Das Ich im Anderen - Mirna Funk
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<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong><br />
– Zur Problematik projektiver Liebe –<br />
von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong>
Inhaltsverzeichnis<br />
„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
Einleitung ........................................................................................................................ 3<br />
1. <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> ........................................................................................................................ 4<br />
1.1 <strong>Das</strong> Gespenst in der Maschine .............................................................................. 5<br />
1.2 <strong>Das</strong> Selbst .............................................................................................................. 6<br />
2. Der Andere .................................................................................................................. 8<br />
2.1 <strong>Das</strong> Nicht-<strong>Ich</strong> ........................................................................................................ 9<br />
2.2 <strong>Das</strong> Du ................................................................................................................. 11<br />
3. Liebe ......................................................................................................................... 12<br />
3.1 Liebe als Überwindung des Getrenntseins .......................................................... 13<br />
3.2 Liebe als Begegnung ........................................................................................... 14<br />
Fazit ............................................................................................................................... 17<br />
Bibliografie ................................................................................................................... 19<br />
2
Einleitung<br />
„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
In der folgenden Arbeit „<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ werde ich<br />
mich mit der Frage beschäftigen, in wieweit die Projektion ein wichtiger Bestandteil der<br />
symbiotischen Liebe ist und warum diese Liebe sich nicht zur Begegnung eignet.<br />
Anhand von Hegels Zitat „Der Geliebte ist nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem<br />
Wesen; wir sehen uns in ihm, und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir<br />
nicht zu fassen vermögen“ 1 aus „Entwürfe über Religion und Liebe“ werde ich auf diesen<br />
tiefen Wunsch nach Objektauflösung und Symbiose <strong>im</strong>mer wieder zu sprechen kommen.<br />
<strong>Das</strong> Thema des Vortrags ist so umfangreich und elementar, dass 15 Seiten zur Ausarbeitung<br />
dieser Problemstellung kaum ausreichend erscheinen. Dementsprechend soll diese Analyse<br />
als ein Versuch der Beleuchtung und einer essayistischen Annäherung an ein hoch komplexes<br />
Thema verstanden werden.<br />
Der Wunsch nach symbiotischer Liebe findet sich schon in Platons Gastmahl und der<br />
Geschichte der Kugelwesen. Dort wird der Mensch als gespalten beschrieben; stetig auf der<br />
Suche nach seiner zweiten Hälfte - nach dem fehlenden Teil - dessen Finden unser<br />
Getrenntsein auflösen soll. Am Ende dieser Suche steht die Rückkehr zu einem Ganzen. Auch<br />
<strong>im</strong> Umgangssprachlichen finden sich Splitter dieser Vorstellung nach dem fehlenden<br />
<strong>Anderen</strong>. Zu jedem Topf ließe sich ein passender Deckel finden, so sagt man. Betritt man<br />
einen Raum, ohne seinen Partner, wird nach der besseren Hälfte gefragt. In diesen<br />
Fragmenten der Alltagssprache lässt sich noch nicht das Projektive erahnen, das die<br />
Vorstellung von einem Ganzen, bestehend aus zwei Menschen, beinhaltet.<br />
Diesem Projektiven möchte ich in meinem Vortrag auf die Spur kommen - dem Vermischen<br />
von innerer und äußerer Realität. Ziel ist es, sich der Frage zu widmen, weshalb der Mensch<br />
sich so selten allein als Ganzes betrachtet und warum das Getrenntsein <strong>im</strong> Allgemeinen als<br />
schmerzhaft erlebt wird.<br />
Was ist das „<strong>Ich</strong>“ und was ist der „Andere“? Welche Formen der Liebe gibt es und warum<br />
spielt Projektion in unserer Vorstellung von romantischer Liebe so eine wichtige Rolle?<br />
In dieser Arbeit werde ich versuchen, den Irrtum aus dem Weg zu räumen, dass sich<br />
wahrhaftige Liebe nur objektauflösend und symbiotisch zeigt. <strong>Ich</strong> werde vielmehr<br />
herauskristallisieren, dass die Akzeptanz des Getrenntseins und die Begegnung als ein „Du“<br />
1 G. W. F. Hegel, „Entwürfe über Religion und Liebe“ in Frühe Schriften, S.244.<br />
3
„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
und ein „<strong>Ich</strong>“ eine größere Wahrhaftigkeit ehrlicher Zuneigung und tiefer Liebe verspricht,<br />
als das symbiotische Verwobensein miteinander. Die Akzeptanz des Anderseins und die<br />
Entdeckung des eigenen Selbst öffnet die Tür zu einem Raum in dem der „Andere“ als ein<br />
„Du“ gesehen und erkannt werden kann. Dieses Sehen und Erkennen sind die Bausteine einer<br />
Liebe, die frei von narzisstischem Begehren und projektiver Berührung ist. Eine Liebe bei der<br />
unser „Selbst“ <strong>im</strong> anderen erkennbar wird, ohne dass wir uns spiegeln. Eine Liebe, die das<br />
Fremde bejaht und nicht das Gleiche begehrt.<br />
1. <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong><br />
<strong>Das</strong> „<strong>Ich</strong>“ ist der Zustand eigenen Seins. Es beschreibt das unmittelbare Erleben der eigenen<br />
Gefühle, Gedanken und Handlungsabläufe.<br />
<strong>Das</strong> „<strong>Ich</strong>“ wird als Persönlichkeitsmittelpunkt empfunden und best<strong>im</strong>mt dessen Struktur<br />
maßgeblich mit. Charaktereigenschaften, Ansichten und Vorstellungen umfassen jenen<br />
Wesenskern, der als eigenes <strong>Das</strong>ein verstanden wird. <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong>-Erleben ist abgeschlossen und<br />
begrenzt. Es beinhaltet die Empfindung des Menschen als eigenständige Ganzheit, als<br />
Unteilbares und Individuelles. Die eigenen Gedanken und Gefühle sind von niemandem<br />
erkennbar, sichtbar oder nachvollziehbar. Sie können artikuliert und beschrieben werden,<br />
bleiben aber für das Gegenüber („Nicht-<strong>Ich</strong>“) nie hundertprozentig erfahrbar. Diese Kluft<br />
zwischen dem „<strong>Ich</strong>“ und dem „Nicht-<strong>Ich</strong>“ wird als unüberbrückbar erlebt.<br />
<strong>Das</strong> „<strong>Ich</strong>“ ist auf sich selbst zurückgeworfen und erfährt sich dadurch als selbstkompetent und<br />
mündig. Die eigene Abgeschlossenheit führt zu einem tiefen Selbstverständnis der möglichen<br />
Freiheit. „’<strong>Ich</strong>’ gehöre zur Ordnung des Existierens. <strong>Das</strong> unobjektivierte ‚<strong>Ich</strong>’ bedeutet,<br />
existentiell gesehen, die Freiheit.“ 2 Der Mensch wird durch die abgegrenzte <strong>Ich</strong>-Erfahrung zu<br />
einem Wesen, das grundsätzlich ein Recht auf Selbstbest<strong>im</strong>mung hat, ja, zwangsläufig ich-<br />
best<strong>im</strong>mt ist. Es determiniert sein eigenes Handeln, denn „<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> ist das sich selbst Setzende,<br />
und nichts weiter.“ 3<br />
<strong>Das</strong> Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit des „<strong>Ich</strong>“ kann dann problematisch werden,<br />
wenn das eigene <strong>Ich</strong>-Erleben in den Zustand tiefer Egozentrik mündet. Dabei können die<br />
2 N. Berdjajew, <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und die Welt der Objekte, S.113.<br />
3 J. G. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, hrsg. Peter Baumann, S.103.<br />
4
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Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
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eigenen Grenzen und die Grenzen des Gegenübers nicht mehr wahrgenommen werden. Es<br />
kommt zu Grenzüberschreitungen und übertriebenen Raumausweitungen.<br />
Der Nachteil der <strong>Ich</strong>-Erfahrung ist das allumfassende Einsamkeitsempfinden, das aus dem<br />
abgegrenzten <strong>Das</strong>ein resultiert. Der Andere verschw<strong>im</strong>mt zu einem „Nicht-<strong>Ich</strong>“ und kann als<br />
„Du“ nicht mehr vollständig wahrgenommen werden. 4 Um die Einsamkeit des Getrenntseins<br />
von der Welt durchzustehen, wird auf unterschiedlichste Handlungsabläufe zurückgegriffen.<br />
„<strong>Das</strong> ‚<strong>Ich</strong>’ versucht, die Einsamkeit auf mancherlei Weise zu überwinden, auf dem Wege der<br />
Erkenntnis, <strong>im</strong> Geschlechts- und Liebesleben, in der Freundschaft, <strong>im</strong> sozialen Leben, durch<br />
moralische Akte und auf dem Wege der Kunst usw. Es wäre unrichtig, behaupten zu wollen,<br />
die Einsamkeit würde auf diesen Wegen überhaupt nicht überwunden, aber man kann auch<br />
nicht sagen, sie würde endgültig überwunden.“ 5<br />
Der Mensch befindet sich sein ganzes Leben in dem <strong>im</strong>manenten Zustand, in der das „<strong>Ich</strong>“<br />
endlos und wiederholend zwischen dem Selbstverständnis der eigenen Freiheit und dem<br />
Getrenntsein vom <strong>Anderen</strong> schwingt. <strong>Das</strong> „<strong>Ich</strong>“ ist nicht verortet, sondern bewegt sich gleich<br />
einem Metronom in der Nähe des eigenen <strong>Das</strong>eins und in der Nähe des <strong>Anderen</strong>.<br />
1.2 <strong>Das</strong> Gespenst in der Maschine 6<br />
Auf die Frage, ob man überhaupt von der Existenz eines „<strong>Ich</strong>“ ausgehen kann, gibt weder die<br />
Wissenschaftstheorie, Psychologie oder Philosophie eine eindeutige Antwort. Die<br />
Sichtweisen gehen diametral auseinander. Die Bandbreite reicht von der Behauptung das<br />
„<strong>Ich</strong>“ sei nichts anderes als ein Produkt physischer Abläufe bis hin zur Vorstellung von der<br />
Existenz einer unsterblichen Seele.<br />
Unendlich viele Bücher, Essays und Symposien wurden dieser Frage gewidmet - ich werde<br />
sie in dieser Arbeit nicht einmal ansatzweise beleuchten können. Vielmehr interessiert mich<br />
wie sich das „<strong>Ich</strong>“ innerhalb eines Körpers fühlt und warum es das Bedürfnis verspürt, sich<br />
mit einem anderen „<strong>Ich</strong>“ so tief zu verbinden, dass die Grenzen zwischen beiden schier<br />
verschwinden.<br />
4 vgl. N. Berdjajew, <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und die Welt der Objekte, S.114.<br />
5 N. Berdjajew, <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und die Welt der Objekte, S.123.<br />
6 Karl R. Popper, <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und sein Gehirn, S.139.<br />
5
„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
Der Körper ist die Geburtsstätte und der Aufenthaltsort des „<strong>Ich</strong>“. Er ist wärmend und eiskalt<br />
zugleich. Denn in ein und demselben Moment bietet er Geborgenheit und trennt das „<strong>Ich</strong>“<br />
vom <strong>Anderen</strong>. Der Körper ist ein abgeschlossenes System in dem das „<strong>Ich</strong>“ beherbergt wird.<br />
Beide beeinflussen einander und werden beeinflusst – bleiben aber auf sich selbst<br />
zurückgeworfen.<br />
Alle Personen außerhalb des eigenen Körpers und des eigenen „<strong>Ich</strong>“ sind erst einmal nur<br />
„Nicht-<strong>Ich</strong>“. <strong>Das</strong> „Nicht-<strong>Ich</strong>“ sind andere beseelte Körper, die demselben Dilemma ausgesetzt<br />
sind.<br />
Trotzdem sind das „<strong>Ich</strong>“ und der „Körper“ kein Gegensatzpaar, denn sie teilen dasselbe<br />
Schicksal. Sie sind beide Bestandteil der objektiven Welt und des subjektiven Empfindens.<br />
„Nicht nur meine Seele, sondern auch mein Körper gehen in mein ‚<strong>Ich</strong>’ ein. Dualismus und<br />
Parallelismus von Körper und Seele ist eine gänzlich unfruchtbare Theorie. Mein Körper<br />
gehört nicht nur der objektivierten Welt an, er gehört auch zur Ordnung des inneren<br />
Existierens.“ 7 <strong>Das</strong> „<strong>Ich</strong>“ und der „Körper“ bedingen einander und grenzen sich von der<br />
äußeren Welt ab. <strong>Das</strong> „<strong>Ich</strong>“ erkennt den „Körper“ und der „Körper“ gibt dem „<strong>Ich</strong>“ eine<br />
Behausung. Sie haben beide das tiefe Bedürfnis mit der objektivierten Welt in Verbindung zu<br />
treten, um das Dilemma des Getrenntseins zu überwinden. Sie sind nicht von einander zu<br />
unterscheiden und doch sind sie zu zweit.<br />
1.3 <strong>Das</strong> Selbst<br />
Man könnte annehmen, dass „<strong>Ich</strong>“ und „Selbst“ als identisch angesehen werden. Aber auch<br />
hinsichtlich dieser Debatte gibt es eine Vielzahl an Meinungen. <strong>Ich</strong> werde mich wesentlich<br />
auf C.G. Jungs Begriff vom Selbst stützen.<br />
Für Jung ist „Selbstwerdung“ ein Prozess, den er als Individuation beschreibt: „Individuation<br />
bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste,<br />
letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte<br />
‚Individuation’ darum auch als ‚Verselbstung’ oder als ‚Selbstverwirklichung’ übersetzen.“ 8<br />
7 N. Berdjajew, <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und die Welt der Objekte, S.117.<br />
8 C.G. Jung, Zwei Schriften über analytische Psychologie, S.183.<br />
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„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
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Diese Verselbstung ist die Grundlage, um den „<strong>Anderen</strong>“ als „Du“ anzuerkennen und nicht<br />
nur als „Nicht-<strong>Ich</strong>“. Wenn ich meine „innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit“<br />
erkenne, so begreife ich den „<strong>Anderen</strong>“ auch als unvergleichbar einzigartig. Die Vorstellung,<br />
dass der Andere ein fehlender Teil oder eine bessere Hälfte von mir ist, wird somit nichtig<br />
und verliert ihr Existenzrecht.<br />
<strong>Das</strong> Verlangen danach, das schneidende Einsamkeitsgefühl durch Symbiose zu überwinden,<br />
entsteht nur dann, wenn ich mich nicht bewohne - und wenn ich auf ein unbewohntes<br />
Gegenüber treffe. Den Begriff „bewohnen“ führe ich an dieser Stelle in diesem<br />
Zusammenhang ein, um die Differenz von „<strong>Ich</strong>“ und „Selbst“ noch einmal zu verdeutlichen.<br />
<strong>Das</strong> „Bewohnen“ ist eine aktive und bewusste Entscheidung. <strong>Das</strong> „<strong>Ich</strong>“ ist nur. <strong>Das</strong> Selbst<br />
bewohnt sich.<br />
Nur ein „<strong>Ich</strong>“, das in der Lage ist den „<strong>Anderen</strong>“ als „Du“ zu erkennen, ist ein bewohntes<br />
„<strong>Ich</strong>“ – ein „Selbst“ <strong>im</strong> Jungschen Sinne. Dieses Selbst erkennt seine eigene Einsamkeit an,<br />
ohne sie <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> lösen zu wollen. Dieses Selbst ist ganz, ihm fehlt niemand und dadurch<br />
ist es ihm möglich, eine nicht-symbiotische Begegnung zu erleben.<br />
Schnell können die Begriffe „Selbst“ und „Individuation“ missverstanden und als Egoismus<br />
oder Individualismus interpretiert werden. Um dem entgegen zu wirken, möchte ich noch<br />
einmal jene Differenz verdeutlichen, die Jung an dieser Stelle wichtig war.<br />
„Individualismus ist ein absichtliches Hervorheben und Betonen der vermeintlichen Eigenart<br />
<strong>im</strong> Gegensatz zu kollektiven Rücksichten und Verpflichtungen. Individuation aber bedeutet<br />
geradezu eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Best<strong>im</strong>mungen des Menschen,<br />
indem eine genügende Berücksichtigung der Eigenart des Individuums eine bessere soziale<br />
Leistung erhoffen lässt, als wenn die Eigenart vernachlässigt oder gar unterdrückt wird.“ 9<br />
Diese Eigenart muss für Jung vor allem aus den falschen Hüllen der Persona einerseits und<br />
der Suggestivgewalt unbewusster Bilder andererseits befreit werden – das Ergebnis dieses<br />
Prozesses ist das Selbst. 10<br />
Ausgehend von diesem Begriff des „Selbst“ möchte ich die weitere Bearbeitung der<br />
Fragestellung fortführen.<br />
9 C.G. Jung, Zwei Schriften über analytische Psychologie, S.183.<br />
10 C.G. Jung, Zwei Schriften über analytische Psychologie, S.184.<br />
7
2. Der Andere<br />
„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
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Viele Jahrhunderte existierte der „Andere“ als ein „personales Gegenüber“ nicht <strong>im</strong> Denken<br />
der abendländischen Philosophie. Vielmehr wurde der „Andere“ als das „Andere“ betrachtet<br />
oder als ein zweites „<strong>Ich</strong>“. 11 Die Auseinandersetzung mit einer klaren Andersartigkeit des<br />
<strong>Anderen</strong> von einem selbst entstand erst in Folge der Postmoderne. Als Vertreter einer<br />
Philosophie der Andersartigkeit seien vor allem Nietzsche, Lévinas, Derrida und Lacan<br />
genannt. Trotz der eindeutigen Akzeptanz einer Andersartigkeit beziehen sich fast alle diese<br />
Denker vor allem auf die Alterität der Sprache, Diskurse und Begriffe. Der individuellen<br />
Andersartigkeit wird weiterhin nicht wirklich Raum geschenkt. Der einzige Philosoph, der<br />
vor der individuellen Andersartigkeit nicht zurückschreckte, war Nietzsche. Dies verdeutlicht<br />
folgendes Zitat: „<strong>Das</strong> Individuum ist etwas ganz Neues und Neuschaffendes[,] etwas<br />
Absolutes, alle Handlungen ganz sein Eigen. Die Werte für seine Handlungen entn<strong>im</strong>mt [der<br />
Einzelne] zuletzt doch sich selber: weil er auch die überlieferten Worte sich ganz individuell<br />
deuten muß [sic!].“ 12 Ausgehend von dieser Vorstellung der Andersartigkeit des <strong>Anderen</strong><br />
widme ich mich <strong>im</strong> folgenden Abschnitt weniger den denkerischen Entwicklungsschritten in<br />
Bezug auf den Begriff des „<strong>Anderen</strong>“, sondern setzte viel mehr die Andersartigkeit des<br />
<strong>Anderen</strong> in meiner Analyse voraus und gehe spezifisch auf die Betrachtung dieser<br />
Andersartigkeit ein. Denn „die Auffassung des <strong>Anderen</strong> als unerkennbares, nicht auf den<br />
Begriff zu bringendes und nicht mit dem Selbst identisch zu setzendes Gegenüber“ hat sich<br />
mittlerweile als eine geradezu entscheidende Charakteristik des <strong>Anderen</strong> qua <strong>Anderen</strong><br />
durchgesetzt.“ 13<br />
Wenn der Andere also 1. unerkennbar und 2. mit dem Selbst nicht identisch ist, so bleibt die<br />
Frage, als was das Gegenüber ergo das „<strong>Ich</strong>“ den „<strong>Anderen</strong>“ wahrn<strong>im</strong>mt. Der „Andere“ ist<br />
nämlich nicht einfach nur der „Andere“, er besticht nicht nur durch seine Andersartigkeit,<br />
sondern vor allem durch die Perspektive, die das Selbst auf ihn hat. Dabei kann der „Andere“<br />
von einem selbst als ein „Nicht-<strong>Ich</strong>“, also als Objekt wahrgenommen werden, oder aber als<br />
ein „Du“ und wird damit als Subjekt anerkannt. Die Unterschiedlichkeit dieser beiden<br />
Perspektiven sollen von mir näher beleuchtet werden, denn sie werden uns einen Aufschluss<br />
11 vgl. N. Ruchlak, <strong>Das</strong> Gespräch mit dem <strong>Anderen</strong>, S.207ff.<br />
12 N. Ruchlak, <strong>Das</strong> Gespräch mit dem <strong>Anderen</strong>, S.237.<br />
13 N. Ruchlak, <strong>Das</strong> Gespräch mit dem <strong>Anderen</strong>, S.208.<br />
8
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Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
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darüber geben, wie es zu projektiver Liebe kommen kann und wann das Subjekt den Wunsch<br />
nach Objektauflösung verspürt und warum.<br />
2.1 <strong>Das</strong> Nicht-<strong>Ich</strong><br />
Alles außerhalb meines Selbst ist objektiv betrachtet erst einmal „Nicht-<strong>Ich</strong>“. Die Welt und<br />
alles, was in ihr enthalten ist, liegt außerhalb meines beseelten Körpers. <strong>Ich</strong> kann das „Nicht-<br />
<strong>Ich</strong>“ beobachten, es anschauen und vielleicht sogar berühren - trotzdem bleibt es mir<br />
grundlegend verborgen. Wird das „Nicht-<strong>Ich</strong>“ zu einem Gegenüber, so erlebe ich jenes<br />
Gegenüber zuallererst als ein Objekt. Ein Objekt mit spezifischen äußeren Attributen, die für<br />
mich erkennbar sind. Wenn es mit mir in Kommunikation tritt, dann kann ich das Objekt<br />
weiter eingrenzen und die Liste der Charaktereigenschaften und Attribute erweitern und<br />
vervollständigen. Die eigentliche Existenz bleibt mir aber durch diese Objektivierung<br />
verborgen. <strong>Das</strong> Objekt bleibt fremd. Es erhält lediglich Koordinaten, die mir die Einordnung<br />
der spezifischen Persönlichkeit erleichtern.<br />
<strong>Das</strong> objektivierte „Nicht-<strong>Ich</strong>“ ist die Personifizierung des Fremden, des Nicht-Erfahrbaren.<br />
Und dieses Gewahrwerden der äußeren Fremde löst eine scheinbar unüberwindbare<br />
Einsamkeit aus, weil es mir mein in-die-Welt-geworfen-Sein 14 vor Augen führt. <strong>Das</strong><br />
Innenleben wird als unterschiedlich und getrennt von der Außenwelt identifiziert. Durch diese<br />
Erkenntnis erfährt das Gefühl der Einsamkeit eine exponentiale Vergrößerung. Zur<br />
Überwindung dieser Einsamkeit projizieren wir eigene <strong>Ich</strong>-Anteile auf das Außen, um aus<br />
dem fremden (objektivierten) „Nicht-<strong>Ich</strong>“, ein nicht fremdes (subjektiviertes) „Nicht-<strong>Ich</strong>“ zu<br />
machen. Diese Objektauflösung el<strong>im</strong>iniert und ignoriert die Andersartigkeit des <strong>Anderen</strong> und<br />
macht den <strong>Anderen</strong> zu einem Teil von einem Selbst.<br />
Die Projektion ist innerhalb der Psychologie ein äußerst besetzter Begriff. Die vielseitige<br />
Interpretation dieses Wortes und dessen Entwicklung fand besonders innerhalb der<br />
Psychologie von Sigmund Freud und C.G. Jung statt.<br />
Heute wird Projektion <strong>im</strong> Allgemeinen als ein Abwehmechanismus gedeutet bei dem Inneres<br />
auf die äußere Welt projiziert wird. „Taucht er auf, wird früher oder später die Rede sein von<br />
psychischen Konflikten, unbewußten [sic!] Ängsten, mangelnder Selbsteinsicht und der<br />
14 vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit.<br />
9
„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
Abwehr uneingestandener Wünsche. Wer projiziert, n<strong>im</strong>mt an anderen Personen etwas wahr,<br />
was in Wirklichkeit ein bedrohlicher Teil eigener Gefühle, Gedanken, Wünsche und<br />
Bedürfnisse ist. Ihr Ursprung wird aus der eigenen Person in eine andere Person verlagert.“ 15<br />
Aber die Projektion ist nicht nur eine paranoide Antwort auf unsere ungeliebten Anteile, nein,<br />
sie hilft uns auch dabei, diese unüberbrückbare Distanz zum Gegenüber zu überwinden. In<br />
dem projektiven Moment mit dem <strong>Anderen</strong> können wir also scheinbar dieser Vereinzelung<br />
entkommen, denn schließlich findet ein reales Verwobensein statt. Der Andere wird zu einem<br />
Teil von mir und ich werde zu einem Teil vom <strong>Anderen</strong>.<br />
Die Andersartigkeit des <strong>Anderen</strong> scheint nunmehr nicht mehr existent, sondern das<br />
Zusammentreffen zweier unabhängiger Wesen fördert eine grenzenlos amorphe Form von<br />
Verwobensein zu Tage.<br />
<strong>Das</strong> Fremde verschwindet und der Schmerz über die Vereinzelung in der Welt löst sich auf.<br />
Diese Objektauflösung ist jedoch keine Anerkennung der Subjektivität des <strong>Anderen</strong>. Dieser<br />
Prozess führt nicht zu einer wahrhaftigen Begegnung. Er ist sogar begegnungs-feindlich.<br />
Denn „das Hinaustreten in das Nicht-<strong>Ich</strong>, in die Welt, ins Objekt bedeutet keineswegs eine<br />
Ueberwindung [sic!] der Einsamkeit. Der Einsame vollzieht dauernd ein solches Hinaustreten<br />
ins Objekt, täglich versucht er es zu vollziehen, aber dadurch wird die Einsamkeit nicht<br />
gemindert, sondern nur verstärkt. Kein Objekt kann die Einsamkeit mindern, das ist eine<br />
Grundwahrheit. Die Einsamkeit kann nur auf der Ebene des Existierens überwunden werden,<br />
nicht in der Begegnung mit dem Nicht-<strong>Ich</strong>, sondern in der Begegnung mit dem Du, das auch<br />
ein <strong>Ich</strong> ist, nicht in der Begegnung mit dem Objekt, sondern mit dem Subjekt.“ 16<br />
Wenn wir den <strong>Anderen</strong> nur objektivieren und die Andersartigkeit als schmerzhafte Fremdheit<br />
erleben, und diese in der Projektion versuchen zu überwinden, bleibt uns das eigentliche<br />
Subjekt und dessen lebendige Fremdheit verborgen.<br />
15 W. Deutsch, „Der Spiegel und die Identität“ in Projektion, hrsg. Jürgen Neuser & Reinholde Kriebel,<br />
Göttingen1992, S.157.<br />
16 N. Berdjajew, <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und die Welt der Objekte, S.122.<br />
10
2.2 <strong>Das</strong> Du<br />
„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
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<strong>Das</strong> „Du“ ist ein echtes „<strong>Ich</strong>“. Es ist nicht einfach nur die Negation meines „Selbst“, sondern<br />
es existiert wahrhaftig als Subjekt in der äußeren Welt. Mit der Anerkennung eines „Du“ gebe<br />
ich meinem Gegenüber die Chance ein „Selbst“ zu sein. <strong>Ich</strong> gebe ihm die Chance, mich zu<br />
erkennen und selbst von mir erkannt zu werden. Die schmerzhafte Fremdheit des „<strong>Anderen</strong>“<br />
wird durch die echte Begegnung zweier Subjekte zu einem „Wir“. Aus dem „<strong>Ich</strong>“ und dem<br />
„Du“ wird das „Wir“. Die beiläufige Berührung – mit Absicht verzichte ich hier auf das Wort<br />
Begegnung – von „<strong>Ich</strong>“ und „Nicht-<strong>Ich</strong>“ mündet hingegen in einer gegenseitigen Einsamkeit.<br />
Die nicht-projektive Begegnung mit dem <strong>Anderen</strong> führt zu einer Spiegelung. Und diese<br />
Spiegelung ist notwendig für die Selbsterkenntnis und unsere Existenz. Denn „das ‚<strong>Ich</strong>’ hat<br />
ein tiefes Bedürfnis, sich richtig <strong>im</strong> anderen widergespiegelt zu sehen, die Bestätigung und<br />
Bekräftigung seines ‚<strong>Ich</strong>’ <strong>im</strong> anderen zu empfangen, es lechzt danach, gehört und gesehen zu<br />
werden.“ 17 Nur eine wahrhaftige Spiegelung - keine projektive, so wie <strong>im</strong> Abschnitt 2.1<br />
beschrieben - lässt uns einander auch wirklich erkennen. Nur, wenn ich von einem „Du“<br />
gespiegelt werde - also mir nicht meine eigene Reflexion vom „Nicht-<strong>Ich</strong>“ entgegen schaut -<br />
kann ich mich selbst erkennen. In dieser Spiegelung werde ich gehört und gesehen und<br />
lausche nicht nur dem Echo meines Selbst.<br />
Die Projektion meines „Selbst“ auf das „Nicht-<strong>Ich</strong>“ ist reiner Narzissmus. „Der Narzissmus<br />
ist eine tiefere Erscheinung als man denkt, er hängt mit dem Wesen des ‚<strong>Ich</strong>’ zusammen. <strong>Das</strong><br />
‚<strong>Ich</strong>’ schaut in den Spiegel und will sein Spiegelbild <strong>im</strong> Wasser sehen, um sein eigenes<br />
Existieren <strong>im</strong> anderen zu bestätigen. In Wirklichkeit will sich das „<strong>Ich</strong>“ nicht <strong>im</strong> Spiegel,<br />
nicht <strong>im</strong> Wasser, sondern in einem anderen „<strong>Ich</strong>“, <strong>im</strong> „Du“ {...} reflektieren.“ 18 Diese<br />
Reflexion meines „<strong>Ich</strong>“ ist nicht einfach nur eine narzisstische Spiegelung, sondern eine<br />
subjektive Reflexion. Sie gehört dem <strong>Anderen</strong>. Sie ist die Antwort auf mich und nicht ich<br />
selbst. Jacques Derrida umschreibt diese subjektive Reflexion folgendermaßen: „Diesem sich<br />
<strong>im</strong>mer partiell entziehenden <strong>Anderen</strong> bin ich verantwortlich: ich bin zur Antwort<br />
aufgefordert„ 19 Diese Antwort ist die Reflexion meines „<strong>Ich</strong>“ auf das „Du“. Diese Reflexion<br />
ist gegenseitig und unendlich. Unendlich deshalb, weil sie nicht mit der Abstinenz des<br />
17 N. Berdjajew, <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und die Welt der Objekte, S.124.<br />
18 N. Berdjajew, <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und die Welt der Objekte, S.124.<br />
19 J. Derrida, The Politics of Friendship, in: The Journal of Philosophy, Vol. LXXXV, Nr.11 (1988), S.683.<br />
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„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
„<strong>Anderen</strong>“ verschwindet, sondern in der sich <strong>im</strong>mer wieder neu formenden Begegnung<br />
weiterlebt. Sie ist die ursprüngliche Begegnung, weil sie Kommunikation voraussetzt; weil sie<br />
Fragen und Antworten fordert. Sie ist kein glitzerndes Selbstbild, das den „<strong>Anderen</strong>“<br />
auslöscht, sondern gewährt ihm eine echte Existenz. Nur die Anerkennung eines „Du“ gibt<br />
uns die Chance auf eine echte Begegnung, in der die Einsamkeitsgefühle nicht durch<br />
Projektion überwunden werden wollen, sondern in der zwei bewohnte „<strong>Ich</strong>“ sich einander<br />
zeigen, einander Antworten geben und das in-die-Welt-geworfen-Sein anerkennen.<br />
3. Liebe<br />
Wenige Worte, in der Geschichte des Menschen, wurden so oft literarisch verarbeit oder<br />
anderweitig künstlerisch umgesetzt wie der Begriff der „Liebe“. Die Liebe ist allumfassend<br />
und gehe<strong>im</strong>nisvoll zugleich. Wir glauben vieles über sie zu wissen und werden <strong>im</strong>mer wieder<br />
vom Gegenteil überrascht. Sie ist so flüchtig, wie ein Regenschauer und verlangt trotzdem<br />
nach grenzenloser Ewigkeit. Oft spricht man von falscher und von wahrer Liebe; von<br />
Scheinliebe und reiner Liebe. Die schier unlösbare Aufgabe der Wahrhaftigkeit dieses tiefen<br />
Gefühls auf den Grund zu kommen, bleibt oft ergebnislos. Wann ist dieses Moment, das wir<br />
als Liebe bezeichnen wahr und wann erliegen wir einer Täuschung? Diese Frage zu<br />
beantworten, scheint anmaßend und doch bleibt mir nichts anderes übrig, als zu versuchen<br />
mich dieser Problematik anzunähern. In den vorangegangenen Abschnitten bin ich <strong>im</strong>mer<br />
wieder auf zwei „Liebesformen“ eingegangen. Zum einen sprach ich von der projektiven<br />
Berührung, die mit dem Wunsch nach Symbiose gleichzusetzen ist und zum anderen widmete<br />
ich mich dem Gegenstück, der wahrhaftigen Begegnung, die nur zwischen einem „Du“ und<br />
einem bewohnten „<strong>Ich</strong>“ stattfinden kann. Mit diesen beiden „Liebesformen“ werde ich mich<br />
nun <strong>im</strong> letzten Abschnitt näher beschäftigen.<br />
Schon in meiner Einleitung zog ich die Alltagssprache sowie die aus dem Symposium<br />
stammende Geschichte des Kugelwesens heran, um anhand dieser Beispiele zu zeigen, wie<br />
stark die Vorstellung von einer Verschmelzung zweier unabhängiger Wesen gesellschaftlich<br />
verankert scheint. Dementsprechend befasse ich mich <strong>im</strong> folgenden Abschnitt mit dieser<br />
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„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
Vorstellung und werde Hegels bekanntes Zitat 20 , in dem es vor allem um den Wunsch nach<br />
Objektauflösung geht, noch einmal näher beleuchten. Den Abschnitt, der die projektive<br />
Berührung beinhaltet, nenne ich daher „Liebe als Überwindung des Getrenntseins“.<br />
In einem offensichtlichen Gegensatz zu diesem Konzept steht für mich, wie schon in dem<br />
Vortrag mehrmals erwähnt, die Idee einer Akzeptanz der Andersartigkeit. Bei dieser Idee ist<br />
die Liebe zu einem „Du“ gemeint, die Liebe zu einem echten Subjekt, dessen Abwesenheit<br />
und Unterschiedlichkeit eine wahrhafte Bejahung erfordert. Ohne diese Bejahung zur<br />
Andersartigkeit bleibt das Gegenüber unerkannt. Deswegen führt für mich dieses gegenseitige<br />
Erkennen zu einer „Liebe als Begegnung“. Dementsprechend habe ich den Namen für diesen<br />
Teil des Vortrags gewählt.<br />
3.1 Liebe als Überwindung des Getrenntseins<br />
Die Idee der Verschmelzung zweier Wesen innerhalb einer Liebesbeziehung ist nicht nur alt,<br />
sondern besonders Teil einer idealisierten Vorstellung von Romantik. Der Mensch, der sich<br />
als ein in-die-Welt-Geworfener den Gegebenheiten und Anforderung des Lebens stellen<br />
muss, glaubt nur in einer symbiotischen Einheit, echten Schutz und Geborgenheit erleben zu<br />
können. Aber nicht nur das: das Erleben der Außenwelt als ein „Nicht-<strong>Ich</strong>“ oder als das<br />
„Fremde“ führt zu einer tiefen schier unüberwindbaren Einsamkeit. Diese Einsamkeit der<br />
Vereinzelung gilt es durch Vereinigung zu überwinden. Der Glaube an eine Komplettierung<br />
des eigenen Selbst durch einen Partner scheint allgemein anerkannt. Innerhalb der<br />
Gesellschaft wird diese romantische Vorstellung nur in Maßen hinterfragt oder argwöhnisch<br />
beleuchtet.<br />
Zu Beginn ist das Gegenüber erst einmal ein „Nicht-<strong>Ich</strong>“, ein fremdes Individuum, das einem<br />
weiterhin die eigene Vereinzelung vor Augen führt. Die einzige Chance diesem Gefühl zu<br />
entfliehen, liegt folglich in der Gleichmachung des <strong>Anderen</strong>. Wird der Andere ein Teil von<br />
mir und ich zu einem Teil des <strong>Anderen</strong> sind wir quasi nicht mehr Fremde für einander. Wir<br />
werden zu einer Verlängerung von uns selbst. <strong>Ich</strong> lebe <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> und der Andere lebt in<br />
20 „Der Geliebte ist nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen uns in ihm, und dann ist er<br />
doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen“ - G. W. F. Hegel, „Entwürfe über<br />
Religion und Liebe“ in Frühe Schriften, S.244.<br />
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„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
mir. Aus der Vereinzelung wird eine Verschmelzung, die zu dem Gefühl von Ganzheit führt.<br />
In dieser Ganzheit scheint die Einsamkeit erst einmal überwunden.<br />
Wenn Hegel in seinem Zitat: „Der Geliebte ist nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem<br />
Wesen; wir sehen uns in ihm, und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir<br />
nicht zu fassen vermögen“ 21 von dem Nicht-Entgegengesetzten spricht und behauptet der<br />
Geliebte sei „eins mit unserem Wesen; wir sehen uns in ihm, und dann ist er doch wieder<br />
nicht wir“, dann stehen wir genau vor der Problematik, der ich mich in den anderen<br />
Abschnitten der Arbeit versucht habe <strong>im</strong>mer weiter anzunähern. Man glaubt dem Gefühl des<br />
Getrenntseins von der Welt nur durch eine vermeintliche Verschmelzung entgegenwirken zu<br />
können und wird doch <strong>im</strong>mer wieder aufs Neue dabei überrascht, wie der Andere plötzlich zu<br />
einem Fremden - also zu einem „Nicht-<strong>Ich</strong>“ - mutiert. <strong>Das</strong> projektive Moment kann<br />
demzufolge nicht ewig aufrechterhalten werden. Der Andere bleibt anders. In den<br />
Augenblicken des Sichtbarwerdens dieser Andersartigkeit wiederholt sich der Schmerz über<br />
das Getrenntsein.<br />
In einer Art Pingpong-Spiel bewegen sich die verschmolzenen Partner zwischen völligem<br />
Ungetrenntsein und der Unmöglichkeit dieser Tatsache. Die Liebe wird in Zeiten tiefer<br />
Verschmelzung überd<strong>im</strong>ensional empfunden und ich-auflösend erlebt. Sobald die Projektion<br />
schwindet und der Andere wieder als der Andere erscheint, n<strong>im</strong>mt das Gefühl der<br />
Vereinzelung bis ins Unermessliche zu und der Geliebte wird als das Ur-Fremde empfunden.<br />
<strong>Das</strong>s in diesem Verhalten weder Authentizität, geschweige denn Dauerhaftigkeit zu finden ist,<br />
sollte offensichtlich geworden sein. Trotzdem ist diese Form projektiver Berührung<br />
allgegenwärtig und verspricht <strong>im</strong>mer noch, die wahrhaftige Liebe zu repräsentieren.<br />
<strong>Das</strong>s ich diesem Konzept grundlegend widerspreche, sollte bis zu diesem Zeitpunkt klar<br />
geworden sein. Wie eine Alternative dazu aussehen könnte, werde ich <strong>im</strong> letzten Abschnitt<br />
meiner Ausarbeitung beleuchten.<br />
3.2 Liebe als Begegnung<br />
Im vorangegangenen Abschnitt widmete ich mich der symbiotischen Liebe. Einer Liebe, die<br />
sich nach Verschmelzung sehnt, um so der Vereinzelung und der dadurch entstehenden<br />
Einsamkeit in der Welt zu entfliehen. Der Prozess der Projektion sorgt scheinbar für eine<br />
21 G. W. F. Hegel, „Entwürfe über Religion und Liebe“ in Frühe Schriften, S.244.<br />
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„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
Überwindung jener Einsamkeit. Trotzdem bleiben die verschmolzenen Individuen einander<br />
gegenseitig unerkannt und unbeantwortet. Sobald das symbiotische Verwobensein nicht mehr<br />
greift, setzt sofort das „alte“ Gefühl des in-die-Welt-geworfen-Seins wieder ein.<br />
Im Abschnitt 2.2 bin ich auf die Notwendigkeit eingegangen den „<strong>Anderen</strong>“ als ein „Du“ und<br />
nicht als ein „Nicht-<strong>Ich</strong>“ zu betrachten. Nur über die Anerkennung der Andersartigkeit und<br />
der Individualität des <strong>Anderen</strong> ist echte Begegnung gewährleistet. Nämlich „eine Begegnung<br />
zweier Selbste“, die ohne den Drang nach Objektauflösung ihre Vereinzelung in der Welt<br />
schmerzfrei anerkannt haben; die nicht mehr auf eine Komplettierung ihrer Selbst aus sind,<br />
weil sie sich längst als Ganzes erleben.<br />
<strong>Ich</strong> möchte Martin Buber aus seinem bekannten Werk „<strong>Ich</strong> und Du“ zitieren, das zwar<br />
philosophisch als eine Begegnung zwischen einem „<strong>Ich</strong>“ und Gott betrachtet wird, aber an<br />
dieser Stelle eine schöne Beschreibung dessen ist, was ich mit einer Begegnung von „<strong>Ich</strong>“<br />
und „Du“ überhaupt meine. „Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen <strong>Ich</strong> und Du<br />
steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie; und das Gedächtnis selber<br />
verwandelt sich, da es aus der Einzelung in die Ganzheit stürzt. Zwischen <strong>Ich</strong> und Du steht<br />
kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme; und die Sehnsucht selber verwandelt sich,<br />
da sie aus dem Traum in die Erscheinung stürzt. Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles<br />
Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.“ 22 Buber erwähnt in diesem Zitat auch den<br />
Begriff der Ganzheit. Für Buber ist jene Ganzheit aber vielmehr ein „Wir“, das aus einer<br />
Begegnung zwischen dem „Du“ und dem „<strong>Ich</strong>“ entsteht. Es ist keine Verschmelzung und<br />
auch keine <strong>Ich</strong>-Auflösung, denn der Andere wird eben nicht als ein Mittel benutzt, um die<br />
eigene Einsamkeit der Vereinzelung zu überwinden.<br />
In der Bejahung der Unterschiedlichkeit des <strong>Anderen</strong>, bejahe ich auch mein eigenes<br />
abgegrenztes Selbst. Aber eben nur ein „Selbst“, das ein bewohntes „<strong>Ich</strong>“ ist, kann diese<br />
Bejahung überhaupt ausführen. „Gemäß dem grundlegenden Sinn des Gefühls der Liebe<br />
bejahen wir in diesem Gefühl die unbedingte Bedeutung einer anderen Individualität und<br />
dadurch auch die unbedingte Bedeutung unserer eigenen.“ 23 Wir anerkennen den <strong>Anderen</strong> als<br />
ein unabhängiges eigenständiges Selbst und bejahen damit folglich auch unser eigenes Selbst-<br />
Sein. Dieser Augenblick ist echte Begegnung. Dieses Moment der Anerkennung der<br />
Andersartigkeit und Bejahung des Gegenübers stellt für mich die ursprüngliche Form von<br />
22 M. Buber, <strong>Ich</strong> und Du, S.18.<br />
23 V. Solov`ev, Der Sinn der Liebe, Dritter Aufsatz, S.33.<br />
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„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
Liebe dar. Denn „zu sagen, daß [sic!] die geschlechtliche Dualität ein Ganzes voraussetze,<br />
hieße, von vornherein die Liebe als Verschmelzen zu setzen. Die Leidenschaftlichkeit der<br />
Liebe besteht jedoch in einer unüberwindbaren Dualität der Seienden [...].“ 24 In dieser<br />
Dualität der Seienden, in dieser Begegnung zweier Individuen kann Dauerhaftigkeit<br />
entstehen, denn beiden wird Raum für Veränderung und Entwicklung eingestanden. Beide<br />
dürfen atmen und einfach sein, ohne zu einem Mittel für den <strong>Anderen</strong> zu werden.<br />
<strong>Ich</strong> möchte abschließend noch Alain Badiou zitieren, der sagt: Die Liebe hat zuerst mit einer<br />
Unterscheidung oder einer Trennung zu tun, die der schlichte Unterschied zwischen zwei<br />
Personen mit ihrer unterschiedlichen Subjektivität sein kann. [...] Die Liebe verlangt, dass<br />
zwei Figuren einander gegenüberstehen, zwei unterschiedliche Repräsentationsstellen. Anders<br />
gesagt, {man} hat in der Liebe ein erstes Element, nämlich die Unterscheidung, eine<br />
Trennung, einen Unterschied, eine Zwei. Die Liebe behandelt zuerst eine Zwei. Der zweite<br />
Punkt ist: Eben weil die Liebe eine Trennung behandelt, kann sie in dem Moment, in dem<br />
sich die Zwei zeigt, als solche die Bühne betritt und uns die Welt in neuer Weise erfahren<br />
lässt, nur eine zufällige oder kontingente Form annehmen. <strong>Das</strong> nennt man Begegnung. Die<br />
Liebe beginnt <strong>im</strong>mer mit einer Begegnung. Und dieser Begegnung verleihe ich in gewisser<br />
Weise den metaphysischen Status eines Erkenntnisses [...].“ 25<br />
Dieses Erkenntnis ist für mich die Selbsterkenntnis. Denn durch die „Antwort des <strong>Anderen</strong>“,<br />
durch die Reflexion des subjektivierten Gegenübers kann ich mich selbst erkennen. <strong>Ich</strong> lerne<br />
mich kennen und der Andere lernt sich kennen. Diese Liebe als Begegnung ist ein lebendiger<br />
Prozess, ein Sehen und Gesehen werden; kein Erwarten und keine Zweckgebundenheit –<br />
sondern ein neugieriges Existieren mit dem <strong>Anderen</strong>, NICHT <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong>.<br />
24 E. Levinas, Die Zeit und der Andere, S.57.<br />
25 A. Badiou, Lob der Liebe, S.31.<br />
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Fazit<br />
„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
Ausgehend von der Behauptung, dass sich die Liebe bisweilen symbiotisch und<br />
objektauflösend zeigt, führte ich vorab Belege der Alltagssprache an, die bewiesen, dass die<br />
Vorstellung von einem fehlenden Teil in unserem Leben eine grundlegende Manifestation<br />
darstellt. Um diese Tatsache näher zu beleuchten und die Ursachen für jene flagrante<br />
Empfindung der Welt gegenüber zu erforschen, ging ich auf die offenbare Vereinzelung des<br />
Menschen ein. <strong>Ich</strong> schaute mir die Bedeutung des „<strong>Ich</strong>“ und des „Selbst“ an und versuchte die<br />
Unterschiede herauszukristallisieren. <strong>Ich</strong> widmete mich C.G. Jungs Idee von der<br />
Individuation, um aufzuzeigen, dass wir zu allererst zu einem Ganzen werden müssten, um<br />
nicht nach objektauflösenden Beziehungen zu streben. Aber nicht nur die Selbstwerdung<br />
spielte bei der Möglichkeit nach einer authentischen Begegnung eine wichtige Rolle, sondern<br />
auch die Wahrnehmung des Gegenübers, des sogenannten „<strong>Anderen</strong>“. Wie dieser „Andere“<br />
betrachtet wird, ist elementar für die interpersonalen Beziehungen. Dazu stützte ich mich <strong>im</strong><br />
Besonderen auf den russischen Philosophen N. Berdjajew, der in seinem Buch „<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und<br />
die Welt der Objekte“ vor allem auf die Frage einging, wie das Gegenüber als ein wahrhaftes<br />
„Du“ anerkannt und erlebt werden kann. Dazu muss nicht nur eine Form von Individuation in<br />
einem selbst stattgefunden haben, sondern der Andere muss in seiner realen Existenz und<br />
nicht nur als ein „Nicht-<strong>Ich</strong>“ begriffen werden. Wie kann aus einem „Nicht-<strong>Ich</strong>“ nunmehr ein<br />
„Du“ werden? Dieser Frage widmete ich mich ab dem Abschnitt 2 und weiterführend<br />
erarbeitete ich die Problematik der Projektion. Daraus entwickelte ich die These, dass nur in<br />
der ständigen Abgrenzung und Anerkennung der Andersartigkeit des <strong>Anderen</strong> eine wirkliche<br />
Begegnung zwischen dem Gegenüber und einem selbst stattfinden könne. Diese wirkliche<br />
Begegnung wäre ein Begegnung mit einem „Du“ und nicht einem „Nicht-<strong>Ich</strong>“. Die<br />
Einsamkeitsgefühle, die auf die Vereinzelung in der Welt zurückzuführen sind, seien nur<br />
durch eine echte Begegnung zu überwinden.<br />
Die symbiotische Form von Liebe mündet in einer Art Pingpong-Spiel, bei dem die<br />
miteinander verschmolzenen Partner sich zwischen völligem Ungetrenntsein und jener<br />
Unmöglichkeit bewegen. Die Einsamkeitsgefühle und Vereinzelungsempfindungen werden<br />
dann zu einem Problem innerhalb der Beziehung, wenn der Mechanismus der Projektion, also<br />
der Vermischung von innerer und äußerer Realität, nicht mehr greift.<br />
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Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
Die Projektionstendenzen rühren also aus der Tatsache des in-die-Welt-geworfen-Seins und<br />
dem großen Wunsch in Verbindung mit dem Außen zu treten, um das Gefühl des<br />
Getrenntseins zu überwinden. <strong>Ich</strong> versuchte zu zeigen, dass in diesem Verhalten keine<br />
Überwindung zu finden ist, da sich bei diesem Mechanismus das Gegenüber nicht zeigt, sich<br />
nicht gesehen fühlt und auch nicht wahrhaftig verstanden werden kann. Man n<strong>im</strong>mt lediglich<br />
<strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> die eigenen Anteile wahr. Dieses Verwobensein führe eben zu keiner<br />
authentischen Begegnung mit dem „echten <strong>Anderen</strong>“. Der „echte Andere“ - das „Du“ - kann<br />
nur gesehen werden, wenn die Andersartigkeit des Individuums bejaht wird. So könnte aus<br />
einem schmerzhaften Fremden <strong>im</strong> Außen ein lebendiges Fremdes werden, das in ständiger<br />
Interaktion mit einem selbst steht.<br />
Die Liebe als Projektion ist keine authentische Begegnung, sie ist ein Mittel um die eigenen<br />
schmerzhaften Einsamkeitsgefühle zu überwinden. Jene Liebe führt zu einem stetigen<br />
Verbleiben in diesem Gefühl, ohne die Möglichkeit zu eröffnen, die Frage der Vereinzelung<br />
für sich zu klären. Nur in dem Begreifen seiner Einzigartigkeit und der Bejahung der<br />
Andersartigkeit des <strong>Anderen</strong> kann eine authentische und lebendige Begegnung und<br />
Beziehung entstehen.<br />
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Bibliografie<br />
Badiou, Alain: Lob der Liebe, Paris: Passagen Verlag 2011<br />
„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
Kolloquium von Prof. Dr. Volker Gerhardt<br />
Philosophische Fakultät der Humboldt Universität Berlin<br />
Berdjajew, Nikolai: <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> und die Welt der Objekte - Versuch einer Philosophie der<br />
Einsamkeit und Gemeinschaft, Darmstadt: Holle Verl., 1933<br />
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Levinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere, Hamburg: Meiner, 1989<br />
Mertens, W: Psychoanalytische Grundbegriffe (2.Aufl.), Weinhe<strong>im</strong> 1998<br />
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„<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>im</strong> <strong>Anderen</strong> – Zur Problematik projektiver Liebe“ von <strong>Mirna</strong> <strong>Funk</strong><br />
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Singer, Irving : Philosophy of Love – a partial summing-up, Cambridge, MA: MIT Press,<br />
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20