Die rechtfertigende Pflichtenkollision im Verkehrsstraf - SVR
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Verkehrszivilrecht<br />
kol | A U F S ÄT Z E<br />
Versicherungsrecht<br />
<strong>Verkehrsstraf</strong>recht<br />
Ordnungswidrigkeiten<br />
Verkehrsverwaltungsrecht<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Z E I T S C H R I F T F Ü R D I E P R A X I S D E S V E R K E H R S J U R I S T E N<br />
In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Anwaltsinstitut e.V.<br />
herausgegeben von Dr. jur. Frank Albrecht, Regierungsdirektor <strong>im</strong> Bundesverkehrsministerium, Berlin; Hans Buschbell, Rechtsanwalt, Düren/Köln;<br />
Wolfgang Ferner, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Koblenz/Heidelberg; Dr. Christian Grüneberg, Richter am OLG Köln;<br />
Prof. Dr. Christian Huber, Technische Hochschule, Aachen; Ottheinz Kääb, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Versicherungsrecht und Fachanwalt<br />
für Verkehrsrecht, München; Prof. Dr. Jürgen-Detlef Kuckein, Richter am BGH, Karlsruhe; Ulf D. Lemor, Rechtsanwalt, Verkehrsopferhilfe,<br />
Bad Honnef; Dr.-Ing. Werner Möhler, Aachen; Ass. jur. Joach<strong>im</strong> Otting, Hünxe/Berlin; Prof. Dr. Michael Ronellenfitsch, Universität<br />
Tübingen; Priv. Doz. Dr. Stephan Seidl, Nürnberg/Erlangen.<br />
Schriftleitung: Wolfgang Ferner, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Koblenz/Heidelberg; Ass. jur. Rüdiger Balke, Koblenz; Wolfgang E. Halm,<br />
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht, Köln; Prof. Dr. Helmut Janker, Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, Berlin.<br />
1. Einleitung<br />
Wie Rechtsstudenten bereits in der „kleinen Strafrechtsübung“<br />
vermittelt wird, ist der ungeschriebene Rechtfertigungsgrund<br />
der <strong>rechtfertigende</strong>n Pfl ichtenkollision seit langem gewohnheitsrechtlich<br />
anerkannt. Weniger bekannt ist hingegen, dass<br />
diese Rechtsfi gur zum Großteil <strong>im</strong> <strong>Verkehrsstraf</strong>recht praktische<br />
Relevanz erlangt. In der Rechtwirklichkeit sind es aber<br />
nicht die z.T. konstruiert wirkenden, universitären „Lehrbuchfälle“,<br />
in denen es zu einem Konfl ikt zwischen gleichwertigen<br />
Rechtspfl ichten kommt, 1 sondern alltägliche Fallkonstellationen,<br />
wie die Autobahnfalschfahrt (s.u.), in denen der mit Verkehrssachen<br />
befasste Rechtsanwalt an eine (zumindest teilweise)<br />
Rechtfertigung seines Mandanten über die Grundsätze<br />
der <strong>rechtfertigende</strong>n Pfl ichtenkollision denken muss. Gerade<br />
auch der Praktiker sollte daher bei dieser vermeintlich exotischen<br />
Rechtsfi gur nicht „auf Lücke“ setzen.<br />
Ziel der nachstehenden Ausführungen ist es, dem Leser einen<br />
Überblick über die <strong>rechtfertigende</strong> Pfl ichtenkollision sowie<br />
deren Anwendbarkeitsvoraussetzungen zu verschaffen. An geeigneter<br />
Stelle fl ießen dabei auch verteidigungstaktische Erwägungen<br />
mit ein.<br />
2. Rechtsgeschichtlicher Hintergrund<br />
<strong>Die</strong> <strong>rechtfertigende</strong> Pfl ichtenkollision wurde von der Rechtsprechung<br />
zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Unterfall des<br />
A U F S Ä T Z E<br />
<strong>Die</strong> <strong>rechtfertigende</strong> Pfl ichtenkollision <strong>im</strong> <strong>Verkehrsstraf</strong>-<br />
und -ordnungswidrigkeitenrecht<br />
Wiss. Mitarbeiter Markus Ebner, LL.M., Erlangen *<br />
sog. übergesetzlichen <strong>rechtfertigende</strong>n Notstands entwickelt. <strong>Die</strong><br />
Schaffung eines ungeschriebenen Notstandstatbestandes war<br />
erforderlich geworden, weil das damals geltende RStGB von<br />
1871 2 in den §§ 52, 54 lediglich den Fall des Nötigungsnotstandes<br />
als Entschuldigungsgrund regelte. Ansonsten konnte zur<br />
Rechtfertigung von Notstandshandlungen nur auf die §§ 228,<br />
904 BGB zurückgegriffen werden. <strong>Die</strong>s empfand man <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf den ausschließlich sachbezogenen Anwendungsbereich<br />
der zivilrechtlichen Notstandsnormen in vielen Fällen<br />
als unbillig. 3<br />
Bei der Kodifi kation des § 16 OWiG <strong>im</strong> Jahre 1968 4 und der darauf<br />
folgenden Einführung des nahezu wortgleichen § 34 StGB<br />
<strong>im</strong> Jahre 1969 5 hat der Gesetzgeber die Beantwortung der Frage<br />
nach der weiteren Relevanz der <strong>rechtfertigende</strong>n Pfl ichtenkol-<br />
* Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht und<br />
Strafprozessrecht der Universität Erlangen-Nürnberg (Prof. Dr. Jahn).<br />
1 <strong>Die</strong>s bedeutet jedoch nicht, dass ein Rückgriff auf derartige Fälle aus didaktischen<br />
Gründen untunlich wäre.<br />
2 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (RStGB) v. 15.5.1871, RGBl. 1871,<br />
S. 127.<br />
3 Zum übergesetzlichen <strong>rechtfertigende</strong>n Notstand <strong>im</strong> <strong>Verkehrsstraf</strong>recht vgl.<br />
für viele OLG Düsseldorf, VRS 30 [1966], 39c. (Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
zur Warnung eines vorausfahrenden Lkws wegen eines Fahrzeugdefekts).<br />
Allgemein dazu Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 26.<br />
Aufl . [2001], § 34, Rn. 2.<br />
4 § 16 (= § 12 a.F.) wurde durch Gesetz v. 24.5.1968 (BGBl. I, S. 481) in das OWiG<br />
eingefügt.<br />
5 § 34 (= § 54 a.F.) wurde durch das 2. StrRG v. 4.7.1969 (BGBl. I, S. 717) in das<br />
StGB eingefügt.<br />
S VR 6/2006 | 201
A U F S ÄT Z E | Ebner, <strong>Die</strong> rechtfer tigende Pf lichtenkollision<br />
lision ausdrücklich der Rechtsprechung überlassen. 6 Bis dato<br />
liegt daher auch keine gesetzliche Kodifikation der <strong>rechtfertigende</strong>n<br />
<strong>Pflichtenkollision</strong> vor. Allerdings ist diese mittlerweile<br />
unstreitig als gewohnheitsrechtlicher Rechtfertigungsgrund<br />
anerkannt.<br />
3. <strong>Die</strong> <strong>rechtfertigende</strong> <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
3.1 <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
Eine <strong>Pflichtenkollision</strong> liegt dann vor, wenn zwei oder mehrere<br />
rechtliche Gebote derart zusammentreffen, dass nur das<br />
eine oder das andere erfüllt werden kann, d.h. der Normadressat<br />
muss zur Erfüllung der einen Pflicht notwendigerweise die<br />
andere verletzen. Eine Ausweichmöglichkeit (sog. „dritte Lösung“)<br />
darf es nicht geben. 7 Sind die jeweiligen Verhaltensgebote<br />
vom Wert des betroffenen Rechtsguts als verschiedenartig<br />
einzustufen, so ist nach allgemeiner Ansicht nur die Erfüllung<br />
der höherrangigen Pflicht gerechtfertigt. 8 In Fällen dieser Art<br />
liegt dann eine sog. Scheinkollision vor, da hier von Rechts wegen<br />
nur eine Pflicht besteht. 9 <strong>Die</strong>s ergibt sich bereits aus dem<br />
Wortlaut von § 34 S. 1 StGB bzw. § 16 S. 1 OWiG.<br />
Beispiel: Vater V sieht, dass das Kfz seines Sohnes S von der Straße<br />
abgekommen ist und in Flammen steht. Sowohl S als auch dessen<br />
Beifahrer B drohen in dem brennenden Wagen ums Leben zu kommen.<br />
V kann nur einen der beiden rechtzeitig retten.<br />
Hier ist V dem Grunde nach als Adressat zweier gesetzlicher<br />
Verhaltensaufrufe anzusehen: § 323c StGB gibt ihm auf, den<br />
B zu retten; die §§ 323c und 212, 13 StGB verlangen daneben<br />
die Rettung des S. Allerdings muss V hier vorrangig die höherwertige<br />
Handlungspflicht erfüllen, sprich als Garant i.S.d. § 13<br />
StGB seinen Sohn S retten. Bleibt hiernach nicht genug Zeit zur<br />
Rettung des B, ist V <strong>im</strong> Hinblick auf § 323c StGB gerechtfertigt:<br />
Seine Garantenstellung i.R.d. Pflicht zur Rettung des S führt zu<br />
einem „wesentlichen Überwiegen“ i.S.d. § 34 S. 1 StGB.<br />
3.2 Kollision gleichwertiger Pflichten<br />
Probleme treten erst dann auf, wenn sich zwei oder mehrere<br />
gleichwertige Pflichten gegenüberstehen, da die §§ 34 S. 1 StGB,<br />
16 S. 1 OWiG diesen Fall vom Wortlaut nicht erfassen. Nach<br />
h.M. handelt der Täter hier nach den Grundsätzen der <strong>rechtfertigende</strong>n<br />
<strong>Pflichtenkollision</strong> dann nicht rechtswidrig, wenn er<br />
wenigstens eine der gleichwertigen Pflichten erfüllt. 10 Grund<br />
für das Rechtmäßigkeitsurteil in dieser Konstellation ist, dass<br />
die Rechtsordnung von dem jeweiligen Normadressaten nicht<br />
die gleichzeitige Erfüllung mehrerer Pflichten und damit etwas<br />
Unmögliches verlangen kann („ultra posse nemo obligatur“).<br />
Beispiel: Anstelle des Beifahrers B drohen mit S1 und S2 nun<br />
zwei Söhne des V in dem brennenden Fahrzeug zu sterben. V<br />
kann wiederum nur einen der beiden rechtzeitig retten.<br />
Nach den Grundsätzen der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
handelt V bezüglich der ihn jeweils treffenden Rettungspflicht<br />
aus §§ 212, 13 StGB dann rechtmäßig, wenn er entweder S1 oder<br />
S2 rettet. Besonders tragisch ist in diesem Zusammenhang, dass<br />
V hier selbst entscheiden muss, welcher der beiden Pflichten er<br />
nachkommt. 11 <strong>Die</strong> Rechtsordnung verlangt ihm insofern die<br />
202 | S VR 6/2006<br />
Auswahl des zu rettenden Sohnes ab. <strong>Die</strong>ser „Auswahlzwang“<br />
wird freilich dadurch abgemildert, dass V bei seiner Entscheidung<br />
die jeweiligen Rettungschancen sowie die Gefährdungslage<br />
bezüglich seiner Person berücksichtigen darf bzw. muss.<br />
3.3 Fallgruppen<br />
Bei der Kollision mehrerer gleichwertiger Pflichten haben sich<br />
in der Literatur die folgenden drei Fallgruppen herausgebildet:<br />
3.3.1 Kollision gleichwertiger Handlungspflichten<br />
<strong>Die</strong> Kollision gleichwertiger Handlungspflichten stellt den<br />
„Paradefall“ der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> dar: 12<br />
Beispiel: Nach einem unverschuldeten nächtlichen Wildunfall<br />
droht die Beifahrerin B des Fahrers F innerhalb kürzester<br />
Zeit zu verbluten. Da F in einiger Entfernung die Scheinwerfer<br />
eines herannahenden Kfz erkennt, steht er vor der Entscheidung,<br />
ob er der B erste Hilfe leistet (§ 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4<br />
StVO) oder den Verkehr sichert (§ 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StVO).<br />
Stoppt er die Blutung der B nicht, stirbt diese. Sichert er den<br />
Verkehr nicht, wird das mit hoher Geschwindigkeit ankommende<br />
Kfz ungebremst auf das Fahrzeug des F auffahren und<br />
dessen Insassen ums Leben kommen. 13<br />
Kann der Handlungspflichtige nur eine Pflicht erfüllen, ist er<br />
bezüglich der Vernachlässigung der anderen Pflicht nach den<br />
Grundsätzen der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> gerechtfertigt,<br />
wenn die Gefahr für die bedrohten gleichwertigen<br />
Rechtsgüter (hier: das Leben und die Gesundheit der B sowie<br />
das Leben der anderen Verkehrsteilnehmer) gleich groß ist. 14<br />
Eine Anwendung der §§ 34 StGB, 16 OWiG scheitert dann<br />
nämlich am Merkmal des „wesentlichen Überwiegens“.<br />
Leistet F der B <strong>im</strong> Beispiel daher Erste Hilfe, ist er bezüglich der<br />
unterlassenen Sicherung des Verkehrs nach den Grundsätzen<br />
der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> gerechtfertigt. Da es<br />
sich hier um einen unverschuldeten Wildunfall handelt, käme<br />
keine Gartantenstellung des F und damit auch keine Strafbarkeit<br />
dessen aus §§ 212, 13 bzw. 222 StGB in Betracht. 15 Stattdessen<br />
steht ausschließlich § 323c StGB <strong>im</strong> Raum. Dass bei mangelnder<br />
Sicherung der Unfallstelle ggf. auch das Leben mehrerer<br />
anderer Verkehrsteilnehmer (hier: die Insassen des herannahenden<br />
Kfz) gefährdet wird, ist i.R.v. § 34 StGB unbeachtlich, da<br />
das Rechtsgut „Leben“ als absoluter Höchstwert nicht quanti-<br />
6 Vgl. Begr. zu § 39 E 1962 (= BT-Drucks. IV/650), S. 159: „Ungeregelt läßt der<br />
Entwurf schließlich gewisse Fälle, wie etwa die des Pflichtenwiderstreits.<br />
Auch insoweit soll der Rechtsprechung nicht vorgegriffen werden, da einer<br />
gesetzlichen Regelung unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen.“ Krit.<br />
dazu Roxin, StrafR AT/1, 3. Aufl. [1997], § 16, Rn. 101.<br />
7 Vgl. Bohnert, OWiG, 1. Aufl. [2003], § 16, Rn. 25.<br />
8 Vgl. Küper, JuS 1987, 81, 89; Rengier, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG,<br />
2. Aufl. [2000], Vor §§ 15, 16, Rn. 4.<br />
9 Wessels/Beulke, StrafR AT, 34. Aufl. [2004], Rn. 735.<br />
10 KK-Rengier (o. Fn. 8), Vor. §§ 15, 16, Rn. 5. Eine hier zu vernachlässigende<br />
Mindermeinung tritt bei Gleichwertigkeit der kollidierenden Pflichten für<br />
einen Schuldausschluss ein.<br />
11 Für viele Bohnert (o. Fn. 7), § 16, Rn. 27.<br />
12 Roxin (o. Fn. 6), § 16, Rn. 103 f. hält dies für den einzig „echten“ Fall der<br />
<strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong>.<br />
13 Zu einer ähnlichen Konstellation vgl. OLG Stuttgart, DAR 1958, 222.<br />
14 KK-Rengier (o. Fn. 8), Vor §§ 15, 16, Rn. 5.<br />
15 Zu der Frage, ob ein (Mit-)Verschulden an der Entstehung der Notlage bei der<br />
Frage nach der Gleichwertigkeit der kollidierenden Pflichten zu berücksichtigen<br />
ist, s.u. Punkt 4.1.
fizierbar ist („Keine Abwägung Leben gegen Leben“). 16 <strong>Die</strong>ses<br />
grundlegende Prinzip gilt auch i.R.d. <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong>.<br />
Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle angemerkt,<br />
dass bei Verkehrsunfällen grundsätzlich die Sicherung<br />
der Unfallstelle Vorrang vor der Versorgung von Verletzen hat.<br />
<strong>Die</strong>s ergibt sich zum einen aus der in § 34 Abs. 1 StVO festgeschriebenen<br />
Pflichtenreihenfolge. Zudem wird auf diese Weise<br />
verhindert, dass weitere Personen durch ein Auffahren anderer<br />
Fahrzeuge auf die Unfallstelle zu Schaden kommen.<br />
3.3.2 Kollision gleichwertiger Unterlassungspflichten<br />
Bei der Kollision mehrerer gleichwertiger Unterlassungspflichten<br />
stellt die Rspr. dagegen ausschließlich auf die §§ 34 StGB,<br />
16 OWiG ab: 17<br />
Beispiel: Der 80-jährige Geisterfahrer G hat vorsätzlich auf der<br />
Autobahn gewendet, weil er die he<strong>im</strong>atliche Ausfahrt verpasst hat.<br />
Da er nach kurzer Zeit bemerkt, dass ihm wider Erwarten nun doch<br />
zahlreiche Autos entgegen kommen, beschließt er, erneut zu wenden,<br />
um die anderen Verkehrsteilnehmer nicht weiter zu gefährden.<br />
Dass das Wenden auf der Autobahn sowie das Fahren entgegen der<br />
Fahrtrichtung eine Gefahr für Leib und Leben der anderen Verkehrsteilnehmer<br />
beinhaltet, n<strong>im</strong>mt G in Kauf.<br />
Hier verletzt G, gleichgültig wie er sich verhält, durch aktives<br />
Tun eine Unterlassungspflicht: Fährt er nach dem ersten Wenden<br />
weiter entgegen der Fahrtrichtung, verstößt er gegen §§ 2<br />
Abs. 1 und 1 Abs. 2 StVO (aufgrund der Gefährdung anderer<br />
Verkehrsteilnehmer strafbar gem. § 315c Abs. 1 Nr. 2f StGB).<br />
Wendet er erneut, handelt er § 18 Abs. 7 StVO zuwider (ebenfalls<br />
strafbar gem. § 315c Abs. 1 Nr. 2f StGB). 18<br />
<strong>Die</strong> Anwendung der §§ 34 StGB, 16 OWiG ist in derartigen Konstellationen<br />
aber nur zutreffend, wenn das durch die Handlung<br />
beeinträchtigte Interesse <strong>im</strong> Einzelfall tatsächlich wesentlich<br />
geringer wiegt als das geschützte Interesse. 19<br />
Im Beispiel wäre dies dann der Fall, wenn sich die Unfallgefahr<br />
durch ein zügiges zweites Wenden bei geringem Verkehrsaufkommen<br />
eher kontrollieren ließe als bei einer Fortsetzung<br />
der Falschfahrt (Stichwort: „relative Ungefährlichkeit“). Geht<br />
man hiervon aus, wäre G bezüglich des zweiten Wendens gem.<br />
§ 34 StGB gerechtfertigt. Freilich bliebe eine Strafbarkeit dessen<br />
gem. § 315c Abs. 1 Nr. 2f StGB wegen des ersten Wendens<br />
und des sich anschließenden Fahrens entgegen der Fahrtrichtung<br />
bestehen. In anderen Konstellationen kann dies aber beispielsweise<br />
mangels Vorsatz ausscheiden, sodass ggf. nur § 315<br />
c Abs. 3 Nr. 2 StGB eingreift.<br />
Bei geringem Verkehrsaufkommen wird in Geisterfahrer-Konstellationen<br />
aber auch oft ein Ausfahren auf den Standstreifen<br />
möglich sein. Als zur Beendigung der Falschfahrt gleich<br />
geeignetes, aber weniger gefährliches Mittel käme dann das<br />
Abschleppen des Kfz in Betracht, so dass eine Interessenabwägung<br />
i.S.d. §§ 34 S. 1 StGB, 16 S. 1 OWiG meist zum Nachteil des<br />
Falschfahrers ausfällt. Ob eine solche Verhaltensalternative <strong>im</strong><br />
Einzelfall aber tatsächlich bestanden hat (hohes Verkehrsaufkommen<br />
auf der aus Sicht des Falschfahrers linken Fahrspur?),<br />
ist seitens des Gerichts i.R.d. § 244 Abs. 2 StPO in jedem Fall<br />
abzuklären. Lassen sich die Verhältnisse am Tattag nicht zwei-<br />
Ebner, <strong>Die</strong> rechtfer tigende Pf lichtenkollision | A U F S ÄT Z E<br />
felsfrei rekonstruieren, ist nach dem Grundsatz „in dubio pro<br />
reo“ von einem hohen Verkehrsaufkommen auszugehen.<br />
Sind beide Handlungsalternativen gleich gefährlich, scheiden<br />
die §§ 34 StGB, 16 OWiG aufgrund ihres Wortlauts („wesentlich<br />
überwiegt“) aus. Hier ist dann Platz für die <strong>rechtfertigende</strong><br />
<strong>Pflichtenkollision</strong>. 20<br />
Verteidigungstaktik: Geht es um die Strafbarkeit des Wendens zum<br />
Beenden einer Autobahnfalschfahrt, sollte die Verteidigung stets so<br />
argumentieren, dass sich das erneute Wenden <strong>im</strong> konkreten Fall<br />
genauso gefährlich dargestellt hätte wie die Fortsetzung der Falschfahrt.<br />
Mangels „wesentlichen Überwiegens“ einer der Unfallgefahren<br />
ist dann die aus Verteidigungssicht günstigere (s.u.) <strong>rechtfertigende</strong><br />
<strong>Pflichtenkollision</strong> einschlägig. Neigt das Gericht dazu, auf<br />
die §§ 34 StGB, 16 OWiG abzustellen, ist unter Verweis auf § 244<br />
Abs. 2 StPO auf eine Klärung der Verkehrslage <strong>im</strong> Tatzeitpunkt hinzuwirken.<br />
3.3.3 Kollision einer Handlungspflicht mit einer gleichwertigen<br />
Unterlassungspflicht<br />
Trifft eine Handlungspflicht mit einer gleichwertigen Unterlassungspflicht<br />
zusammen, sind die Regeln über die <strong>rechtfertigende</strong><br />
<strong>Pflichtenkollision</strong> nach h.M. nicht anwendbar. Es gelten<br />
ausschließlich die allgemeinen Notstandsregeln: 21<br />
Beispiel: Landwirt L sieht, dass der Kradfahrer K unterhalb einer<br />
Kuppe gestürzt ist und – für den Gegenverkehr nicht erkennbar – bewusstlos<br />
auf der Straße liegt. Den mit ca. 100 km/h herannahenden<br />
Autofahrer A kann L nur noch am Überfahren des K hindern, indem<br />
er seinen Traktor quer über die Fahrbahn stellt. Dabei n<strong>im</strong>mt L in<br />
Kauf, dass A nicht mehr rechtzeitig bremsen kann und infolge des<br />
Zusammenstoßes mit dem Traktor ums Leben kommt. Würde A den<br />
K ungehindert überfahren, wäre das Leben des A nicht gefährdet.<br />
Hier trifft die Pflicht das Leben des K zu retten (= Handlungspflicht<br />
aus § 323c StGB) mit dem Verbot nach § 212 StGB, den<br />
A zu töten, zusammen. Löst man den Beispielsfall nach den<br />
Grundsätzen der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong>, hätte L<br />
mangels Garantenstellung ggü. K oder A die freie Wahl, ob er<br />
tatenlos zusieht, wie K überfahren wird und dadurch den A am<br />
Leben lässt, oder durch die Tötung des A aktiv in das Geschehen<br />
eingreift und so das Leben des K rettet; er würde sich in<br />
beiden Alternativen rechtmäßig verhalten.<br />
Eine solche Auswahlmöglichkeit stößt in der Literatur allerdings<br />
auf Ablehnung: Unter Verweis auf den allgemeinen Rechtsgedanken,<br />
dass Eingriffe in fremde Gütersphären nur zur Wahrnehmung<br />
wesentlich höherwertiger Interessen gestattet sind,<br />
wird für Fälle wie den vorliegenden vertreten, dass der Gesetzgeber<br />
für die Auflösung solcher Konfliktlagen in den §§ 34 S. 1<br />
StGB, 16 S. 1 OWiG zwingend die Durchführung einer Interessensabwägung<br />
vorgeschrieben habe. Da eine solche hier aber<br />
nicht möglich sei („Leben gegen Leben“), verhalte sich der<br />
Täter nur dann rechtmäßig, wenn er die Handlungspflicht ver-<br />
16 Ausf. dazu Roxin (o. Fn. 6), § 16, Rn. 29 ff. und 110.<br />
17 Vgl. KK-Rengier (o. Fn. 8), Vor §§ 15, 16, Rn. 7 m.w.N.<br />
18 Zur Autobahn-Falschfahrt vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl.<br />
[2003], § 18 StVO, Rn. 18a, 21 f. sowie § 315c StGB, Rn. 40; Sch/Sch-Cramer/<br />
Sternberg-Lieben (o. Fn. 3), § 315c, Rn. 24 f. jew. m.w.N.<br />
19 So auch KK-Rengier (o. Fn. 8), Vor §§ 15, 16, Rn. 7.<br />
20 KK-Rengier (o. Fn. 8), Vor §§ 15, 16, Rn. 7.<br />
21 Vgl. KK-Rengier (o. Fn. 8), Vor §§ 15, 16, Rn. 8; Küper, JuS 1987, 87, 90.<br />
S VR 6/2006 | 203
A U F S ÄT Z E | Ebner, <strong>Die</strong> rechtfer tigende Pf lichtenkollision<br />
nachlässigt und die Unterlassungspflicht befolgt. <strong>Die</strong> Handlungspflicht<br />
trete hinter der gleichwertigen Unterlassungspflicht<br />
zurück. 22<br />
Dem ist zuzust<strong>im</strong>men: <strong>Die</strong> Rechtsordnung kann dem Einzelnen<br />
nicht gestatten, bei gleichwertiger Interessenlage nach<br />
eigenem Gutdünken aktiv in fremde, bisher nicht tangierte<br />
Rechtsgüter einzugreifen. <strong>Die</strong> Einräumung eines Wahlrechts<br />
in Fällen der Kollision zweier Handlungspflichten (s.o.) rechtfertigt<br />
sich daraus, dass sich die gefährdeten Rechtsgüter bei<br />
Hinzukommen des Eingreifenden bereits in einer Gefahrenlage<br />
befunden haben. Bleibt der Täter hier untätig, kommen<br />
sämtliche Rechtsgüter zu Schaden. Bei der Kollision einer<br />
Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht lieg der Fall allerdings<br />
so, dass das Rechtsgut, welches der Täter durch die Verletzung<br />
der Unterlassungspflicht zu schädigen gedenkt, noch<br />
nicht gefährdet ist. Erst der Eingriff des Täters schafft eine Gefahrenlage,<br />
zu der es bei dessen Untätigbleiben nicht gekommen<br />
wäre. Auf die Schaffung solch einer neuen Gefahr passt<br />
der Rechtsgedanke der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
(„nemo ultra posse obligatur“) aber nicht. Der Eingriff in eine<br />
bisher nicht tangierte Gütersphäre ist daher nur gerechtfertigt,<br />
wenn die Interessenabwägung ausnahmsweise zum Nachteil<br />
des zuvor nicht gefährdeten Rechtsguts ausfällt.<br />
Im Beispiel muss L also untätig bleiben, d.h. er darf den A nicht<br />
töten, um den K zu retten. <strong>Die</strong> Pflicht zur Rettung des Lebens<br />
des K tritt hinter der Pflicht, den A nicht zu töten, zurück. Handelt<br />
L dennoch wie geplant, macht er sich gem. § 212 StGB<br />
strafbar. § 34 StGB kommt mangels wesentlichem Überwiegen<br />
des einen oder des anderen Rechtsguts nicht in Betracht („Leben<br />
gegen Leben“). Inwieweit in solchen Fällen ggf. die Strafzumessungsregel<br />
des § 213 Alt. 2 StGB zum Tragen kommt,<br />
kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.<br />
Möglicherweise anders zu beurteilen wäre der Beispielsfall,<br />
wenn L gegenüber K eine Garantenstellung gem. § 13 StGB<br />
inne gehabt hätte. Dann hätte nämlich schon keine Kollision<br />
gleichwertiger Pflichten, sondern eine Scheinkollision (s.o.) vorgelegen.<br />
Zudem wäre an eine Entschuldigung gem. § 35 Abs. 1<br />
S. 1 StGB zu denken gewesen.<br />
3.4 Gänzliches Untätigbleiben<br />
Bleibt der Täter bei der Kollision gleichwertiger Pflichten gänzlich<br />
untätig, handelt er nach überwiegender Auffassung insgesamt<br />
pflichtwidrig und kann sich damit in mehrfacher Hinsicht<br />
bußgeldpflichtig bzw. strafbar machen. Dem steht nicht<br />
entgegen, dass es ohnehin unmöglich gewesen wäre, beiden<br />
Pflichten gleichzeitig nachzukommen (Gedanke des rechtmäßigen<br />
Alternativverhaltens): <strong>Die</strong> Pflichtwidrigkeit der Nichtbefolgung<br />
eines Gebots entfällt nach den Grundsätzen der<br />
<strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> nur dann, wenn der Täter<br />
zumindest eine der beiden Pflichten erfüllt (s.o.). Der gänzlich<br />
Untätige bleibt also entgegen einer Mindermeinung in der Literatur<br />
nicht stets zumindest bezüglich einer der vernachlässigten<br />
Pflichten straflos. 23<br />
4. Gleichwertigkeit der kollidierenden Pflichten<br />
Im Unterschied zu den §§ 34 StGB, 16 OWiG müssen die kollidierenden<br />
Interessen bei der <strong>rechtfertigende</strong>n Pflichtenkol-<br />
20 4 | S VR 6/2006<br />
lision gleichwertig sein, d.h. das geschützte Interesse darf das<br />
beeinträchtigte nicht wesentlich überwiegen.<br />
4.1 Kriterien bei der Best<strong>im</strong>mung der Gleichwertigkeit<br />
<strong>Die</strong> Mitwirkung bei der Best<strong>im</strong>mung des Rangverhältnisses<br />
der kollidierenden Pflichten bildet häufig einen Schwerpunkt<br />
der anwaltlichen Verteidigungsleistung. <strong>Die</strong>s geschieht i.d.R.<br />
durch den Vortrag mandantengünstiger Tatsachen. Als besonders<br />
relevant werden dabei der Wert der gefährdeten Güter,<br />
die rechtliche Stellung des Normadressaten zum geschützten<br />
Objekt (z.B. Garantenstellung oder bloße allgemeine Hilfspflicht),<br />
die Nähe der Gefahr und die Wahrscheinlichkeit des<br />
Schadenseintritts angesehen. 24 Allerdings ist auch hier Einiges<br />
umstritten: So besteht u.a. Uneinigkeit darüber, ob ein Mitverschulden<br />
an der Entstehung der Notlage bei der Frage nach der<br />
Gleichwertigkeit Berücksichtigung finden darf. <strong>Die</strong>s wird man<br />
<strong>im</strong> Umkehrschluss zu § 35 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StGB verneinen<br />
müssen. 25 Im Grundsatz fest steht aber, dass Persönlichkeitswerten<br />
der Vorrang vor Sachgütern zukommt. 26 Mit letzter<br />
Sicherheit wird man von einer Gleichwertigkeit der kollidierenden<br />
Güter nur ausgehen können, wenn auf beiden Seiten<br />
dieselben rechtlichen Interessen gefährdet sind.<br />
Verteidigungstaktik: Handelt es sich um verschiedenartige Rechtsgüter,<br />
wird sich in der Praxis oft ein Unterschied zwischen den betroffenen<br />
Interessen ausmachen lassen. Je nach taktischer Zielrichtung<br />
kann die Aufgabe der Verteidigung dann darin bestehen, die gefundene<br />
Unterscheidung als nicht „wesentlich“ i.S.d. §§ 34 S. 1 StGB,<br />
16 S. 1 OWiG darzustellen und so eine Rechtfertigung des Mandanten<br />
über die Grundsätze der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> zu<br />
begründen. Insbesondere bei der Verletzung von StVO-Vorschriften<br />
kann dabei auf deren Globalschutzzweck „Verkehrssicherheit“ abgestellt<br />
werden. Exakt gleichwertige Interessen werden sich nur bei<br />
Persönlichkeitswerten wie etwa Leben, Körper, Gesundheit etc. feststellen<br />
lassen.<br />
4.2 Sonderproblem: Kein wesentliches Überwiegen, aber<br />
auch keine Gleichwertigkeit<br />
Besonders problematisch ist der Fall, dass sich die kollidierenden<br />
Interessen nicht wesentlich überwiegen (d.h. die §§ 34<br />
StGB, 16 OWiG vom Wortlaut nicht eingreifen), die Interessen<br />
aber auch nicht gleichwertig sind.<br />
Beispiel: Als Lkw-Fahrer L während einer Fahrt durch die Innenstadt<br />
bemerkt, dass seine Ladung mangels ausreichender Absicherung <strong>im</strong>mer<br />
wieder laut an die Innenseite der Bordwand schlägt (§ 22 Abs. 1<br />
StVO), parkt er in der einzig freien Lücke an einem Parkscheinautomaten.<br />
Zur ordnungsgemäßen Sicherung der Ladung benötigt L<br />
15 Minuten. Da er kein Münzgeld dabei hat und sich auch keine<br />
wechselbereiten Passanten finden lassen, löst er den erforderlichen<br />
Parkschein zu 1,50 EUR nicht (§ 13 Abs. 1 S. 1 StVO).<br />
<strong>Die</strong> <strong>im</strong> Beispielsfall aufeinandertreffenden Interessen (Vermeidung<br />
von unnötigem Lärm be<strong>im</strong> Betrieb von Kraftfahrzeugen<br />
22 Ausf. zum Ganzen Küper, JuS 1987, 87, 90. I.E. zust. Roxin (o. Fn. 6), § 16,<br />
Rn. 103.<br />
23 Vgl. dazu Hirsch, in: LK-StGB, 11. Aufl. [1997], Vor § 32, Rn. 81 m.w.N.<br />
24 Vgl. Wessels/Beulke (o. Fn. 9), Rn. 736.<br />
25 A.A. Roxin (o. Fn. 6), § 16, Rn. 109.<br />
26 Vgl. Sch/Sch-Lenckner/Perron (o. Fn. 3), § 34, Rn. 43.
und Gewährleistung der Fluktuation des ruhenden Verkehrs)<br />
überwiegen sich nicht wesentlich. Im Endeffekt geht es jeweils<br />
darum, die negativen Auswirkungen des Straßenverkehrs, sei<br />
es nun in Form von zunehmendem Lärm oder <strong>im</strong>mer geringer<br />
werdendem Parkraum, einzudämmen. Allerdings kann<br />
auch nicht davon ausgegangen werden, dass die betroffenen<br />
Interessen gleichwertig sind: Insbesondere in den stark befahrenden<br />
Innenstädten wird man das Interesse an der Zurverfügungstellung<br />
von genügend Parkraum als zumindest etwas<br />
höherwertig ansehen müssen als die ohnehin kaum mögliche<br />
Verringerung des Verkehrslärms.<br />
In dieser von der Literatur bisher nicht (zumindest nicht explizit<br />
27) behandelten „Grauzone“ wird man entweder durch einschränkende<br />
Auslegung des Tatbestandsmerkmals „wesentlich“<br />
(d.h. durch teleologische Reduktion 28) über die §§ 34 StGB,<br />
16 OWiG zu einer befriedigenden Lösung kommen müssen<br />
oder alternativ i.R. richterlicher Rechtsfortbildung auch hier die<br />
Grundsätze der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> anzuwenden<br />
haben. Als vom gegenwärtigen Regelungsinstrumentarium<br />
schlichtweg nicht erfasst und damit in jeder Verhaltensalternative<br />
mit einem Rechtswidrigkeitsurteil belegt, dürfen<br />
derartige Fälle schon unter dem Gesichtspunkt der Widerspruchsfreiheit<br />
der Rechtsordnung nicht stehen bleiben.<br />
Wegen des verfassungsrechtlich verbürgten Verbots der Bildung<br />
einer für den Täter nachteiligen Analogie (vgl. Art. 103<br />
Abs. 2 GG und dessen einfachrechtliche Ausprägungen in §§ 1<br />
StGB, 3 OWiG) ist vorrangig der Weg über die <strong>rechtfertigende</strong><br />
<strong>Pflichtenkollision</strong> einzuschlagen: Letztere verlangt <strong>im</strong> Gegensatz<br />
zu den §§ 34 S. 2 StGB, 16 S. 2 OWiG nämlich keine<br />
ggf. rechtfertigungseinschränkende Angemessenheitsprüfung<br />
(s.u.).<br />
Im Beispiel ist L bezüglich der Ordnungswidrigkeit wegen der<br />
Nichtlösung eines Parkscheins (§§ 24 StVG i.V.m. 49 Abs. 1<br />
Nr. 13 StVO) daher über eine Ausdehnung der Grundsätze der<br />
<strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> als gerechtfertigt anzusehen.<br />
Unabhängig davon bleibt jedoch der Vorwurf bestehen,<br />
ohne genügende Absicherung der Ladung gegen vermeidbares<br />
Lärmen überhaupt losgefahren zu sein (§§ 24 StVG i.V.m. 49<br />
Abs. 1 Nr. 21 StVO).<br />
Verteidigungstaktik: Meist wird die Bußgeldbehörde/Staatsanwaltschaft<br />
das Vorliegen einer etwaigen Rechtfertigung in diesem<br />
Bereich erst gar nicht in Betracht ziehen. Bevor sich die Verteidigung<br />
daher zu einer Argemutation <strong>im</strong> o.g. Sinne entschließt, muss abgeklärt<br />
werden, ob die Rechtsfolge der <strong>im</strong> Nachhinein vom Gericht<br />
als gerechtfertigt angesehenen Tat weniger schwer wiegt als der aufgrund<br />
des Verteidigungsvorbringens zusätzlich <strong>im</strong> Raum stehende<br />
Gesetzesverstoß.<br />
So ist für den <strong>im</strong> Beispielsfall begangenen Verstoß gegen § 13 Abs. 1<br />
S. 1 StVO gem. Lfd.-Nr. 63.2 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV ein<br />
Regelsatz von 5,- € vorgesehen. Der Verstoß gegen § 22 Abs. 1 StVO<br />
ist dagegen gem. Lfd.-Nr. 103 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV mit<br />
einem Regelsatz von 10,- € bewehrt. 29 Demnach wäre ein Rechtfertigungsvorbringen<br />
vorliegend als für den Mandaten nachteilig anzusehen.<br />
Etwas anderes mag freilich dann gelten, wenn bezüglich des<br />
bisher unbekannten Verstoßes bereits Verfolgungsverjährung eingetreten<br />
ist (hier: gem. § 26 Abs. 3 StVG nach 3 bzw. 6 Monaten).<br />
Ebner, <strong>Die</strong> rechtfer tigende Pf lichtenkollision | A U F S ÄT Z E<br />
5. Keine Angemessenheitsprüfung<br />
<strong>Die</strong> Angemessenheitsklausel in § 34 S. 2 StGB bzw. § 16 S. 2<br />
OWiG soll als zusätzliches Korrektiv sicherstellen, dass eine<br />
Rechtfertigung nur dann angenommen wird, wenn „das Verhalten<br />
des Notstandstäters auch nach den anerkannten Wertvorstellungen<br />
der Allgemeinheit als eine sachgemäße und dem Recht<br />
entsprechende Lösung der Konfliktslage erscheint“. 30 Auf den<br />
Grundsatzstreit, ob der Angemessenheitsprüfung in Anbetracht<br />
der ohnehin schon i.R.d. Satzes 1 durchzuführenden<br />
umfassenden Interessenabwägung überhaupt eine gleichwie<br />
geartete Relevanz zukommt, sei an dieser Stelle nur hingewiesen.<br />
31 In der Literatur werden best<strong>im</strong>mte Fallgruppen aufgeführt,<br />
die ohne eine gesonderte Angemessenheitsklausel unbilligerweise<br />
von den Notstandsregelungen erfasst und damit<br />
gerechtfertigt wären. 32<br />
Anders als die §§ 34 StGB, 16 OWiG verlangt die h.M. bei der<br />
<strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> keine zusätzliche Angemessenheitsprüfung.<br />
<strong>Die</strong>s wird mit dem grundlegenden Unterschied<br />
des <strong>rechtfertigende</strong>n Notstands und der <strong>rechtfertigende</strong>n<br />
<strong>Pflichtenkollision</strong> begründet: So sei niemand zu einer<br />
unter Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigten Handlung<br />
verpflichtet, wohingegen sich der Täter bei der <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
alternativ ahndbar mache. Daher liege bei der <strong>rechtfertigende</strong>n<br />
<strong>Pflichtenkollision</strong> schon in der Erlaubnis zur Konfliktlösung<br />
ein umfassendes Rechtmäßigkeitsurteil. <strong>Die</strong>ses müsse<br />
notwendigerweise auch ein entsprechendes Angemessenheitsurteil<br />
beinhalten. 33<br />
Dem kann <strong>im</strong> Grundsatz zugest<strong>im</strong>mt werden. Zu beachten ist<br />
jedoch, dass sich aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz sowie aus<br />
dem Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung teilweise<br />
etwas anderes ergeben kann: Sieht die Rechtsordnung für<br />
die Auflösung der konkreten Konfliktlage ein rechtlich geordnetes<br />
Verfahren vor, sind die Grundsätze der <strong>rechtfertigende</strong>n<br />
<strong>Pflichtenkollision</strong> nicht in vollem Umfang anwendbar (s.u.). 34<br />
Zudem trifft der Gedanke der alternativen Ahndbarkeit des<br />
Untätigbleibenden <strong>im</strong> Fall der Kollision einer Handlungs- mit<br />
einer Unterlassungspflicht nicht zu: Hier legt die Rechtsordnung<br />
dem Täter aus o.g. Gründen das Verbot auf, aktiv in bisher<br />
nicht tangierte Gütersphären einzugreifen; er ist nur dann<br />
straflos, wenn er untätig bleibt. Eine Rechtfertigung über die<br />
Grundsätze der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> kommt<br />
nicht in Betracht. <strong>Die</strong>se beiden Konstellationen könnten als<br />
Entsprechung der Angemessenheitsklausel in §§ 34 S. 2 StGB,<br />
16 S. 2 OWiG gewertet werden ( „Quasi-Angemessenheit“).<br />
Verteidigungstaktik: Mangels Angemessenheitsprüfung kann<br />
sich die Annahme einer <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> für den<br />
27 Angedeutet ist die Problematik lediglich bei Bohnert (o. Fn. 7), § 16, Rn. 27,<br />
der bei „geringerem Überwiegen“ von einer <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
ausgehen will.<br />
28 Zu den gesetzgeberischen Beweggründen bei Einfügung des Merkmals „wesentlich“<br />
vgl. Sch/Sch-Lenckner/Perron (o. Fn. 3), § 34, Rn. 45.<br />
29 Zu den in diesem Bereich ab 1. April 2004 in Kraft getretenen Änderungen<br />
durch die VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher und personenbeförderungsrechtlicher<br />
Vorschriften v. 22.1.2004 (BGBl. I, S. 117) vgl. Albrecht,<br />
<strong>SVR</strong> 2004, 81, 82.<br />
30 Begr. zu § 39 E 1962 (= BT-Drucks. IV/650), S. 159.<br />
31 Ausf. dazu Sch/Sch-Lenckner/Perron (o. Fn. 3), § 34, Rn. 46 f.<br />
32 Vgl. KK-Rengier (o. Fn. 8), § 16, Rn. 41 ff.<br />
33 Vgl. Bohnert (o. Fn. 7), § 16, Rn. 30.<br />
34 So ausdrücklich für § 16 S. 2 OWiG KK-Rengier (o. Fn. 8), § 16, Rn. 43.<br />
S VR 6/2006 | 205
A U F S ÄT Z E | Ebner, <strong>Die</strong> rechtfer tigende Pf lichtenkollision<br />
Mandanten <strong>im</strong> Einzelfall günstiger darstellen als die Subsumtion<br />
des Sachverhalts unter die Notstandsregelungen der §§ 34 StGB, 16<br />
OWiG. Dabei ist jedoch zu beachten, dass eine Anwendbarkeit der<br />
<strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> i.R. einer „Quasi-Angemessenheit“<br />
dann ausscheidet, wenn der Gesetzgeber <strong>im</strong> konkreten Fall ein<br />
besonderes Konfliktlösungsverfahren vorgesehen hat oder ein Fall<br />
der Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht vorliegt.<br />
6. Verwaltungsakzessorisches <strong>Verkehrsstraf</strong>recht<br />
6.1 Eingeschränkte Anwendbarkeit der §§ 34 StGB,<br />
16 OWiG<br />
Auf den ersten Blick scheint nichts gegen die vorbehaltlose<br />
Anwendbarkeit der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> auch<br />
<strong>im</strong> <strong>Verkehrsstraf</strong>recht zu sprechen. Allerdings ist zu beachten,<br />
dass das <strong>Verkehrsstraf</strong>recht zumindest in Teilen verwaltungsakzessorisch<br />
ist, d.h. die Frage, ob ein Handeln strafbar oder<br />
bußgeldbewehrt ist, hängt davon ab, ob ein genehmigender<br />
Verkehrsverwaltungsakt vorliegt.<br />
Beispiel: Gegen den Berufskraftfahrer B wird von der zuständigen<br />
Verwaltungsbehörde ein Fahrverbot nach §§ 25 Abs. 1 S. 2, 24a<br />
Abs. 1, 3 StVG verhängt. Um seinen Arbeitsplatz bei einer Spedition<br />
nicht zu verlieren, fährt B nach Wirksamwerden des Fahrverbots<br />
noch einige Male mit dem firmeneigenen Lkw, bevor ihn sein Chef C<br />
in den „Fahrverbots-Urlaub“ entlässt. Mit dem Vorwurf einer Straftat<br />
nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG konfrontiert, beruft sich B auf § 34<br />
StGB: Wäre er nicht gefahren, hätte C von dem Fahrverbot wegen<br />
Fahrens unter Alkoholeinfluss Kenntnis erlangt und ihm gekündigt.<br />
Hier erscheint die Anwendbarkeit der §§ 34 StGB, 16 OWiG<br />
mehr als problematisch: Schließlich darf die rechtlich pr<strong>im</strong>är<br />
der Verkehrsverwaltung zugewiesene Abwägung zwischen verkehrsrechtlichen<br />
und sonstigen Interessen, die dem jeweiligen<br />
Verkehrsverwaltungsakt zugrunde liegt, nicht über eine eigene<br />
Interessenabwägung des Betroffenen i.R.d. §§ 34 S. 1 StGB, 16<br />
S. 1 OWiG unterlaufen werden. <strong>Die</strong> gesetzlich festgelegte Entscheidungsprärogative<br />
der Verkehrsverwaltung würde ansonsten<br />
ausgehöhlt; dies wäre unangemessen.<br />
Stattdessen hat der Bürger auf die <strong>im</strong> Einzelfall zur Verfügung<br />
stehenden Rechtsbehelfe zurückzugreifen. <strong>Die</strong>s gilt nach h.M.<br />
selbst dann, wenn der Verwaltungsakt materiell rechtswidrig<br />
ist. 35 Im vorliegenden Fall hätte B also zunächst Einspruch gegen<br />
den Bußgeldbescheid einlegen müssen. <strong>Die</strong>ser hätte dann<br />
wenigstens36 einen Suspensiveffekt entfaltet, 37 den er bis zur<br />
Urlaubsgewährung hätte nutzen können. N<strong>im</strong>mt B die Gelegenheit<br />
zur Rechtsbehelfseinlegung nicht wahr, darf die daraus<br />
resultierende Bestandskraft der Verwaltungsentscheidung<br />
nicht über die §§ 34 StGB, 16 OWiG unterlaufen werden. 38<br />
<strong>Die</strong> Notstandsregelungen sind für den Bereich des verwaltungsakzessorischen<br />
<strong>Verkehrsstraf</strong>rechts demnach nur in begrenztem<br />
Umfang anwendbar: Eingreifen werden sie nur bei unvorhersehbaren<br />
und daher auch von der Verkehrsverwaltung<br />
nicht <strong>im</strong> Voraus abwägbaren Not- und Katastrophenfällen, in<br />
denen sofort gehandelt werden muss (B fährt bspw. einen lebensgefährlich<br />
verletzten Kollegen ins Krankenhaus) sowie bei<br />
nach § 44 VwVfG nichtigen Verkehrsverwaltungsakten, die<br />
auch <strong>im</strong> Bereich des Strafrechts ein „nullum“ darstellen. 39<br />
206 | S VR 6/2006<br />
6.2 Übertragbarkeit der gefundenen Ergebnisse auf die<br />
<strong>rechtfertigende</strong> <strong>Pflichtenkollision</strong>?<br />
Vom Ergebnis her fest steht, dass die für die §§ 34 StGB, 16<br />
OWiG gefundenen Anwendbarkeitseinschränkungen auf die<br />
<strong>rechtfertigende</strong> <strong>Pflichtenkollision</strong> übertragen werden müssen.<br />
Fraglich ist nur, wie sich dies dogmatisch begründen lässt.<br />
6.2.1 Der Weg über §§ 34 StGB, 16 OWiG analog<br />
Vertritt man mit vereinzelten St<strong>im</strong>men in der Literatur, dass<br />
der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> dogmatisch eine Analogie<br />
zu §§ 34 StGB bzw. 16 OWiG zugrunde liegt, 40 ließen sich<br />
die geschilderten Anwendbarkeitseinschränkungen über eine<br />
analoge Anwendung der Angemessenheitsklausel übertragen.<br />
41 Dem steht jedoch entgegen, dass eine Rechtfertigung<br />
nach den Grundsätzen der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
gerade keine gesonderte Angemessenheitsprüfung voraussetzt<br />
(s.o.). Darüber hinaus fehlt es an der für eine analoge<br />
Anwendung der §§ 34 S. 2 StGB, 16 S. 2 OWiG erforderlichen<br />
planwidrigen Regelungslücke. 42 <strong>Die</strong> <strong>rechtfertigende</strong> <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
ist aufgrund ihrer Entwicklungsgeschichte vielmehr<br />
als eigenständiger übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund anzuerkennen.<br />
43<br />
6.2.2 <strong>Die</strong> „freie Wahl“ des Verhaltenspflichtigen<br />
Allerdings droht die Entscheidungsprärogative der Verkehrsverwaltung<br />
<strong>im</strong> Fall der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
dadurch unterlaufen zu werden, dass sich der Täter bei der Kollision<br />
gleichwertiger Pflichten nach seiner Wahl für die Erfüllung<br />
der einen oder der anderen Pflicht entscheiden darf (s.o.).<br />
Bleibt <strong>im</strong> Einzelfall genügend Zeit für eine Behördenkonsultation,<br />
könnte dieser anstatt die von ihm zu befolgende Pflicht<br />
selbst zu best<strong>im</strong>men, alternativ auch die Verwaltung zu Rate<br />
ziehen.<br />
Beispiel: Auf dem Nürnberger Hauptmarkt soll ein 4,5 m hohes<br />
und 3 m breites Denkmal aufgestellt werden. <strong>Die</strong> Stadt Nürnberg<br />
beauftragt die S-GmbH mit der Anlieferung am x.x.2006 um 10.30<br />
Uhr. Kurz vor seinem Ziel erkennt deren Fahrer F, dass er mit dem<br />
Schwerlastzug auf dem straßenverkehrsrechtlich einzig zulässigen<br />
Anfahrtsweg aufgrund einer Straßenverengung nicht mehr weiterkommt.<br />
Ein Rückwärtsfahren oder gar Wenden ist aufgrund der<br />
Abmessungen und des Gewichts der Ladung nicht möglich. Den<br />
Hauptmarkt kann er nur noch erreichen, indem er entweder eine Ein-<br />
35 S. dazu den grundlegenden Gedankengang von Schall, in: Osnabrücker<br />
Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 1, Recht und Wirtschaft, Köln<br />
u.a. 1985, S. 13 ff.<br />
36 Zu den Erfolgsaussichten eines derart begründeten Einspruchs vgl. Hentschel,<br />
Trunkenheit – Fahrerlaubnisentziehung – Fahrverbot, 9. Aufl. [2003],<br />
Rn. 1007 ff. sowie beispielhaft aus der neueren Rspr. OLG Hamm, <strong>SVR</strong> 2004,<br />
146; KG, DAR 2004, 164; AG Erlangen, DAR 2004, 168.<br />
37 KK-Bohnert (o. Fn. 7), § 67, Rn. 2.<br />
38 Vgl. KK-Rengier (o. Fn. 8), § 16, Rn. 43; LK-Hirsch (o. Fn. 23), § 34, Rn. 52.<br />
39 Über das Eingreifen der §§ 34 StGB, 16 OWiG in diesen Fällen ist man sich <strong>im</strong><br />
Bereich des Umweltstrafrechts weitgehend einig: Vgl. nur Sch/Sch-Cramer/<br />
Heine (o. Fn. 3), § 324, Rn. 13 m.w.N. Zur Problematik des nichtigen Verwaltungsakts<br />
vgl. Schall (o. Fn. 35), S. 15.<br />
40 Vgl. Rebmann/Roth/Herrmann/Förster/Hannich, OWiG, 3. Aufl. [Stand: Januar<br />
2003] § 16, Rn. 5 m.w.N.<br />
41 Für eine Einordnung des Problems als Angemessenheitsfrage auch KK-Rengier<br />
(o. Fn. 8), § 16, Rn. 43 m.w.N.<br />
42 Vgl. die in Fn. 6 abgedruckte Begründung des Gesetzgebers zu § 39 E 1962.<br />
43 So auch Rebmann/Roth/Herrmann/Förster/Hannich (o. Fn. 40), Vor § 1,<br />
Rn. 40.
ahnstraße (Zeichen 220 zu § 41 StVO) entgegen der Fahrtrichtung<br />
befährt oder seine Fahrt durch einen Fußgängerbereich (Zeichen 242<br />
zu § 41 StVO) fortsetzt. Beide sich aus den Vorschriftszeichen ergebenden<br />
Unterlassungspflichten sind gleichwertig.<br />
Eine solche „freie Wahl“ kann <strong>im</strong> Bereich des verwaltungsakzessorischen<br />
<strong>Verkehrsstraf</strong>rechts nicht uneingeschränkt<br />
bestehen: So muss die Verkehrsverwaltung bei der Frage nach<br />
der vorrangig zu erfüllenden Pflicht stets zu Rate gezogen werden,<br />
wenn <strong>im</strong> Einzelfall die Möglichkeit hierzu besteht. <strong>Die</strong>se<br />
hat nämlich aufgrund der ihr gesetzlich zugewiesenen Entscheidungskompetenz<br />
nicht nur das Recht, sondern auch die<br />
Pflicht, zuvorderst selbst zu entscheiden, wie in einem <strong>Pflichtenkollision</strong>sfall<br />
zu verfahren ist.<br />
<strong>Die</strong> für die §§ 34 StGB, 16 OWiG gefundenen Ergebnisse müssen<br />
daher aus Gründen der Gewaltenteilung und der Einheit der<br />
Rechtsordnung auf die <strong>rechtfertigende</strong> <strong>Pflichtenkollision</strong> übertragen<br />
werden. Ein freies Wahlrecht des Täters in diesem Bereich<br />
liefe dem klaren Willen des Gesetzgebers zuwider, da das<br />
für den jeweiligen Konfliktfall vorgesehene Verkehrsverwaltungsverfahren<br />
ansonsten über die <strong>rechtfertigende</strong> <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
umgangen werden könnte.<br />
Um sich nicht gemäß §§ 24 StVG i.V.m. 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO<br />
bußgeldpflichtig zu machen, müsste F <strong>im</strong> Beispielsfall daher<br />
z.B. mittels Handy die Straßenverkehrsbehörde der Stadt Nürnberg<br />
kontaktieren und um eine Ausnahmegenehmigung gem.<br />
Der Restwert<br />
§ 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 StVO ersuchen. <strong>Die</strong> Straßenverkehrsbehörde<br />
könnte dann auch etwaige Zusatzmaßnahmen, wie z.B.<br />
eine kurzfristige Sperrung der Einbahnstraße bzw. des Fußgängerbereichs<br />
durch die Polizei, veranlassen. Eine Rechtfertigung<br />
über die Grundsätze der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
scheidet bei eigenmächtigem Handeln des F aus.<br />
7. Resümee<br />
Bei der Prüfung der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> sind<br />
drei Fallgruppen zu unterscheiden: <strong>Die</strong> Kollision gleichwertiger<br />
Handlungspflichten, die Kollision gleichwertiger Unterlassungspflichten<br />
und die Kollision einer Handlungs- mit einer<br />
Unterlassungspflicht. Nur <strong>im</strong> letzteren Fall kommt eine Anwendbarkeit<br />
der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong> von vornherein<br />
nicht in Betracht. Anders als i.R.d. §§ 34 S. 2 StGB, 16<br />
S. 2 OWiG bedarf es bei der <strong>rechtfertigende</strong>n <strong>Pflichtenkollision</strong><br />
zwar keiner gesonderten Angemessenheitsprüfung. Dennoch<br />
ist die Rechtsfigur aufgrund der teilweise bestehenden Verwaltungsakzessorietät<br />
des <strong>Verkehrsstraf</strong>- und -ordnungswidrigkeitenrechts<br />
nicht <strong>im</strong>mer in vollem Umfang anwendbar.<br />
Verteidigungstaktik: Eine Rechtfertigung über die Figur der <strong>rechtfertigende</strong>n<br />
<strong>Pflichtenkollision</strong> kann <strong>im</strong> Einzelfall günstiger sein:<br />
Neben einem vergleichsweise großen juristischen Argumentationsspielraum<br />
kann dabei insbesondere auch der fehlenden Angemessenheitsprüfung<br />
fallentscheidende Relevanz zukommen.<br />
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht und Strafrecht Friedrich Schmidt, Bad Arolsen 1<br />
1. Der Begriff des Restwertes<br />
Wenn ein Thema rund um die Abwicklung von Autounfallschäden<br />
das Prädikat „Klassiker“ beanspruchen kann, dann<br />
ist es sicher das Thema „Restwert“. Was dazu bereits geschrieben<br />
und von den Gerichten ausgeurteilt wurde, füllt Bände.<br />
<strong>Die</strong> Auseinandersetzungen sind nie zu Ruhe gekommen – und<br />
sie werden nie zu Ruhe kommen – denn es geht um sehr viel<br />
Geld.<br />
Zunächst einmal ist eine Begriffsbest<strong>im</strong>mung nötig, denn rein<br />
sprachlich hat sich ein Wort verselbstständigt, das so nicht<br />
passt. „Restwert“ bezeichnet den Wert des einem wirtschaftlichen<br />
Totalschaden zum Opfer gefallenen Fahrzeuges. Im<br />
Alltag der „Schadenbranche“ wird das Wort „Restwert“ aber<br />
bereits als Bezeichnung für das beschädigte Auto als solches<br />
verwendet, so nach dem Motto „Haben Sie den Restwert schon<br />
verkauft?“<br />
<strong>Die</strong>se Publikation wird sich diese sprachliche Unschärfe ebenfalls<br />
leisten, denn alle wissen, was gemeint ist.<br />
2. <strong>Die</strong> Beteiligten <strong>im</strong> „Restwertgeschäft“<br />
<strong>Die</strong> Höhe des Restwertes spielt für die Schadenregulierung<br />
eine große Rolle. <strong>Die</strong> Versicherungswirtschaft insgesamt hat<br />
ein legit<strong>im</strong>es Interesse daran, bei der Totalschadenabrechnung<br />
möglichst hohe Restwerte in Ansatz zu bringen. Dadurch reduziert<br />
sich nämlich die von der Assekuranz zu leistende Zahlung,<br />
denn zu erstatten ist in diesen Fällen bekanntlich nur die<br />
Differenz aus Wiederbeschaffungswert und Restwert. Je höher<br />
also der Restwert, desto kleiner ist die Differenz. Eine gleichfalls<br />
logische und bei übergeordneter Betrachtungsweise auch<br />
legit<strong>im</strong>e Konsequenz ist das Bestreben der Versicherungswirtschaft,<br />
möglichst viele Handelsstufen auszuschalten. Wenn<br />
der Endabnehmer direkt kauft, kommt ein höherer Preis zur<br />
Anrechnung, als wenn die jeweiligen Handelsstufen darunter<br />
mit verdienen.<br />
<strong>Die</strong> Kraftfahrzeugbetriebe hingegen haben ein eben solches<br />
legit<strong>im</strong>es Interesse daran, am Restwerthandel zu partizipieren.<br />
In diesem Interessenwiderstreit findet ein andauerndes Kräftemessen<br />
statt.<br />
Kurios dabei: Bei akademischer Betrachtungsweise ist der Geschädigte<br />
bzw. der Versicherungsnehmer völlig interessenneutral.<br />
Er hat am Ende stets den Wiederbeschaffungswertbetrag<br />
zur Verfügung, zusammengesetzt aus dem Erlös für den Restwert<br />
und der Differenzzuzahlung der Versicherung. Dabei ist<br />
1 www.dr-kloke.de.<br />
Schmidt, Der Restwer t | A U F S ÄT Z E<br />
S VR 6/2006 | 207