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Ralf Dahrendorf „Homo Sociologicus“ - marinahennig.de

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<strong>Ralf</strong> <strong>Dahrendorf</strong> <strong>„Homo</strong> <strong>Sociologicus“</strong><br />

Mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>s „homo sociologicus“ in Analogoie zum „home<br />

oeconomicus“ und „psychological man“ erklärt <strong>Dahrendorf</strong> das<br />

Rollenhan<strong>de</strong>ln zum zentralen Gegenstand <strong>de</strong>r Soziologie.<br />

Die spezifische soziologische Perspektive bezieht sich nicht auf das<br />

individuelle Han<strong>de</strong>ln in seiner Gesamtheit, son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>n durch die<br />

jeweilige Rolle <strong>de</strong>finierten Ausschnitt.<br />

Um sozial zu han<strong>de</strong>ln muss sich <strong>de</strong>r einzelne vorgegebener Rollenmuster<br />

bedienen und ist damit in <strong>de</strong>r Interaktion mit seinen Mitmenschen nur als<br />

Rollenträger präsent.<br />

Da es keine an<strong>de</strong>re Form <strong>de</strong>s sozialen Han<strong>de</strong>lns nach <strong>Dahrendorf</strong> gibt,<br />

kann das Individuum <strong>de</strong>n Rollenzumutungen nicht entweichen, wodurch<br />

die Gesellschaft zu einer „ärgerlichen Tatsache“ wird.<br />

<strong>Dahrendorf</strong> <strong>de</strong>finiert Rollen als „Bün<strong>de</strong>l von Erwartungen, die sich in einer<br />

gegebenen Gesellschaft an das Verhalten <strong>de</strong>r Träger von Positionen<br />

knüpfen“ (S.33) Diese Verhaltenserwartungen üben einen Zwang auf das<br />

Individuum aus, in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Gesellschaft Sanktionen zur Verfügung stehen,<br />

um die Erwartungen durchzusetzen. Konformes Verhalten wird belohnt<br />

und damit positiv sanktioniert und abweichen<strong>de</strong>s Verhalten bestraft, also<br />

mit negativen Sanktionen belegt.<br />

Neben <strong>de</strong>r Kontrolle <strong>de</strong>s Rollenverhaltens durch Sanktionen wer<strong>de</strong>n Rollen<br />

verinnerlicht, so dass die äußere Kontrolle durch eine innere ergänzt wird.<br />

Nach <strong>Dahrendorf</strong>s unversöhnlicher Gegenüberstellung von Individuum und<br />

Gesellschaft entfrem<strong>de</strong>t die Internalisierung von Rollenmustern das<br />

Individuum von seinen eigentlichen Kern.<br />

„Für Gesellschaft und Soziologie ist <strong>de</strong>r Prozess <strong>de</strong>r Sozialisierung stets ein<br />

Prozess <strong>de</strong>r Entpersönlichung, in<strong>de</strong>m die absolute Individualität und<br />

Freiheit <strong>de</strong>s Einzelnen in <strong>de</strong>r Kontrolle und Allgemeinheit sozialer Rollen<br />

aufgehoben ist.<br />

Die von <strong>Dahrendorf</strong> herausgehobenen Aspekte <strong>de</strong>r Verbindlichkeit von<br />

Rollen – Kontrolle durch Sanktionen und Internalisierung von<br />

1


Verhaltensnormen fan<strong>de</strong>n wir bereits bei Parsons Begriff <strong>de</strong>r<br />

„Institutionalisierung“. Parsons fasste das Rollenhan<strong>de</strong>ln alllerdings als<br />

Chance für das Individuum auf, sich in <strong>de</strong>r Gesellschaft zu verwirklichen.<br />

Auf diese Weise verbin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Einzelne seine Interessen mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft und füllt freiwillig die gesellschaftlich vorgegeben Rollen aus.<br />

<strong>Dahrendorf</strong> stellt sich auf <strong>de</strong>n entgegen gesetzten Standpunkt, in<strong>de</strong>m er<br />

<strong>de</strong>m Individuum einen von <strong>de</strong>r Gesellschaft unabhängigen Kern<br />

unterstellt. Durch <strong>de</strong>n Zwang zum Rollenhan<strong>de</strong>ln entfernt sich das<br />

Individuum von sich selbst und verliert seine Freiheit. Worin dieser<br />

individuelle Kern besteht lässt <strong>Dahrendorf</strong> allerdings offen, da sich nach<br />

seiner Vorstellung die Soziologie auf <strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>s Rollenhan<strong>de</strong>lns, also<br />

auf die Abstraktion <strong>de</strong>s homo sociologicus zu beschränken hat.<br />

Kritik: Tenbruck<br />

<strong>Dahrendorf</strong> vernachlässigt Kultur und Persönlichkeit als unabhängige<br />

Dimension zur Erklärung sozialen Han<strong>de</strong>lns. Rollenhan<strong>de</strong>ln ist nicht<br />

verstehbar ohne Bezug auf gemeinsame Sinn- und Be<strong>de</strong>utungsstrukturen,<br />

die in <strong>de</strong>r kulturellen Tradition verankert sind. Auf diese kulturellen I<strong>de</strong>en<br />

und Werte sind <strong>de</strong>r Rollenhan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> ebenso wie die Bezugsgruppen<br />

verpflichtet.<br />

Die Persönlichkeit <strong>de</strong>s Positionsinhabers lässt sich nicht auf internalisierte<br />

Verhaltensnomen reduzieren, so die Kritiker. Je<strong>de</strong> Rolle ist eine grobe<br />

Verhaltensvorschrift, die erst durch die Gestaltung <strong>de</strong>s Rolleninhabers zu<br />

sozialem Han<strong>de</strong>ln wird. Das individuelle Rollenspiel lässt sich nicht aus<br />

äußeren Sanktionen o<strong>de</strong>r verinnerlichten Normen erklären, son<strong>de</strong>rn<br />

basiert auf <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Trägers mit seiner Rolle. Dieses<br />

Engagement eröffnet <strong>de</strong>m Rollenträger neue Handlungsmöglichkeiten, so<br />

dass in je<strong>de</strong>r sozialen Rolle notwendig ein Element <strong>de</strong>r Spontaneität<br />

steckt.<br />

Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf die Rolle als Kategorie <strong>de</strong>r<br />

Sozialstruktur. <strong>Dahrendorf</strong> unterstellt implizit, dass das Rollenhan<strong>de</strong>ln<br />

durch mehr o<strong>de</strong>r weniger verbindliche Verhaltenserwartungen <strong>de</strong>r<br />

2


Bezugsgruppe bestimmt wird. Diesem Kausalitäts<strong>de</strong>nken, das die<br />

Erwartung als Ursache und das Rollenhan<strong>de</strong>ln als Wirkung annimmt<br />

stellen Kritiker wie Tenbruck die These <strong>de</strong>r „Komplementarität“ von<br />

Erwartungen und Han<strong>de</strong>ln gegenüber.<br />

Ebenso wie sich ein Rollenhan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Erwartungen bestimmter<br />

Bezugsgruppen orientiert, können sich <strong>de</strong>ren Erwartungen dadurch<br />

aufbauen, dass sie sich ein konkretes Rollenhan<strong>de</strong>ln zum Vorbild nehmen.<br />

So orientieren sich die Stu<strong>de</strong>nten nicht nur an <strong>de</strong>r Gruppennorm in <strong>de</strong>r<br />

Stu<strong>de</strong>ntenschaft, son<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n auch durch das Rollenhan<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />

Dozenten beeinflusst. Von dieser allgemeinen Ebene <strong>de</strong>r<br />

Rollenkomplementarität als wechselseitiger Beeinflussung von<br />

Rollenhan<strong>de</strong>ln und Erwartungen ist eine konkrete Ebene <strong>de</strong>r<br />

Komplementarität zu unterschei<strong>de</strong>n, die auch <strong>de</strong>m Kausalitäts<strong>de</strong>nken von<br />

<strong>Dahrendorf</strong> wi<strong>de</strong>rspricht. Die Rolle <strong>de</strong>s Stu<strong>de</strong>nten als Lernen<strong>de</strong>n lässt sich<br />

nicht <strong>de</strong>finieren, ohne sich die Rolle <strong>de</strong>s Dozenten als Lehren<strong>de</strong>n<br />

vorzustellen. Rollen wer<strong>de</strong>n also nicht allein nur durch die<br />

gesellschaftlichen Erwartungen bestimmt, die über Bezugspersonen an<br />

<strong>de</strong>n Positionsinhaber herangetragen wer<strong>de</strong>n. Statt<strong>de</strong>ssen sind sie in Bezug<br />

auf eine bestimmte Komplementärrolle <strong>de</strong>finiert, also durch die<br />

strukturelle Verschränkung zweier Rollen.<br />

Bei<strong>de</strong> Ebenen <strong>de</strong>r Komplementarität ermöglichen <strong>de</strong>m Positionsinhaber,<br />

durch seine Rollengestaltung und die Interaktion mit seinen<br />

Rollenpartnern und Bezugsgruppen in bestimmten Situationen das<br />

Rollenverhalten gemeinsam zu gestalten und langfristig die Definition <strong>de</strong>r<br />

Rolle in <strong>de</strong>r Gesellschaft zu beeinflussen.<br />

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