br />
Bilharz erfuhr aber hier, daß er die sich selbst gestellte<br />
Aufgabe in einem Menschenleben allein würde kaum lösen<br />
können. Ein anderer Plan, über den er nichts weiter<br />
sagt, zerschlug sich. In dieser Lage kam ihm der Rat eines<br />
Freundes wie gerufen: Dr. Castelhun, Arzt in<br />
St. Louis im US-Staat Missouri, riet ihm, sein Glück in<br />
Amerika zu versuchen. Alphons Bilharz fuhr im Frühjahr<br />
1865 nach New York und ließ sich in der Nähe<br />
von St. Louis, später in dieser Stadt selbst, als praktizierender<br />
Arzt nieder. Aber er wurde in den Staaten nicht<br />
seßhaft.<br />
Am 3. März 1877 trat ein Ereignis ein, das sein ganzes<br />
Leben grundlegend veränderte. Er nannte diesen Tag<br />
später einmal seinen „Tag von Damaskus". Darüber berichtet<br />
er in einem „offenen Brief" an Gottfried Graf<br />
in den „Gelben Blättern" 8 , die damals in Stuttgart erschienen<br />
und in denen Persönlichkeiten und Themen des<br />
öffentlichen Lebens, der Kunst, des Theaters, der Literatur,<br />
Natur und Technik zu Wort kamen. Hier erfahren<br />
wir also, in ihm sei während eines Morgenrittes in der<br />
amerikanischen Prärie plötzlich der Gedanke aufgetaucht:<br />
„Erkenntnis als eine Übereinstimmung oder Gleichung<br />
zwischen den Gegensätzen Denken und Sein aufzufassen."<br />
„Mir war damals", schreibt er" im Gelben<br />
Blatt, „als spaltete sich die Erde unter mir und ich sähe<br />
bis zu ihrem Mittelpunkt hinunter. Denn in demselben<br />
Augenblick erhob sich auch die klare Einsicht, daß,<br />
wenn das Subjekt beim Aufbau dieser Gleichung von<br />
sich, seinem Denken ausgehe, dieses also an erster Stelle<br />
stehen müsse, die Begriffsfolge sich sofort umdrehe,<br />
wenn man statt der Abstrakta (Denken und Sein) die<br />
konkreten Begriffe ins Auge faßt: Dann müsse das Seiende<br />
dem Gedachten vorangehen, dieses mit jenem in<br />
Ubereinstimmung gebracht werden, wenn von wirklicher<br />
oder Wahrheitserkenntnis die Rede sein solle . . . Sein<br />
geht vor Denken, die Folgeordnung innerhalb der Wahrheitsgleichung<br />
ist nicht umkehrbar."