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Seelsorge in der Spannung von Zuspruch und Anspruch

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1. E<strong>in</strong>leitung<br />

<strong>Seelsorge</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Spannung</strong> <strong>von</strong> <strong>Zuspruch</strong> <strong>und</strong> <strong>Anspruch</strong> 1<br />

Stephan Noesser<br />

„Ich muss härter durchgreifen. Gott selbst ist eigentlich das beste Beispiel. Der Gott <strong>der</strong> Bibel<br />

begegnet se<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n – den Menschen – mit Gerechtigkeit <strong>und</strong> Gnade. Gut <strong>und</strong> schön, nur<br />

stimmt das Verhältnis bei mir lei<strong>der</strong> nicht; ich b<strong>in</strong> zu zehn Prozent Gerechtigkeit <strong>und</strong> zu neunzig<br />

Prozent Gnade. Hätte ich im Garten Eden etwas zu sagen gehabt, wären Adam <strong>und</strong> Eva nach dem<br />

dritten Fehltritt scherzhaft getadelt, nach dem vierten streng verwarnt <strong>und</strong> nach dem fünften ohne<br />

Abendbrot <strong>in</strong>s Bett geschickt worden. Gott h<strong>in</strong>gegen setzte sie e<strong>in</strong>fach vor die Tür. Zwar gewandete<br />

er sie zum Zeichen se<strong>in</strong>es Mitgefühls <strong>in</strong> ‚Röcke aus Fellen’, aber vor die Tür setzte er sie<br />

trotzdem.“ 2<br />

Dieser köstliche Ausspruch <strong>von</strong> A.J. Jacobs, <strong>der</strong> sich wohl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mischung aus frivoler<br />

Unbekümmertheit <strong>und</strong> – hoffentlich – e<strong>in</strong>em Schuss Selbstironie für gnädiger hält als Gott selbst,<br />

steht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 2008 erschienenen Buch mit dem selbst sprechenden deutschen Titel „Die Bibel &<br />

ich. Von e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> auszog, das Buch <strong>der</strong> Bücher wortwörtlich zu nehmen“ 3 . Ich lese das<br />

Begriffspaar „Gerechtigkeit <strong>und</strong> Gnade“ hier <strong>von</strong> unserem Thema „Gesetz <strong>und</strong> Evangelium“ her.<br />

Denn Jacobs versteht me<strong>in</strong>es Erachtens Gerechtigkeit Gottes hier als richtende Gerechtigkeit bzw.<br />

als Dimension des Gesetzes <strong>und</strong> bestimmt das Verhältnis <strong>von</strong> Gesetz <strong>und</strong> Evangelium unreflektiert<br />

mit „Fifty-Fifty“.<br />

Dieses Buch beweist nicht nur, dass es Menschen gibt – <strong>in</strong> diesem Falle ist es e<strong>in</strong> „liberaler<br />

Großstadtagnostiker“ 4 –, die sich e<strong>in</strong> ganzes Jahr lang <strong>in</strong>tensiv mit <strong>der</strong> Bibel beschäftigen, ohne<br />

existentiell vom <strong>Zuspruch</strong> o<strong>der</strong> <strong>Anspruch</strong> Gottes getroffen zu werden. Das Zitat aus diesem Buch<br />

beweist darüber h<strong>in</strong>aus auch anschaulich, dass es Menschen gibt, die gefühlsmäßig <strong>und</strong> denkerisch<br />

ke<strong>in</strong>e Probleme haben, das Verhältnis <strong>von</strong> Gesetz <strong>und</strong> Evangelium re<strong>in</strong> quantitativ <strong>und</strong> damit als e<strong>in</strong><br />

bloßes Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu bestimmen. Ich nehme aber lei<strong>der</strong> auch deutlich wahr, dass viele unserer<br />

Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> ebenfalls e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> quantitative Verhältnisbestimmung für ausreichend halten.<br />

Das äußert sich dann <strong>in</strong> <strong>der</strong> meist unterschwellig artikulierten Erwartung an uns, wir sollten doch<br />

mal endlich wie<strong>der</strong> richtig über die Hölle predigen. Dann wisse man wenigstens, woran man sei. Ich<br />

glaube, e<strong>in</strong>e Berufung zum Theologietreiben habe ich <strong>in</strong> dem Moment, <strong>in</strong> dem mich die Aufgabe<br />

<strong>der</strong> angemessenen Verhältnisbestimmung <strong>von</strong> Gesetz <strong>und</strong> Evangelium existentiell umzutreiben<br />

beg<strong>in</strong>nt, weil ich begreife, dass es hier mit bloßen Quantitäten nicht getan ist. 5<br />

Ich verstehe es also als me<strong>in</strong>e Aufgabe, hier e<strong>in</strong>en Beitrag zur sachgemäßen Unterscheidung <strong>und</strong><br />

Zuordnung <strong>von</strong> Gesetz <strong>und</strong> Evangelium aus seelsorglicher Praxis zu leisten. Denn es gibt Stimmen<br />

praktischer Theologen (z. B. Hermann Eberhardt) 6 , die den jahrhun<strong>der</strong>tealten dogmatischen Streit<br />

um diese Formel längst für überholt <strong>und</strong> nur dann für lösbar halten, wenn endlich wahrgenommen<br />

1<br />

Dieser Beitrag ersche<strong>in</strong>t voraussichtlich noch 2009 beim B<strong>und</strong>es-Verlag <strong>in</strong> Witten <strong>in</strong>: Theologische Impulse Band 18,<br />

Gesetz <strong>und</strong> Evangelium, herausgegeben <strong>von</strong> Wilfried Haubeck <strong>und</strong> Wolfgang He<strong>in</strong>richs.<br />

2<br />

A.J. Jacobs, Die Bibel & ich. Von e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> auszog, das Buch <strong>der</strong> Bücher wortwörtlich zu nehmen, Berl<strong>in</strong> 2008, S.<br />

60.<br />

3<br />

Fairerweise sei gesagt, dass <strong>der</strong> amerikanische Orig<strong>in</strong>altitel „The Year of Liv<strong>in</strong>g Biblically“ lautet.<br />

4<br />

So die Süddeutsche Zeitung über Jacobs (Nr. 216, S. 16).<br />

5<br />

Luther hielt die rechte Verhältnisbestimmung bekanntlich für das schwierigste aller theologischen Probleme <strong>und</strong><br />

wollte nur den als rechten Theologen anerkennen, <strong>der</strong> diese Unterscheidung zu machen weiß. Vgl. se<strong>in</strong>e Schrift „de<br />

servo arbitrio“.<br />

6<br />

Hermann Eberhardt, Praktische <strong>Seelsorge</strong>-Theologie. Entwurf e<strong>in</strong>er <strong>Seelsorge</strong>lehre im Horizont <strong>von</strong> Bibel <strong>und</strong><br />

Erfahrung, Bielefeld 1993, S. 149. Eberhardt me<strong>in</strong>t, diese Formel stehe für e<strong>in</strong> „Dilemma überholter e<strong>in</strong>l<strong>in</strong>iger<br />

Geistestradition“, das sich sofort erübrige, wenn das „Ine<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>von</strong> theologischen <strong>und</strong> psychologischen<br />

Fragestellungen im Umgang mit dem Tatbestand <strong>und</strong> <strong>der</strong> Rede <strong>von</strong> <strong>der</strong> Sünde“ wahrgenommen werde.<br />

1


würde, dass es hier um e<strong>in</strong> „Ine<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>von</strong> theologischen <strong>und</strong> psychologischen Fragestellungen<br />

gehe“. Aber auch e<strong>in</strong> Systematiker wie Hans-Mart<strong>in</strong> Barth me<strong>in</strong>t, wir Theologen hätten die Lösung<br />

e<strong>in</strong>er angemessenen Verhältnisbestimmung künstlich verlängert, weil wir nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage seien,<br />

im theologischen Diskurs gegenseitig sensibel auf unsere Argumente zu hören. 7 Gibt es also<br />

vielleicht doch e<strong>in</strong>en Beitrag <strong>der</strong> praktischen Theologie zu diesem theoretischen Diskurs?<br />

Die E<strong>in</strong>schätzungen <strong>von</strong> Eberhardt <strong>und</strong> Barth br<strong>in</strong>gen mich hier zu <strong>der</strong> herzlichen Bitte, auch dann<br />

noch weiterzulesen, wo ich psychologisch, ja noch „schlimmer“: psychotherapeutisch argumentiere.<br />

2. Begriffsklärungen: <strong>Seelsorge</strong>, <strong>Anspruch</strong> <strong>und</strong> <strong>Zuspruch</strong><br />

2.1 <strong>Seelsorge</strong>verständnis<br />

Als Kreisseelsorgebeauftragter verstehe ich gemäß <strong>der</strong> Konzeption, die wir uns als Rhe<strong>in</strong>ischer<br />

Kreis 2007 für unsere <strong>Seelsorge</strong>arbeit im Kreis gegeben haben, <strong>Seelsorge</strong> im S<strong>in</strong>ne Friedhelm<br />

Stichts als „Lebenshilfe“, <strong>der</strong> mit dieser Bestimmung die Unterscheidung <strong>von</strong> Lebens- <strong>und</strong><br />

Glaubenshilfe <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>lehre überw<strong>in</strong>den möchte. Sticht möchte e<strong>in</strong>e „ganz allgeme<strong>in</strong>en<br />

Gespräche <strong>und</strong> Begegnungen mit Menschen nicht ohne das Dabeise<strong>in</strong> mit Jesus geschehen“ lassen<br />

<strong>und</strong> verwahrt sich gegen e<strong>in</strong>e Zäsur zwischen Beratung/Therapie <strong>und</strong> dem seelsorglichen<br />

Gespräch“. 8 Folge ich dieser L<strong>in</strong>ie als Therapeut, so ist es durchaus s<strong>in</strong>nvoll, „das überkommene<br />

Hilfswissenschafts-Paradigma im Verhältnis <strong>von</strong> <strong>Seelsorge</strong> <strong>und</strong> Psychologie/Psychotherapie“<br />

aufzulösen <strong>und</strong> es „<strong>in</strong> das neue Paradigma pr<strong>in</strong>zipiell <strong>von</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> unabhängiger, aber freiwillig<br />

aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> bezogener helfen<strong>der</strong> Wissenschaften“ zu überführen. 9 Dabei sollte ganz klar se<strong>in</strong>, dass<br />

beiden Diszipl<strong>in</strong>en unterschiedliche Weltanschauungen <strong>und</strong> Menschenbil<strong>der</strong> zu Gr<strong>und</strong> liegen.<br />

Als Pastor <strong>und</strong> <strong>Seelsorge</strong>r kann ich aber an<strong>der</strong>erseits gar nicht an<strong>der</strong>s, als mit Michael Dieterich,<br />

dem Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> BTS, <strong>Seelsorge</strong> als „Überbegriff <strong>und</strong> Psychotherapie e<strong>in</strong>e Teilmenge dieser<br />

ganzheitlichen Aufgabe“ 10 zu verstehen.<br />

Ich selber sehe die Berührung <strong>von</strong> <strong>Seelsorge</strong> <strong>und</strong> Psychotherapie vor allem <strong>in</strong> dem Zusammenhang<br />

<strong>von</strong> Heil <strong>und</strong> Heilung als Beziehungsgeschehen gegeben. Durch Beziehung werden wir krank <strong>und</strong><br />

durch Beziehung wie<strong>der</strong> ges<strong>und</strong>. Es ist me<strong>in</strong>es Wissens auch Stichts Verdienst, Sünde vor allem als<br />

Beziehungsstörung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>lehre erschlossen zu haben. Neu wird <strong>der</strong> Mensch, <strong>in</strong>sofern er<br />

als Beziehungswesen <strong>in</strong> <strong>und</strong> durch die Beziehung zu Jesus Christus e<strong>in</strong>e Umwandlung erfährt. 11<br />

2.2 Verständnis <strong>von</strong> <strong>Zuspruch</strong> <strong>und</strong> <strong>Anspruch</strong> als Evangelium <strong>und</strong> Gesetz<br />

Ferner verstehe ich <strong>Zuspruch</strong> hier als <strong>Zuspruch</strong> des Evangeliums Jesu Christi. „An Christus glauben<br />

heißt nicht die historia Christi für wahr halten, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> ihm Gottes befreiendes Wort erfahren.“ 12<br />

<strong>Anspruch</strong> verstehe ich hier als <strong>Anspruch</strong> des göttlichen Gesetzes, unter den <strong>der</strong> Mensch <strong>von</strong> Gott<br />

gestellt ist. Zwar hat das Gesetz se<strong>in</strong>e Heilsbedeutung verloren, aber es ist als usus elenchticus auch<br />

für den Glaubenden e<strong>in</strong> wichtiger Spiegel. Dieses Gesetz begegnet uns nicht nur im Alten<br />

7 Hans-Mart<strong>in</strong> Barth, Gesetz <strong>und</strong> Evangelium I. Systematisch-theologisch; <strong>in</strong>: TRE 13, S. 126-142; hier S. 136.<br />

8 Friedhelm Sticht, <strong>Seelsorge</strong> – ganzheitlich, anschaulich, praxisorientiert, Gießen 1999, S. 24<br />

9 Mart<strong>in</strong>a Plieth, Die Seele wahrnehmen. Zur Geistesgeschichte des Verhältnisses <strong>von</strong> <strong>Seelsorge</strong> <strong>und</strong> Psychologie,<br />

Gött<strong>in</strong>gen 1994. – An<strong>der</strong>e Erläuterungen müssten hier folgen, seien aber aus Zeitgründen nur angedeutet: <strong>Seelsorge</strong> ist<br />

für mich „e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Ausdrucksgestalten <strong>der</strong> Kommunikation des Evangeliums <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirche“. <strong>Seelsorge</strong> ist<br />

„Lebensbegleitung <strong>und</strong> Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens“, aber auch „e<strong>in</strong> Charisma <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Aufgabe <strong>der</strong> ganzen christlichen Geme<strong>in</strong>de“ (Michael Klessmann, Pastoralpsychologie. E<strong>in</strong> Lehrbuch, Neukirchen-<br />

Vluyn 2004, S. 407).<br />

10 Michael Dieterich, E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die allgeme<strong>in</strong>e Psychotherapie <strong>und</strong> <strong>Seelsorge</strong>, Wuppertal 2001, S. 12. Holger<br />

Eschmann, Theologie <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>. Gr<strong>und</strong>lagen, Konkretionen, Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 2000, S. 18.<br />

11 Vgl. Wilfried Härle, Dogmatik, Berl<strong>in</strong> 1995, S. 502ff.<br />

12 Wilfried Joest, Dogmatik Bd. II. Der Weg Gottes mit dem Menschen, Gött<strong>in</strong>gen 2 1990, S. 492.<br />

2


Testament, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> Jesus Christus. Denn im Handeln <strong>und</strong> <strong>der</strong> Lehre Jesu sehe ich Gottes Gesetz<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er das Innerste <strong>und</strong> Ganze des Menschen treffenden Tiefe. „In Jesus Christus ist uns Gottes<br />

gebieten<strong>der</strong> Wille k<strong>und</strong>getan, zusammengefasst im Gebot <strong>der</strong> Liebe.“ 13<br />

Ich frage <strong>von</strong> <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong> herkommend nach <strong>der</strong> Relevanz <strong>der</strong> alten Formel „Gesetz<br />

<strong>und</strong> Evangelium“ <strong>und</strong> danach, ob diese großartige Formel bereits das Ganze erfaßt <strong>und</strong> nicht doch<br />

ergänzungsbedürftig ist.<br />

Es geht bei mir nicht nur um den <strong>Zuspruch</strong> des Wortes Gottes, son<strong>der</strong>n es geht darum, wie ich<br />

diesen <strong>Zuspruch</strong> im Verlaufe e<strong>in</strong>es Gesprächsprozesses o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er menschlichen Begegnung<br />

weitergeben kann.<br />

3. Beispiele für die Allgegenwärtigkeit <strong>und</strong> Aktualität <strong>der</strong> Thematik „Gesetz <strong>und</strong><br />

Evangelium“<br />

Unser Thema sche<strong>in</strong>t allgegenwärtig. So gibt es unberechtigte Ansprüche, berechtigte Ansprüche,<br />

unberechtigten <strong>Zuspruch</strong> (Bonhoeffer: „billige Gnade“) <strong>und</strong> unpassenden <strong>Zuspruch</strong>. Es gibt<br />

fragwürdige <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e Ansprüchlichkeiten. Im Folgenden möchte ich e<strong>in</strong>ige Beispiele nennen.<br />

3.1 Unberechtiger <strong>Anspruch</strong><br />

Wenn e<strong>in</strong> ursprünglicher <strong>Zuspruch</strong> des Evangeliums unter <strong>der</strong> Hand zum <strong>Anspruch</strong> wird, ist<br />

„Gefahr im Verzug“. E<strong>in</strong> solcher Fall ist me<strong>in</strong>es Erachtens gegeben, wenn die Volxbibel den „Tag,<br />

<strong>der</strong> nahe herbeigekommen ist“, <strong>in</strong>sofern „unser Heil (sotería) jetzt näher ist als zu <strong>der</strong> Zeit, da wir<br />

gläubig wurden“ (Römer 13,11-12), mit „Tag <strong>der</strong> großen Abrechnung“ wie<strong>der</strong>gibt. Die<br />

Interpretation <strong>der</strong> Volxbibel verkehrt hier die Heilsankündigung zur Unheilsankündigung.<br />

3.2 Berechtiger <strong>Anspruch</strong><br />

Ich halte es für berechtigt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gottesdienst den Zuhörern e<strong>in</strong>en Bibeltext zuzumuten, auch<br />

dann, wenn <strong>der</strong> Gottesdienst e<strong>in</strong> Gästegottesdienst ist.<br />

3.3 Unberechtigter <strong>Zuspruch</strong> ohne <strong>Anspruch</strong> („billige Gnade“)<br />

Ist bei <strong>der</strong> Losung für das Jahr 2009 das Herauslösen des Textes „Was den Menschen unmöglich<br />

ist, ist möglich bei Gott.“ aus se<strong>in</strong>em Kontext (das harte Wort Jesu: eher geht e<strong>in</strong> Kamel durchs<br />

Nadelöhr) legitim? Ich persönlich denke: Ne<strong>in</strong>! Denn sonst besteht die Gefahr, dass wir den<br />

<strong>Anspruch</strong> Jesu verharmlosen, noch bevor se<strong>in</strong>e Tragweite deutlich geworden ist.<br />

3.4 Unpassen<strong>der</strong> <strong>Zuspruch</strong><br />

Kurz vor dem E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong>s neue Geme<strong>in</strong>dezentrum habe ich mich im Januar 2009 zu Exerzitien<br />

zurückgezogen <strong>und</strong> me<strong>in</strong>er Frau als Leiter<strong>in</strong> des Bauausschusses die Arbeit überlassen. Ich habe ihr<br />

e<strong>in</strong>e Karte aus dem Kloster geschrieben: „Arbeite nicht nur, ruh Dich auch mal aus!“ Das kam nicht<br />

13 Joest, Dogmatik, S. 510.<br />

3


gut an! Me<strong>in</strong>e Frau sagte später: „Ich hatte den E<strong>in</strong>druck, die Erholung auch noch leisten zu müssen<br />

…“<br />

3.5 Fragwürdige Ansprüchlichkeit<br />

Manchmal wird e<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>tergründige Haltung deutlich, die ich e<strong>in</strong>mal Ansprüchlichkeit nennen<br />

möchte. Bei <strong>der</strong> Auswahl des Predigttextes für den ersten Gottesdienst <strong>in</strong> unserem neuen<br />

Geme<strong>in</strong>dezentrum habe ich Jesaja 66,1 ausgewählt: „Was ist denn das für e<strong>in</strong> Haus, das ihr mir<br />

bauen könntet ...“. Ich war sehr dankbar, dass mich me<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> Petra stoppte. Selbstkritisch<br />

muss ich mich fragen: Was offenbart das für e<strong>in</strong>e Haltung, wenn ich als Pastor <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de im<br />

Augenblick großer Freude kritisch werde?<br />

3.6 Ges<strong>und</strong>e Ansprüchlichkeit<br />

E<strong>in</strong>er Frau gab ich nach dem Glaubensgr<strong>und</strong>kurs e<strong>in</strong>e Jahreslosung. Sie ist e<strong>in</strong> Mensch auf dem<br />

Weg zu Christus. Die Losung regelmäßig zu lesen, den Tag mit Gebet <strong>und</strong> Bibellesung zu<br />

beg<strong>in</strong>nen, ist ja auch e<strong>in</strong> <strong>Anspruch</strong>. Fulbert Steffensky sagt dazu <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch<br />

„Schwarzbrotspiritualität“: „Es ist Arbeit (…). Meditieren, Beten, Lesen s<strong>in</strong>d Bildungsvorgänge.<br />

Bildung ist e<strong>in</strong> langfristiges Unternehmen.“ 14 Ist dieser <strong>Anspruch</strong> falsch? Ne<strong>in</strong>, es ist richtig, an<br />

e<strong>in</strong>en Menschen auf dem Weg zu Christus solche Ansprüche zu stellen. Solche Gesetzmäßigkeiten<br />

<strong>und</strong> Regeln brauchen wir. Romano Guard<strong>in</strong>i hat ferner vor vielen Jahren darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass<br />

wir Menschen für die Dauer e<strong>in</strong> „hohes Maß guter Kultur“ brauchen, weil wir nicht fortwährend<br />

begeistert se<strong>in</strong> können. 15 Dieses „hohes Maß guter Kultur“ im geistlichen Leben ist ges<strong>und</strong>e<br />

Ansprüchlichkeit.<br />

Was als <strong>Zuspruch</strong> geme<strong>in</strong>t ist, auch als <strong>Zuspruch</strong> des Evangeliums, gerät manches Mal zum<br />

<strong>Anspruch</strong>. Mancher <strong>Anspruch</strong> wie<strong>der</strong>um wird zum <strong>Zuspruch</strong> (wie die Lektüre <strong>der</strong> täglichen<br />

Losungen). Manchmal haben wir noch zu wenig Problembewusstse<strong>in</strong> dafür, warum <strong>und</strong> wie das<br />

passiert. So ist unsere Vision als B<strong>und</strong> Freier evangelischer Geme<strong>in</strong>den „hun<strong>der</strong>t Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />

zehn Jahren“ für viele <strong>von</strong> uns sicherlich e<strong>in</strong>e ganz positive <strong>und</strong> notwendige Herausfor<strong>der</strong>ung, e<strong>in</strong><br />

Ziel, das uns das Evangelium mehr o<strong>der</strong> m<strong>in</strong><strong>der</strong> vorgibt, also e<strong>in</strong> gesun<strong>der</strong> <strong>Anspruch</strong>. Für manche<br />

ist diese Vision aber auch e<strong>in</strong> <strong>Anspruch</strong>, <strong>der</strong> ohne <strong>Zuspruch</strong> belastet. So wurde für mich <strong>der</strong><br />

<strong>Zuspruch</strong> e<strong>in</strong>er Andacht im Pastorenkreis neulich zur Zumutung, weil da<strong>von</strong> die Rede war, uns<br />

müsse die ger<strong>in</strong>ge Zahl <strong>der</strong> Bekehrten pro Jahr <strong>und</strong> Tag <strong>in</strong> unserem B<strong>und</strong> schlaflos machen. Hier<br />

schien <strong>der</strong> „Burnout“ vorprogrammiert.<br />

Da es aber nicht um bloße Beispiel für den Konflikt bzw. e<strong>in</strong>e Verwechslung <strong>von</strong> Gesetz <strong>und</strong><br />

Evangelium geht, son<strong>der</strong>n um <strong>der</strong>en sachgemäße Unterscheidung <strong>und</strong> Zuordnung, möchte ich e<strong>in</strong><br />

sogenanntes Verbatim, e<strong>in</strong> Gesprächsprotokoll, untersuchen, das e<strong>in</strong>en <strong>Seelsorge</strong>prozess ansatzhaft<br />

empirisch überprüfbar macht. 16 Es soll das Verhältnis <strong>von</strong> Gesetz <strong>und</strong> Evangelium im Prozess<br />

abbilden <strong>und</strong> reflektieren.<br />

4. Verbatim: <strong>Anspruch</strong> <strong>und</strong> <strong>Zuspruch</strong> im Gesprächsprozess<br />

14 Fulbert Steffensky, Schwarzbrotspiritualität, Stuttgart 2006, S. 21.<br />

15 Romano Guard<strong>in</strong>i: Vom Geist <strong>der</strong> Liturgie, Freiburg 1953, S.39.<br />

16 Der Pastoralpsychologe Dietrich Stollberg hat diesen Ansatz des Verbatim <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>bewegung, die mit<br />

Gesprächsprotokollen arbeitet, entfaltet auf <strong>der</strong> Theorieebene mit se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition <strong>von</strong> <strong>Seelsorge</strong> als „Psychotherapie<br />

im kirchlichen Kontext“, <strong>der</strong>en Proprium die theologische Deutung ist. Vgl. Dietrich Stollberg: Wahrnehmen <strong>und</strong><br />

Annehmen. <strong>Seelsorge</strong> <strong>in</strong> Theorie <strong>und</strong> Praxis, Gütersloh 1978.<br />

4


E<strong>in</strong>e Frau sitzt mir gegenüber. Sie öffne, was sie sage, nach vielen Jahren zum ersten Mal. Mit<br />

leiser, tonloser Stimme erzählt sie, wie sie <strong>in</strong>folge langjährigen Missbrauches <strong>in</strong> früher K<strong>in</strong>dheit<br />

durch e<strong>in</strong>en Verwandten <strong>in</strong> späteren Jahren e<strong>in</strong> Doppelleben begonnen habe. Sie empf<strong>in</strong>de ihre gute<br />

bürgerliche Existenz, ihre Ehe <strong>und</strong> ihre Familie, ihr Haus <strong>und</strong> alles, was daran h<strong>in</strong>ge, als Fassade. In<br />

Wirklichkeit sei sie e<strong>in</strong> verworfenes Geschöpf, das sich selbst aufgr<strong>und</strong> ihrer Schlechtigkeit die<br />

Erlaubnis für e<strong>in</strong> ganz an<strong>der</strong>es Leben gegeben habe. Sie habe ihre äußere Fassade mühsam<br />

aufgebaut <strong>und</strong> konstruiert. Ihr wirkliches Leben kenne bislang niemand.<br />

Dann klagt sie sich an für den erlebten Missbrauch. Sie habe sich nicht gewehrt <strong>und</strong> „Situationen<br />

geschaffen, die <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e als Zustimmung auffassen konnte“. Durch die verme<strong>in</strong>tliche Liebe des<br />

Verwandten habe sie sich bestätigt <strong>und</strong> gebraucht gefühlt. Das habe sie am Leben erhalten. Sie habe<br />

„ke<strong>in</strong> Recht zu leben“! Es sei ihr unmöglich zu glauben, dass sie genauso wertvoll wie an<strong>der</strong>e<br />

Menschen sei.<br />

Ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> habe sie mit aller Liebe erzogen. Es sei ihr aber nur mit größerer <strong>in</strong>nerer Anstrengung<br />

gelungen, ihnen Vertrauen zum Leben zu vermitteln, das sie selber nicht habe.<br />

Mit Wertschätzung könne sie nicht umgehen. Und sie könne sich auch nicht fallenlassen, denn dann<br />

habe sie Angst, die Kontrolle über ihr so sorgsam konstruiertes Leben zu verlieren. Als sie vom<br />

Missbrauch spricht, meidet sie aus Scham den Blickkontakt. Sie fühle die Gefühle <strong>von</strong> damals<br />

gegenüber sich selbst, sagt sie, „Übelkeit <strong>und</strong> Abscheu“.<br />

Als ich ihr e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich zu vermitteln suche, sie sei Opfer <strong>und</strong> nicht Täter <strong>und</strong> sich als Mittäter<strong>in</strong> zu<br />

bezichtigen, entspreche <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise dem <strong>von</strong> ihr beschriebenen Sachverhalt, kann sie das<br />

offensichtlich nur schwer hören. Daraufh<strong>in</strong> erläutere ich ihr ausführlicher, es könne natürlich se<strong>in</strong>,<br />

dass e<strong>in</strong> Opfer <strong>in</strong>folge des an ihm geschehenen Unrechts an an<strong>der</strong>en Menschen zum Täter werde.<br />

Aber deshalb bleibe sie bezogen auf den Missbrauch ausschließlich Opfer. Sich <strong>der</strong> diesbezüglichen<br />

Mittäterschaft anzuklagen, sei absurd.<br />

In e<strong>in</strong>em Folgegespräch erläutert sie mir, wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Sitzung etwas ganz Großes passiert sei.<br />

Sie habe erstmals so etwas wie e<strong>in</strong> „F<strong>und</strong>ament im Leben“ gespürt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Ahnung da<strong>von</strong><br />

entwickelt, was es heiße, leben zu dürfen. Aber dann, als ich <strong>von</strong> ihrer möglichen, späteren<br />

Täterschaft im Leben gegenüber an<strong>der</strong>en Menschen gesprochen habe, habe „dieses F<strong>und</strong>ament<br />

Risse bekommen“.<br />

Dieses Feedback habe ich <strong>in</strong>nerlich zerknirscht gehört. Nach <strong>der</strong> Sitzung hatte ich mir nämlich<br />

e<strong>in</strong>en Vorwurf gemacht: „Du bist zu schnell vorgegangen, diese wun<strong>der</strong>bare Erfahrung,<br />

freigesprochen zu werden vom chronischen Vorwurf <strong>der</strong> Mitschuld am Missbrauch, hätte Zeit<br />

gebraucht zu wirken. Sie hat begonnen, das zu verstehen, aber du hast – statt <strong>in</strong>nezuhalten –<br />

weitergeredet.“<br />

In e<strong>in</strong>em weiteren Gespräch legt sie offen, dass Wertschätzung ihr gegenüber wenig Zweck habe,<br />

weil da e<strong>in</strong> unsichtbarer Staatsanwalt <strong>in</strong> ihr hocke, <strong>der</strong> alle me<strong>in</strong>e Versuche, sie zu entlasten,<br />

durchkreuze <strong>und</strong> für schuldig plädiere.<br />

Daraufh<strong>in</strong> schlage ich ihr e<strong>in</strong>e virtuelle Gerichtsverhandlung vor, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ich das Plädoyer <strong>der</strong><br />

Verteidigung übernähme. Sie willigt e<strong>in</strong>. Also halte ich e<strong>in</strong> flammendes Plädoyer, das sich darauf<br />

konzentriert, deutlich zu machen, was <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em fünfjährigen Mädchen erwartet werden kann <strong>und</strong><br />

darf <strong>und</strong> was nicht. Me<strong>in</strong> Plädoyer gipfelt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bild: „Hohes Gericht, diese Frau ist <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em<br />

an<strong>der</strong>en Auto <strong>von</strong> <strong>der</strong> Straße abgedrängt worden <strong>und</strong> hat vor dem Absturz des Wagens <strong>in</strong> die Tiefe<br />

das Fenster e<strong>in</strong>geschlagen, um sich zu retten. Jetzt kommt <strong>der</strong> Staatsanwalt <strong>und</strong> verklagt sie wegen<br />

E<strong>in</strong>schlagens <strong>der</strong> Fensterscheibe. Das ist lächerlich …“<br />

Noch während me<strong>in</strong>es Plädoyers nehme ich wahr, dass me<strong>in</strong> Gegenüber zu we<strong>in</strong>en beg<strong>in</strong>nt. Ich<br />

unterbreche die virtuelle Verhandlung <strong>und</strong> werde still; ich versuche, Kontakt aufzubauen. Die Frau<br />

schluchzt <strong>und</strong> lacht gleichzeitig. Sie habe – so sagt sie – bereits den Gerichtssaal verlassen,<br />

nachdem die Beweisführung <strong>der</strong> Anklage zusammengebrochen sei. Nun sei sie traurig über das,<br />

was da mit ihr passiert sei.<br />

5


„Können Sie denn den Freispruch annehmen“, frage ich sie? „Ne<strong>in</strong>“, sagt sie, „das war doch nur e<strong>in</strong><br />

Spiel im Gerichtssaal. Das war doch nicht real. Eben waren Sie doch nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rolle des<br />

Verteidigers.“ „Gut“, antworte ich, „dann sage ich es Ihnen als Stephan Noesser, <strong>der</strong> hier <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Poststraße wohnt, dessen Adresse Sie also kennen <strong>und</strong> den Sie <strong>in</strong>folgedessen, solange er lebt,<br />

daraufh<strong>in</strong> ansprechen dürfen [hier hole ich tief Luft, verspüre e<strong>in</strong>e Mischung aus Entschlossenheit<br />

<strong>und</strong> Angst <strong>und</strong> sage]: „Sie s<strong>in</strong>d unschuldig“!<br />

Die Wirkung me<strong>in</strong>er Worte ist ganz an<strong>der</strong>s als im Rollenspiel, im virtuellen Gerichtssaal. Sie zuckt<br />

zusammen, ihre Gesichtsmuskeln entgleiten ihr. Sie kämpft um ihre Beherrschung. Zum ersten Mal<br />

habe ich den E<strong>in</strong>druck, dass sie wirklich h<strong>in</strong>hören kann. Sie kann ihren Freispruch hören <strong>und</strong><br />

annehmen. Sie sagt, während sie we<strong>in</strong>t: „Das ist traurig-schön! Ich kann es gar nicht glauben, <strong>in</strong>nen<br />

dr<strong>in</strong> freue ich mich, es s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Riesensprünge, aber ich freue mich …“<br />

5. Vier Gründe für die Relevanz dieses Beispiels<br />

Ich habe dieses Beispiel aus verschiedenen Gründen ausgewählt:<br />

1. Es beschreibt ke<strong>in</strong>e Ausnahmesituation, son<strong>der</strong>n etwas, das <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er <strong>Seelsorge</strong>praxis – <strong>und</strong> zwar<br />

<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er psychotherapeutischen Praxis genauso wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>deseelsorge – <strong>in</strong> verschiedenen<br />

Varianten immer wie<strong>der</strong>kehrt: <strong>in</strong>nere, anklagende Stimmen, denen Menschen ausgeliefert s<strong>in</strong>d <strong>und</strong><br />

die nicht nur typisch für Erfahrungen <strong>von</strong> Missbrauch s<strong>in</strong>d! Das Beispiel beschreibt auch die<br />

Unfähigkeit vieler Menschen, Wertschätzung bzw. e<strong>in</strong>en <strong>Zuspruch</strong> überhaupt annehmen zu können<br />

sowie die Schwierigkeit, e<strong>in</strong> Ja zum eigenen Leben zu erlangen, wenn für diese Selbstbejahung<br />

jedes F<strong>und</strong>ament fehlt. Es ist me<strong>in</strong>es Erachtens lei<strong>der</strong> ke<strong>in</strong> extremes Beispiel, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> mancherlei<br />

H<strong>in</strong>sicht sogar e<strong>in</strong> typisches Beispiel.<br />

2. Es ist e<strong>in</strong> Beispiel für <strong>Seelsorge</strong> als Lebenshilfe (im S<strong>in</strong>ne Friedhelm Stichts).<br />

3. Es beschreibt im Unterschied zum <strong>Zuspruch</strong> <strong>der</strong> Predigt anschaulich das Spezifische <strong>der</strong><br />

seelsorglichen Situation: Wir dürfen Fehler machen, sogar fatale Fehler, wie ich sie <strong>in</strong> diesem<br />

Beispiel gemacht habe, die aber – im Gegensatz zu fatalen Predigtfehlern – im Gesprächsprozess<br />

allesamt korrigierbar s<strong>in</strong>d, sofern wir als <strong>Seelsorge</strong>r e<strong>in</strong>e emotionale Kompetenz erlangen,<br />

fe<strong>in</strong>fühlig auf den Prozess hören <strong>und</strong> e<strong>in</strong> stabiles Vertrauensverhältnis zu demjenigen aufbauen<br />

konnten, <strong>der</strong> unseren Beistand sucht. Ansprüchlichkeiten <strong>und</strong> falsche Ansprüche können dann<br />

„entgöttert“ werden.<br />

4. Das Beispiel hilft uns bei dem Versuch, die Bedeutung <strong>der</strong> Formel „Gesetz <strong>und</strong> Evangelium“ für<br />

heute zu verstehen <strong>und</strong> das Verhältnis <strong>von</strong> <strong>Anspruch</strong> <strong>und</strong> <strong>Zuspruch</strong> im Gesprächsprozess zu<br />

reflektieren.<br />

6. Auswertung des Beispiels für unser Thema<br />

Ich möchte nun e<strong>in</strong>ige Fragen formulieren, die sich aus dieser Erfahrung für mich <strong>und</strong> hoffentlich<br />

für uns alle ergeben:<br />

6.1 Fragen nach <strong>der</strong> Sachgemäßheit des Beispiels für unser Thema<br />

6.1.1 Kommt <strong>in</strong> unserem Beispiel das Evangelium <strong>von</strong> Jesus Christus überhaupt zum Tragen?<br />

Wor<strong>in</strong> besteht <strong>der</strong> Unterschied zwischen dem (bloß) menschlichen <strong>Zuspruch</strong> <strong>und</strong> dem <strong>Zuspruch</strong> des<br />

Evangeliums <strong>von</strong> Jesus Christus?<br />

6


Zunächst sche<strong>in</strong>t das Beispiel nicht sachgemäß zu se<strong>in</strong>, denn me<strong>in</strong> <strong>Zuspruch</strong> ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat ke<strong>in</strong><br />

<strong>Zuspruch</strong> des Evangeliums im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Formel <strong>von</strong> „Gesetz <strong>und</strong> Evangelium“. Der Freispruch ist<br />

ke<strong>in</strong>e Absolution, ke<strong>in</strong>e Sündenvergebung! Das Beispiel bleibt im Bereich des 1. Artikels. Hier geht<br />

es zunächst um menschlichen <strong>Zuspruch</strong>, um die Erlangung des Lebensrechtes für e<strong>in</strong>en Menschen<br />

als Geschöpf Gottes. Me<strong>in</strong> <strong>Zuspruch</strong> berührt die Schöpfungsordnung, nicht die Heilsordnung<br />

Gottes.<br />

In dem <strong>von</strong> mir ausgewählten Beispiel wird e<strong>in</strong> Mensch <strong>von</strong> richterlichen Instanzen gequält, die<br />

se<strong>in</strong>e Verurteilung betreiben, <strong>und</strong> das nicht erst seit gestern, son<strong>der</strong>n schon e<strong>in</strong> Leben lang. Nach<br />

dem Gespräch, <strong>in</strong> dem die Frau ihre Situation mir gegenüber öffnet, empf<strong>in</strong>det sie sich als nicht<br />

gleichwertig <strong>und</strong> als so „verrucht“, dass sie sich nach e<strong>in</strong>em unserer Gespräche schämte, mir noch<br />

die Hand zu geben. Denn ich sei ja schließlich „Pastor“ <strong>und</strong> sie e<strong>in</strong> „verworfenes Subjekt“.<br />

Die Frau hatte, vorsichtig ausgedrückt, nur e<strong>in</strong> begrenztes Lebensrecht. Sie kam zu mir <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e<br />

psychotherapeutische Praxis, nachdem sie mich im ökumenischen Kontext <strong>der</strong> Stadt kennengelernt<br />

hatte. Sie wusste, dass ich „Pastor“ war. In diesem Falle verläuft unser Gesprächskontakt vor dem<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es Deutehorizontes, <strong>der</strong> spezifisch christlich ist. Wolfgang Drechsel, Praktischer<br />

Theologe <strong>in</strong> Heidelberg, bezeichnet diesen Horizont als „Du <strong>und</strong> ich <strong>und</strong> unsere Wirklichkeit vor<br />

Gott“. Dieser Rahmen ist präsent, so Drechsel, „auch wenn im ganzen Gespräch ke<strong>in</strong> Wort<br />

religiöser Sprache gesprochen wird“ 17 .<br />

Sie erlebt ferner diesen christlichen Rahmen – sofern ich ihn selber als realen Horizont des<br />

Gespräches bewusst akzeptiere <strong>und</strong> mit e<strong>in</strong>beziehe – als e<strong>in</strong>e Würdigung ihrer Person. 18 Sie erlebt<br />

sich <strong>in</strong> unserer Begegnung – da sie e<strong>in</strong>en religiösen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> hat <strong>und</strong> die Wirklichkeit Gottes ihr<br />

etwas bedeutet – auch <strong>von</strong> Gott her als gewollt <strong>und</strong> angenommen, wenn sie erfährt: Hier me<strong>in</strong>t man<br />

es gut mit mir.<br />

Gottes <strong>Zuspruch</strong> ist für alle Menschen vorausgehen<strong>der</strong> <strong>Zuspruch</strong>! Es gibt ke<strong>in</strong>en größeren <strong>Zuspruch</strong><br />

als die Erfahrung <strong>der</strong> Annahme ohne Bed<strong>in</strong>gungen. Anschaulich wird diese Erfahrung im Handeln<br />

Jesu an dem Kollaborateur <strong>und</strong> Zöllner Zachäus (Lk 19,1-10), <strong>der</strong> sich <strong>von</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

ausgestoßen <strong>und</strong> m<strong>in</strong><strong>der</strong>wertig fühlte. Auch gegenüber <strong>der</strong> Ehebrecher<strong>in</strong> handelt Jesus, <strong>in</strong>dem er sie<br />

vor denen schützt, die sie verurteilen, um ihr erst dann zu sagen: „Sündige <strong>von</strong> nun an nicht mehr“<br />

(Joh 8,1-11).<br />

So wie Jesus sich ganz mit <strong>der</strong> durch <strong>und</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Handeln anbrechenden basileia tou theou<br />

(Königsherrschaft Gottes) identifiziert, b<strong>in</strong> auch ich <strong>in</strong> diesem Moment ganz mit dem <strong>Anspruch</strong> des<br />

Gottesreiches <strong>und</strong> dem <strong>Anspruch</strong> Jesu identifiziert, die Gefangenen freizulassen <strong>und</strong> den Armen die<br />

Frohe Botschaft zu verkündigen (Lk 4,16-21; vgl. Jes 61,1-2). Aber ist diese Annahme des Sün<strong>der</strong>s<br />

schon se<strong>in</strong>e Rechtfertigung? Können wir bei dem <strong>von</strong> mir angeführten Beispiel dem zustimmen,<br />

was Wolfgang Drechsel sagt?<br />

„Solch e<strong>in</strong>e Würdigung des <strong>Seelsorge</strong>partners, <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>partner<strong>in</strong> ohne Vorleistung,<br />

ohne gestellte Bed<strong>in</strong>gung <strong>und</strong> ohne Verpflichtung <strong>und</strong> um se<strong>in</strong>er selbst willen erhält<br />

durch den Rahmen <strong>Seelsorge</strong> e<strong>in</strong>e Dimension, die eben nicht durch den <strong>Seelsorge</strong>r, die<br />

<strong>Seelsorge</strong>r<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geholt werden kann <strong>und</strong> e<strong>in</strong>geholt werden muss: Durch alle<br />

persönlichen Unzulänglichkeiten des <strong>Seelsorge</strong>rs h<strong>in</strong>durch kann sich so etwas wie e<strong>in</strong>e<br />

Perspektive auf den rechtfertigenden Gott h<strong>in</strong> eröffnen.“ 19<br />

Me<strong>in</strong>e Antwort ist hier: Ne<strong>in</strong>! Denn <strong>der</strong> Rahmen <strong>und</strong> die Voraussetzungen, unter <strong>der</strong> die Frau zu<br />

mir kam, legitimieren es nicht zu sagen, dass die Frau zur <strong>Seelsorge</strong> zu mir kam. Deshalb kann sich<br />

17 Wolfgang Drechsel, Zwischen <strong>Zuspruch</strong>, <strong>Anspruch</strong> <strong>und</strong> E<strong>in</strong>spruch. Zur Frage nach e<strong>in</strong>er <strong>Seelsorge</strong> <strong>von</strong> übermorgen;<br />

<strong>in</strong>: Transformationen. Pastoralpsychologische Werkstattberichte, 4. Jg., Heft 4, 2004, S. 8.<br />

18 Ob durch e<strong>in</strong>e solche Würdigung im seelsorglichen Rahmen aber schon e<strong>in</strong>e „theologische Gr<strong>und</strong>legung im S<strong>in</strong>ne<br />

des <strong>Zuspruch</strong>s <strong>der</strong> rechtfertigenden Gnade Gottes zum Ausdruck kommen kann“ (Drechsel, <strong>Zuspruch</strong>, S. 10), wage ich<br />

zu bezweifeln.<br />

19 Drechsel, <strong>Zuspruch</strong>, S. 10.<br />

7


me<strong>in</strong>es Erachtens ke<strong>in</strong>e Perspektive auf den rechtfertigenden Gott öffnen. Das Gespräch verläuft<br />

zwar vor e<strong>in</strong>em (im weiteren S<strong>in</strong>ne) christlichen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>, weil ich Pastor b<strong>in</strong>. Aber die Frau<br />

suchte ke<strong>in</strong>e Begegnung mit Gott, son<strong>der</strong>n gezielt psychotherapeutische Lebenshilfe. Dennoch<br />

frage ich: Wäre dieses Gespräch e<strong>in</strong> ausdrücklich seelsorgerliches gewesen, wäre es dann legitim,<br />

<strong>in</strong> dem berichteten <strong>Zuspruch</strong> auch e<strong>in</strong> <strong>Zuspruch</strong> des Evangeliums zu sehen?<br />

6.1.2 Woher nehme ich die Vollmacht zum Freispruch?<br />

Die Vollmacht (Autorität) zum Freispruch kommt <strong>von</strong> me<strong>in</strong>em Heilungsauftrag, <strong>der</strong> durch me<strong>in</strong>e<br />

Zulassung als psychotherapeutischer Heilpraktiker gedeckt ist. Es ist legitim, me<strong>in</strong>er Klient<strong>in</strong> den<br />

Freispruch une<strong>in</strong>geschränkt, ohne Bed<strong>in</strong>gung zuzusprechen, da es sich hier um unangemessene<br />

Schuldgefühle handelt, ihre verme<strong>in</strong>tliche Schuld also bei ihr auf e<strong>in</strong>em Missverständnis beruht.<br />

Weil ich mit me<strong>in</strong>er ganzen Überzeugungskraft <strong>und</strong> Rolle h<strong>in</strong>ter diesem Freispruch stehe, zeigt er<br />

Wirkung. Aber natürlich steht für mich das Handeln Jesu, se<strong>in</strong> Kampf mit den Mächten dieser Welt,<br />

die den Menschen verklagen, im H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>. Der Ankläger o<strong>der</strong> Staatsanwalt, <strong>der</strong> me<strong>in</strong>e Klient<strong>in</strong><br />

verklagt, hat für mich ohne Zweifel e<strong>in</strong>en diabolischen Charakter: Er ist <strong>der</strong> Verkläger! Deshalb<br />

steht für mich <strong>in</strong> diesem Moment h<strong>in</strong>ter me<strong>in</strong>em <strong>Zuspruch</strong> sehr wohl auch die Vollmacht <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Auftrag Jesu Christi, auch wenn ich das <strong>in</strong> dieser Situation <strong>der</strong> Frau gegenüber noch nicht öffne.<br />

6.2 Was sagt dieses Beispiel aus über das Verhältnis <strong>von</strong> <strong>Zuspruch</strong> <strong>und</strong> <strong>Anspruch</strong> im<br />

S<strong>in</strong>ne <strong>von</strong> Gesetz <strong>und</strong> Evangelium?<br />

Die Frau hat zunächst e<strong>in</strong> „traumatisches Schuldgefühl“ 20 , wie es bei Missbrauchsopfern gerade im<br />

familiären Kontext oft begegnet 21 . Dann beschuldigt sie sich, e<strong>in</strong> Doppelleben geführt zu haben.<br />

Das ist ke<strong>in</strong> Produkt ihrer Fantasie, son<strong>der</strong>n – wie ich mich durch vorsichtige Andeutungen<br />

überzeugen kann – tatsächlich e<strong>in</strong> Teil ihres Lebens gewesen. Sie hält ihren Lebensentwurf selber –<br />

aus Sicht des Teils, den sie zur bürgerlichen Fassade erklärt – für moralisch verwerflich.<br />

An<strong>der</strong>erseits bestätigt <strong>und</strong> bestärkt sie dieser Lebensentwurf auch <strong>in</strong> dem, was mit ihr als K<strong>in</strong>d<br />

bereits passiert ist: Der Zugang zum Leben <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en war ihr verwehrt. Sie wurde<br />

zurückgestoßen, verworfen. Sie erlebt sich als Ausgestoßene, die dieses Ausgestoßense<strong>in</strong> als ihre<br />

Identität akzeptierten lernen musste. An<strong>der</strong>erseits lieferte ihr die Erfahrung des Verworfense<strong>in</strong>s die<br />

Legitimation, sich all das, was sie für ihr Leben als Bestätigung, Wertschätzung <strong>und</strong> Liebe brauchte,<br />

<strong>in</strong> ihrer bürgerlichen Existenz aber nicht bekam, <strong>in</strong> außerehelichen Beziehungen zu holen.<br />

Aufgr<strong>und</strong> me<strong>in</strong>er langjährigen Begleitung <strong>von</strong> Missbrauchsopfern war mir dieser Zusammenhang<br />

sofort e<strong>in</strong>sichtig. 22 Dieser Mensch gehört zwar zur evangelischen Kirche, ist konfirmiert <strong>und</strong> hat<br />

sogar Kontakt zum Pfarrer. Dennoch hat ihn <strong>der</strong> <strong>Zuspruch</strong> des Evangeliums nie erreicht,<br />

geschweige denn e<strong>in</strong>e Befreiung vom „traumatischen Schuldgefühl“ 23 .<br />

20 Von <strong>der</strong> Kategorie des „traumatischen Schuldgefühls“ spricht explizit Matthias Hirsch <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s., Schuld <strong>und</strong><br />

Schuldgefühle. Zur Psychoanalyse <strong>von</strong> Trauma <strong>und</strong> Introjekt, Gött<strong>in</strong>gen 2 1999; vgl. dazu auch Eschmann, Theologie<br />

<strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>, S. 172-174. Doch die Unterscheidung <strong>von</strong> Schuld <strong>und</strong> Schuldgefühl bzw. adäquaten <strong>und</strong> neurotischen<br />

Schuldgefühlen ist – Gott sei Dank – <strong>in</strong> den heutigen <strong>Seelsorge</strong>lehren gängig. Vgl. Eschmann, Theologie <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>,<br />

S. 152-190; Klessmann, Pastoralpsychologie, S. 597-628; Wybe Zijlstra, Handbuch zur <strong>Seelsorge</strong>ausbildung, Gütersloh<br />

1993, S. 97; Eberhardt, <strong>Seelsorge</strong>-Theologie, S. 192.<br />

21 Vgl. Eschmann, Theologie <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>, S. 174.<br />

22 Me<strong>in</strong>e Erfahrung bestätigt, was Sab<strong>in</strong>e Bobert als Kernsatz <strong>in</strong> ihrem Artikel über „Trauma <strong>und</strong> Schuld“ formuliert:<br />

„Aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Langzeitfolgen werden viele Betroffene gesellschaftlichen, eigenen <strong>und</strong> religiösen Normen nicht mehr<br />

gerecht (sek<strong>und</strong>äre Schuldfel<strong>der</strong>)“. Vgl. Sab<strong>in</strong>e Bobert, Trauma <strong>und</strong> Schuld: Frem<strong>der</strong> Schuld geopfert se<strong>in</strong>; <strong>in</strong>: Wege<br />

zum Menschen 56, Gött<strong>in</strong>gen 2004, S. 421.<br />

23 E<strong>in</strong>e entsprechende Erfahrung lässt den praktischen Theologen <strong>und</strong> Pfarrer Joachim Scharfenberg zum<br />

Psychoanalytiker werden. E<strong>in</strong>e Frau sagte ihm, „ihre Schuldgefühle seien ke<strong>in</strong>eswegs behoben, sie sei aber auch schon<br />

8


Ich bef<strong>in</strong>de mich während des beschriebenen Gesprächsprozesses <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zwickmühle. Ich spüre,<br />

was unweigerlich kommen muss. Durch me<strong>in</strong>en Versuch, die Frau <strong>von</strong> dem <strong>in</strong>folge des<br />

Missbrauchs belastenden Schuldgefühl zu entlasten, kommt sie „vom Regen <strong>in</strong> die Traufe“. Denn<br />

im Lichte des Freispruches bekommt sie sofort e<strong>in</strong> Problem mit ihrem Doppelleben, das sie vor sich<br />

selbst als verworfenes Geschöpf bislang legitimieren <strong>und</strong> tragen konnte. Aber nun, auf dem Weg<br />

o<strong>der</strong> bereits zurückgekehrt <strong>in</strong> das bürgerliche Leben, mit Lebens- <strong>und</strong> Bürgerrecht versehen, kann<br />

sie ihr Schuldigwerden, ihre Täterschaft an an<strong>der</strong>en im Rahmen ihres „Doppellebens“ nicht mehr<br />

legitimieren. Das neue Schuldgefühl sche<strong>in</strong>t nicht mehr neurotisch, son<strong>der</strong>n adäquat zu se<strong>in</strong>. Ihre<br />

gr<strong>und</strong>legende Entlastung an <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Stelle bewirkt also sofort <strong>und</strong> unweigerlich e<strong>in</strong>e neue,<br />

f<strong>und</strong>amentale Belastung an e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Stelle. Zugespitzt: Sie bekennt sich im Moment des<br />

Freispruchs <strong>von</strong> <strong>der</strong> Mittäterschaft, im jähen Erkennen, dass sie unschuldiges Opfer <strong>und</strong> nicht<br />

„verworfen“ ist, an an<strong>der</strong>er Stelle schuldig.<br />

Me<strong>in</strong>e Gesprächspartner<strong>in</strong> äußert das auch, gibt mir, noch bevor sie den Freispruch <strong>von</strong> <strong>der</strong> Schuld<br />

hören kann (also noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phase des Ahnens e<strong>in</strong>er solchen Möglichkeit!), mehrere Signale, dass<br />

sie dann für ihr Doppelleben ke<strong>in</strong>e Entschuldigung mehr habe <strong>und</strong> <strong>in</strong>folgedessen die Verantwortung<br />

für ihre Taten übernehmen müsse. Sie spürt also hier e<strong>in</strong>en <strong>Anspruch</strong> <strong>in</strong> ihrem Gewissen <strong>und</strong> weiß,<br />

dass sie <strong>in</strong>folge des Missbrauchs selber zur Täter<strong>in</strong> wurde. Diese Ahnung, dass sie jetzt an ganz<br />

an<strong>der</strong>er Stelle schuldig ist, führt sogar zu e<strong>in</strong>er Verzögerung unseres Gesprächsprozesses, mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten: Sie weicht immer wie<strong>der</strong> aus <strong>und</strong> fragt sich an<strong>der</strong>erseits, warum sie ausweicht.<br />

Was bedeutet das für unsere Fragestellung? Der <strong>Zuspruch</strong> <strong>der</strong> bed<strong>in</strong>gungslosen Annahme <strong>in</strong><br />

unserem Beispiel führt zwar <strong>in</strong> diesem Falle sofort zum <strong>Anspruch</strong> – genau wie bei Zachäus –, aber<br />

er selber ist deshalb ke<strong>in</strong> <strong>Anspruch</strong>. Me<strong>in</strong>e Gesprächspartner<strong>in</strong> kann sich nicht mehr e<strong>in</strong>verstanden<br />

erklären mit ihrer destruktiven <strong>und</strong> zwielichtigen Lebensform. Sie sucht sofort nach e<strong>in</strong>er neuen,<br />

aufrichtigen Lebensform. E<strong>in</strong> gesun<strong>der</strong> Impuls! 24 Sie hat jetzt e<strong>in</strong>en neuen <strong>Anspruch</strong>, <strong>der</strong> ausgelöst<br />

durch den <strong>Zuspruch</strong> <strong>von</strong> <strong>in</strong>nen heraus da ist. Ich muss ihr nicht erst mit dem Gesetz kommen. Der<br />

<strong>Anspruch</strong> entsteht <strong>in</strong> ihr selber, nachdem <strong>und</strong> weil sie <strong>Zuspruch</strong> <strong>und</strong> Annahme erlebt hat.<br />

Ab e<strong>in</strong>em gewissen Punkt <strong>in</strong> unserem Gespräch verstand ich ihr Dilemma. Aber was sollte ich tun?<br />

Sie me<strong>in</strong>te, als verworfenes Subjekt mit Doppelleben ke<strong>in</strong> Lebensrecht zu haben. Indem ich aber<br />

nun ihren <strong>in</strong>neren Zwiespalt aufgriff <strong>und</strong> e<strong>in</strong>räumte, dass auch Opfer an an<strong>der</strong>er Stelle zu Tätern<br />

werden können, verstärkte ich damit (re<strong>in</strong> quantitativ) die kritischen Instanzen <strong>in</strong> ihr <strong>der</strong>art, dass<br />

<strong>in</strong>folgedessen <strong>der</strong> sich bereits anbahnende Freispruch verblasste <strong>und</strong> wirkungslos wurde. Sie<br />

wie<strong>der</strong>um beschrieb diesen Gesprächsabschnitt später mit e<strong>in</strong>em „F<strong>und</strong>ament, das Risse bekommen<br />

habe“. In dieser Phase des Gespräches war ich zum Gesetzesprediger geworden.<br />

Ich habe ihr also e<strong>in</strong>erseits das Recht auf e<strong>in</strong> neues Leben im <strong>Zuspruch</strong> <strong>und</strong> Freispruch eröffnet <strong>und</strong><br />

es ihr an<strong>der</strong>erseits durch die Betonung e<strong>in</strong>es damit zusammenhängenden <strong>Anspruch</strong>s gleichzeitig<br />

wie<strong>der</strong> entzogen. Ich erlebte e<strong>in</strong> erschreckendes, anschauliches Beispiel, wie <strong>in</strong> die Zelle e<strong>in</strong>es<br />

Gefangenen das Licht des Freispruches dr<strong>in</strong>gt, dieses Licht aber gleichzeitig auch Schatten wirft<br />

<strong>und</strong> zum Schuldspruch an an<strong>der</strong>er Stelle wird. Denn <strong>der</strong> Freispruch ist noch ke<strong>in</strong> eschatologischer<br />

Freispruch, ke<strong>in</strong> <strong>Zuspruch</strong> <strong>der</strong> Rechtfertigung <strong>in</strong> Jesus Christus. Vom Freispruch <strong>von</strong> Schuld <strong>und</strong><br />

Sünde war hier noch gar nicht die Rede.<br />

Was nun bedeutet das?<br />

7. Fazit: Evangelium <strong>und</strong> Gesetz als <strong>Zuspruch</strong> <strong>und</strong> <strong>Anspruch</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong><br />

Wenn ich me<strong>in</strong> Beispiel vom Freispruch zu systematisieren versuche, so möchte ich behaupten: Die<br />

traditionelle Formel „Gesetz <strong>und</strong> Evangelium“ ist me<strong>in</strong>es Erachtens tatsächlich auch systematisch<br />

bei dreißig Pastoren zur Beichte gewesen, <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>er habe ihr helfen können.“ „Da beschloss ich“, so Scharfenberg<br />

selber, „Psychoanalytiker zu werden“ (E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Pastoralpsychologie, Gött<strong>in</strong>gen 2 1990, S. 15).<br />

24 Mit dem Zu- <strong>und</strong> Freispruch wird nach Mart<strong>in</strong> Buber sofort das Neue hervorgeholt. Vgl. Mart<strong>in</strong> Buber, Nachlese,<br />

Gerl<strong>in</strong>gen 3 1993, S. 168.<br />

9


ergänzungsbedürftig. Wie die Erfahrung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong> zeigt (me<strong>in</strong> Beispiel könnte auch genauso<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausdrücklich seelsorglichen Kontext stattf<strong>in</strong>den), muss sie heute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nachchristlichen<br />

Gesellschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich Menschen nicht mehr selbstverständlich unter dem <strong>Anspruch</strong> des<br />

göttlichen Gesetzes stehend erleben, ergänzt werden. Heute greift also we<strong>der</strong> die Formel „Gesetz<br />

<strong>und</strong> Evangelium“ wie bei Mart<strong>in</strong> Luther noch die Formel „Evangelium <strong>und</strong> Gesetz“ wie bei Karl<br />

Barth. Denn im Falle e<strong>in</strong>es Menschen, <strong>der</strong> für sich gar ke<strong>in</strong> Lebensrecht hat, ergibt es wenig S<strong>in</strong>n,<br />

Gesetz zu predigen, bevor er sich nicht angenommen <strong>und</strong> geliebt weiß. Genauso wenig aber ergibt<br />

es S<strong>in</strong>n, das Evangelium als eschatologischen Freispruch als Rechtfertigung des Sün<strong>der</strong>s aus Gnade<br />

zu verkündigen, wo noch überhaupt ke<strong>in</strong>e Schul<strong>der</strong>kenntnis da ist. Die Formel muss me<strong>in</strong>er<br />

Me<strong>in</strong>ung nach deshalb heute lauten: „Annahme (des Menschen), Gesetz <strong>und</strong> Evangelium“.<br />

8. Nachtrag (Gespräch <strong>und</strong> E-Mail-Austausch mit Wilfried Härle)<br />

Am Ende me<strong>in</strong>es hier abgedruckten Vortrags berichtete ich me<strong>in</strong>en Zuhörern <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Gespräch<br />

mit Professor Wilfried Härle, ebenfalls Referent während <strong>der</strong> Theologischen Woche, über die<br />

Frage, ob die traditionelle Formel <strong>von</strong> „Gesetz <strong>und</strong> Evangelium“ nicht doch heutzutage<br />

ergänzungsbedürftig sei. Ich versprach me<strong>in</strong>en Zuhörern, dieses Gespräch fortzuführen <strong>und</strong> das<br />

Ergebnis mitzuteilen.<br />

Folglich schickte ich Wilfried Härle me<strong>in</strong>en Vortrag mit <strong>der</strong> Bitte, anhand me<strong>in</strong>es geschil<strong>der</strong>ten<br />

Beispiels etwas differenzierter Stellung zu nehmen zur Frage <strong>der</strong> Ergänzungsbedürftigkeit dieser<br />

alten Formel. In dem daraufh<strong>in</strong> folgenden, längeren E-Mail-Austausch hat Professor Härle unter<br />

Vorbehalt dazu die Auffassung vertreten: „Die Ergänzungsbedürftigkeit <strong>der</strong> Formel sehe ich (noch)<br />

nicht. Aber ich überlege seit unserem kurzen Gespräch <strong>in</strong> Ewersbach, ob nicht bei <strong>der</strong> ganzen<br />

Kommunikation mittels Gesetz <strong>und</strong> Evangelium schon e<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>form <strong>von</strong> Anerkennung <strong>und</strong><br />

Annahme vorauszusetzen ist, die sich dar<strong>in</strong> zeigt, dass es überhaupt zu dieser Kommunikation (mit<br />

retten<strong>der</strong>, vergeben<strong>der</strong> Intention) kommt. Ich b<strong>in</strong> mir da aber nicht sicher. Mir sche<strong>in</strong>t, die<br />

paul<strong>in</strong>ische E<strong>in</strong>sicht, dass das Gesetz <strong>von</strong> Gott zum Leben gegeben ist, reicht dafür aus.“<br />

Literatur: Hans-Mart<strong>in</strong> Barth, Gesetz <strong>und</strong> Evangelium I. Systematisch-theologisch, <strong>in</strong>: TRE 13, S. 126-142; Sab<strong>in</strong>e<br />

Bobert, Trauma <strong>und</strong> Schuld: Frem<strong>der</strong> Schuld geopfert se<strong>in</strong>, <strong>in</strong>: Wege zum Menschen, 56.Jg., Vandenhoeck & Ruprecht<br />

2004, S. 421-435; Mart<strong>in</strong> Buber, Nachlese, Gerl<strong>in</strong>gen (3) 1993; Michael Dieterich, E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die allgeme<strong>in</strong>e<br />

Psychotherapie <strong>und</strong> <strong>Seelsorge</strong>, Wuppertal 2001; Wolfgang Drechsel, Zwischen <strong>Zuspruch</strong>, <strong>Anspruch</strong> <strong>und</strong> E<strong>in</strong>spruch.<br />

Zur Frage nach e<strong>in</strong>er <strong>Seelsorge</strong> <strong>von</strong> übermorgen, <strong>in</strong>: Transformationen. Pastoralpsychologische Werkstattberichte, 4. Jg.<br />

Heft 4, 4.12.2004, S. 3-24; Hermann Eberhardt, Praktische <strong>Seelsorge</strong>-theologie. Entwurf e<strong>in</strong>er <strong>Seelsorge</strong>lehre im<br />

Horizont <strong>von</strong> Bibel <strong>und</strong> Erfahrung, Bielefeld 1993, S. 148.170; Holger Eschmann, Theologie <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>.<br />

Gr<strong>und</strong>lagen, Konkretionen, Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 2000; Wilfried Härle, Dogmatik, Berl<strong>in</strong> 1995; Matthias<br />

Hirsch, Schuld <strong>und</strong> Schuldgefühle. Zur Psychoanalyse <strong>von</strong> Trauma <strong>und</strong> Introjekt, Gött<strong>in</strong>gen (2) 1999; A.J. Jacobs, Die<br />

Bibel & Ich. Von e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> auszog, das Buch <strong>der</strong> Bücher wortwörtlich zu nehmen, Berl<strong>in</strong> (Ullste<strong>in</strong>) 2008; Wilfried<br />

Joest, Dogmatik Bd.2. Der Weg Gottes mit dem Menschen, Gött<strong>in</strong>gen (2) 1990; Michael Klessmann,<br />

Pastoralpsychologie. E<strong>in</strong> Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2004; Mart<strong>in</strong>a Plieth, Die Seele wahrnehmen. Zur<br />

Geistesgeschichte des Verhältnisses <strong>von</strong> <strong>Seelsorge</strong> <strong>und</strong> Psychologie, Gött<strong>in</strong>gen 1994; He<strong>in</strong>z Scheible, Die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Unterscheidung <strong>von</strong> Gesetz <strong>und</strong> Evangelium für die theologische Ethik <strong>und</strong> Praktische Theologie am Beispiel<br />

Melanchthons, <strong>in</strong>: Gräb, Rau, Schmidt, Van <strong>der</strong> Ven (Hrsg.): Christentum <strong>und</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler<br />

Diskurs über Praktische Theologie <strong>und</strong> Ethik, Köln 2000; Friedhelm Sticht, <strong>Seelsorge</strong> – ganzheitlich, anschaulich,<br />

praxisorientiert, Gießen 1999; Otto Weber, Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> Dogmatik, 2. Bd., Neukirchen (7) 1987; Klaus W<strong>in</strong>kler,<br />

<strong>Seelsorge</strong>, Berl<strong>in</strong> (2) 2000; Wybe Zijlstra: Handbuch zur <strong>Seelsorge</strong>ausbildung, Gütersloh 1993<br />

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