Hermann Grollmann
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<strong>Hermann</strong> <strong>Grollmann</strong><br />
„Der Wert der Musikerziehung in der Schule – neueste Forschungen und Erkenntnisse“<br />
Wir können alle 5000 Sprachen der Welt lernen. Auch ein Chinese kann ein „R“ sprechen,<br />
wenn er ein „R“ vorgemacht bekommt und hier aufwächst. In seinem chinesischen Umfeld<br />
wird dies aber nicht gebraucht und so werden die entsprechenden Synapsen im Gehirn nicht<br />
ausgebaut. Wie und was wir lernen, hängt also ganz wesentlich von den Anregungen und<br />
Vorbildern ab. Wir lernen durch Vormachen und Nachahmen, durch Versuch und Irrtum.<br />
Bekommen wir keine musikalischen oder kreativen Anregungen, werden die entsprechenden<br />
„Anlagen“ nicht ausgebildet. Ein weiteres Beispiel sind die mehr als ein Dutzend<br />
verschiedenen „a“-Schattierungen, die die Skandinavier „heraushören“ können und<br />
die eine Folge „früher Prägung des akustischen Unterscheidungsvermögens“ darstellen (BZ S.<br />
89).<br />
Man weiß heute: „Babys kommen mit allen Nervenzellen ausgerüstet auf die Welt, ihnen<br />
fehlen jedoch die neuronalen Netzwerke, die mit den Leistungen der Großhirnrinde zu tun<br />
haben, also die für die kognitiven Strukturen. Die Verschaltung der Nervenzellen ist im ersten<br />
Lebensjahr rasant – es werden weit mehr Synapsen gebildet, als je gebraucht werden,<br />
sozusagen für alle Eventualfälle, in die ein Kind hineingeboren werden kann. Nicht genutzte,<br />
also nicht benötigte Verbindungen werden wieder eingeschmolzen, unwiderruflich. Dieser<br />
Prozess findet in zwei Entwicklungsschüben statt und wird mit der Pubertät abgeschlossen. Es<br />
bleiben die Nervenverbindungen, die „gelernt“ haben, dass sie gebraucht werden; ihre<br />
Bestätigung ist also abhängig von den mit ihnen verbundenen Aktivitäten.“ (BZ S.157)<br />
Unser Gehirn arbeitet also so, dass es sich nur dort weiterentwickelt, wo Anregungen und<br />
Impulse eingehen und nur dort werden weitere Synapsen ausgebildet oder ausgebaut. Wo<br />
keine Anregungen und Impulse eingehen, baut das Gehirn nicht weiter, ja es kann sogar<br />
zurückbauen: Das Aufwachsen mit asiatischen Sprachen führt z.B. „zu<br />
Verschaltungsänderungen“, die bestimmte „Phonemkategorien zum Verschmelzen bringen“<br />
(BZ 89).<br />
Zwei wichtige Entwicklungsphasen – offene Fenster<br />
Die neuesten neurologischen Forschungen machen hier zwei wichtige Entwicklungsphasen<br />
aus: die Baby- und Kindergarten- und die Pubertätsphase. In diesen Phasen ist es besonders<br />
wichtig, Anregungen und Impulse zu bekommen und die Entwicklungschancen zu nutzen.<br />
Die Neurobiologie spricht hier von Fenstern, die für eine Weile offen sind, und spezifisches<br />
Lernen erlauben. Die Kinder signalisieren ihre offenen Fenster, solange jemand darauf<br />
reagiert. Aufmerksame Eltern reagieren darauf intuitiv. Gilt dies auch für uns, für Schule und<br />
Gesellschaft, Kultur- und Politikverantwortliche?<br />
* * *<br />
Wir lernen laufen, in dem wir andere laufen sehen und in dem wir dies nachahmen wollen.<br />
Und weil wir wissbegierig und neugierig sind. Laufen lernen – eine wahnsinnige Leistung.<br />
Man schaue nur, wie lange es gedauert hat, bis unsere Roboter-Techniker einen halbwegs<br />
menschlich laufenden Roboter zuwege gebracht haben. Und jeder von uns hat dies als kleines<br />
Kind geschafft.<br />
Wir lernen sprechen, in dem wir andere sprechen hören und in dem wir dies nachahmen<br />
wollen. Und weil wir wissbegierig und neugierig sind. Sprechen lernen – eine wahnsinnige
Leistung. Man schaue nur, wie lange es gedauert hat, bis unsere Computer-Techniker einen<br />
halbwegs menschlich sprechenden Computer zuwege gebracht haben. Und jeder von uns hat<br />
dies als kleines Kind geschafft. Und zwar aus dem komplexen Sprachkonglomerat, das uns<br />
umgibt.<br />
In beiden Fällen haben wir dies aber nicht mit Hilfe von didaktisch aufbereiteter, in Häppchen<br />
zubereiteter Pädagogik, sondern mit Hilfe von guten Vorbildern und spielerischen Räumen<br />
erreicht. Durch Anregungen und den Wunsch, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Durch die<br />
allen Kindern innewohnende und angeborene Neugierigkeit. Wir wissen aus Untersuchungen,<br />
dass, wenn die laufende oder sprechende Umgebung fehlt, die kindliche Entwicklung stark<br />
gehemmt wird.<br />
Anregungen und gute Vorbilder – Erfahrungen mit der akustisch-musikalischen Welt<br />
Ähnlich verhält es sich auch mit musikalisch-kreativen Fähigkeiten: Wir werden kreativ und<br />
musikalisch, wenn wir Anregungen bekommen und gute Vorbilder erfahren, wenn wir Musik<br />
hören und andere musizieren sehen. Dabei sind wir als Menschen auf die Komplexität dieser<br />
Welt eingerichtet: Wir können mit dieser konkreten und konglomeraten akustischen Welt, so<br />
wie sie ist, umgehen. Dies gilt auch für alle Arten der Musik. Selbstverständlich können wir<br />
nicht alles umfassend oder vollständig aufnehmen oder „begreifen“. Wir sprechen und<br />
benutzen Sprache auch schon als Vorschulkinder, ohne dass wir die Buchstaben oder die<br />
Grammatik systematisch in der Schule erlernt haben.<br />
Übrigens: Touristen, die diese oder jene Kunstwerke oder Bauwerke betrachten, verstehen die<br />
Einzelheiten der Struktur, der Details, der Geschichte etc. auch oft nicht und bewundern diese<br />
dennoch außerordentlich. Manches wird gefühlt und erahnt. Vieles wird möglicherweise erst<br />
später – mit anderem Hintergrundwissen, anderen Einsichten, Erfahrungen,<br />
Vergleichsmöglichkeiten usw. – „aufgehen“.<br />
Erleben und Motorik vor Verstehen<br />
Was heißt das für uns? Ich sehe oft eine Diskrepanz zwischen den Ansprüchen des<br />
Musikunterrichts und seiner „didaktischen“ Aufbereitung und dem Anspruch, den sich die<br />
Kinder und Jugendlichen mit anderen (außerschulischen) Musikerfahrungen selbst auferlegen.<br />
Während wir häufig einfache Lieder und Strukturen vermitteln wollen, hören und erfahren<br />
Kinder in der „Lebenswirklichkeit“ und im „Höralltag“ komplexere und anspruchsvollere<br />
Strukturen (vgl. die untengenannten Castingerfahrungen). Wir sollten unsere Kinder nicht<br />
unterfordern, wenn sie in ihrer musikalischen Entwicklung schon viel weiter sind. Vieles, was<br />
sie scheinbar noch nicht „verstehen“, kann schon erlebt, erfahren und nachgeahmt werden.<br />
Muss der junge Mensch erst eine 16tel „verstehen“, bevor er sie musizieren kann? Kann sie<br />
nicht zuerst erlebt, gespielt, gehört werden, bevor das „Bruchrechnen“ schulisch an der Reihe<br />
ist? Wie viel Entwicklungspotenzial wird durch intellektuelle Schranken behindert?<br />
Insbesondere motorische Fähigkeiten können viel früher als intellektuelle Fähigkeiten erlernt<br />
werden. Wie viele unserer Instrumentalschulen gehen aber von dieser Erkenntnis aus?<br />
Auch bestimmte Intervalle oder Klangerfahrungen – z. B. Septime oder Sekunde – werden oft<br />
erst im Grundschulalter „offiziell“ erlebt. Möglicherweise sind hier dann schon die<br />
obengenannten „offenen Fenster“ verschlossen und die Chance entsprechender Synapsen-<br />
Verbindungen nicht genutzt worden. Vielleicht kann dies auch ein Hinweis auf die<br />
Problematik „Neuer Musik“ sein.
Wer Kinder und Jugendliche gut beobachtet, erfährt leicht, wie diese ihre Vorbilder zum Teil<br />
bis in die kleinste Nuance nachahmen. In der Bayerischen Musikakademie war uns dies bei<br />
den Castings zum Fränkischen Kinderchor besonders aufgefallen: Viele Kinder tun sich<br />
schwer, ein deutsches Volkslied gut zu singen. Man spürt deutlich, dass die Kinder mit diesen<br />
Liedern unsicher und un-„erfahren“ sind, weil diese Lieder nicht zu ihrer Lebenswirklichkeit<br />
gehören, weil ihnen hier Vorbilder fehlen und ihnen die Anwendung nicht vertraut ist. Sie<br />
kommen mit kleinen Cassetten-Inlays aus Großeltern’s Phonothek und singen mehr oder<br />
weniger kenntnisreich deutsche Volkslieder, während z.B. ausländische Bewerber mit akzent-<br />
und fehlerfreiem Deutsch ein deutsches Volkslied mit allen Strophen auswendig<br />
eindrucksvoll vortragen. Die gleichen deutschen Kinder blühen aber auf und zeigen alles, was<br />
sie können, wenn sie englischsprachige Lieder oder Pop-Songs singen. Und dann werden von<br />
ihnen die Stars und Idole mit allen Feinheiten in Stimme, Artikulation, Farbwechsel,<br />
Modulation und Ausdruck vorgestellt und nachgeahmt.<br />
Dies beweist, dass gewisse Desiderate nichts mit dem Niveau oder den Fähigkeiten der<br />
Kinder zu tun haben, sondern ausschließlich mit den Anregungen und Erfahrungen, die ihnen<br />
vermittelt werden. Wo nicht gesungen und musiziert wird, fehlen entsprechende Impulse.<br />
Dies gilt für Musik im allgemeinen, aber auch für die verschiedenen Arten der Musik.<br />
Wenn wir unsere Kultur nicht pflegen, müssen wir demnächst unsere deutschsprachige Kultur<br />
wieder vom Ausland neu erlernen?<br />
* * *<br />
Frühkindliche Bildung – früher anfangen<br />
Die intensivere Forschung der frühkindlichen Bildung geschieht in Deutschland eigentlich<br />
erst seit etwa 10 Jahren (BZ S. 157). Es gibt in Deutschland mehr Lehrstühle für Japanologie<br />
als für frühkindliche Bildung. Inzwischen ist es allerdings Konsens, dass Kindergartenzeit<br />
Bildungszeit ist (BZ S. 160).<br />
Das Lernen und Musizieren mit Gleichaltrigen in der Gruppe wird in der frühkindlichen<br />
Bildung als besonders bedeutsam und nachhaltig herausgestellt. Kinder ab dem ersten<br />
Lebensjahr wollen mitmachen. Wenn sie etwas lernen sollen, müssen sie das zu Lernende<br />
selber machen. Dazu brauchen sie auch andere Kinder. Für viele Kinder sind heute<br />
Kinderkrippe und Kindergarten erste Möglichkeiten, auf ihresgleichen zu stoßen.<br />
Auch für die Musik heißt dies: früher anfangen, die Möglichkeiten der Gruppe nutzen und<br />
Chancen der 2-Phasen nutzen! Hier setzt auch das „Klassenmusizieren“ an und hier eröffnen<br />
sich ungeahnte Möglichkeiten. Wer dieses „Klassenmusizieren“ selber erlebt hat, ist schnell<br />
beeindruckt und überzeugt. Es bedarf geeigneter und eigens geschulter Lehrer und Leiter.<br />
* * *<br />
„Nachhaltige“ Musikerziehung<br />
Das Ausland weiß dies schon lange: die frühen Talente in Ungarn, Japan, Korea, Russland<br />
und anderswo beruhen auf frühe, spielerische, gruppendynamische und systematische<br />
Förderung. In unserer deutschen Musikerziehung besteht diesbezüglich ein erheblicher<br />
Reformbedarf. Der frühe Musikunterricht sollte gehaltvoll, zielführend und nachhaltig sein.<br />
Die pädagogischen Umwege sollten sich beschränken bzw. nicht unnötig aufgebaut werden.<br />
Die Notenschrift ist international und auf der ganzen Welt gleich. Wer hier einen Zugang<br />
aufbaut, hat die ganze musikalische Welt in der Hand. Die Pädagogik befürwortet heute auch<br />
in anderen Bereichen den direkten Zugang zur Welt: nicht Tatütata, sondern (Feuerwehr-)<br />
Auto. Bei aller Kindgerechtigkeit sollten wir unsere Kinder mit Qualitätsprodukten und
nachhaltiger Wissensvermittlung bedienen. Umwege sollten als Mittel zur Zielerreichung und<br />
nicht als Selbstzweck oder Zielersatz dienen. Blaue Klaviertasten oder farbige Notenschrift<br />
wird später genauso wenig zum Musikerfahren gehören wie die Kinder „Hänschen klein“<br />
singen werden. Die Lebenswirklichkeit und die Lebensbewältigung sollten erstrebenswertes<br />
Ziel sein.<br />
Zum Vergleich: unsere Kinder bedienen – wenn wir einmal die ersten beiden Kinderjahre<br />
außen vor lassen – Fernbedienung und Handy und können damit oft besser umgehen als wir<br />
Erwachsenen. Die SMS’s oder die Arbeiten am Computer haben unsere Kinder, weil sie<br />
damit aufwachsen, ganz anders und viel schneller „im Griff“, als mancher Erwachsener zu<br />
glauben vermochte. Die Ausbildung von motorischen Fähigkeiten und später brauchbaren<br />
musikalischen Parametern sowie die Schulung des Gehörs gehören zu den wichtigsten<br />
Feldern musischer Erziehung im Kindergartenalter. Natürlich können und sollen Freude und<br />
Spaß dabei sein. Verantwortete Pädagogik denkt hierbei an Nachhaltigkeit: Lernen fürs<br />
Leben. Kurzatmige und nicht stimmgerechte Lieder tun dies zum Beispiel nicht.<br />
Lernen in Kontexten<br />
Auch das so wichtige und in unserer Musik oftmals vernachlässigte „Lernen in Kontexten“<br />
gilt es zu fördern. Mit einfachem „Lieder(ab)singen“ oder „Töne pauken“ kann es nicht getan<br />
sein. Auf diese Art und Weise werden möglicherweise eher Unverständnis und Aversionen<br />
aufgebaut, als Verständnis und Neugierde fürs Musische. Oft ist es das „Umfeld“, sind es die<br />
„Hintergründe“ oder die „Einbettung“, die den Anreiz zur Beschäftigung mit Musik<br />
darstellen. Da in allen Untersuchungen auch die Wichtigkeit der nicht-rationalen Sprachen<br />
wie Mimik, Gestik, Körpersprache, das Spielerische, Phantasie und Kreativität hervorgehoben<br />
werden, ist auch das Theaterspielen und das Musiktheater von Kindergartenalter an von<br />
besonderer Bedeutung. Hier stellen sich Fragen nach der musischen Ausbildung der Erzieher<br />
und die Rolle der musischen Fächer im Kindergarten.<br />
Zeitgemäßer Schulunterricht – von Museumspädagogik lernen?<br />
Warum benennen die Jugendlichen in Deutschland immer wieder das Musikhören als liebste<br />
Freizeitbeschäftigung und gehört das „Klingel-Töne herunterladen“ zu den wichtigsten<br />
Handyausstattungen (und mittlerweile auch zu den Hitbereitern!), wählen aber in der Schule<br />
Musik als Wahlfach ab. Hier stellen sich Anfragen an die Musikpädagogik. Ist unser<br />
Musikunterricht attraktiv genug? Haben wir hier die richtigen Konzepte? Hier sei ein Blick<br />
herüber zur Museumspädagogik hilfreich: die Ausstellungsstücke alleine – und seien sie noch<br />
so wertvoll - wecken noch nicht das Interesse, es ist auch eine entsprechende Hinführung und<br />
attraktive Aufbereitung vonnöten. Da ist in den vergangenen Jahren eine Menge geschehen.<br />
Wer genauer hinschaut und sucht, findet in der Musik eigentlich auch viele gute Ansätze und<br />
Konzepte, aber sie haben noch kaum Eingang in den allgemeinen Kindergarten oder<br />
allgemeinen schulischen Musikunterricht gefunden.<br />
Wiedererkennungswert als Motivationsfaktor<br />
Der Wiedererkennungswert verschafft Kindern wie Erwachsenen Freude, Selbstvertrauen und<br />
Vertrautheit, Beheimatung. Das Genießen von Erlerntem verschafft Freude und Ansporn. Die<br />
Werbeindustrie weiß dies genau. Ein Produkt wird nicht gekauft, weil es nur einmal zufällig<br />
„begegnet“. Die Wiederholung, das „Wiedererkennen“, spielt ein große Rolle (Radio,<br />
Fernsehen, Tankstelle, Supermarkt). Warum wurde von einer Chorleiterin gesagt: „Wir singen<br />
so ein Stück von Schubert“, wenn doch die „Unvollendete“ (Bearbeitung) drübersteht und<br />
dieser Begriff sicherlich lohnenswert ist im Sinne der Nachhaltigkeit sich zu merken.<br />
Alltägliche Bezüge bzw. Bezüge zu Dingen, die in anderen Zusammenhängen wiederkehren,<br />
verschaffen Genuss, Freude und Motivation. Zum Beispiel der Bezug zu Orten oder Städten,
die durch Politik, Krimi oder sonstige Beiträge in Fernsehen „wiederkehren“, können<br />
nachhaltig motivierend wirken.<br />
Das sagt sich so leicht daher, aber warum finden wir in unseren Instrumentalschulen das<br />
Kapitel „Kreuzchen“, der Schüler freut sich und dann folgen viele Seiten lang keine<br />
Kreuzchen mehr, sondern B und Crescendo und andere Themen. Die Lust an der Anwendung<br />
des Gelernten wird hier so nicht gefördert. Und der Sinn des Gelernten erschließt sich dem<br />
Schüler nicht so gut. Spiel heißt nicht „nur einfach rumprobieren“, sondern Erlerntes nach<br />
Regeln und im wechselnden Spiel ausprobieren. Dies ist beim Fußballspiel genauso wie beim<br />
Musizieren.<br />
* * *<br />
Deutschsprachige Kultur immer mehr außerhalb Deutschlands lebendig?<br />
Wir leben und wir reden vom deutschsprachigen Raum. Deutschland war und ist nicht das<br />
Land der billigen Rohstoffe oder der billigen Arbeitskräfte. Deutschland ist und war immer<br />
das Land der Dichter und Denker, der Forscher und Entwickler, der Komponisten und<br />
Musiker – kurz der Kreativen und Innovativen.<br />
Wir sind es eigentlich auch heute noch. Viele Patente, Ideen, Innovationen werden hier in<br />
Deutschland geboren, aber leider nicht mehr hier realisiert und ausgeführt. Unsere geistigen<br />
Fähigkeiten wandern aus. Wir führen in Deutschland nicht mehr durch und nicht mehr aus,<br />
was wir könnten und was wir hier entwickeln. Forscher vermarkten ihre Ideen in den USA,<br />
der Transrapid fährt in China, die Musikinstrumente bauen die Japaner und Koreaner und<br />
auch unsere Bildungskompetenz haben wir an andere Länder abgegeben.<br />
Deutschlands Kulturprodukte Weltspitze!<br />
Und nicht nur wirtschaftlich hängen wir uns letztlich selber ab. Unsere Kultur „lebt“ immer<br />
mehr außerhalb Deutschlands. Das Ausland führt uns schon unsere eigene Kultur vor. Werden<br />
wir demnächst aus dem Ausland unsere eigene Kultur wieder erlernen müssen, wenn man<br />
dort unsere Kultur besser kennt als wir selbst? Das Beispiel Volkslied soll nur ein Anriss sein.<br />
Die Werke großer Komponisten deutschsprachiger Länder werden in der ganzen Welt mit<br />
Anerkennung und Respekt aufgeführt. Kaum eine Philharmonie oder ein internationales<br />
Kammerkonzert kommt ohne Musik aus dem deutschsprachigen Raum aus: ob in New York<br />
oder Sydney, ob in Peking oder Buenos Aires. Beethovens 9. Symphonie ist die<br />
Europahymne. Wenn ein Produkt aus Deutschland Weltspitze ist, dann sind das auch unsere<br />
Kulturprodukte!<br />
Und wie sieht es in unserer breiten Bevölkerung mit der Kenntnis dieser weltweit anerkannten<br />
und angewandten Kulturprodukte aus?<br />
* * *<br />
Ein Großteil der Bläsermusik, die von unseren Musikern gespielt und von unseren Zuhörern<br />
gerne gehört wird, kommt aus dem niederländischen oder englischsprachigen Raum.<br />
Zunehmend auch die Chormusik (s. John Rutter). Während mancher in Deutschland noch der<br />
Zwölftonmusik nachtrauert, diese Thematik im Musikunterricht oft einen breiten Raum<br />
einnimmt und oft hier den zeitlichen oder vorläufigen Schlusspunkt setzt, haben die<br />
Amerikaner und Engländer längst ihre Komponisten, die Musik schreiben, die auf der ganzen<br />
Welt auch heute gehört und gespielt werden. Es wird Zeit, dass wir Adorno und seine<br />
Musikkritik überwinden (z.B. bezüglich der Bedeutung der Emotionalität der Musik). Es wird<br />
Zeit, dass wir uns den internationalen Realitäten stellen. Die Zeiten und Betrachtungsweisen
haben sich geändert. Im übrigen gibt es hier auch Parallelen zur Architektur, Kunst und<br />
Literatur.<br />
Kreativität und Empfindung<br />
Wo ist die deutsche Kreativität geblieben? Ist dies möglicherweise ein Symptom für unser<br />
ganzes Land? Hängt unsere gesamtwirtschaftliche Situation vielleicht sogar damit zusammen?<br />
Lernen unsere Kinder überhaupt noch Kreativität? Gibt es noch Spielräume für Kreativität?<br />
Fördern wir diese Kreativitäts- und Spiel-Räume? Kreativität ist nicht einfach da. Kreativität<br />
muss sich entwickeln. Kreativität braucht Entfaltungsräume. Sie braucht Zeit, Freiheit,<br />
Anregung.<br />
Am Beispiel Kreativität habe ich es gerade festgemacht. In gleichem Maße könnte man es an<br />
der Empfindung festmachen: Musik fördert Optimismus, Zuversicht, Teamgeist und<br />
Gemeinsinn. All diese Werte hört man auch in den Börsennachrichten und ein kurzer Blick in<br />
die Wirtschaftsmagazine unterstreicht diese scheinbar nebensächlichen Faktoren.<br />
Der Mensch lässt sich nicht auf „Personalkosten-, Kaufkraft- und Werbezielgruppenfaktor“<br />
reduzieren. Der Mensch besteht auch aus Emotionen und Gefühlen, aus Empfindungen und<br />
Geist. Kreativität und Emotionalität sind wesentliche Eigenschaften der Musikausübung.<br />
Deshalb sind musikalische Desiderate in den Schulen und in der Gesellschaft vielleicht viel<br />
entscheidender für unser Land als es bisher gesehen wird.<br />
* * *<br />
Bücher und Musikinstrumente als bildungsfreundliche Umgebung<br />
Während in Frankreich ein Film „Les Choristes“, deutscher Titel: „Die Kinder des Monsieurs<br />
Matthieu“ mit der Botschaft, was mit Musik bewegt werden kann, mit großem Erfolg läuft<br />
und dieser Film in der französischen Bildungspolitik und Schulgesellschaft flächendeckende<br />
Wirkungen zeigt, dümpelt im ehemaligen Kreativzentrum Deutschland die Musikerziehung<br />
am Existenzminimum herum.<br />
Während deutschsprachige Kultur quasi Exportweltmeister ist, während rundherum in Europa<br />
viel mehr gesungen und musiziert wird und in Japan mittlerweile fast jeder Haushalt ein<br />
Musikinstrument aufweisen kann, während sich das Ausland ausgesprochen für deutsche<br />
Kultur interessiert und unsere Kultur vielfach besser kennt als wir im Land selbst, während im<br />
Umfeld der PISA-Studien als Erkennungsmerkmal einer bildungsfreundlichen Umgebung das<br />
Vorhandensein von Büchern und Musikinstrumenten festgestellt wird, fahren wir in<br />
Deutschland den Musikunterricht zurück oder stellen ihn zur Wahl oder er fällt gleich ganz<br />
aus, da werden Musikschulen, Orchester und Theater geopfert und geschlossen oder ans<br />
Existenzminimum geführt usw.<br />
Warum schätzt das Ausland unsere Kultur - und im eigenen Land gerät diese zunehmend in<br />
Vergessenheit oder ins Hintertreffen?<br />
* * *<br />
Kinder und Kultur - keine Lobby in Deutschland?<br />
Kinder und Kultur haben zur Zeit in Deutschland keine Lobby. Dabei ist klar, dass Kinder<br />
und Kultur die Zukunft unseres Landes bestimmen. Hätten wir eine kinderfreundliche<br />
Gesellschaft, hätten wir insgesamt viel weniger Probleme in unserem Land: Rentenstabilität,<br />
soziale Sicherung, Wachstum. Die Jugend hält unser Land jung, bringt Innovation, Reform-<br />
und Erneuerungswillen. Leider ist unsere Gesellschaft schon so überaltert, dass unsere<br />
Familien, unsere Kinder und Jugendlichen in der Minderzahl sind, als Wähler nicht mehr
wahlentscheidend und als Lobbyisten in der Gesellschaft zu schwach sind. Also Deutschland<br />
ade?<br />
Wenn wir die preiswerten Schwimmbäder, Bibliotheken, Musikschulen schließen zugunsten<br />
von für Familien kaum bezahlbare Freizeittempel und wenn in Zukunft unsere sinnvollen<br />
Freizeitangebote in Vereinen – also Blasorchestern, Chören und Ensembles – zurückgehen,<br />
weil die Kinder am Nachmittag durch Schulorganisation (Ganztagsunterricht) nicht mehr zur<br />
Verfügung stehen, wird sich unsere Gesellschaft verändern. Wohin wird es mit unseren<br />
Kindern und unserer Kultur gehen?<br />
* * *<br />
Exkurs:<br />
Es gab bei uns einmal eine Arbeitsteilung. Es gab und gibt unterschiedliche Begabungen und<br />
Talente. Neigungen, Fähigkeiten, arbeitsteilige Gesellschaft. Zu meiner Jugendzeit gab es<br />
noch diese Neigungsbetrachtung: Hier die mehr geistes-, dort die mehr musischen, hier die<br />
wirtschafts- und dort die rechtswissenschaftlich Interessierten und Begabten. Heute muss<br />
eigentlich jeder Mensch unter dem Deckmantel der Eigenverantwortung sein eigener<br />
Betriebswissenschaftler, Rechts- und Rentenberater, Finanz- und Steuerfachmann sein. Wir<br />
werden in 20 Jahren sicherlich viele Menschen erleben, die ihre Rente oder ihr eigenes<br />
Lebens- und Familienmanagement nicht hinbekommen haben.<br />
Wenn diese Fächer für das zukünftige Leben unentbehrlich für jedermann sind, gehören diese<br />
auch in die Allgemeinbildung und in den Schulunterricht. Wenn der Staat und die<br />
Gesellschaft sich nicht mehr um diese Kompetenzen zum Wohle des Bürgers „kümmern“,<br />
dann müsste jeder Mensch mit diesen Fähigkeiten zur Lebenstüchtigkeit ausgebildet werden.<br />
Dann müsste Jura, Steuer- und Versicherungsrecht, Finanzwissenschaft zum Schulfach<br />
werden.<br />
Sind das vielleicht die heute geforderten allgemeinen Grundqualifikationen? Wurde hier nicht<br />
ein Stück Solidarität, gesellschaftliche Gesamtverantwortung und gesellschaftlicher<br />
Arbeitsteilung aufgegeben?<br />
Alles hat seinen Preis, aber nichts hat Wert ...<br />
Und es gilt auch heute noch, dass man Geld nicht essen kann und der Mensch auch heute<br />
noch nicht vom Brot allein lebt. Der argentinische Bildhauer, Architekt und Menschenrechtler<br />
und Professor an der Kunstuniversität in Buenos Aires Adolfo Pérez Esquivel sagte einmal:<br />
„In einer Welt ohne Seele gibt es keine Menschen, nur Märkte, keine Bürger, nur<br />
Konsumenten, keine Nationen, nur Konzerne, keine Städte, nur Ballungsräume. Alles hat<br />
seinen Preis, aber nichts hat Wert ... Menschenwürde, kulturelle Identitäten und das Leben<br />
selbst sind Werte, die nicht an der Börse gehandelt werden können!“ Der 1977 verhaftete und<br />
gefolterte Esquivel erhielt 1980 den Friedensnobelpreis.<br />
* * *<br />
Literaturhinweise:<br />
Gehirn und Geist / Kenneth A. Klivington, Heidelberg, Berlin, New York, 1992<br />
(Amerikanische Originalausgabe, London 1989)<br />
„Lernen, bevor es zu spät ist. Das Gehirn und seine Zeitfenster: Warum es so wichtig ist,<br />
Kindern das Richtige zum richtigen Zeitpunkt beizubringen“ / Singer Wolf in: Süddeutsche<br />
Zeitung am 28. Juli 2001<br />
Die Zukunft der Bildung / Hrsg.: Killius, Kluge, Reisch, Frankfurt, 2002 (ZB)<br />
Die Bildung der Zukunft / Hrsg.: Killius, Kluge, Reisch, Frankfurt, 2003 (BZ)<br />
Gehirn & Geist / Hrsg.: Reinhard Breuer, Heidelberg, 3/2005