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Ausgabe 02|06<br />

Die Fachzeitschrift im Internet<br />

Rezensionen<br />

Veranstaltungshinweise<br />

ISSN 1610-613X / Jg. 5<br />

2/ 06<br />

Julia Strupp<br />

I don´t feel down! Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen<br />

mit Down-Syndrom – untersucht am Beispiel <strong>de</strong>s<br />

Magazins “OHRENKUSS, da rein, da raus,....“<br />

Georg Theunissen<br />

Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Sven Jennessen<br />

Systemisches Verstehen von Entwicklung und<br />

Sozialisation bei progredienter Erkrankung als<br />

Grundlage schulpädagogischen Han<strong>de</strong>lns<br />

Interview: Konrad Bundschuh


Inhalt<br />

Editorial..........................................................2<br />

Julia Strupp<br />

I don´t feel down! Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von<br />

Menschen mit Down-Syndrom – untersucht am<br />

Beispiel <strong>de</strong>s Magazins „OHRENKUSS ...da rein, da<br />

raus“..............................................................3<br />

Georg Theunissen<br />

Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung . .32<br />

Sven Jenessen<br />

Systemisches Verstehen von Entwicklung und Sozialisation<br />

bei progredienter Erkrankung als<br />

Grundlage schulpädagogischen Han<strong>de</strong>lns .........61<br />

Interview: Konrad Bundschuh..........................99<br />

Leserbriefe...................................................106<br />

Rezensionen................................................108<br />

Veranstaltungshinweise.................................132<br />

Über die Autoren..........................................136<br />

Hinweise für Autoren....................................137<br />

Leserbriefe und Forum..................................138<br />

Heilpädagogik online 02/ 06<br />

ISSN 1610-613X<br />

Herausgeber und V.i.S.d.P.:<br />

Sebastian Barsch<br />

Lin<strong>de</strong>nthalgürtel 94<br />

50935 Köln<br />

Tim Bendokat<br />

Südstraße 79<br />

48153 Münster<br />

Erscheinungsweise: 4 mal jährlich<br />

http://www.heilpaedagogik-online.com<br />

- 1 -<br />

Markus Brück<br />

Wallstraße 8<br />

50321 Brühl<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Editorial<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

Editorial<br />

auch in dieser Ausgabe von Heilpädagogik online präsentieren wir<br />

Ihnen wie<strong>de</strong>r eine interessante thematische Zusammenstellung.<br />

Julia Strupp hat Redakteure <strong>de</strong>s Magazins „Ohrenkuss“ zu ihrer<br />

Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit befragt. Die Ergebnisse ihrer Studie stellt sie in<br />

ihrem Beitrag dar.<br />

Georg Theunissens Artikel befasst sich mit Kunstwerken, die von<br />

Künstlern mit einer geistigen Behin<strong>de</strong>rung erstellt wer<strong>de</strong>n, und untersucht<br />

<strong>de</strong>n Stellenwert, <strong>de</strong>n solche Werke innerhalb <strong>de</strong>r<br />

Bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst – oft zusammengefasst unter <strong>de</strong>m Begriff Art Brut<br />

- einnehmen.<br />

Sven Jenessen stellt eine systemische Sichtweise von Entwicklung<br />

und Sozialisation unter <strong>de</strong>n Bedingungen einer progredienten Erkrankung<br />

in <strong>de</strong>n Mitttelpunkt seiner Überlegungen und formuliert<br />

daraus zu folgern<strong>de</strong> Konsequenzen für das pädagogische Han<strong>de</strong>ln.<br />

Wir freuen uns außer<strong>de</strong>m sehr, dass wir Ihnen neben diesen Fachbeitrag<br />

nach langer Zeit wie<strong>de</strong>r ein Interview präsentieren können.<br />

Konrad Bundschuh von <strong>de</strong>r Universität München stand uns zu aktuellen<br />

Fragen <strong>de</strong>r Pädagogik <strong>de</strong>r Erziehungsschwierigen Re<strong>de</strong> und<br />

Antwort.<br />

Den Abschluss dieser Ausgabe bil<strong>de</strong>n wie immer aktuelle Buchbesprechungen<br />

sowie die Veranstaltungshinweise. Für Kommentare,<br />

Anregungen, Fragen und Kritik nutzen Sie bitte unsere Leserbrief-<br />

Funktion o<strong>de</strong>r unser Forum.<br />

Bleibt uns noch, Ihnen eine anregen<strong>de</strong> und aufschlussreiche Lektüre<br />

zu wünschen!<br />

Sebastian Barsch Tim Bendokat Markus Brück<br />

- 2 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Julia Strupp<br />

I don´t feel down! Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit<br />

von Menschen mit Down-Syndrom –<br />

untersucht am Beispiel <strong>de</strong>s Magazins<br />

„OHRENKUSS ...da rein, da raus“<br />

Auf <strong>de</strong>r Basis halbstandardisierter Interviews mit Redakteur/innen<br />

<strong>de</strong>r Zeitschrift „OHRENKUSS ...da rein, da raus“<br />

sowie einer Fragebogenerhebung mit <strong>de</strong>ren Eltern wur<strong>de</strong><br />

untersucht, welchen Einfluss die redaktionelle Mitarbeit an<br />

<strong>de</strong>r genannten Zeitschrift auf die Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von<br />

Redakteur/innen mit Down-Syndrom hat. Die Ergebnisse<br />

zeigen, dass die redaktionelle Mitarbeit von Empowermentprozessen<br />

geprägt ist und diese zu einer Steigerung <strong>de</strong>r<br />

Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit führen.<br />

Schlagwörter: Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit, Down-Syndrom, Empowerment<br />

The influence of editorial activity on the life satisfaction of<br />

journalists with mental retardation was examined by means<br />

of semi-standardised interviews carried out with journalists<br />

of the magazine „OHRENKUSS ...da rein, da raus“ as well as<br />

by means of a questionnaire-based survey among their parents.<br />

The results outline that the editorial activity is characterized<br />

by empowerment processes which lead to an increase<br />

in life satisfaction.<br />

Keywords: life satisfaction, Down syndrome, empowerment<br />

Einleitung<br />

Im Folgen<strong>de</strong>n wird eine Untersuchung zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von<br />

Menschen mit Down-Syndrom vorgestellt, die im Rahmen einer Ma-<br />

gisterarbeit entstan<strong>de</strong>n ist. Dabei wird das Magazin<br />

„OHRENKUSS ... da rein, da raus“ als Beispiel hervorgehoben.<br />

Fast alle Texte <strong>de</strong>s Magazins sind von Menschen mit Down-Syn-<br />

drom erstellt: selbst geschrieben, getippt o<strong>de</strong>r auch diktiert und<br />

danach eventuell selbst abgeschrieben. Durch die Untersuchung<br />

wur<strong>de</strong> anhand einzelner Interviews mit <strong>de</strong>n Redakteur/innen dieser<br />

- 3 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Zeitschrift versucht aufzuzeigen, wie durch die Möglichkeit <strong>de</strong>s<br />

Schreibens und Mitteilens ein neues Bewusstsein <strong>de</strong>r eigenen Indi-<br />

vidualität entstehen und zu einem steigen<strong>de</strong>n Selbstwertgefühl füh-<br />

ren kann.<br />

Die Autor/innen <strong>de</strong>s Magazins OHRENKUSS haben durch dieses Me-<br />

dium die Möglichkeit, sich in eigenen Worten und Formaten mitzu-<br />

teilen: Ihr ungebrochenes Interesse an <strong>de</strong>r Welt, ihren Sinn für<br />

Humor und ihre Begabung, sich an schönen Dingen zu erfreuen,<br />

aber auch ihre Schwierigkeiten im Alltag, fehlen<strong>de</strong> Arbeitsmöglich-<br />

keiten und Diskriminierung können thematisiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Das Magazin OHRENKUSS ist 1998 im Rahmen eines durch die<br />

Volkswagen-Stiftung geför<strong>de</strong>rten Forschungsvorhabens mit <strong>de</strong>m<br />

Thema „Wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die Welt, wie<br />

sieht die Welt Menschen mit Down-Syndrom – eine Gegenüberstel-<br />

lung“ unter <strong>de</strong>r Leitung von Dr. Katja <strong>de</strong> Braganca an <strong>de</strong>m Medi-<br />

zinhistorischen Institut Bonn entstan<strong>de</strong>n. Seit 2002 ist OHRENKUSS<br />

ein Projekt <strong>de</strong>r downtown-Werkstatt für Kultur und Wissenschaft<br />

(http://www.downtown-werktstatt.<strong>de</strong>).<br />

Zur Erforschung von Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit bei Menschen<br />

mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung<br />

Innerhalb <strong>de</strong>r empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung be-<br />

gann erst En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 1960er Jahre unter <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r Sozialindi-<br />

katorenforschung eine verstärkte Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m<br />

Konzept <strong>de</strong>r Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit und <strong>de</strong>n damit sehr eng verwand-<br />

ten Konstrukten „Wohlbefin<strong>de</strong>n“ und „Glück“ (vgl. GLATZER u.<br />

ZAPF 1984). Eine Redakteurin <strong>de</strong>s Magazins OHRENKUSS schrieb<br />

zum Thema Glück: „Glück fühlt sich an wenn man es spürt im<br />

Herzen und endlich Freu<strong>de</strong> zu sein. Wenn ich z.B. mal Nachmittag<br />

wenn ich laufe dann fühle ich einfach das Glück in mir o<strong>de</strong>r mal<br />

wenn ich alleine bin“ (KLIER in OHRENKUSS 10, 2003, 13).<br />

- 4 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Anfang <strong>de</strong>r 1970er Jahre verabschie<strong>de</strong>te die OECD ein Programm,<br />

in <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong> soziale Indikatoren als Determinanten für Lebens-<br />

zufrie<strong>de</strong>nheit benannt wur<strong>de</strong>n: 1. Gesundheit, 2. Persönlichkeits-<br />

entwicklung, 3. Arbeit, 4. Zeitbudget und Freizeit, 5. Verfügung<br />

über Güter und Dienstleistungen, 6. Physische Umwelt, 7. Persönli-<br />

che Freiheitsrechte und Rechtswesen, 8. Qualität <strong>de</strong>s Lebens in <strong>de</strong>r<br />

Gemein<strong>de</strong> (vgl. DRECHSLER 2001, 17 ff).<br />

Dieser Wertekatalog wur<strong>de</strong> jedoch lange Zeit nicht als verbindlich<br />

für die Lebensgestaltung von Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung<br />

angesehen, da ihnen <strong>de</strong>r Status eines Patienten unterstellt wur<strong>de</strong>:<br />

Eine „Geistige Behin<strong>de</strong>rung“ galt als psychische Erkrankung. „Be-<br />

trachtet man nun auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r nachweisbaren Indikatoren für<br />

Lebensstandard das OECD-Programm als verbindlich, so zeigt sich,<br />

dass die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung in<br />

allen Bereichen Gefahr läuft, nicht <strong>de</strong>r durchschnittlichen Lebens-<br />

qualität von Menschen ohne Behin<strong>de</strong>rungen zu entsprechen“ (ebd.,<br />

18 ).<br />

Erforschung von Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit umfasst sowohl die<br />

Komponente „objektive Lebensbedingungen“ als auch „subjektive<br />

Zufrie<strong>de</strong>nheit“. Subjektive Zufrie<strong>de</strong>nheit kann für sich allein ge-<br />

nommen nicht als Indikator gelten, da beispielsweise hospitalisierte<br />

Menschen mit ihren Lebensumstän<strong>de</strong>n „zufrie<strong>de</strong>n“ sein können,<br />

weil sie an<strong>de</strong>re Möglichkeiten <strong>de</strong>r Lebensgestaltung entwe<strong>de</strong>r gar<br />

nicht kennen o<strong>de</strong>r für die eigene Lebensplanung ausgeschlossen<br />

haben.<br />

Im Hinblick auf die Erfassung subjektiver Einschätzungen zeigt sich,<br />

dass Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Forschung nur<br />

selten selbst zu Wort kommen. „Sie sind Objekte von Theoriebil-<br />

dungen“ (FRISKE 1995, 18) und es fällt oft schwer sie „als kompe-<br />

tente ExpertInnen für ihre Situation anzuerkennen“ (BOBAN u.<br />

HINZ 2001, 60). In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Untersuchung wur<strong>de</strong> aner-<br />

- 5 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

kannt, dass Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung über sich und ihre<br />

Umwelt reflektieren können; eine Sicht, die auch durch das Maga-<br />

zin OHRENKUSS bestärkt wor<strong>de</strong>n ist. Aus <strong>de</strong>r Empowerment-Per-<br />

spektive ist es unerlässlich, <strong>de</strong>n Klienten ein eigenes Problembe-<br />

wusstsein, eine eigene Einsicht und vor allem ein eigenes Erleben<br />

zuzutrauen, und daher ist es wichtig, <strong>de</strong>n Befragten „das Wort zu<br />

geben“.<br />

Fragestellungen<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>r Studie wur<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong> zwei Fragebereiche unter-<br />

schie<strong>de</strong>n:<br />

Allgemeine Fragestellung<br />

Für die Zeit bei OHRENKUSS, die durch das Interview erfasst<br />

wur<strong>de</strong>, sollte sich das Augenmerk auf die subjektive Darstellung<br />

<strong>de</strong>r befragten Personen richten. Wie bewerten und empfin<strong>de</strong>n sie<br />

vergangene und gegenwärtige Ereignisse bei OHRENKUSS? Die<br />

Hauptfragestellung galt <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Beitrag von OHRENKUSS und<br />

Empowerment zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit: Führt die redaktionelle Mit-<br />

arbeit zu einem Mehr an Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit?<br />

Konkrete Fragestellungen<br />

– Hat die Gruppenarbeit Auswirkungen auf das Selbstbewusst-<br />

sein und damit auf die Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r<br />

Redakteur/innen?<br />

– Führt das Schreiben an sich zu einer Steigerung <strong>de</strong>r Lebens-<br />

zufrie<strong>de</strong>nheit?<br />

– Welche Entwicklungen und Verän<strong>de</strong>rungen gab es durch die<br />

Mitarbeit beim Magazin OHRENKUSS und haben diese Aus-<br />

wirkungen auf das Selbstwertgefühl?<br />

– Sind die Auswirkungen auf die Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit bei <strong>de</strong>n<br />

Redakteur/innen vor Ort und <strong>de</strong>n Außenkorrespon<strong>de</strong>nt/in-<br />

nen unterschiedlich?<br />

- 6 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

– Hilft die Arbeit beim Magazin OHRENKUSS, selbstbestimmter<br />

zu agieren?<br />

Die Autorin ging von einer Steigerung <strong>de</strong>r Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit<br />

durch Empowerment aus. Mit Hilfe obiger Fragestellungen wur<strong>de</strong><br />

ein Leitfa<strong>de</strong>n zur Erhebung <strong>de</strong>r Daten erstellt.<br />

Stichprobenbeschreibung<br />

Für OHRENKUSS schrieben zum Zeitpunkt <strong>de</strong>r Datenerhebung<br />

(Stand Mai 2004) in Bonn elf Redakteur/innen, insgesamt sind es<br />

ca. 40 Autor/innen, die Beiträge für OHRENKUSS produzieren. Für<br />

die vorliegen<strong>de</strong> Studie wur<strong>de</strong>n acht Redakteur/innen ange-<br />

schrieben, davon gehörten fünf zur Bonner Redaktion, drei <strong>de</strong>r<br />

Befragten waren Außenkorrespon<strong>de</strong>nt/innen. Die Response-Rate<br />

betrug 100 Prozent, d.h. alle acht Redakteur/innen waren bereit,<br />

an <strong>de</strong>n Interviews teilzunehmen, so dass am En<strong>de</strong> eine Stichprobe<br />

von n=8 vorlag. Im Zeitraum vom 15. Mai bis 8. Juni 2004 wur<strong>de</strong>n<br />

somit acht Redakteur/innen - sechs weibliche und zwei männliche -<br />

interviewt. Die Redakteur/innen wur<strong>de</strong>n nicht zufällig ausgewählt,<br />

son<strong>de</strong>rn sollten seit längerer Zeit beim Magazin OHRENKUSS mit-<br />

arbeiten, am besten vom Zeitpunkt <strong>de</strong>r Projektentstehung an. Das<br />

Durchschnittsalter lag bei 24 Jahren.<br />

Die Befragung <strong>de</strong>r Eltern fand im April 2004 statt, die Fragebögen<br />

gingen bis En<strong>de</strong> Mai 2004 wie<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Verfasserin ein. Die Rück-<br />

laufquote <strong>de</strong>r Elternfragebögen belief sich auf 100%.<br />

Untersuchungsverfahren<br />

FRISKE (1995) und PIXA-KETTNER (1996), die Interviews mit geis-<br />

tig behin<strong>de</strong>rten Menschen durchgeführt haben, empfehlen die Form<br />

<strong>de</strong>s Leitfa<strong>de</strong>ninterviews. LAMNEK (1993) bemerkt, dass hinsichtlich<br />

dieses Verfahrens „auch Personen mit geringer kommunikativer<br />

- 7 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Kompetenz (...) in die Untersuchung einbezogen wer<strong>de</strong>n [können;<br />

Anm. J.S.]“ (ebd., 365).<br />

Zur Datenerhebung wur<strong>de</strong>n zwei unterschiedliche Verfahren ausge-<br />

wählt: erstens die qualitative Einzelbefragung, die mit Hilfe einer<br />

strukturieren<strong>de</strong>n qualitativen Inhaltsanalyse durchgeführt wur<strong>de</strong><br />

(MAYRING 1999); zweitens <strong>de</strong>r quantitative Einsatz von Rating-<br />

Skalen (BORTZ u. DÖRING 1995). Zur Interpretation <strong>de</strong>r Studie<br />

bot Empowerment eine gute theoretische Grundlage.<br />

Interviewleitfa<strong>de</strong>n<br />

Der Leitfa<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r bis zur Endversion zahlreiche Iterationen erfuhr<br />

und mittels eines Pilotinterviews erprobt wur<strong>de</strong>, umfasste 33<br />

Fragen, die eine Mischung aus drei Fragetypen darstellen. Ein<br />

Fragetypus bestand aus <strong>de</strong>n Antwortmodus ja/nein; ein zweiter Ty-<br />

pus zielte auf die Einschätzung diverser „Gefühlszustän<strong>de</strong>“ mittels<br />

einer Gesichterreihe; und ein letzter Typus bestand aus offenen In-<br />

formationsfragen, die meist als Zusatzfrage zu <strong>de</strong>n geschlossenen<br />

Fragen fungierten. Durch die Mischung dieser drei Fragetypen<br />

wur<strong>de</strong> versucht, von möglichst allen Befragten Antworten zu erhal-<br />

ten und ihre Sichtweisen und Einschätzungen <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n zu<br />

lassen. Während <strong>de</strong>r Erstellung <strong>de</strong>s Leitfa<strong>de</strong>ns wur<strong>de</strong> bereits <strong>de</strong>r<br />

Versuch unternommen, vorläufige Kategorien o<strong>de</strong>r Leitfragen zu<br />

bil<strong>de</strong>n, die dann die Auswertung <strong>de</strong>r Daten später erleichtern soll-<br />

ten. So wur<strong>de</strong>n beispielsweise die Fragen zur Arbeit, <strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n<br />

und <strong>de</strong>n Hobbies unter <strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>r Normalisierung gestellt; die<br />

Kategorie OHRENKUSS teilte sich auf in Leitfragen zur Mitarbeit,<br />

um Stärken und Vorlieben herauszufiltern, sowie Fragen zu Ver-<br />

än<strong>de</strong>rungen im Leben je<strong>de</strong>s einzelnen Redakteurs.<br />

- 8 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Einsatz von Rating-Skalen<br />

Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

In <strong>de</strong>m für diese Arbeit konzipierten Leitfa<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> zusätzlich<br />

eine visuelle Analog-Skala in Form von lächeln<strong>de</strong>n/traurigen<br />

Gesichtern verwen<strong>de</strong>t, die es <strong>de</strong>n zu Interviewen<strong>de</strong>n erleichtern<br />

sollte, auf schwierigere Fragen antworten zu können. Die Gesichter<br />

wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m „Personal Wellbeing In<strong>de</strong>x for People with intellectual<br />

disability“ (kurz PWI) entnommen (vgl. CUMMINS 2003), <strong>de</strong>n aus-<br />

tralische Wissenschaftler entwickelt haben. „The PWI is <strong>de</strong>signed as<br />

the first level of <strong>de</strong>construction of the global, abstract question<br />

‘How satisfied are you with your life as a whole?’ (…)“ (ebd., 4). Die<br />

Zuordnung von Gefühlszustän<strong>de</strong>n zu <strong>de</strong>n jeweiligen Gesichtern er-<br />

folgte hierbei durch die Befragten selbst zu Beginn <strong>de</strong>s Interviews.<br />

Elternfragebogen<br />

Der Elternfragebogen wur<strong>de</strong> als Ergänzung zu <strong>de</strong>n Interviews<br />

entwickelt. Zu Beginn <strong>de</strong>s Fragebogens wur<strong>de</strong> um eine kurze<br />

Beschreibung gebeten, wie es zu einer Mitarbeit <strong>de</strong>s eigenen<br />

Sohnes resp. <strong>de</strong>r eigenen Tochter beim Magazin OHRENKUSS kam.<br />

Daraufhin wur<strong>de</strong>n die für die Untersuchung wichtigsten Fragen<br />

nach Verän<strong>de</strong>rungen und Entwicklungen gestellt. Der hier<br />

verwen<strong>de</strong>te Fragebogen umfasste acht Fragen, die in Form einer<br />

Aussage formuliert waren und entwe<strong>de</strong>r mit Ja/Nein beantwortet<br />

o<strong>de</strong>r mit drei Antwortmöglichkeiten (Stimmt/Stimmt nicht/Weiß<br />

nicht) bewertet wer<strong>de</strong>n konnten. Zu einigen Fragen gab es offene<br />

Zusatzfragen, um so mehr Information zu erhalten, beispielsweise<br />

„Haben Sie bei Ihrem Sohn/Ihrer Tochter durch die Mitarbeit bei<br />

OHRENKUSS Verän<strong>de</strong>rungen festgestellt?“ (Ja/Nein); und dann die<br />

Zusatzfrage „Wenn ja, können Sie diese näher beschreiben?“<br />

- 9 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Auswertung <strong>de</strong>r Interviews<br />

Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Das Vorgehen <strong>de</strong>r Interviewauswertung war angelehnt an die<br />

Schritte <strong>de</strong>r zusammenfassen<strong>de</strong>n Inhaltsanalyse nach MAYRING<br />

(1995, 211). Das Verfahren zielt darauf ab, die wesentlichen In-<br />

halte eines Interviews herauszuarbeiten und in kürzeren Texten,<br />

mit <strong>de</strong>nen sich Folgeanalysen leichter durchführen lassen, nie-<br />

<strong>de</strong>rzulegen. Es bietet „sich immer dann an, wenn man nur an <strong>de</strong>r<br />

inhaltlichen Ebene <strong>de</strong>s Materials interessiert ist und eine Kom-<br />

primierung zu einem überschaubaren Kurztext benötigt“ (ebd.,<br />

212).<br />

In <strong>de</strong>r einzelfallorientierten Darstellung <strong>de</strong>r Ergebnisse gab es zu-<br />

nächst eine Zusammenfassung <strong>de</strong>r zentralen Aussagen <strong>de</strong>r einzel-<br />

nen Interviews, weitest möglich mit wörtlichen Zitaten. Grundlagen<br />

hierfür bil<strong>de</strong>ten dann einerseits die vollständig transkribierten In-<br />

terviews und an<strong>de</strong>rerseits die zwei gebil<strong>de</strong>ten Kategorien: Die<br />

Kategorie „Normalisierung“ und die Kategorie „OHRENKUSS“, die<br />

wie<strong>de</strong>rum in Leitfragen zur besseren Übersicht aufgeteilt wur<strong>de</strong>.<br />

In die Kategorie „Normalisierung“ gehören Daten zur Arbeitssituati-<br />

on, zu <strong>de</strong>n Hobbies und <strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n, sowie die Frage nach<br />

Än<strong>de</strong>rungswünschen <strong>de</strong>r Person.<br />

Der Katalog von Leitfragen in <strong>de</strong>r Kategorie „OHRENKUSS“ lautete<br />

wie folgt:<br />

1. Was sind die Tätigkeiten <strong>de</strong>r Person bei OHRENKUSS?<br />

2. Was sind die Vorlieben/Interessen <strong>de</strong>r Person bei OH-<br />

RENKUSS? Was ärgert die Person an OHRENKUSS?<br />

3. Was be<strong>de</strong>utet <strong>de</strong>r Person OHRENKUSS/Welche Rolle spielt<br />

OHRENKUSS?<br />

4. Welche Verän<strong>de</strong>rungen und Entwicklungen gibt es seit <strong>de</strong>r<br />

Mitarbeit bei OHRENKUSS?<br />

5. Was wäre ohne OHRENKUSS?<br />

- 10 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Die Interpretationen gingen neben <strong>de</strong>n Interviews aus <strong>de</strong>n eigenen<br />

Beobachtungen <strong>de</strong>r Verfasserin durch die Teilnahme an <strong>de</strong>n zwei-<br />

wöchig stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Redaktionssitzungen, aber auch aus Gesprä-<br />

chen mit <strong>de</strong>r Projektleitung <strong>de</strong>s Magazins OHRENKUSS hervor. Eine<br />

umfassen<strong>de</strong>, vergleichen<strong>de</strong> Diskussion aller in <strong>de</strong>n Interviews<br />

erhobenen Bereiche musste aufgrund <strong>de</strong>s engen Rahmens <strong>de</strong>r<br />

Arbeit auf einen Vergleich <strong>de</strong>r Häufigkeitsverteilungen <strong>de</strong>r ge-<br />

schlossenen Fragen und <strong>de</strong>r Rating Skala beschränkt wer<strong>de</strong>n.<br />

Einzeldarstellungen<br />

Im Folgen<strong>de</strong>n nun zwei exemplarische Einzeldarstellungen <strong>de</strong>r In-<br />

terviews, da eine Aufführung aller Interviews an dieser Stelle nicht<br />

möglich ist. Im Text wer<strong>de</strong>n die wörtlichen Zitate kursiv wie<strong>de</strong>r-<br />

gegeben; darüber hinaus gibt es in Klammern gesetzte kursive<br />

Wörter, die Ergänzungen zur besseren Verständlichkeit sind. Es<br />

kristallisierten sich charakteristische Sätze während <strong>de</strong>r Transkri-<br />

bierung heraus, die sich als Titel für die Einzeldarstellung <strong>de</strong>r jewei-<br />

ligen Redakteur/innen eigneten. Die konkreten Namen <strong>de</strong>r In-<br />

terview-Teilnehmer wer<strong>de</strong>n, so weit dies unter <strong>de</strong>n gegebenen Um-<br />

stän<strong>de</strong>n möglich ist, anonymisiert.<br />

Frau D.: „Dass ich keine Behin<strong>de</strong>rung mehr haben möchte“<br />

Frau D. ist 24 Jahre alt und wohnt bei meinen Eltern und<br />

Schwester zusammen in einem Mietshaus. Ihre Hobbies sind Lesen,<br />

Sport, Musik hören, Briefe und SMS und Tagebücher zu schreiben,<br />

Freun<strong>de</strong> und Freundinnen zu treffen, ins Kino gehen, Flirten,<br />

Bügeln, zu arbeiten, ab und zu telefonieren, schwimmen, tanzen,<br />

sturmfreie Bu<strong>de</strong> zu haben und in meiner Clique im Haus <strong>de</strong>r<br />

Volksarbeit zu sein. Auf die Frage, ob sie einen besten Freund o<strong>de</strong>r<br />

eine beste Freundin habe, meinte Frau D.: Das kann man nicht so<br />

sagen. Ich habe viele Freun<strong>de</strong>, aber keinen besten. Sie ist tätig in<br />

- 11 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

zwei Bibliotheken als Büchereiassistentin. Zu ihren Aufgaben dort<br />

gehören Bil<strong>de</strong>rbücher einstellen, Büroarbeiten, Kopien erledigen,<br />

Buchpflege ins Büro bringen, vorbestellte Bücher aus <strong>de</strong>n Regalen<br />

raussuchen, Leser an <strong>de</strong>r Ausleihe bedienen, (...) Extra Arbeiten je<br />

nach Kolleginnen zu arbeiten aber hauptsächlich bin ich für die<br />

Bil<strong>de</strong>rbücher und in <strong>de</strong>r Ausleihe zuständig. Mit ihrer Arbeit ist Frau<br />

D. sehr zufrie<strong>de</strong>n und zeigte auf das Symbol für ein sehr<br />

glückliches Gesicht. Auf die Frage nach <strong>de</strong>r Zufrie<strong>de</strong>nheit mit ihren<br />

Arbeitskollegen zeigte sie ebenfalls auf das sehr glückliche Gesicht<br />

und erwähnte noch, dass sie mit ihren Kollegen mehr als zufrie<strong>de</strong>n<br />

sei. Wenn sie für sich alleine ist, beschäftigt Frau D. sich gerne mit<br />

laute Musik hören und lesen, alleine zu sein und mich einfach<br />

hinzulegen und ganz viel nachzu<strong>de</strong>nken und mich viel abzulenken<br />

mit was mir gera<strong>de</strong> so einfällt. Wenn sie zaubern könnte, wür<strong>de</strong> sie<br />

gerne an ihrem jetzigen Leben än<strong>de</strong>rn, dass ich keine Behin<strong>de</strong>rung<br />

mehr haben möchte. Auf die Nachfrage, warum sie sich das<br />

wünschen wür<strong>de</strong>, antwortete Frau D. weil ich das blöd und einfach<br />

doof fin<strong>de</strong>, wenn an<strong>de</strong>re Leute mich so ganz blöd und einfach so<br />

komisch angucken, so intensive Blicke auf mich werfen und dabei<br />

<strong>de</strong>nken, die ist doch nicht mehr normal, wie kann man nur so<br />

aussehen und sich über mich lustig machen, obwohl ich nichts<br />

gemacht habe, son<strong>de</strong>rn einfach nur mein Leben leben möchte, und<br />

dass die mich so nehmen, wie ich bin. Ist das <strong>de</strong>nn nicht soviel<br />

verlangt? Frau D. weiß nicht mehr genau, wer ihr von OHRENKUSS<br />

zum ersten Mal erzählt hat, keiner, das war schon viel zu lange<br />

her. Ihre Tätigkeiten bei OHRENKUSS umfassen das Schreiben von<br />

Texten und Berichten: Ich bin eine Außenreporterin. Was ich genau<br />

mache, das sind Texte und Berichte zu schreiben, in <strong>de</strong>nen ich<br />

meine Meinung vertreten kann und die ich auch in <strong>de</strong>n Magazinen<br />

zu lesen pflege. Sie schreibt ihre Texte selbst. Die Mitarbeit macht<br />

ihr viel Spaß, vor allem, dass es auch an<strong>de</strong>re gibt, die auch die<br />

- 12 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

gleiche Behin<strong>de</strong>rung haben wie ich, damit ich nicht die Einzige bin,<br />

die das Down-Syndrom hat und dass es OHRENKUSS das Team<br />

und Heft gibt. Auf Themen angesprochen, die sie favorisiert,<br />

antwortete Frau D.: Es kommt immer auf die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Themen an, sei es das Lesen, Arbeiten, Sport o<strong>de</strong>r Liebe. Das ist<br />

ganz verschie<strong>de</strong>n. Mein Lieblings-OHRENKUSS-Heft ist das über die<br />

ARBEIT, von mir, wo ich über die Arbeit bei mir geschrieben habe.<br />

Weil da drin <strong>de</strong>r Aufsatz über meine Arbeit ist. Den OHRENKUSS<br />

fin<strong>de</strong>t sie gut und fühlt sich auch so, weil sie mitmachen kann.<br />

Gäbe es OHRENKUSS nicht mehr, wür<strong>de</strong> sie sich schlecht fühlen,<br />

weil ich es sehr scha<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn mir macht es Spaß dort hin zu<br />

schreiben. OHRENKUSS habe ihr Leben verän<strong>de</strong>rt, vor allem, dass<br />

ich mehr schreibe und dass ich die Redaktion kennenlernen durfte.<br />

Auch sie selbst habe sich durch OHRENKUSS verän<strong>de</strong>rt: dass ich<br />

offener an<strong>de</strong>ren Jugendlichen mit an<strong>de</strong>rer Behin<strong>de</strong>rung umgehen<br />

kann und re<strong>de</strong>n kann und dass ich mehr offener gewor<strong>de</strong>n bin zu<br />

meinen Freun<strong>de</strong>n gegenüber. Wichtig an OHRENKUSS ist Frau D.,<br />

dass ich immer was zu schreiben habe und dass ich das Team von<br />

<strong>de</strong>r OHRENKUSS Zeitung kenne. Es ist ihr wichtig, weil es ist<br />

einfach toll, mit ihnen zusammen zu arbeiten und dass ich da<br />

endlich dazu gehöre. An OHRENKUSS gibt es nichts, worüber ich<br />

mich ärgern wür<strong>de</strong>. Darauf kann ich nichts sagen, ich bin glücklich,<br />

dass es so was gibt.<br />

Interpretation anhand <strong>de</strong>s Empowerment<br />

Frau D. ist ein sehr feinsinniger und freundschaftsorientierter<br />

Mensch mit einem ausgeprägten Gespür für ihre Lebensumgebung.<br />

Sie reflektiert intensiv ihr „Down-Syndrom“, steht offen zu ihrer<br />

Meinung, hat keine Schwierigkeiten damit, sich zu öffnen und Ein-<br />

blicke in ihr Seelenleben zu geben. Sie liest viel und gerne, arbeitet<br />

auf <strong>de</strong>m ersten Arbeitsmarkt und hat einen sehr differenzierten ak-<br />

- 13 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

tiven Wortschatz. Frau D. zeigt eine sehr hohe soziale Intelligenz<br />

und Kompetenz auf, d.h. sie hat gelernt, eine eigene I<strong>de</strong>ntität zu<br />

entwickeln und zu erhalten sowie die Kontrolle eigener Lebensbe-<br />

dingungen und soziale Vergleichsprozesse vorzunehmen. Frau D.<br />

verfügt über eine hohe Selbstbehauptungsfähigkeit und Interak-<br />

tionsfähigkeit. Sie ist bei OHRENKUSS hoch motiviert und geht mit<br />

ihrer positiven Art sehr offen auf an<strong>de</strong>re Menschen zu. Im Hin-<br />

tergrund steht bei ihr eine Sicherheit, von ihren Eltern unterstützt<br />

zu wer<strong>de</strong>n und es fin<strong>de</strong>t sich auch in ihrem Leben eine starke in-<br />

tegrative Orientierung. Wie sie selbst äußerte, hat OHRENKUSS ihr<br />

Leben verän<strong>de</strong>rt und zwar in <strong>de</strong>r Form, dass sie offener und selbst-<br />

sicherer gewor<strong>de</strong>n ist, auch Menschen gegenüber, die selbst eine<br />

Behin<strong>de</strong>rung haben.<br />

Frau A.: „Jetzt bin ich berühmter!“<br />

Frau A. ist 23 Jahre alt und wohnt bei ihren Eltern und ihrer jünge-<br />

ren Schwester. Sie arbeitet als Büro-Hilfskraft bei <strong>de</strong>r Lebenshilfe.<br />

Dort erledigt sie alle anfallen<strong>de</strong>n Büroarbeiten: Also Fotokopieren,<br />

Computer, abheften, Telefongespräche, Kaffee kochen. Ihre Hob-<br />

bies sind Aerobic, OHRENKUSS, Basketball, Kegeln und lesen. Ihr<br />

bester Freund heißt Dirk und ihre beste Freundin Steffi. Nach <strong>de</strong>r<br />

Zufrie<strong>de</strong>nheit mit ihrer Arbeit und ihren Kollegen gefragt, zeigte<br />

Frau A. bei<strong>de</strong> Male auf das Gesicht lachen, glücklich sein.<br />

Wenn sie für sich alleine ist, beschäftigt sich Frau A. gerne mit<br />

Mandalas malen und Musik hören. Auf die Frage, wie sie sich dabei<br />

fühlt, zeigte sich auf das Gesicht fröhlich sein, zufrie<strong>de</strong>n sein. Wenn<br />

sie zaubern könnte, wür<strong>de</strong> sie gerne meine Diabetes loswer<strong>de</strong>n,<br />

dann könnte ich alles wie<strong>de</strong>r essen ohne nachzu<strong>de</strong>nken.<br />

Von OHRENKUSS hat Frau A. das erste Mal in <strong>de</strong>r Kirchenzeitung<br />

gelesen. Ihre Tätigkeiten beim Magazin OHRENKUSS betreffen die<br />

Pressearbeit sowie das Engegennehmen von Preisen bei öffentli-<br />

- 14 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

chen Veranstaltungen. Sie schreibt ihre Berichte und Texte selbst<br />

und diktiert nichts. Die Arbeit bei OHRENKUSS macht Frau A. viel<br />

Spaß. Zu ihren Vorlieben befragt, sprach sie von <strong>de</strong>m Spaß bei <strong>de</strong>n<br />

Lesungen mitzumachen, bei <strong>de</strong>n Redaktionssitzungen dabei zu sein<br />

und Berichte zu schreiben. Ihre Interessen betreffen alle Themen,<br />

sie schreibt über alle Themen gerne, aber ihr Lieblingsheft war klar<br />

das Heft „Lesen“, weil alle verschie<strong>de</strong>ne Bücher beschrieben haben.<br />

An OHRENKUSS ärgert sie, dass ich lei<strong>de</strong>r immer 1 ½ Stun<strong>de</strong>n bis<br />

nach Bonn fahren muss und <strong>de</strong>r Weg so weit ist.<br />

Für Frau A. ist OHRENKUSS sehr wichtig. Ihr be<strong>de</strong>utet OHRENKUSS<br />

sehr viel, da alle die gleiche Behin<strong>de</strong>rung haben und wir von un-<br />

seren Problemen erzählen können. OHRENKUSS spielt in ihrem<br />

Leben eine große Rolle, sie ist glücklich, weil sie bei OHRENKUSS<br />

mitmachen kann und weil sie jetzt berühmter ist. Deutliche<br />

Entwicklungen zu mehr Selbstsicherheit und Offenheit bestätigt<br />

Frau A.: Ich bin noch selbstsicherer gewor<strong>de</strong>n. Auch ihre Mutter<br />

betonte in <strong>de</strong>m Elternfragebogen ein gestärktes Selbstvertrauen<br />

sowie einen „Genuss <strong>de</strong>s Wichtigseins“ bei <strong>de</strong>n Redaktions-<br />

sitzungen und Workshops.<br />

Ohne OHRENKUSS wäre Frau A. sehr traurig, <strong>de</strong>nn dann könnte ich<br />

keine (...) Lesung mitmachen.<br />

Interpretation anhand <strong>de</strong>s Empowerment<br />

Bei Frau A. fin<strong>de</strong>n sich viele Entwicklungen und Verän<strong>de</strong>rungen im<br />

Sinne <strong>de</strong>s Empowerment. Sie ist mit als Einzige, in Bonn aktive<br />

Autorin in <strong>de</strong>r Lage, Fragen von „außen“ klar und <strong>de</strong>utlich zu beant-<br />

worten. Dabei ist sie immer freundlich und diplomatisch, sie weiß<br />

sich in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit zu präsentieren, weiß um die Vorurteile,<br />

die gegenüber Menschen mit Down-Syndrom bestehen und ver-<br />

sucht diesen durch ihr Auftreten in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit zu begegnen.<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Frau A. kam zu Beginn nur als Gast zu Besuch, um die Redaktion<br />

zu interviewen, mittlerweile schafft sie es, regelmäßig an <strong>de</strong>n<br />

Sitzungen und sonstigen Aktionen (Exkursionen, Lesungen) teil-<br />

zunehmen. Sie wird beständig selbstbewusster und ist mit großem<br />

Engagement bei <strong>de</strong>r Arbeit. Sie fin<strong>de</strong>t langsam ein wenig mehr An-<br />

schluss an die übrigen Autor/innen <strong>de</strong>r Stammredaktion und durch<br />

diesen Umstand profitiert sie (wie je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Mensch) davon, mit<br />

Menschen tätig zu sein und eine Selbstbestätigung auch durch die<br />

Gruppe zu erhalten.<br />

Ihr hohes Reflexionsvermögen wur<strong>de</strong> auch von ihrer Mutter ange-<br />

sprochen; sie betonte <strong>de</strong>s Weiteren <strong>de</strong>n Stolz, <strong>de</strong>n Frau A. als<br />

Redakteurin <strong>de</strong>s OHRENKUSS entwickelt hat und <strong>de</strong>r sie motiviert,<br />

möglichst viele Berichte zu schreiben.<br />

Bei Frau A. ist schon sehr früh in ihrem Leben eine integrative<br />

Orientierung zu fin<strong>de</strong>n. So war sie <strong>de</strong>r erste Mensch mit Down-Syn-<br />

drom in Deutschland, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Regel-Grundschule die Schreib-<br />

schrift erlernte. Frau A. weiß, was sie will und was nicht, und dies<br />

zeigt eine hohe Selbstakzeptanz und eine Akzeptanz <strong>de</strong>s Down-<br />

Syndroms auf.<br />

Antworten <strong>de</strong>r Eltern<br />

Im Folgen<strong>de</strong>n nun exemplarisch einige Antworten <strong>de</strong>r Eltern, die<br />

aus ihrer Sicht die Mitarbeit <strong>de</strong>r eigenen Tochter/<strong>de</strong>s eigenen<br />

Sohnes bei OHRENKUSS beleuchten:<br />

„Meine Tochter ist sehr selbstbewusst gewor<strong>de</strong>n, sie spricht freier<br />

und durch die Fahrten in die verschie<strong>de</strong>nen Städte hat sie Zug-<br />

fahrten, Bahnhöfe und Hotels kennengelernt”.<br />

„Meine Tochter ist selbstbewusster gewor<strong>de</strong>n und hat gelernt, ihre<br />

Behin<strong>de</strong>rung besser zu akzeptieren. Sie fin<strong>de</strong>t es interessant, zu<br />

verschie<strong>de</strong>nen Themen ihre Meinung zu schreiben und ihre Berich-<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

te in einer Zeitung zu lesen. Außer<strong>de</strong>m hat sie durch OHRENKUSS<br />

viele Kontakte bekommen“.<br />

„Meine Tochter ist durch die Fahrten zu <strong>de</strong>n Lesungen etc. welt-<br />

männischer und selbstbewusster (teilweise übertrieben „Ich bin ein<br />

Star“) gewor<strong>de</strong>n. Sie hat immer mehr Spaß an <strong>de</strong>n Treffen und <strong>de</strong>r<br />

Redaktionsarbeit gewonnen. Sie überträgt einige neu erlernte<br />

Kenntnisse auf ihren Alltagsbereich“.<br />

„Möglicherweise hat meine Tochter über das Down-Syndrom etwas<br />

intensiver reflektiert“.<br />

„Sie [meine Tochter; Anm. J.S.] hat erfahren, dass es sehr viele<br />

Menschen mit Down-Syndrom gibt und fühlt sich nicht mehr als<br />

Außenseiter“.<br />

„Sie [meine Tochter; Anm. J.S.] weiß über ihre Behin<strong>de</strong>rung. Sie<br />

sieht es auch an<strong>de</strong>ren Personen an. Ich dachte bis vor kurzem, sie<br />

akzeptiert ihre Behin<strong>de</strong>rung. Aber seit einiger Zeit fin<strong>de</strong> ich immer<br />

wie<strong>de</strong>r Zettel, auf <strong>de</strong>nen sie ihren Kummer aufschreibt“.<br />

Vergleichen<strong>de</strong> Darstellung <strong>de</strong>r Ergebnisse <strong>de</strong>r In-<br />

terviews<br />

Da Arbeit eine sehr zentrale Rolle im „Rollenhaushalt“ eines<br />

erwachsenen Menschen einnimmt, war zu erwarten, dass die Be-<br />

wertung <strong>de</strong>r Arbeitsituation einen Ausstrahlungseffekt auf das ge-<br />

samte Leben und damit auch auf die Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit hat. Die<br />

Ergebnisse <strong>de</strong>r Interviews zeigten eine hohe Arbeitszufrie<strong>de</strong>nheit<br />

bei vier Redakteur/innen, lediglich eine Redakteurin war mit ihrer<br />

Arbeit nur ausreichend zufrie<strong>de</strong>n. Der Mittelwert hier betrug 2,0<br />

(analog zu <strong>de</strong>n Schulnoten). Grün<strong>de</strong> für die hohe Arbeitszufrie<strong>de</strong>n-<br />

heit könnten zum einen sein, dass es sich um vier Arbeitsplätze<br />

han<strong>de</strong>lte, die gesellschaftlich anerkannt sind, eine Redakteurin<br />

arbeitete auf <strong>de</strong>m ersten Arbeitsmarkt als Bücherei-Assistentin,<br />

eine Redakteurin als Büro-Hilfe, ein Redakteur als Teacher-<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Assistant und wie<strong>de</strong>r ein an<strong>de</strong>rer war in einer Großküche tätig. Ein<br />

an<strong>de</strong>rer Grund könnte die Arbeit an sich sein, ein Gefühl <strong>de</strong>s Einge-<br />

bun<strong>de</strong>nseins und <strong>de</strong>r Verantwortung, sowie ein Gefühl <strong>de</strong>r Regel-<br />

mäßigkeit. Die Redakteurin, die mit ihrer Arbeit nur ausreichend<br />

zufrie<strong>de</strong>n war, bemängelte vor allem die lange Anfahrt und <strong>de</strong>n<br />

Tonfall <strong>de</strong>r Chefin und das Gefühl, nicht wertgeschätzt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Mittelwert <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r Zufrie<strong>de</strong>nheit mit <strong>de</strong>n Arbeits-<br />

kollegen betrug 1,8 und zeigte damit eine hohe Zufrie<strong>de</strong>nheit auf.<br />

Es stellt sich bei diesen Punkten sicherlich die Frage, inwieweit die<br />

Arbeitszufrie<strong>de</strong>nheit auch ein Ausdruck entfrem<strong>de</strong>ter Anpassung<br />

sein kann und ob nicht an<strong>de</strong>re Faktoren, wie Freundschaften und<br />

Familie, bei <strong>de</strong>n meisten Befragten eine wichtigere Rolle im Leben<br />

spielen. Nichts<strong>de</strong>stotrotz erwies sich die Arbeitszufrie<strong>de</strong>nheit als<br />

brauchbarer Indikator, um eine geäußerte Zufrie<strong>de</strong>nheit im Leben<br />

zu präzisieren. Auch <strong>de</strong>r Umstand, dass sich alle acht Redakteur/in-<br />

nen alleine sehr wohlfühlten, drückt eine innere Zufrie<strong>de</strong>nheit aus,<br />

die sicherlich auch auf an<strong>de</strong>re Bereiche im Leben ausstrahlen kann.<br />

Zum Magazin OHRENKUSS befragt, fan<strong>de</strong>n drei Redakteur/innen<br />

das Magazin OHRENKUSS sehr gut und fühlten sich auch so, weil<br />

sie mitarbeiten können. Fünf Redakteur/innen fühlten sich gut, weil<br />

sie bei OHRENKUSS arbeiten und nur ein Redakteur fand OH-<br />

RENKUSS ausreichend. Der Mittelwert betrug hier 2,0. Die hohen<br />

positiven Werte bei <strong>de</strong>r Frage, wie sich die Redakteur/innen bei<br />

OHRENKUSS fühlten (Mittelwert 1,6), zeigt u.a. die Wichtigkeit <strong>de</strong>r<br />

Gruppe an sich. Die salutogenetische Wirkung einer von „kommuni-<br />

tären Werten getragenen positiven Gruppenatmosphäre“<br />

(THEUNISSEN 1999, 160) kann als hoch eingeschätzt wer<strong>de</strong>n. Eine<br />

Atmosphäre <strong>de</strong>s Vertrauens und Respekts, <strong>de</strong>s gemeinsamen Mit-<br />

einan<strong>de</strong>rs und <strong>de</strong>s gemeinsamen Unterstützens in einer Gruppe hat<br />

einen günstigen Einfluss auf die psychische Gesundheit, auf das<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Wohlbefin<strong>de</strong>n und Selbstwertgefühl <strong>de</strong>s Einzelnen und kann die<br />

psychosozialen Wi<strong>de</strong>rstandskräfte aktivieren.<br />

Der Mittelwert bei <strong>de</strong>r Frage: „Wenn es OHRENKUSS nicht mehr<br />

gäbe, wie wür<strong>de</strong>st Du Dich fühlen?“ betrug 4,3 und zeigte (quasi<br />

indirekt) eine hohe Zufrie<strong>de</strong>nheit mit OHRENKUSS auf, da ein Ge-<br />

fühl <strong>de</strong>r Traurigkeit auftauchen wür<strong>de</strong>, wenn es die Möglichkeit, für<br />

OHRENKUSS zu arbeiten und OHRENKUSS zu lesen, nicht mehr gä-<br />

be.<br />

In weiteren Fragen zu OHRENKUSS zeigten sich <strong>de</strong>utliche Entwick-<br />

lungen im Schreiben. Konnten zu Beginn <strong>de</strong>s Projektes drei Per-<br />

sonen ohne Hilfe schreiben, so waren es nun acht Redakteur/innen,<br />

die ihre Beiträge alleine schreiben, und lediglich ein Redakteur dik-<br />

tierte seine Beiträge auch bisweilen. Insgesamt lassen sich – dies<br />

bestätigen auch die Elternfragebögen – bei je<strong>de</strong>m Redakteur Kom-<br />

petenzerweiterungen feststellen, die sich zwar nicht allein, aber<br />

auch auf die Mitwirkung bei OHRENKUSS zurückführen lassen. Die<br />

Ergebnisse hängen – unter systemischen Blickwinkel – neben <strong>de</strong>r<br />

Person und neben OHRENKUSS mit vielen weiteren Faktoren zu-<br />

sammen, so <strong>de</strong>r Arbeit, Partnerschaft und auch <strong>de</strong>r jeweiligen Er-<br />

ziehung. Es ist daher wichtig, immer von Kontexten <strong>de</strong>r Entwick-<br />

lung auszugehen, um auch das Problem <strong>de</strong>r Subjektivität nicht zu<br />

verfehlen.<br />

Fünf von acht Redakteur/innen behaupten, dass sich ihr Leben<br />

verän<strong>de</strong>rt habe durch OHRENKUSS. Dies kann beispielsweise be-<br />

<strong>de</strong>uten, dass durch OHRENKUSS insgesamt das Spektrum <strong>de</strong>r Nor-<br />

malität vergrößert wird: „Die Balance, in <strong>de</strong>r Anerkennung und Ak-<br />

zeptanz von Gleichheit und Beson<strong>de</strong>rheit (...) vorhan<strong>de</strong>n sind,<br />

ermöglicht ihrerseits echte Begabung, gelingen<strong>de</strong> Kooperation,<br />

auch über das Sachliche hinausgehen<strong>de</strong> Gemeinsamkeit und eine<br />

Normalisierung (...)“ (HINZ 2001, 133). Das Gefühl <strong>de</strong>s „Zu-<br />

sammengehörens“ und die so entstan<strong>de</strong>ne Gruppeni<strong>de</strong>ntität zeigen<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

sich auch in <strong>de</strong>r Darstellung nach außen. Hierzu zählen u.a. Artikel,<br />

die in an<strong>de</strong>ren Zeitschriften erscheinen (beispielsweise MENSCHEN<br />

4/2003), o<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>ne Radio-Berichte und Fernseh-Doku-<br />

mentationen (wie beispielsweise <strong>de</strong>r Beitrag in „sonntags“ im ZDF<br />

vom 25.07.2004). Durch die Darstellung nach außen wird auch ein<br />

positives Stigma-Management initiiert, in<strong>de</strong>m durch die Öffentlich-<br />

keitsarbeit (hierzu zählen vor allem auch die öffentlichen Lesungen)<br />

Prozesse <strong>de</strong>r Entstigmatisierung eingeleitet wer<strong>de</strong>n (vgl. GOFMANN<br />

1979). Auch dieser Aspekt zeigt ein Mehr an Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit<br />

auf.<br />

Die Interviews haben <strong>de</strong>n Redakteur/innen viel Spaß gemacht, <strong>de</strong>r<br />

Mittelwert betrug hier (wie<strong>de</strong>r analog <strong>de</strong>n Schulnoten) 1,4 bei <strong>de</strong>r<br />

Frage, wie es <strong>de</strong>n Redakteur/innen am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Interviews geht.<br />

Relation <strong>de</strong>r Interviews und Elternfragebögen zuein-<br />

an<strong>de</strong>r<br />

Es war interessant herauszuarbeiten, ob die Redakteur/innen ver-<br />

schie<strong>de</strong>ne Aspekte ihrer Mitarbeit bei OHRENKSS genauso beurteil-<br />

ten wie ihre Eltern, und ob Erklärungen für bestimmte Sichtweisen<br />

übereinstimmten. Die Vergleiche zeigten, dass es viele Überein-<br />

stimmungen in <strong>de</strong>n Einschätzungen und Bewertungen gab. Keine<br />

signifikanten Unterschie<strong>de</strong> lagen vor bei <strong>de</strong>n Fragen zu Ver-<br />

än<strong>de</strong>rungen durch OHRENKUSS: Fünf von acht Müttern waren<br />

überzeugt, dass es durch die Mitarbeit bei OHRENKUSS zu Ver-<br />

än<strong>de</strong>rungen kam, bei <strong>de</strong>n Redakteur/innen waren dies ebenfalls<br />

fünf von acht. Ein Mehr an Selbstvertrauen und ein Mehr an Selb-<br />

ständigkeit erwähnten vier von acht Müttern gegenüber vier von<br />

acht Redakteur/innen, die sagten, dass OHRENKUSS sie verän<strong>de</strong>rt<br />

habe. In welcher Form diese Verän<strong>de</strong>rungen stattgefun<strong>de</strong>n haben,<br />

wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Interviews mit mehr Selbstsicherheit und vor allem<br />

einer Verbesserung im Lesen und Schreiben angegeben. Die Eltern<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

bekräftigten weiterhin, dass sie eine Verbesserung in <strong>de</strong>r Kom-<br />

munikation erlebt haben, beispielsweise was eigene Anknüpfungs-<br />

punkte in Gesprächen betrifft.<br />

Die Tatsache, bei OHRENKUSS mitmachen zu können, kann auf<br />

Seiten <strong>de</strong>r Redakteur/innen mit einem Mittelwert von 1,6 als sehr<br />

gut eingeschätzt wer<strong>de</strong>n. Vier von acht Müttern antworteten auf die<br />

Frage, wie es ihrem Sohn/ihrer Tochter seit <strong>de</strong>r Mitarbeit geht,<br />

hauptsächlich ebenfalls mit sehr gut (Mittelwert 1,8).<br />

Interviewangaben und Elternantworten stimmten dahingehend<br />

überein, dass die Lesungen und Unternehmungen einen wichtigen<br />

Aspekt <strong>de</strong>r Zufrie<strong>de</strong>nheit darstellen und zu mehr Selbstständigkeit<br />

führen, ebenso wie die Gruppenarbeit und die gemeinsame Ausein-<br />

an<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Down-Syndrom.<br />

Fünf von acht Müttern gaben an, dass sich ihre Wahrnehmung, die<br />

sie von ihrem Sohn/ihrer Tochter haben, geän<strong>de</strong>rt hat und eben-<br />

falls fünf von acht Müttern glaubten, dass sich die Wahrnehmung<br />

ihres Sohnes/ihrer Tochter verän<strong>de</strong>rt habe. Dies unterstützten (wie<br />

oben erwähnt) vier von acht Redakteur/innen, die bei sich selbst<br />

eine Verän<strong>de</strong>rung feststellten.<br />

Bei <strong>de</strong>r Überprüfung <strong>de</strong>r Bezugspaare zeigte sich eine große Über-<br />

einstimmung. Die Mutter eines Redakteurs, <strong>de</strong>r OHRENKUSS an<br />

sich als ausreichend empfand, erwähnte, dass die Mitarbeit bei OH-<br />

RENKUSS für ihren Sohn oftmals eine Pflichterfüllung darstellt. Eine<br />

Außenkorrespon<strong>de</strong>ntin, die keine Verän<strong>de</strong>rung in ihrem Leben fest-<br />

stellen konnte, wur<strong>de</strong> durch ihre Mutter „unterstützt“, die ebenfalls<br />

beschrieb, dass eine nur beiträgeproduzieren<strong>de</strong> Außenkorrespon-<br />

<strong>de</strong>nz kaum zu Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit führen<br />

könne. Bei<strong>de</strong> waren sich jedoch einig, dass eine regelmäßige und<br />

eigenständige Teilnahme an <strong>de</strong>n Sitzungen und Unternehmungen<br />

positive Auswirkungen auf die Zufrie<strong>de</strong>nheit haben dürfte. Zu-<br />

sammenfassend lässt sich sagen, dass die Elternfragebögen die<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Ergebnisse <strong>de</strong>r Interviews in <strong>de</strong>r Form stützten, dass die zugrun<strong>de</strong><br />

gelegten Annahmen dieser Untersuchung bekräftigt wur<strong>de</strong>n.<br />

Diskussion<br />

Aus <strong>de</strong>n bisherigen Ergebnissen ist <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n, dass OH-<br />

RENKUSS zu Verän<strong>de</strong>rungen und Entwicklungen und somit auch zu<br />

einer Zunahme an Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit geführt hat. Die vorgestell-<br />

ten Ergebnisse unterstützen die aufgestellte Hypothese, dass das<br />

Schreiben an sich zu einer Zunahme an Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit führt.<br />

Schreiben ist aufgrund seiner vielfältigen, kulturellen Funktionen<br />

<strong>de</strong>n meisten Menschen ein vertrautes, meist selbstverständliches<br />

Medium. Menschen mit Down-Syndrom wur<strong>de</strong> lange Zeit abgespro-<br />

chen, dass sie schriftstellerisch tätig sein können und überhaupt in<br />

<strong>de</strong>r Lage seien, lesen und schreiben zu lernen. Dies zu wi<strong>de</strong>rlegen<br />

war mit ein Beweggrund für die Initiierung <strong>de</strong>s Projektes OH-<br />

RENKUSS. Das Schreiben als Mittel <strong>de</strong>s Selbstausdrucks, <strong>de</strong>r<br />

Selbstanalyse, und <strong>de</strong>r Kreativitätsför<strong>de</strong>rung zeigt die Wichtigkeit<br />

an, Plattformen zu bieten, um <strong>de</strong>n eigenen Gedanken Ausdruck<br />

geben zu können. Im Schreiben für OHRENKUSS fin<strong>de</strong>n Gefühle,<br />

Wünsche und geheime Bedürfnisse Ausdruck, die im Alltag aus<br />

Ermangelung an Ausdrucksmitteln häufig ver<strong>de</strong>ckt bleiben.<br />

Eine weitere Determinante <strong>de</strong>r Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit stellt die Arbeit<br />

in <strong>de</strong>r Gruppe dar, wie die Ergebnisse zeigen. Bei OHRENKUSS wird<br />

viel Wert auf eine Gruppenarbeit gelegt und versucht, dass die<br />

Redakteur/innen sich innerhalb <strong>de</strong>r Gruppe stabilisieren, dass eine<br />

Gruppendynamik entsteht und sie sich gegenseitig unterstützen.<br />

Es sind Beziehungsverbesserungen bei <strong>de</strong>n Redakteur/innen zu<br />

fin<strong>de</strong>n; so haben sich durch OHRENKUSS beispielsweise zwei Paare<br />

gefun<strong>de</strong>n.<br />

Aufgrund theoretischer Überlegungen und Ergebnisse verschie-<br />

<strong>de</strong>ner Studien wur<strong>de</strong> das Ausmaß sozialer Beziehungen als Variable<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

<strong>de</strong>r objektiven Lebensbedingungen und somit als Teil <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r<br />

Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit zusammenhängen<strong>de</strong>n Lebensqualität in Ver-<br />

bindung gebracht. Es konnte festgestellt wer<strong>de</strong>n, dass eine Einge-<br />

bun<strong>de</strong>nheit in soziale Strukturen o<strong>de</strong>r Netzwerke in <strong>de</strong>r interview-<br />

ten Personengruppe mit <strong>de</strong>r Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit zusammenhängt.<br />

In <strong>de</strong>r hier beschriebenen Studie wur<strong>de</strong> das Vorhan<strong>de</strong>nsein von<br />

Kontakten zu Freun<strong>de</strong>n und Bekannten ermittelt, jedoch lei<strong>de</strong>r<br />

nicht die Qualität dieser Kontakte.<br />

Neben sozialer Eingebun<strong>de</strong>nheit und Arbeit wur<strong>de</strong> Selbständigkeit<br />

und Selbstbestimmung in die Analyse zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit mit<br />

einbezogen. Sieben befragte Redakteur/innen lebten zum Zeitpunkt<br />

<strong>de</strong>s Interviews bei <strong>de</strong>n Eltern, wobei sie sich in diesem Punkt von<br />

<strong>de</strong>r Allgemeinbevölkerung unterschei<strong>de</strong>n. Eine weitere Befragte<br />

lebte in einer betreuten Wohneinrichtung.<br />

„In <strong>de</strong>r behin<strong>de</strong>rtenpädagogischen Arbeit bei Erwachsenen ist mit<br />

theoretischen Ansätzen von BACH, SPECK und THEUNISSEN im<br />

<strong>de</strong>utschsprachigen Raum in <strong>de</strong>n letzten Jahren ein <strong>de</strong>utlicher Pa-<br />

radigmenwechsel eingeleitet wor<strong>de</strong>n“ (DEMUTH 2001, 6). Es wird<br />

angenommen, dass die Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Be-<br />

hin<strong>de</strong>rung in enger „Wechselwirkung zu passfähigen Arbeits- und<br />

Lebensbedingungen steht und dass diese einen Raum bieten, in<br />

<strong>de</strong>nen Handlungskompetenz erhalten und geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n<br />

können“ (ebd., 6). Eine weitere Variable <strong>de</strong>r erhobenen objektiven<br />

Lebensbedingungen innerhalb <strong>de</strong>r Lebensqualität ist daher die<br />

Arbeit. Es wur<strong>de</strong> angenommen, dass ein bestehen<strong>de</strong>s Arbeitsver-<br />

hältnis mit <strong>de</strong>r Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit zusammenhängt; dieser Zu-<br />

sammenhang konnte an <strong>de</strong>r Stichprobe bestätigt wer<strong>de</strong>n. Lediglich<br />

eine Redakteurin war mit ihrer Arbeit nur ausreichend zufrie<strong>de</strong>n.<br />

Den Aussagen <strong>de</strong>s Interviews zu entnehmen, fühlte sie sich eher<br />

unterfor<strong>de</strong>rt und ihre Arbeit wenig anerkannt. Interessant wären<br />

hier weitere Fragen zu eventuellen „Traumjobs“ gewesen.<br />

- 23 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Eine „Ressource menschlichen Seins kann nicht nur in <strong>de</strong>r Arbeits-<br />

welt und in <strong>de</strong>n „Activities of daily living“ gestärkt und erweitert<br />

wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn vor allem auch in freizeitorientierten Angeboten.<br />

Diese bieten auch Menschen mit einer geistigen Behin<strong>de</strong>rung die<br />

Möglichkeit, in einem selbstbestimmten Freizeitbereich ihre Kompe-<br />

tenz in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht einzusetzen,<br />

zu erleben und bei kontinuierlicher Teilnahme auch zu erweitern“<br />

(ebd., 6). OHRENKUSS bietet ein solches freizeitorientiertes<br />

Angebot und ermöglicht so einen Zuwachs an Zufrie<strong>de</strong>nheit durch<br />

<strong>de</strong>n Spaß an <strong>de</strong>r redaktionellen Arbeit, die Regelmäßigkeit <strong>de</strong>r<br />

Treffen und <strong>de</strong>m Aufbau einer Vernetzungsstruktur. Wie in <strong>de</strong>n Ant-<br />

worten über Freizeit und Interessen weiter zu erfahren war, zählte<br />

ein großer Teil <strong>de</strong>r Interviewten Basketball zu seinen Hobbies, aber<br />

auch das Musik machen (Saxofon, Snare-Drum) wur<strong>de</strong>n erwähnt<br />

sowie immer wie<strong>de</strong>r OHRENKUSS. Die Redakteur/innen sind zufrie-<br />

<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n „Errungenschaften“ in Hinblick auf soziale Fähigkeiten,<br />

sie sind glücklich über OHRENKUSS, zwei geben lediglich als nega-<br />

tiv an, <strong>de</strong>n Sitzungen und Unternehmungen nicht oft genug bei-<br />

wohnen zu können. Bei einer Redakteurin konnte daher festgestellt<br />

wer<strong>de</strong>n, dass die räumliche Entfernung zu weniger Verän<strong>de</strong>rungen<br />

führte, da eine regelmäßige Teilnahme an <strong>de</strong>n Redaktions-<br />

sitzungen, Treffen und Aktionen nicht möglich und daher zu punk-<br />

tuell ist, um einen signifikanten Zuwachs an Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit<br />

nach sich zu ziehen. OHRENKUSS beeinflusst hier das Leben im ge-<br />

samten zu wenig, was sich aber – so zeigten es die an<strong>de</strong>ren In-<br />

terviews – än<strong>de</strong>rn könnte, wenn <strong>de</strong>r jeweilige Redakteur selbstän-<br />

dig zu <strong>de</strong>n Sitzungen kommen und an Gruppenunternehmungen<br />

ohne persönliche Assistenz mitmachen wür<strong>de</strong>.<br />

Als beson<strong>de</strong>re Kennzeichnung einer fehlen<strong>de</strong>n Akzeptanz durch die<br />

Gesellschaft wur<strong>de</strong>n „Hänseleien“ in Form von „Angestarrt-wer<strong>de</strong>n“<br />

genannt. Hier ist für die Redakteur/innen OHRENKUSS als Medium<br />

- 24 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

beson<strong>de</strong>rs wichtig, wenn es darum geht, <strong>de</strong>r Gesellschaft zu einem<br />

besseren Verständnis für das syndromspezifische Aussehen zu<br />

verhelfen.<br />

Die Daten <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Studie belegen weiterhin eine emotio-<br />

nal unterstützen<strong>de</strong> Funktion <strong>de</strong>r Eltern und das von Seiten <strong>de</strong>r<br />

Eltern aufgebrachte Verständnis für die eigene Tochter/<strong>de</strong>n eigenen<br />

Sohn. Die außerfamiliären Kontakte, die durch OHRENKUSS<br />

vermehrt stattfin<strong>de</strong>n (bei <strong>de</strong>n Lesungen, Unternehmungen, und<br />

Preisverleihungen etc.) sind mehr als <strong>de</strong>r Hälfte <strong>de</strong>r Redakteur/in-<br />

nen sehr wichtig, was durch die Angaben <strong>de</strong>r Eltern Unterstützung<br />

fin<strong>de</strong>t.<br />

Die Analyse <strong>de</strong>r Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit macht <strong>de</strong>utlich, wie wichtig es<br />

ist, dass die subjektive Bewertung <strong>de</strong>r zu untersuchen<strong>de</strong>n Per-<br />

sonengruppe berücksichtigt wird. Die bloße Erfassung objektiver<br />

Lebensbedingungen, die in an<strong>de</strong>ren Studien das „Outcome“ dar-<br />

stellen, kann keine genügen<strong>de</strong> Aussage liefern, da die Bewertung<br />

<strong>de</strong>r Faktoren durch die Personen selbst diskrepant verlaufen kann.<br />

Die vorliegen<strong>de</strong> Interviewstudie konnte die konkreten Fragestel-<br />

lungen bestätigen und mit subjektiven Beurteilungen und Erklä-<br />

rungen ergänzen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Beschreibung, noch mehr bei <strong>de</strong>r Interpretation <strong>de</strong>s Zu-<br />

sammenhanges von Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit und <strong>de</strong>r redaktionellen<br />

Mitarbeit bei OHRENKUSS ist jedoch Vorsicht geboten. Es wur<strong>de</strong>n<br />

nur wenige Personen explorativ befragt und es kann nicht ausge-<br />

schlossen wer<strong>de</strong>n, dass an<strong>de</strong>re Redakteur/innen ein an<strong>de</strong>res Bild<br />

gezeichnet hätten. SCHMIDT (1997) plädiert dafür „Forschungsbe-<br />

richte nicht zu glätten, son<strong>de</strong>rn die methodischen Probleme offen<br />

zu diskutieren und auch Umwege und Sackgassen zuzugeben“<br />

(ebd., 566). Diesem Vorschlag folgend, soll in <strong>de</strong>m kommen<strong>de</strong>n<br />

Abschnitt eine „Geltungsbegründung“ vorgenommen und metho-<br />

dische Probleme dieser Arbeit diskutiert wer<strong>de</strong>n.<br />

- 25 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Methodische Diskussion<br />

Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Im traditionellen Verständnis bezeichnet die Reliabilität <strong>de</strong>n Grad<br />

<strong>de</strong>r Genauigkeit, mit <strong>de</strong>m eine Aussage getroffen wird. Beim hier<br />

gewählten halbstandardisierten Vorgehen erscheint eine solche<br />

Überprüfung <strong>de</strong>r Reliabilität sinnlos, da die Interviewsituation sich<br />

we<strong>de</strong>r unter gleichen Bedingungen wie<strong>de</strong>rholen lassen, noch ein<br />

an<strong>de</strong>rer Interviewer die gleichen Schwerpunkte setzen wür<strong>de</strong> (PAY-<br />

NE 1999, 96). Reliabilität wird bezogen auf diese Studie als gege-<br />

ben erachtet, wenn <strong>de</strong>r Umgang mit <strong>de</strong>m Leitfa<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r In-<br />

terviewsituation hilft, die anvisierten Themen tatsächlich zu bespre-<br />

chen. Um <strong>de</strong>ssen Brauchbarkeit zu diesem Zweck zu prüfen,<br />

wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Leitfa<strong>de</strong>n und die Eingangsinstruktion, wie schon<br />

erwähnt, in einem Pilotinterview erprobt. Trotz<strong>de</strong>m war <strong>de</strong>r Um-<br />

gang mit <strong>de</strong>m Leitfa<strong>de</strong>n nicht unproblematisch. Charakteristiken,<br />

die HOPF (1978, 101) in ihrem Aufsatz unter <strong>de</strong>m Stichwort „Leit-<br />

fa<strong>de</strong>nbürokratie“ diskutiert, trafen auch hier zu; aus Neugier und<br />

<strong>de</strong>m Drang möglichst viel erfahren zu wollen, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Leitfa<strong>de</strong>n<br />

anfangs länger und musste dann gekürzt wer<strong>de</strong>n. In einigen In-<br />

terviews entstand aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n ein gewisser Grad<br />

ein Zeitdruck, <strong>de</strong>r zum „'zügigen', bürokratischen Abhaken von<br />

Themen“ (ebd., 102) beigetragen hat. Auch die Fragestellung<br />

wur<strong>de</strong> vor Beginn <strong>de</strong>r Datensammlung doch nicht weit genug redu-<br />

ziert und ver<strong>de</strong>utlicht (FLICK 1995, 152). Dementsprechend<br />

wur<strong>de</strong>n viele Themen erfasst, die zwar als Hintergrundinforma-<br />

tionen interessant sind, aber nicht im Fokus <strong>de</strong>r Studie stehen soll-<br />

ten, ebenso wie auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite kritische Punkte zum Teil<br />

nicht explizit genug erfragt wur<strong>de</strong>n.<br />

Die ungewohnte Situation <strong>de</strong>s Interviews führte zum Teil zu<br />

Verunsicherungen, die ebenfalls ein Festhalten an <strong>de</strong>n fertigen<br />

Fragen bedingte und es erschwerte, wirklich <strong>de</strong>n gegebenen Ant-<br />

worten zuzuhören. Beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich wur<strong>de</strong> dies bei <strong>de</strong>r Tran-<br />

- 26 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

skription <strong>de</strong>r Interviews, bei <strong>de</strong>r immer wie<strong>de</strong>r Gedanken auf-<br />

kamen, wie sie HOFF, LAPPE und LEMPERT (1983) illustrativ dar-<br />

stellen: „Häufig haben wir einfach nicht hinreichend sondiert, nicht<br />

lange genug nachgebohrt, uns mit oberflächlichen Antworten zu-<br />

frie<strong>de</strong>n gegeben, tiefer liegen<strong>de</strong> Begründungen und fundamentale<br />

Überzeugungen <strong>de</strong>r Befragten auf sich beruhen lassen, unter<br />

an<strong>de</strong>rem auch gar nicht erst versucht, sie in Wi<strong>de</strong>rsprüche zu<br />

verwickeln (HOFF, LAPPE u. LEMPERT 1983; zit. nach HOPF 1995,<br />

178).<br />

Um die Validität zu erhöhen, hätten Zusammenfassungen von <strong>de</strong>n<br />

Interviewteilnehmern rekommentiert wer<strong>de</strong>n müssen, um so zu<br />

versuchen, eine kommunikative Validierung zu erreichen (FLICK<br />

1995, 168). In <strong>de</strong>r erneuten Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Zu-<br />

sammenfassungen hätten die Interviewteilnehmer so das Gesagte<br />

bzw. Gemeinte mit <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Autorin verstan<strong>de</strong>nen Version<br />

abgleichen können. Dies wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Untersuchung<br />

lei<strong>de</strong>r verpasst bzw. nur ansatzweise verfolgt. Die angesprochene<br />

Problematik <strong>de</strong>r kleinen Gruppengröße gilt entsprechend auch für<br />

die Befragung <strong>de</strong>r Eltern.<br />

Schlussfolgerungen<br />

Über die Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom ist<br />

bisher wenig bekannt, insbeson<strong>de</strong>re gibt es keine Studien (trotz in-<br />

tensiver Recherche ist <strong>de</strong>r Autorin zumin<strong>de</strong>st keine solche Studie<br />

bekannt), die die Erfahrungen und Bewertungen <strong>de</strong>r Personen<br />

selbst in <strong>de</strong>n Mittelpunkt stellen. Die hier vorgestellte Untersuchung<br />

hat sich bemüht, die subjektiven Sichtweisen dieser Per-<br />

sonengruppe anhand <strong>de</strong>r redaktionellen Mitarbeit bei OHRENKUSS<br />

zu erforschen.<br />

- 27 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Es wäre sinnvoll, aus <strong>de</strong>m in dieser Studie benutzten Interview<br />

einen Fragebogen zu entwerfen, mit welchem eine größere Gruppe<br />

<strong>de</strong>r Redakteur/innen <strong>de</strong>s OHRENKUSS befragt wer<strong>de</strong>n könnten,<br />

also weitere Redakteur/innen vor Ort und die vielen Außenkorre-<br />

spon<strong>de</strong>nt/innen.<br />

Das Empowerment-Konzept, das sich gezielt an die Fähigkeiten und<br />

Möglichkeiten <strong>de</strong>s Menschen richtet, über sein Leben selbst zu be-<br />

stimmen, kann als übergreifen<strong>de</strong>s Prinzip für mögliche Projekte für<br />

Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung angesehen wer<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>n Ergebnissen <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Studie lassen sich Ressourcen<br />

von Menschen mit Down-Syndrom erkennen, die quasi „therapeu-<br />

tisch“ genutzt wer<strong>de</strong>n können. Sie umfassen zum einen die Begeis-<br />

terungsfähigkeit für spezielle Themengebiete und die erhöhte Mo-<br />

tivation zur Beziehungsaufnahme, zum an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n Wunsch,<br />

journalistisch tätig zu sein und zu können. Diese Aspekte sollten in<br />

je<strong>de</strong>m Fall aufgegriffen und unterstützt wer<strong>de</strong>n, vielleicht auch<br />

durch das Angebot weiterer Zeitschriften.<br />

Als einen Verbesserungsvorschlag äußerte ein Befragter die I<strong>de</strong>e,<br />

OHRENKUSS auch auf Englisch herauszugeben, um noch mehr<br />

Menschen zu erreichen und eine Leserschaft in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn zu<br />

begeistern. Zusammen mit Dr. Katja <strong>de</strong> Braganca hat <strong>de</strong>r Redak-<br />

teur einen Antrag bei <strong>de</strong>r Körberstiftung gestellt.<br />

Der psychische Druck, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Personen mit Down-Syndrom<br />

lastet (angestarrt zu wer<strong>de</strong>n, „Hänseleien“) kann entschärft<br />

wer<strong>de</strong>n, wenn ihre Ressourcen und ihre Leistungsfähigkeit wahrge-<br />

nommen wer<strong>de</strong>n. Es ist wichtig, dass Eltern, Lehrer, Therapeuten<br />

und Betreuer die Kenntnisse <strong>de</strong>r einzelnen Person ent<strong>de</strong>cken und<br />

nicht ausschließlich auf Defizite im Verhalten o<strong>de</strong>r Aussehen fo-<br />

kussiert sind.<br />

Eine Arbeit in einer Gruppe hat salutogenetische Funktion und<br />

sollte bei einer Projektkonzeption immer berücksichtigt wer<strong>de</strong>n.<br />

- 28 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

Wichtig ist hier weiterhin <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l vom professionellen Begleiter<br />

zum „Assistenten“, <strong>de</strong>r die Perspektive <strong>de</strong>r Menschen mit geistiger<br />

Behin<strong>de</strong>rung als handlungsleitend ansieht. Oberstes Prinzip ist das<br />

<strong>de</strong>r Gleichstellung und ein vorurteilloses Sich-Einbringen von Seiten<br />

<strong>de</strong>r Assistenten.<br />

Unweigerlich bei <strong>de</strong>r Betrachtung von Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit ist die<br />

Herstellung eines Systembezugs (vgl. BRONFENBRENNER 1981),<br />

d.h. dass für eine genaue Analyse die verschie<strong>de</strong>nen sozialen Be-<br />

züge mitberücksichtigt wer<strong>de</strong>n müssen. Die dargestellen Ergeb-<br />

nisse in dieser Arbeit zeigen sehr <strong>de</strong>utlich, wie fruchtbar eine kom-<br />

petenzorientierte Zugangsweise unter Einbezug übergeordneter<br />

Dimensionen (hier: Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit) sein kann, zumal gera<strong>de</strong><br />

in einer solchen Herangehensweise kognitive und emotionale<br />

Entwicklungspotentiale in konkreten Handlungsfel<strong>de</strong>rn auch in ih-<br />

rem Zusammenhang sichtbar wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>mentsprechend ge-<br />

för<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n können. Die Ergebnisse zeigen die große Be<strong>de</strong>utung<br />

<strong>de</strong>s OHRENKUSS im Leben <strong>de</strong>r Redakteur/innen auf, aber sie<br />

zeigen auch, dass die Kontexte, unter <strong>de</strong>nen man das Konzept<br />

Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit betrachten sollte, viel größer sind und eine<br />

Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit erst wachsen kann, wenn das Umfeld passt,<br />

wenn weitere Faktoren wie die Arbeit, Freun<strong>de</strong> und Familie als zu-<br />

frie<strong>de</strong>nstellend erlebt wer<strong>de</strong>n und mehr Freiräume für selbstbe-<br />

stimmtes Han<strong>de</strong>ln geschaffen wer<strong>de</strong>n: „Ich glaube einfach nicht,<br />

dass mir jemand sagen kann, welche Fähigkeiten ich habe, was ich<br />

kann und was nicht, beson<strong>de</strong>rs, wenn man mir nicht einmal die<br />

Chance gibt, es zu versuchen“, so Ann Margaret FORTS (Vorwort in<br />

STRAY-GUNDERSEN 2002, 7), eine weitere Schriftstellerin mit<br />

Down-Syndrom. Das Down-Syndrom ist keine Krankheit. Menschen<br />

mit Down-Syndrom „lei<strong>de</strong>n“ nicht an ihrem Handicap. Wenn Be-<br />

hin<strong>de</strong>rung nicht von vornherein als etwas Negatives, Nichtlebens-<br />

wertes angesehen wür<strong>de</strong>, dann wäre auch ein ethischer Umgang<br />

- 29 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

mit <strong>de</strong>r Pränataldiagnostik weniger schwierig, und die Prozentzahl<br />

<strong>de</strong>r Schwangerschaftsabbrüche bei <strong>de</strong>r Diagnose „Trisomie 21“ läge<br />

nicht bei 92-93% (vgl. WOLF-STIEGEMEYER 2004).<br />

Literatur<br />

BORTZ, J. u. DÖRING, N.: Forschungsmetho<strong>de</strong>n und Evaluation.<br />

Hei<strong>de</strong>lberg 1995<br />

BOURDIEU, P.: Das Elend <strong>de</strong>r Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen<br />

Lei<strong>de</strong>ns an <strong>de</strong>r Gesellschaft. Konstanz 1997<br />

BRONFENBRENNER, U. Die Ökologie <strong>de</strong>r menschlichen Entwicklung.<br />

Stuttgart 1981<br />

CUMMINS, R.: Personal Wellbeing In<strong>de</strong>x –Intellectual Disability.<br />

Published by the School of Psychology, Deakin University 2003<br />

http://acqol.<strong>de</strong>akin.edu.au/instruments/Personal_Wellbeing_In<br />

<strong>de</strong>xIntellectual%20Disability27-5-03.doc<br />

DEMUTH, Corinna: Spielorientierte Sport- und Bewegungsangebote<br />

für Erwachsene mit einer geistigen Behin<strong>de</strong>rung.<br />

2001<br />

http://www.univie.ac.at/Sportwissenschaften/isapa2001/pdf/1-<br />

06%20Demuth%20p01-19.pdf (Stand 07.09.2004)<br />

DIEKMANN, A.; KÖNIG, B. (Hrsg.): Empirische Sozialforschung:<br />

Grundlagen, Metho<strong>de</strong>n, Anwendungen. Hamburg 1999<br />

DRECHSLER, Ch.: Zur Lebensqualität Erwachsener mit geistiger<br />

Behin<strong>de</strong>rung in verschie<strong>de</strong>nen Wohnformen in Schleswig-Holstein<br />

untersucht am Beispiel <strong>de</strong>r Fachklinik Schleswig-Stadtfeld,<br />

<strong>de</strong>s Wohngruppenprojektes <strong>de</strong>r Fachklinik Schleswig-Stadtfeld<br />

und <strong>de</strong>r Werkgemeinschaft Bahrenhof e.V. Dissertation. Halle<br />

2001<br />

FLICK, U.: Qualitative Forschung – Theorien, Metho<strong>de</strong>n,<br />

Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Hamburg<br />

1995<br />

FRISKE, A.: Als Frau geistig behin<strong>de</strong>rt sein. Ansätze zu frauenorientiertem<br />

heilpädagogischen Han<strong>de</strong>ln. München 1995<br />

GLATZER, W. u. ZAPF, W. (Hrsg.): Lebensqualität in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik.<br />

Frankfurt/Main 1984<br />

GOFFMAN, E.: Stigma. Über Techniken <strong>de</strong>r Bewältigung<br />

beschädigter I<strong>de</strong>ntität. Frankfurt/Main 1979<br />

HINZ, A. u. BOBAN I.: Integrative Berufsvorbereitung. Unterstütztes<br />

Arbeitstraining für Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung. Neuwied/Berlin<br />

2001<br />

HOFF, E. H., LAPPE, L. u. LEMPERT, W.: Metho<strong>de</strong>n zur Sozialisation<br />

junger Facharbeiter. Teil I und II.Berlin: Max Planck Institut<br />

für Bildungsforschung 1983<br />

- 30 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-Syndrom<br />

HOPF, C.: Die Pseudo-Exploration - Überlegungen zur Technik<br />

qualitativer Interviews. Zeitschrift für Soziologie, 7 (2), 97-<br />

115. 1978<br />

KAUFMANN, J.-C.: Das verstehen<strong>de</strong> Interview. Theorie und Praxis.<br />

Konstanz 1999<br />

KIRK, J. u. MILLER, M.L.: Reliability and Validity in Qualitativ Research.<br />

London 1986<br />

KLIER, J.: Das Glück in mir. In: OHRENKUSS 10, 2003, 13.<br />

LAMNEK, S.: Qualitative Sozialforschung. Weinheim 1993<br />

MAYRING, P.: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und<br />

Techniken. Weinheim 1995<br />

MAYRING, P.: Einführung in die qualitative Sozialforschung.<br />

Weinheim 1999<br />

MENSCHEN, das Magazin. Ausgabe 4/2003. Hrsg. Aktion Mensch<br />

e.V.<br />

PAYNE, S.: Interview in Qualitative Research. In: MEMON, A. &<br />

BULL, R. (eds.): Handbook of the Psychology of Interviewing<br />

(89-102). New York 1999<br />

PIXA-KETTNER, U. u.a.: „Dann waren sie sauer auf mich, dass ich<br />

das Kind haben wollte...“. Eine Untersuchung zur Lebenssituation<br />

geistigbehin<strong>de</strong>rter Menschen mit Kin<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r BRD. [Hrsg:<br />

Der Bun<strong>de</strong>sminister für Gesundheit]. Ba<strong>de</strong>n-Ba<strong>de</strong>n 1996<br />

SCHMIDT, C.: Am Material: Auswertungstechniken für Leitfa<strong>de</strong>ninterviews.<br />

In: FRIEBERTSHÄUSER, B. & PRENGEL, A. (Hrsg.):<br />

Handbuch Qualitative Forschungsmetho<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Erziehungswissenschaft<br />

(S. 544-568). Weinheim 1997<br />

STRAY-GUNDERSEN, Karen (Hrsg.): Babys mit Down-Syndrom -<br />

Erstinformationen für Eltern und alle an<strong>de</strong>ren Interessierten<br />

Eltersdorf 2002<br />

THEUNISSEN, G.: Wege aus <strong>de</strong>r Hospitalisierung: Empowerment<br />

in <strong>de</strong>r Arbeit mit schwerstbehin<strong>de</strong>rten Menschen. Bonn 1999<br />

WOLF-STIEGEMEYER, D.: Pränataldiagnostik - Was be<strong>de</strong>utet sie<br />

für Mutter und Kind? Segnungen - Risiken - Nebenwirkungen.<br />

Online im Internet: http://www.muetter.beson<strong>de</strong>re-kin<strong>de</strong>r.<strong>de</strong><br />

(Stand 24.09.2004)<br />

Zu zitieren als:<br />

STRUPP, Julia: I don´t feel down! Zur Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit von Menschen mit Down-<br />

Syndrom – untersucht am Beispiel <strong>de</strong>s Magazins „OHRENKUSS ...da rein, da raus“, in:<br />

Heilpädagogik online 02/06, 4-31<br />

http://www.heilpaedagogik-online.com/2006/heilpaedagogik_online_0206.pdf,<br />

Stand: 08.04.2006<br />

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- 31 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Georg Theunissen<br />

Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Gemäl<strong>de</strong>, die von Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung<br />

verfertigt wur<strong>de</strong>n, imponieren immer wie<strong>de</strong>r als außergewöhnliche<br />

Kunstwerke. Der Beitrag befasst sich mit <strong>de</strong>m<br />

Stellenwert und <strong>de</strong>r Klassifikation solcher Kunstwerke innerhalb<br />

<strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst. Begriffe zur Klassifikation und<br />

Interpretation solcher Arbeiten wie „Art Brut“ o<strong>de</strong>r „Außenseiterkunst“<br />

wer<strong>de</strong>n auf ihre Tauglichkeit hin untersucht<br />

und im Hinblick auf die hier interessieren<strong>de</strong>n Kunstwerke<br />

weiterentwickelt.<br />

Schlagwörter: geistige Behin<strong>de</strong>rung, Kunst, Außenseiterkunst, nichtprofessionelle<br />

Kunst, Kreativität, savants<br />

Many paintings by artists with mental retardation are regar<strong>de</strong>d<br />

as outstanding works of art. The essay addresses the<br />

value as well as the classification of these works within in<br />

the field of visual arts. The suitability of concepts like “Art<br />

Brut” or “Outsi<strong>de</strong>r Art”, which are typically used to classify<br />

and interpret such works of art, is submitted to a careful examination.<br />

The proposed concepts are advanced with regard<br />

to the works in consi<strong>de</strong>ration.<br />

Keywords: mental retardation, art, Art Brut, Outsi<strong>de</strong>r Art, self-taught arts, creativity,<br />

savants<br />

Einleiten<strong>de</strong> Bemerkungen<br />

Wenngleich es seit <strong>de</strong>r Renaissance und insbeson<strong>de</strong>re im 19. Jahr-<br />

hun<strong>de</strong>rt schon Anzeichen einer „freien“ bzw. „autonomen“ Kunst im<br />

Sinne einer Erweiterung <strong>de</strong>s traditionellen Kunstverständnisses gab<br />

(DAMUS 2000, 13; PEIRY 1999, 12; KUNSTMUSEUM BASEL 2004,<br />

41ff.) und zu Beginn <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts ein Umbruch in <strong>de</strong>r<br />

Kunst konstatiert wird, <strong>de</strong>r als „<strong>de</strong>r Versuch, aus <strong>de</strong>r Kunst als<br />

Kunst auszubrechen“ (DAMUS) in die Kunstgeschichte eingegangen<br />

ist, bleibt festzuhalten, dass dieser von professionellen Künstlern<br />

- 32 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

projektierte „Avantgardismus“ ein „stabiler Teil <strong>de</strong>r kulturellen<br />

Elite“ (MAIZELS o. J.) war. Vor diesem Hintergrund erfahren all die<br />

von <strong>de</strong>n Wegbereitern <strong>de</strong>r Klassischen Mo<strong>de</strong>rne (MONET, VAN<br />

GOGH, GAUGUIN, CÉSANNE…), <strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>rnisten o<strong>de</strong>r Avantgar<strong>de</strong>-<br />

Künstlern (MUNCH, CHAGALL, KOKOSCHKA, KIRCHNER, KLEE,<br />

DUCHAMP, KANDINSKY, PICASSO, BRAQUE, MONDRIAN, ERNST,<br />

DALI…) hervorgebrachten Stilrichtungen ihre kulturelle<br />

Anerkennung und Vermarktung in <strong>de</strong>n Gefil<strong>de</strong>n eines<br />

Kunstbetriebs.<br />

Jedoch gab es all die Jahre hinweg immer auch eine „an<strong>de</strong>re Kunst“<br />

(MAIZELS) - eine sogenannte „Self-Taught Art“, die von<br />

(ursprünglich) nicht-professionellen Künstlern weithin unbeeinflusst<br />

von <strong>de</strong>r etablierten (kulturell anerkannten) Kunst hervorgebracht<br />

wur<strong>de</strong>.<br />

Bereits A. F. TREDGOLD (1908) o<strong>de</strong>r E. SÉGUIN (1912) berichten<br />

von sogenannten „Idiots savants“ 1 , die nie eine Schulbildung o<strong>de</strong>r<br />

musische Ausbildung erfahren hatten, aber <strong>de</strong>nnoch mit außerge-<br />

wöhnlichen musikalischen o<strong>de</strong>r bildnerisch-künstlerischen Fähigkei-<br />

ten imponierten (dazu ausführlich SACKS 2000, 264ff.). Solche Be-<br />

obachtungen machte gleichfalls J. Langdon DOWN, <strong>de</strong>r 1887 <strong>de</strong>n<br />

Ausdruck „Idiot savant“ geprägt hatte und damit auf ein „Doppel-<br />

kriterium“ aufmerksam machen wollte: auf außergewöhnliche Ge-<br />

dächtnisfähigkeiten und (nicht selten künstlerisch-mimetische) „In-<br />

selbegabungen“, die „’mit einer gravieren<strong>de</strong>n Beeinträchtigung <strong>de</strong>r<br />

Denkfähigkeit gepaart’“ seien (SACKS 2000, 270). Dieses Doppel-<br />

kriterium tritt bis heute als ein „soziales Problem“ in Erscheinung,<br />

in<strong>de</strong>m nicht wenige <strong>de</strong>r Betroffenen trotz ihrer herausragen<strong>de</strong>n In-<br />

telligenzen auf unterschiedlichen Gebieten (visuell, musikalisch,<br />

zeichnerisch, rechnerisch…; dazu GARDNER 1996; 1999) Unter-<br />

1 Heute wird angesichts <strong>de</strong>r negativen Konnotationen (Stigmatisierung) nur noch von „savants“<br />

(abgeleitet vom französischen Verb „savoir“) gesprochen (BLUMENTHAL 2001). Gemeint sind damit<br />

autistische, entwicklungs- o<strong>de</strong>r kognitiv beeinträchtigte Personen mit Spezialbegabungen.<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

stützung bei ihrem alltäglichen Lebensmanagement benötigen<br />

(auch SACKS 1995; 2000; BLUMENTHAL 2001).<br />

Während sich das öffentliche Interesse für die Werke und Leis-<br />

tungen <strong>de</strong>r „savants“ viele Jahrzehnte in Grenzen hielt, spielte sich<br />

ihr Leben doch bis vor kurzem nur hinter Anstaltsmauern ab, erfuh-<br />

ren an<strong>de</strong>re „selbstgebil<strong>de</strong>te“ Künstler weitaus mehr Aufmerksam-<br />

keit und zum Teil hohe Popularität. So wur<strong>de</strong> zum Beispiel im euro-<br />

päischen Raum <strong>de</strong>r nicht zuletzt von PICASSO ent<strong>de</strong>ckte und ge-<br />

würdigte Autodidakt Henri ROUSSEAU alsbald zum Repräsentanten<br />

<strong>de</strong>r sogenannten Naiven Kunst gekürt; und in <strong>de</strong>n USA gilt bis heu-<br />

te GRANDMA MOSES als be<strong>de</strong>utsamste Repräsentantin <strong>de</strong>r „faux<br />

naives“ und zugleich als die populärste „autodidaktische“ Künstlerin<br />

<strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Längst hat diese Bildgattung <strong>de</strong>n allge-<br />

meinen Kunstmarkt erreicht, ja erobert; und sie ist in <strong>de</strong>n bekann-<br />

testen Museen, Kunsthallen o<strong>de</strong>r Galerien nicht mehr wegzu<strong>de</strong>nken<br />

– ein Beispiel dafür, dass eine scharfe Grenzziehung zwischen auto-<br />

didaktischer Schulung, aka<strong>de</strong>mischer Ausbildung, professioneller<br />

und nicht-professioneller Kunst heutzutage obsolet gewor<strong>de</strong>n ist.<br />

Maßgeblich dazu beigetragen haben zu<strong>de</strong>m die kulturellen Entwick-<br />

lungen und Ereignisse in <strong>de</strong>n USA, wo im Unterschied zur euro-<br />

päischen Aka<strong>de</strong>mie-Tradition schon immer „self-taught-artists“ als<br />

Motor <strong>de</strong>r etablierten Kunst eine prominente Rolle spielten.<br />

Des Weiteren begegnen wir in außereuropäischen Kulturen, zum<br />

Beispiel in Afrika, Arabien, Südostasien, Südamerika o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n<br />

Südseeinseln, einer für uns exotisch anmuten<strong>de</strong>n, außergewöhnli-<br />

chen, unkonventionellen Kunst verschie<strong>de</strong>nster Volksstämme, die<br />

das Zeugnis von Autodidakten ist und in <strong>de</strong>r Vergangenheit gerne<br />

unter <strong>de</strong>n sogenannten „primitiven Künsten“ gefasst bzw. als Kunst<br />

<strong>de</strong>r „Primitiven“, Exoten, Eingeborenen o<strong>de</strong>r Urbevölkerung <strong>de</strong>kla-<br />

riert wur<strong>de</strong>. Im Unterschied zur „Naiven Kunst“ haben diese Arbei-<br />

- 34 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

ten bislang eher am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s allgemeinen Museums- und Kunst-<br />

betriebs ihren Platz.<br />

Das gilt gleichfalls für die nicht-professionelle Kunst <strong>de</strong>r sogenann-<br />

ten Geisteskranken 2 , die im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt von einigen Psychia-<br />

tern ent<strong>de</strong>ckt und zunächst unter psychopathologischen<br />

Gesichtspunkten studiert als Beleg für eine enge Verbindung von<br />

„Genie und Irrsinn“ (LOMBROSO 1887) ausgewiesen wur<strong>de</strong>. Damit<br />

fehlte in <strong>de</strong>r Anfangszeit <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckungen jegliches Verständnis<br />

für die künstlerischen Leistungen von Menschen, die hinter <strong>de</strong>n<br />

Mauern psychiatrischer Anstalten häufig ein tristes Dasein fristen<br />

mussten (dazu auch NAVRATIL 1998, 88). 3<br />

Erst Anfang <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, beför<strong>de</strong>rt durch Veröffentli-<br />

chungen von M. REJA (1907), W. MORGENTHALER (1921) und H.<br />

PRINZHORN (1922), wur<strong>de</strong> ein neuer Zugang zur „Bildnerei <strong>de</strong>r<br />

Geisteskranken“ (PRINZHORN) sichtbar, <strong>de</strong>r die künstlerischen<br />

Arbeiten unter ästhetischen Gesichtspunkten wertzuschätzen wuss-<br />

te. PRINZHORN, <strong>de</strong>r über 5000 Werke aus mehreren europäischen<br />

Län<strong>de</strong>rn zusammengetragen hatte, wandte sich nicht nur gegen die<br />

Entwertung, son<strong>de</strong>rn warnte zugleich auch vor <strong>de</strong>m Fehlschluss,<br />

von <strong>de</strong>r Ähnlichkeit <strong>de</strong>r Bildnereien psychisch Kranker mit zeitge-<br />

nössischen Kunstwerken auf <strong>de</strong>n Geistes- o<strong>de</strong>r psychischen<br />

Gesundheitszustand ihrer Produzenten zu schließen: „Es ist nämlich<br />

oberflächlich und falsch, aus Ähnlichkeit <strong>de</strong>r äußeren Erscheinung<br />

Gleichheit <strong>de</strong>r dahinterliegen<strong>de</strong>n seelischen Zustän<strong>de</strong> zu konstru-<br />

ieren. Der Schluss: dieser Maler malt wie jener Geisteskranke, also<br />

ist er geisteskrank, ist keineswegs beweisen<strong>de</strong>r und geistvoller als<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re: Pechstein, Heckel u. a. machen Holzfiguren wie Kame-<br />

runneger, also sind sie Kamerunneger. Wer zu so einfältigen<br />

2 Wenn wir hier von sogenannten Geisteskranken sprechen, dann <strong>de</strong>shalb, weil unter diesem „Oberbegriff“<br />

nicht nur Menschen mit psychischen Störungen, son<strong>de</strong>rn gleichfalls mit geistigen o<strong>de</strong>r<br />

seelischen Behin<strong>de</strong>rungen gefasst wur<strong>de</strong>n, die in psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten untergebracht<br />

waren.<br />

3 Das betraf auch die „savants“, soweit diese nicht unter <strong>de</strong>r Obhut und in <strong>de</strong>r Gunst von engagierten<br />

Ärzten aus Idiotenanstalten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s „Idiotenwesens“ stan<strong>de</strong>n.<br />

- 35 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Schlüssen neigt, hat keinen Anspruch ernst genommen zu wer<strong>de</strong>n“<br />

(PRINZHORN 1922, 346).<br />

Zu<strong>de</strong>m führten ihn seine Untersuchungen zu <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />

dass je<strong>de</strong>m Menschen „eine ursprüngliche Gestaltungskraft“ (ebd.,<br />

344) zukomme, die gewöhnlich latent bleiben wür<strong>de</strong>, aber ebenso<br />

verkümmern o<strong>de</strong>r gar durch einen zu sehr verkopften Schulunter-<br />

richt verschwin<strong>de</strong>n könnte (ebd.). Wenngleich er hierbei quasi je-<br />

<strong>de</strong>m Menschen ein kreatives Potential attestierte, verlor er sich<br />

aber nicht in einem Euphemismus, in<strong>de</strong>m er sein gesamtes Bildma-<br />

terial als künstlerisch-kreativ auswies, son<strong>de</strong>rn zwischen außerge-<br />

wöhnlichen Kunstwerken und einfachen Bildnereien differenzierte<br />

(ebd., 5, 338, 349). In<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Prozentsatz „künstlerisch be-<br />

gabter“ Menschen mit psychischen Störungen o<strong>de</strong>r intellektuellen<br />

Behin<strong>de</strong>rungen nicht höher veranschlagte als bei „Nichtkranken“<br />

(ebd., 340, 315), wollte er eine Hochstilisierung <strong>de</strong>r Bildnereien<br />

von sog. Geisteskranken als Kunst bzw. eine I<strong>de</strong>alisierung ihrer<br />

Werke vermei<strong>de</strong>n.<br />

Einer solchen Ten<strong>de</strong>nz begegnen wir in <strong>de</strong>n ersten Jahrzehnten <strong>de</strong>s<br />

20. Jahrhun<strong>de</strong>rts bei einigen Künstlern <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne, vor allem aus<br />

<strong>de</strong>m Lager <strong>de</strong>s Expressionismus o<strong>de</strong>r Surrealismus, die nicht nur in<br />

<strong>de</strong>n Arbeiten <strong>de</strong>r sogenannten Geisteskranken, son<strong>de</strong>rn ebenso in<br />

<strong>de</strong>n Werken <strong>de</strong>r sogenannten Primitiven und Naiven sowie in <strong>de</strong>r<br />

Bildnerei von Kin<strong>de</strong>rn „Urspünglichkeit“, Authentizität, Originalität<br />

und schöpferische Ausdruckskraft ent<strong>de</strong>ckten (dazu MUSEUM<br />

KUNST PALAST 2005, 14f., 150; KOSSOLAPOW 1975, 19, 72). Mit<br />

<strong>de</strong>m Interesse am Außergewöhnlichen – nicht selten gepaart mit<br />

<strong>de</strong>m Interesse am Mythos <strong>de</strong>s „Wil<strong>de</strong>n“ – sowie <strong>de</strong>r damit ver-<br />

knüpften Suche nach <strong>de</strong>m „An<strong>de</strong>rsartigen“ (KUNSTMUSEUM BASEL<br />

2004, 61) wur<strong>de</strong>n vonseiten <strong>de</strong>r professionellen Mo<strong>de</strong>rnisten die<br />

bisherigen intellektuellen und künstlerischen Maßstäbe nunmehr<br />

gänzlich in Frage gestellt und durch neue ästhetische Werte<br />

- 36 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

zersetzt (PEIRY 1999, 13; DAMUS 2000, 61ff.; STUDINGER 1991).<br />

Die von Kin<strong>de</strong>rn, afrikanischen Volksstämmen o<strong>de</strong>r Psychiatrie-Pati-<br />

enten angewandten gestalterischen Mittel und ihre „Naivität“ (prä-<br />

logisches, magisches Denken) wur<strong>de</strong>n bewusst in eigene Arbeits-<br />

konzepte übernommen, um das „Wahre“, unverkünstelt „Geistige<br />

in <strong>de</strong>r Kunst“ (KANDINSKY) zum Ausdruck zu bringen. 4<br />

Das aber fand keineswegs nur Zuspruch, im Gegenteil: konserva-<br />

tive gesellschaftliche Kräfte fühlten sich herausgefor<strong>de</strong>rt, Künstler,<br />

die sich auf neuen Wegen befan<strong>de</strong>n, als „Verrückte“ abzustempeln<br />

und zu <strong>de</strong>nunzieren. Daran anknüpfend hatten die Nazis leichtes<br />

Spiel, in<strong>de</strong>m sie durch Gegenüberstellungen <strong>de</strong>r Werke von Ex-<br />

pressionisten, Surrealisten u. a. mit Bildnereien von psychisch<br />

Kranken (v. a. aus <strong>de</strong>r Prinzhorn-Sammlung) die „innere Verwand-<br />

schaft“ zum Psychopathologischen und Abnormen zu belegen ver-<br />

suchten. Dabei wur<strong>de</strong>n sie von einigen einflussreichen Re-<br />

präsentanten <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Psychiatrie unterstützt (dazu STU-<br />

DINGER 1991, 8ff.).<br />

Außerhalb <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschsprachigen Raums sowie im „Untergrund“<br />

war die (Weiter-)Entwicklung <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rnen Kunst jedoch nicht auf-<br />

zuhalten.<br />

In <strong>de</strong>r Nachkriegszeit schlug dann die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s französischen<br />

Künstlers Jean DUBUFFET (1901 – 1985), <strong>de</strong>r auf seiner „Suche<br />

nach ursprünglicher Kreativität“ (MUSEUM KUNST PALAST 2005,<br />

10) bereits kurz vor Kriegsbeginn zu <strong>de</strong>r Überzeugung gelangte,<br />

dass <strong>de</strong>r zeitgenössische Kunst- und Kulturbetrieb „<strong>de</strong>r größte<br />

Feind wahrer Kreativität“ (MAIZELS o. J.) sei. DUBUFFETS zentrale<br />

Kritikpunkte waren die Begriffe Berufung und Genialität,<br />

resultierend aus seinem Verständnis von Kreativität: „Ich bin sehr<br />

wohl davon überzeugt, dass es in je<strong>de</strong>m Menschen ein riesiges Po-<br />

4 Das „Geistige“ steht hier nicht für Intellektualismus o<strong>de</strong>r Rationalismus, son<strong>de</strong>rn für ein<br />

„ursprüngliches Schaffen aus <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>r Seele“ (KOSSOLAPOW 1975, 24). Der Geist eines<br />

Kunstwerkes sei im Sinne dieser Position „als leib-seelische Einheit… das eigentlich Menschliche“<br />

(ebd., 25).<br />

- 37 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

tential an großartiger Kreativität und geistiger Vorstellungskraft<br />

gibt, viel mehr, als notwendig ist, um in <strong>de</strong>r Kunst ein umfangrei-<br />

ches Werk zu schaffen. Ich glaube, dass <strong>de</strong>r weit verbreitete Ge-<br />

danke falsch ist, dass es nur einigen wenigen Menschen vom<br />

Schicksal bestimmt ist, eine innere Welt zu haben, die es wert ist,<br />

ausgedrückt zu wer<strong>de</strong>n“ (zit. n. PEIRY 1999, 36, 264).<br />

Damit wagte er zugleich <strong>de</strong>n radikalen Bruch mit <strong>de</strong>r bisher aner-<br />

kannten Kunst. Wie viele an<strong>de</strong>re Künstler seiner Zeit ent<strong>de</strong>ckte<br />

auch DUBUFFET in Kin<strong>de</strong>rzeichnungen und in <strong>de</strong>n Werken von<br />

Autodidakten (self-taught artists) eine „intuitive, unverbil<strong>de</strong>te Her-<br />

angehensweise“ und eine „ungewöhnliche Erfindungskraft“ (MUSE-<br />

UM KUNST PALAST 2005, 10), aber wie kein an<strong>de</strong>rer war er <strong>de</strong>rart<br />

fasziniert davon, was ihn dazu animierte, eine systematische und<br />

intensive Erforschung <strong>de</strong>r nicht-professionellen Kunst zu betreiben.<br />

Dieser Schritt führte alsbald zur Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r „Art Brut“, die<br />

er <strong>de</strong>r „Art Culturel“ (<strong>de</strong>r etablierten bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, zeitgenössischen<br />

Kunst) gegenüberstellte.<br />

Art Brut und Außenseiter-Künstler<br />

Unter Art Brut – im angloamerikanischen Sprachraum als „Outsi<strong>de</strong>r<br />

Art“ 5 bezeichnet - versteht DUBUFFET „Werke von Personen, die<br />

5 Der Begriff „Outsi<strong>de</strong>r Art“ wur<strong>de</strong> insbeson<strong>de</strong>re durch R. CARDINAL (1979) bekannt gemacht und ist<br />

bis heute im angloamerikanischen Sprachraum für die „self taught art“ und nicht-professionelle<br />

Kunst geläufig. Im Prinzip ist er eine Parallelbezeichnung von „Art Brut“, <strong>de</strong>nnoch gibt es einen Unterschied,<br />

<strong>de</strong>r darin besteht, dass in <strong>de</strong>n USA unter „Außenseiter-Kunst“ alle Kunstwerke und Richtungen<br />

gefasst wer<strong>de</strong>n, die von „self taught artists“ stammen bzw. grundgelegt wur<strong>de</strong>n, z. B. auch<br />

die „Naive Kunst“ o<strong>de</strong>r „Laienmalerei“ (CAMPBELL o. J.). DUBUFFET hingegen wollte „von naiver<br />

Kunst nichts wissen“ (MUSEUM KUNST PALAST 2005, 20). Seine Grenzziehung macht Sinn, wenn wir<br />

davon ausgehen, dass es keine Art Brut gibt, „die ihren eigenen Charakter hätte“ – im Gegenteil:<br />

dass sich Art Brut „als eine ungeheure Streuung von Singularitäten präsentiert“ (MUSEUM KUNST<br />

PALAST 2005, 67). Die sog. Naive Kunst zeichnet sich bekanntlich durch einen unverwechselbaren<br />

Charakter aus (realistisch-naturalistisch-malerisch, bildhaft-schematisch, flächenhaft, ohne Perspektive…),<br />

mit <strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rkunst beson<strong>de</strong>rs nahe steht (RICHTER 1984, 22) und eine soziokulturelle<br />

Adaption und Konformität zum Ausdruck bringt. Die Art Brut ist dagegen für DUBUFFET<br />

„Kunst von Leuten, die aus irgend einem Grund <strong>de</strong>r kulturellen Konditionierung und <strong>de</strong>m sozialen<br />

Konformismus fern geblieben“ sind (zit. n. STUDINGER 1991, 12). Davon kann gleichfalls bei <strong>de</strong>r<br />

sog. Laien- o<strong>de</strong>r Sonntagsmalerei nicht die Re<strong>de</strong> sein (LIMBERG 1984). Laien- o<strong>de</strong>r Hobbymaler<br />

orientieren sich in <strong>de</strong>r Regel an <strong>de</strong>r traditionellen gegenstandsgebun<strong>de</strong>nen Kunst, ahmen aber keine<br />

Kunst, son<strong>de</strong>rn die Natur nach, in<strong>de</strong>m sie unter Verzicht auf subjektive, affektiv getönte Repräsentationen<br />

auf genaue, <strong>de</strong>tailgetreue Darstellungen Wert legen und „die absolute Übereinstimmung zwischen<br />

Natur und Bild“ (ebd., 34) anstreben.<br />

- 38 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

unberührt von <strong>de</strong>r kulturellen Kunst geblieben sind, bei <strong>de</strong>nen also<br />

eine Anpassung und Nachahmung – an<strong>de</strong>rs als bei <strong>de</strong>n intellektu-<br />

ellen Künstlern – kaum eine o<strong>de</strong>r gar keine Rolle spielen. Die Auto-<br />

ren dieser Kunst beziehen also alles (Themen, Auswahl <strong>de</strong>r<br />

verwen<strong>de</strong>ten Materialien, Mittel <strong>de</strong>r Umsetzung, Rhythmik, zeichne-<br />

rische Handschrift usw.) aus ihrem eigenen Innern und nicht aus<br />

<strong>de</strong>n Klischees <strong>de</strong>r klassischen Kunst o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> aktuellen<br />

Kunstströmung. Wir können die künstlerische Arbeit in ganz reiner<br />

– sozusagen roher - Form miterleben... Eine Kunst also, in <strong>de</strong>r nur<br />

die eigene Erfindung in Erscheinung tritt und die nichts von einem<br />

Chamäleon o<strong>de</strong>r einem Affen an sich hat, wie das bei <strong>de</strong>r<br />

kulturellen Kunst konstante Praxis ist“ (DUBUFFET zit. nach<br />

HARRISON & WOOD 2003, 726; auch MUSEUM KUNST PALAST<br />

2005, 141; GALERIE g26.ch 2003).<br />

Mit dieser viel zitierten Aussage machte sich DUBUFFET, <strong>de</strong>ssen<br />

Forschungen und Sammlung 6 1945 in <strong>de</strong>r Heil- und Pflegeanstalt<br />

Waldau 7 ihren Anfang nahmen, zum Sprecher für „alle potentiell<br />

kreativen Menschen“ (GORSEN), die ihre Werke nicht nach irgend-<br />

einer Stilkunst o<strong>de</strong>r zu ihrer Vermarktung, son<strong>de</strong>rn um ihrer<br />

Selbstwillen bzw. für sich selbst schafften (STUDINGER 1991, 12;<br />

NAVRATIL 1998, 90). Damit erhob er jene zu Künstlern, „die – wie<br />

man zu sagen pflegt – aus <strong>de</strong>m Bauch heraus schaffen und eher<br />

dazu neigen, eigene Geschmacksvorstellungen zu entwickeln, die<br />

im Gegensatz zum Geschmack ihrer Umwelt stehen, und die einen<br />

an<strong>de</strong>ren Lebensstil pflegen, als es im allgemeinen üblich ist“ (DU-<br />

BUFFET zit. nach PEIRY 1999, 36f.).<br />

Art Brut- o<strong>de</strong>r Außenseiter-Künstler <strong>de</strong>r ersten Stun<strong>de</strong> waren Men-<br />

schen in gesellschaftlich marginaler Position, vor allem „Insassen“<br />

6<br />

Im Jahre 1972 schenkte DUBUFFET seine gesamte Sammlung <strong>de</strong>r Stadt Lausanne. Seit<strong>de</strong>m besteht<br />

dort im Schloss Beaulieu die Collection <strong>de</strong> l’Art Brut, welche mittlerweile ca. 10000 Werke von ungefähr<br />

500 Künstlern umfasst.<br />

7<br />

Hier hatte er Adolf WÖLFLI ent<strong>de</strong>ckt, <strong>de</strong>r heute als „Klassiker <strong>de</strong>r ‚Art Brut‘ angesehen wird“ (RICH-<br />

TER 1997, 351).<br />

- 39 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

psychiatrischer Krankenhäuser, Häftlinge, Vagabun<strong>de</strong>n, Einzel-<br />

gänger o<strong>de</strong>r sog. Son<strong>de</strong>rlinge, aber auch einfache Dorfbewohner,<br />

Bauern, Hirten, Tierpfleger, Feld- o<strong>de</strong>r Hilfsarbeiter, die oftmals An-<br />

alphabeten waren, kaum eine Schule besucht o<strong>de</strong>r eine mangeln<strong>de</strong><br />

Schulbildung hatten. Neben <strong>de</strong>n sog. psychisch Kranken (v. a. mit<br />

einer Schizophrenie, Psychose o<strong>de</strong>r Manie) bil<strong>de</strong>te <strong>de</strong>r o. g. Per-<br />

sonenkreis <strong>de</strong>r „innocents“ (CARDINAL) die größte Gruppe <strong>de</strong>r Art<br />

Brut-Künstler (NAVRATIL 1998, 89).<br />

Die Tatsache, dass <strong>de</strong>r Anteil psychiatrisch untergebrachter Men-<br />

schen sehr hoch war, kann zu <strong>de</strong>r Vorstellung verleiten, dass es<br />

sich bei <strong>de</strong>n Werken <strong>de</strong>r Art Brut-Künstler weithin um „Lei<strong>de</strong>ns-<br />

bil<strong>de</strong>r“ (RICHTER) o<strong>de</strong>r gar um eine „psychopathologische Kunst“<br />

han<strong>de</strong>lt. Vor solchen Schlüssen ist jedoch ausdrücklich zu warnen.<br />

Die inneren Beweggrün<strong>de</strong>, bildnerisch o<strong>de</strong>r werkhaft tätig zu<br />

wer<strong>de</strong>n, sind bei vielen Außenseiter-Künstlern an<strong>de</strong>rs gelagert, als<br />

dass sie sich auf einen (krankheitsbedingten) „Gestaltungszwang“<br />

o<strong>de</strong>r eine (schwere) psychische Störung zurückführen ließen. Dazu<br />

hatte sich schon DUBUFFET geäußert: „Fast die Hälfte <strong>de</strong>r Objekte<br />

in unserer Ausstellung sind Werke von Insassen psychiatrischer<br />

Kliniken. Dennoch sehen wir keinen Grund – wie es an<strong>de</strong>re tun –<br />

eine spezielle Abteilung für sie einzurichten. Alle Beziehungen (und<br />

sie waren zahlreich), die wir zu unseren Kollegen mit <strong>de</strong>r<br />

Schellenkappe hatten, haben uns überzeugt, dass die Mechanismen<br />

<strong>de</strong>s künstlerischen Schaffens, die sie zur Verfügung haben, bei ih-<br />

nen genau die gleichen sind wie bei je<strong>de</strong>m sogenannten Normalen;<br />

übrigens scheint uns diese Unterscheidung zwischen normal und<br />

anormal nicht recht fassbar zu sein. Wer ist <strong>de</strong>nn normal? Wo ist<br />

er, <strong>de</strong>r normale Mensch? Zeigen Sie ihn uns! ... Wir sind <strong>de</strong>r An-<br />

sicht, dass die Wirkung <strong>de</strong>r Kunst auf uns in allen Fällen die gleiche<br />

ist und dass es ebenso wenig eine Kunst <strong>de</strong>r Geisteskranken gibt<br />

wie eine Kunst <strong>de</strong>r Magenkranken o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kniekranken“ (DUBUF-<br />

- 40 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

FET zit. nach HARRISON & WOOD 2003, 726; auch NAVRATIL<br />

1998, 90).<br />

Damit wen<strong>de</strong>t sich DUBUFFET gegen starre Grenzen zwischen<br />

„gesund“, „normal“ und „krank“ – eine Position, <strong>de</strong>r wir schon mit<br />

Blick auf die Bildnerei bei MORGENTHALER (1975, 47) und PRINZ-<br />

HORN (1922, 296f.; auch ROTHE 1975, 77) begegnen. Dennoch<br />

gibt es eine Beson<strong>de</strong>rheit, die DUBUFFET übergeht, nämlich das<br />

Phänomen <strong>de</strong>r sog. „gebun<strong>de</strong>nen Kreativität“, die v. a. künstlerisch<br />

tätigen Menschen mit einer Schizophrenie nachgesagt wird. Dazu<br />

hatte sich schon RÉJA (1975, 14f.) geäußert: „Mit allem Vorbehalt<br />

zeigt sich klar, dass die Verrücktheit in gewissen Fällen <strong>de</strong>n<br />

Durchbruch einer schöpferischen Tätigkeit begünstigt... Ohne sich<br />

spitzfindigen metaphysischen Fragen hinzugeben, darf man<br />

vielleicht etwas schematisch behaupten, <strong>de</strong>r Verrückte<br />

unterschei<strong>de</strong> sich vom Nicht-Verrückten dadurch, dass er <strong>de</strong>n Fluss<br />

seiner I<strong>de</strong>en erdul<strong>de</strong>, anstatt ihn zu bestimmen.“ In ähnlichen<br />

Bahnen bewegt sich die Argumentation von PRINZHORN (1922,<br />

297), wenn es heißt: „Der einfache Gesun<strong>de</strong> stärkt und erfrischt<br />

sich irgendwie in je<strong>de</strong>r spielerischen Betätigung. ... Bei unserem<br />

Material hingegen bleibt oft genug das Spiel Selbstzweck. ... Der<br />

Schizophrene ist seiner Spielerei ausgeliefert“ – einer Spielerei, die<br />

„auf pathologischem Bo<strong>de</strong>n erwuchs. ... Ähnlich verhält es mit <strong>de</strong>r<br />

Neigung zu wuchern<strong>de</strong>r Üppigkeit <strong>de</strong>r Formensprache“ (ebd.). In<br />

diesem Sinne kommt MEYER (1975, 36) zu <strong>de</strong>m Schluss: „Als<br />

schöpferisch gilt das Neue, das <strong>de</strong>r Künstler in freier Entscheidung<br />

<strong>de</strong>m schon Formulierten entgegenstellt. Der kranke Bildner in<br />

seiner doppelten Isoliertheit (als Kranker und als Anstaltsinsasse)<br />

kann we<strong>de</strong>r die künstlerische Problemlage zur Kenntnis nehmen,<br />

noch ist er frei in seiner Antwort. ... Beson<strong>de</strong>rs bei Schizophrenen,<br />

von <strong>de</strong>nen die künstlerisch interessantesten Arbeiten stammen,<br />

- 41 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

zeigen sich typische Stilmerkmale 8 , die gera<strong>de</strong>zu zum klinischen<br />

Bild gehören. Der Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Form gibt oft Auskunft über Stadien<br />

<strong>de</strong>r Krankheit.“ Das haben u. a. auch SCHMIDT (1975, 30) und<br />

NAVRATIL (1998) beobachtet und angesprochen.<br />

Nun gibt es allerdings zwischen Menschen mit psychischen Stö-<br />

rungen, geistigen und seelischen Behin<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>utliche Unter-<br />

schie<strong>de</strong>, die nicht eingeebnet wer<strong>de</strong>n dürfen (LINGG &<br />

THEUNISSEN 2000). Das künstlerische Schaffen von Menschen mit<br />

einer psychischen Störung (z. B. Psychose) kann mit <strong>de</strong>m von geis-<br />

tig behin<strong>de</strong>rten Menschen, <strong>de</strong>nen keine zusätzliche (schwere) psy-<br />

chische Störung nachgesagt wird, „recht verschie<strong>de</strong>n“ (GERCKE<br />

2001, 58) sein: „So zeigen die Arbeiten <strong>de</strong>r ‚Behin<strong>de</strong>rten’ selten die<br />

dramatischen Züge einer Auseinan<strong>de</strong>rsetzung etwa mit Ängsten<br />

und an<strong>de</strong>ren Problemen, die aus <strong>de</strong>m psychischen Zustand <strong>de</strong>r<br />

Kranken resultieren. Im Gegenteil: Häufig – freilich keineswegs<br />

immer – begegnet uns eine heitere, heile Welt, die uns mitunter an<br />

Kin<strong>de</strong>rzeichnungen erinnert, sich von diesen aber dann doch in<br />

vielerlei Hinsicht unterschei<strong>de</strong>t“ (ebd.; auch REISING 1991, 29f.;<br />

RICHTER 1997; THEUNISSEN 2004). Ähnlich äußert sich GERCKEN<br />

(2001, 21): „Der wahn- und zwanghafte Antrieb <strong>de</strong>r Psychose-<br />

Kranken fehlt <strong>de</strong>n geistig Behin<strong>de</strong>rten. Ihre Bil<strong>de</strong>r entspringen einer<br />

Bewegungsfreu<strong>de</strong> und <strong>de</strong>m sinnlichen Genuss an Formen und<br />

Farben. Ich habe in <strong>de</strong>r Werkstatt und Galerie <strong>de</strong>r Schlumper 9 be-<br />

obachten können, mit welcher Begeisterung und Lei<strong>de</strong>nschaft die<br />

einzelnen dieser sinngeben<strong>de</strong>n Tätigkeit nachgehen und wie ihr<br />

Selbstbewusstsein durch die künstlerische Arbeit gewachsen ist.“<br />

Es möchten aber auch an<strong>de</strong>re Außenseiter- o<strong>de</strong>r Art Brut-Künstler<br />

nicht in eine „pathologische Ecke“ gedrängt wer<strong>de</strong>n. Sie lassen sich<br />

8 Eine Übersicht solcher Stilmerkmale bietet <strong>de</strong>r Sammelband von BADER (1975).<br />

9 Hierbei han<strong>de</strong>lt es sich um weithin selbstgebil<strong>de</strong>te Künstler mit intellektuellen und seelischen Behin<strong>de</strong>rungen,<br />

die früher zum Teil „Anstaltsinsassen“ waren, heute mit o<strong>de</strong>r ohne Assistenz in einer<br />

eigenen Wohnung selbstbestimmt leben und professionell künstlerisch tätig sind (GERCKEN;<br />

EISSING-CHRISTOPHERSEN 2001).<br />

- 42 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

- so heißt es in einer TV-Dokumentation (ARTE 2000) – „in kein<br />

Klischee zwängen, sie gehören auch keiner Schule an und streben<br />

nicht nach Ruhm und Erfolg.“ Häufig greifen sie auf Erfahrungen<br />

und Tätigkeiten aus früher Kindheit zurück; und diese Rückkehr in<br />

ihre Kindheit sei es, die ihnen eine „neue innere Kraft“, das Gespür<br />

von „innerer Stärke“ und Lebensenergie gebe. Des Weiteren<br />

scheinen nicht wenige Art Brut-Künstler durch ihr Schaffen, wel-<br />

ches unmittelbar aus <strong>de</strong>m alltäglichen Leben, aus realen Erfah-<br />

rungen, Stimmungen und individuellen Geschmacksvorstellungen<br />

schöpft, einen psychisch-physischen (Freizeit-)Ausgleich in Bezug<br />

auf einen anstrengen<strong>de</strong>n, langweiligen o<strong>de</strong>r unerfüllten Arbeits-<br />

o<strong>de</strong>r auch Lebensalltag (z. B. in einer Anstalt) zu suchen.<br />

Interessant ist, dass es hierzulan<strong>de</strong> mit Egon HASSBECKER einen<br />

weiteren Sammler gibt (dazu auch MUSEUM KUNST PALAST 2005,<br />

167f.), <strong>de</strong>r gleichfalls wie J. DUBUFFET beson<strong>de</strong>re Wertschätzung<br />

für die Werke von nicht-professionellen Malern gezeigt und auf<br />

Reisen durch ganz Europa Bil<strong>de</strong>r aufgespürt hat, die seit 1982 im<br />

Hei<strong>de</strong>lberger Museum Haus Cajeth unter <strong>de</strong>m Titel „Primitive Male-<br />

rei im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt“ ausgestellt sind. Für HASSBECKER sind die<br />

von ihm gesammelten Gemäl<strong>de</strong> Zeugnisse „ursprünglicher Kreativi-<br />

tät, <strong>de</strong>ren Wurzeln bis hinab in die früheste Menschheitsgeschichte<br />

reichen“ (MUSEUM HAUS CAJETH 1994). Dafür steht <strong>de</strong>r Begriff<br />

„primitiv“. Diese „Ursprünglichkeit“ scheint HASSBECKER vor allem<br />

in <strong>de</strong>n Werken von Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung gefun<strong>de</strong>n<br />

zu haben, <strong>de</strong>nen er die „erstaunlichsten Neuschöpfungen“ attes-<br />

tiert. Hierzu erklärt und schreibt er: „Die kreativen Fähigkeiten <strong>de</strong>s<br />

Menschen existieren unabhängig von seiner Intelligenz... Der geis-<br />

tig Behin<strong>de</strong>rte ist nicht von vornherein auch ein kunstbehin<strong>de</strong>rter<br />

Mensch. Das Gegenteil kann <strong>de</strong>r Fall sein. Geistig behin<strong>de</strong>rte Men-<br />

schen sind <strong>de</strong>n tiefen Schichten <strong>de</strong>s Geistes, die weit unter <strong>de</strong>r<br />

- 43 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

sichtbaren Oberfläche liegen, oft näher. Die Quellen sind bei ihnen<br />

nicht durch Konventionen verschüttet, wie bei sogenannten normal<br />

entwickelten Menschen. Er muss nicht, wie <strong>de</strong>r Gebil<strong>de</strong>te, seine Bil-<br />

dung erst beiseiteräumen o<strong>de</strong>r vergessen, Vorurteile durch erlern-<br />

tes Wissen überwin<strong>de</strong>n, um zu jenen Tiefen vorzustoßen, wo es<br />

noch immer etwas zu schöpfen gibt. Die geistige Behin<strong>de</strong>rung kann<br />

die kunstschaffen<strong>de</strong>n Kräfte freier zu Tage treten lassen. Das nor-<br />

male Denken belastet sie nicht. Vorsätze und Vorurteil entstehen<br />

erst gar nicht. Diese Menschen bleiben weitgehend unbeeinflusst.<br />

Gebil<strong>de</strong>, geschaffen von diesen Menschen entstehen frei von Über-<br />

legungen… Es sind echte Zeugnisse ihres eigenen Empfin<strong>de</strong>ns und<br />

Vermögens. Nichts Angelerntes ist drin, keine modischen Allüren,<br />

keine Absichten…. Sie sind immer authentisch“ (ebd.).<br />

Diese Worte könnten ebenso von M. KLÄGER stammen (dazu<br />

THEUNISSEN 2004, 46f.), <strong>de</strong>r sich schon seit vielen Jahren mit <strong>de</strong>r<br />

Kunst von Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung befasst und davon<br />

ausgeht, dass hier ähnlich wie in Bildnereien von Kin<strong>de</strong>rn „unka-<br />

schierte“ Gestaltgebungen und Ausdrucksformen zu Tage treten,<br />

die „noch nicht in größerem Ausmaß <strong>de</strong>m Einfluss <strong>de</strong>s begrifflich-<br />

verbalen Denkens“ (KLÄGER o. J.) unterliegen. Wie HASSBECKER<br />

und einst PRINZHORN nimmt KLÄGER an, dass durch eine schu-<br />

lische „Verkopfung“ eine „ursprüngliche bildnerische Ausdrucks-<br />

kraft“ versan<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>; und da bei Menschen mit geistiger Be-<br />

hin<strong>de</strong>rung dieses Vermögen wegen ihrer intellektuellen Defizite<br />

„nicht beschädigt sei“, wür<strong>de</strong>n diese „Erscheinungsformen bildne-<br />

rischer Intelligenz bzw. bildnerischen Denkens bei geistig Be-<br />

hin<strong>de</strong>rten oft ‚reiner’ und kraftvoller zum Vorschein (kommen, G.<br />

T.) als bei <strong>de</strong>n Nichtbehin<strong>de</strong>rten“.<br />

Abgesehen davon, dass es sich bei HASSBECKER und KLÄGER um<br />

gewagte Thesen han<strong>de</strong>lt, die von einem überholten statischen Be-<br />

hin<strong>de</strong>rungsbild und einer entkontextualisierten Entwicklungs-<br />

- 44 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

beschränkung geistig behin<strong>de</strong>rter Menschen ausgehen (kritisch<br />

dazu THEUNISSEN 2005), sollte mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r „Ursprünglich-<br />

keit“ behutsam umgegangen wer<strong>de</strong>n; unser Vorschlag ist, ihn im<br />

Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Kunst von Kin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r „Außenseitern“<br />

möglichst zu vermei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r zu ersetzen, so beispielsweise durch<br />

„unverdorbene Spontaneität“ (DUBUFFET zit. n. MUSEUM KUNST<br />

PALAST 2005, 143), Expressivität o<strong>de</strong>r Originalität. Wenngleich<br />

auch DUBUFFET von „Ursprünglichkeit“ spricht, wollte er <strong>de</strong>m<br />

Anschein nach mit <strong>de</strong>m Begriff in erster Linie darauf aufmerksam<br />

machen, dass die Art Brut außerhalb <strong>de</strong>r allgemein gesellschaftlich<br />

anerkannten „kulturellen Norm“ liege. Zwar sei es ein Kennzeichen<br />

von Art Brut, in einem „Klima <strong>de</strong>r Unabhängigkeit“ und im<br />

Verborgenen zu entstehen (PEIRY 1999), doch be<strong>de</strong>ute dies nicht,<br />

dass in <strong>de</strong>n „rohen“ Werken <strong>de</strong>r „self taught artists“ eine<br />

„Ursprünglichkeit“ jenseits aller kulturellen Einflüsse und<br />

Bewusstseinsprozesse zum Ausdruck gebracht wer<strong>de</strong> (CAMPBELL o.<br />

J.). Im Gegenteil: PEIRY (1999) weist darauf hin, dass viele Werke<br />

<strong>de</strong>r Art Brut-Künstler nicht nur ein zufallsbedingtes Ergebnis<br />

schöpferischen Tuns, spontaner, affektiv bestimmter Expressivität<br />

und Originalität seien, son<strong>de</strong>rn immer auch ein Resultat wohl<br />

durchdachter Überlegungen, geplanter und harter Arbeit sein<br />

können. Dies lässt sich aus manchen <strong>de</strong>r bemerkenswerten<br />

Entstehungsgeschichten <strong>de</strong>r Art Brut-Werke unschwer entnehmen<br />

(dazu MUSEUM KUNST PALAST 2005).<br />

Nicht selten scheint hingegen <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r „Ursprünglichkeit“ mit<br />

fragwürdigen o<strong>de</strong>r missverständlichen Vorstellungen einherzuge-<br />

hen, in<strong>de</strong>m er wie zum Beispiel bei KLÄGER (o. J.) mit einem<br />

„kulturunabhängigen bildnerischen Denken“ bzw. mit „Erschei-<br />

nungsformen ‚archaischer Art’“ (ebd.) in Verbindung gebracht und<br />

hochstilisiert wird (dazu auch KOSSOLAPOW 1975, 82f.). Statt-<br />

<strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>monstrieren die vermeintlich „ursprünglichen<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Gestaltungs- und Ausdrucksformen“ eher ein „normales“ Entwick-<br />

lungsgeschehen, welches lediglich eine Frühform <strong>de</strong>s Denkens<br />

(nämlich das prälogische o<strong>de</strong>r auch magische Denken in <strong>de</strong>r Kind-<br />

heit) zum Ausdruck bringt, „das sich nicht o<strong>de</strong>r noch nicht in Rich-<br />

tung auf das operationale, urteilen<strong>de</strong> Denken fortbewegt hat“<br />

(RICHTER 2001, 304), nicht aber (v. a. mit Blick auf erwachsene<br />

Bildner) auf ein „infantiles“ Entwicklungs- und Denkniveau fixiert<br />

wer<strong>de</strong>n darf.<br />

Es gilt nämlich zu be<strong>de</strong>nken, dass die Außenseiter-Kunst „aus syn-<br />

thetisieren<strong>de</strong>n bildnerischen Ereignissen besteht, die in <strong>de</strong>r Kindheit<br />

und Jugend aufgebaut wer<strong>de</strong>n“ (RICHTER 1997, 25). Daraus ergibt<br />

sich aber kein „einheitliches“ Darstellungs- o<strong>de</strong>r Ausdruckssystem,<br />

son<strong>de</strong>rn es sind vielmehr Spielarten „unkonventioneller“ Ausdrucks-<br />

formen auszumachen, vielfältige „Mischformen“ (RICHTER) aus frü-<br />

hen Kritzeleien o<strong>de</strong>r Schemadarstellungen, selbstgewählte Motive,<br />

Figurationen und Lösungen, die eng mit <strong>de</strong>m persönlichen Erfah-<br />

rungsbereich, mit individuellen Lebens- und Problemlagen ver-<br />

bun<strong>de</strong>n sind, die häufig ohne biographische und situative Kennt-<br />

nisse schwer zu verstehen bzw. zugänglich sind. Mit <strong>de</strong>m Begriff<br />

<strong>de</strong>s „Unkonventionellen“ (auch RICHTER 2001) sollen hiermit Art<br />

Burt-Werke charakterisiert wer<strong>de</strong>n, die quasi „alles Gewohnte über-<br />

bieten“ (PRINZHORN 1922, 292), sich auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Bildstruk-<br />

tur „zwischen <strong>de</strong>n Extremen einer Physiognomisierung und einer<br />

Formalisierung“ (RICHTER 1984, 21) bewegen, nicht an „übliche“<br />

Darstellungsprinzipien <strong>de</strong>r traditionellen o<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Kunst er-<br />

innern und ein selbsterarbeitetes Gemisch von einfachen, frühen<br />

und elaborierten Ausdrucksformen zur Schau stellen, welches ohne<br />

biographische Kenntnisse kaum erschlossen wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Nichts<strong>de</strong>stotrotz haben PRINZHORN, HASSBECKER und KLÄGER an<br />

<strong>de</strong>r Stelle recht, wo sie die Vernachlässigung eines „allseitigen“, d.<br />

h. ästhetischen Lernens im schulischen Bereich beklagen und die<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Be<strong>de</strong>utung kreativer Bildnereien und werkhafter Gestaltungen her-<br />

ausstellen, die von Kin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r autodidaktischen, nicht-<br />

professionellen Künstlern spontan, „unbekümmert“ und frei von<br />

pädagogischer (o<strong>de</strong>r therapeutischer) Einmischung zum Ausdruck<br />

gebracht wer<strong>de</strong>n und für die betreffen<strong>de</strong> Person subjektiv be<strong>de</strong>ut-<br />

sam sind.<br />

Seit <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne gibt es nunmehr immer wie<strong>de</strong>r Künstler, die eine<br />

„Regression“ auf solche „unverstellten“, kreativen Ausdrucksformen<br />

bewusst vollziehen und zum Motor ihres Schaffens machen (DU-<br />

BUFFET). Damit verschwimmen letztlich die Grenzen zwischen<br />

nicht-professioneller und professioneller Kunst.<br />

Hinzu kommt, dass sich mit dieser Entwicklung <strong>de</strong>r künstlerische,<br />

soziale und ökonomische Kontext <strong>de</strong>r Art Brut geän<strong>de</strong>rt hat (GOR-<br />

SEN 2001, 77). Stand noch DUBUFFET einer Vereinnahmung <strong>de</strong>r<br />

Art Brut durch <strong>de</strong>n Kunst-Markt gänzlich ablehnend gegenüber, so<br />

hat sich dieses Thema heutzutage weithin erledigt. „Die von Warhol<br />

prophezeite Integration in ein ‚all is pretty‘ umfasst heute auch die<br />

Kunst <strong>de</strong>r Außenseiter und zustandsgebun<strong>de</strong>nen Einzelgänger. In<br />

<strong>de</strong>n großen postmo<strong>de</strong>rnen Themenausstellungen <strong>de</strong>r letzten Jahre<br />

erscheint sie we<strong>de</strong>r im negativen noch im positiven Sinne mehr<br />

ausgegrenzt, son<strong>de</strong>rn einfach nur kulturell nivelliert. In <strong>de</strong>n meis-<br />

ten Museumspräsentationen triumphiert das neue konfuse Gemisch<br />

von Art Brut und Art Culturel“ (GORSEN 2003).<br />

Maßgeblich beför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong> und wird diese Erscheinung durch pro-<br />

minente Kunstsammler, Händler und Galeristen, die durch ihre Ge-<br />

schäftspolitik bestimmten und letztlich bis heute maßgeblich dazu<br />

beitragen, was als Kunst anerkannt wer<strong>de</strong>n kann und was nicht.<br />

EMMERLING (2003) hat dies am Beispiel <strong>de</strong>s schwarzen,<br />

talentierten Malers Jean-Michel BASQUIAT (1960 – 1988) aufge-<br />

zeigt, <strong>de</strong>r zunächst unter <strong>de</strong>m Pseudonym SAMO als Graffiti-Künst-<br />

ler, später dann in <strong>de</strong>n 80er Jahren als subversiver „Outsi<strong>de</strong>r“ pro-<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

minent wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m es mit Blick auf DUBUFFET (ebd., 29ff.) eben-<br />

falls um die Aufhebung und Überwindung <strong>de</strong>r Schranken zwischen<br />

Hoch- und Trivialkunst, um die „Ununterscheidbarkeit von Kunst<br />

und Nicht-Kunst“ (DAMUS) zu tun war.<br />

Vor diesem Hintergrund hat BRÖG (1993, 44) Recht, wenn er<br />

schreibt: „Das Großkastrationsunternehmen Postmo<strong>de</strong>rne droht<br />

Kreatoren originärer Ausnahmeerscheinungen aus <strong>de</strong>m Blickpunkt<br />

zu drücken; je<strong>de</strong>r ist doch ‚Outsi<strong>de</strong>r’. Die Outsi<strong>de</strong>r aber, die Vertre-<br />

ter <strong>de</strong>r art brut macht man unbe<strong>de</strong>utend, in<strong>de</strong>m man sie mit Eh-<br />

rungen <strong>de</strong>r art culturel überzieht“; und PEIRY (1999, 44) gibt zu<br />

be<strong>de</strong>nken, dass diese „ästhetische und ethische Anerkennung mit<br />

gesellschaftlicher Ausbeutung und kommerzieller Einverleibung“<br />

einhergehe, weshalb diese Entwicklung ambivalent einzuschätzen<br />

sei. Jedoch hat sie – und zwar unabhängig <strong>de</strong>r Frage nach Kunst,<br />

Kreativität, bloße Imitation o<strong>de</strong>r Nicht-Kunst - ein Menschenbild be-<br />

för<strong>de</strong>rt, das je<strong>de</strong>m Individuum ein kreatives Potential zuspricht.<br />

Damit leistet sie im Sinne postmo<strong>de</strong>rner Pluralität (WELSCH 1990)<br />

zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Integration und Inklusion<br />

(im Sinne von Nicht-Ausson<strong>de</strong>rung 10 ) marginalisierter Menschen –<br />

vorausgesetzt, sie kann sich gegenüber <strong>de</strong>n Gefahren <strong>de</strong>r Verein-<br />

nahmung und Ausbeutung immunisieren. In dieser Bahn bewegt<br />

sich gleichfalls die Argumentation von PEIRY (1999, 264), wenn sie<br />

die Art Brut als „eine <strong>de</strong>r wesentlichen Phasen ästhetischer, sozio-<br />

logischer und institutioneller Dezentrierungen und Umbrüche in <strong>de</strong>r<br />

europäischen Kultur <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts“ bezeichnet.<br />

Interessant ist nunmehr die Frage, ob es heute überhaupt noch<br />

eine Art Brut gibt. Wenn wir uns die Verän<strong>de</strong>rungen auf <strong>de</strong>m Ge-<br />

biete <strong>de</strong>r Psychiatrie (Öffnung <strong>de</strong>r Anstalten; gemein<strong>de</strong>nahe Ver-<br />

sorgung; mo<strong>de</strong>rne Therapien etc.) sowie die von DUBUFFET her-<br />

10 Wer sich genauer über „Inklusion“ als neue Leiti<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rtenarbeit informieren möchte,<br />

empfehlen wir die Schrift „Inklusion von Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung“ (Stuttgart 2006; Kohlhammer-Verlag),<br />

hrsg. von G. THEUNISSEN u. K. SCHIRBORT.<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

ausgestellten Kriterien eines eng gestrickten Beurteilungsmaßstabs<br />

vor Augen halten, dürfte es tatsächlich schwer sein, noch Art Brut-<br />

Künstler ausfindig zu machen. Viele vermissen <strong>de</strong>n „typischen<br />

Langzeitpatienten“ und manche sehen bei aller Vermengung (Unun-<br />

terscheidbarkeit) von Art Brut und Art Culturel in <strong>de</strong>r Kunst von Al-<br />

tenheimbewohnern, ethnischen Min<strong>de</strong>rheitsgruppen, die sich am<br />

Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaft befin<strong>de</strong>n, politisch Verfolgten o<strong>de</strong>r<br />

Menschen, die Kriege o<strong>de</strong>r Völkermord überlebt haben, einen<br />

letzten Ausläufer. Nach PEIRY (1999) gehört je<strong>de</strong>nfalls das alte Bild<br />

vom Art Brut-Künstler ins Museum.<br />

Im angloamerikanischen Sprachraum stoßen wir weiterhin auf die<br />

Bezeichnung „Outsi<strong>de</strong>r Art“, die sich zunächst einmal auch als eine<br />

Gegenwartserscheinung auf alle „self taught artists“ und nicht-<br />

professionellen Künstler bezieht (MAIZELS 1996). Damit wer<strong>de</strong>n<br />

nach wie vor Bildwerke von „unverschulten“ Menschen mit geis-<br />

tigen und seelischen Behin<strong>de</strong>rungen (z. B. auch autistischen<br />

Entwicklungsstörungen) als „Außenseiter-Kunst“ ausgewiesen; und<br />

sie gelten als ein Zeugnis „roher Kunst“ (raw visions), wenn sie frei<br />

bzw. unbeeinflusst von pädagogischen o<strong>de</strong>r therapeutischen Ambi-<br />

tionen geschaffen wur<strong>de</strong>n.<br />

Zugleich wer<strong>de</strong>n aber auch außergewöhnliche Bildwerke von Men-<br />

schen mit geistiger o<strong>de</strong>r seelischer Behin<strong>de</strong>rung unter „Outsi<strong>de</strong>r<br />

Art“ gefasst, die in sog. „kreativen Werkstätten“ (z. B. Creative<br />

Growth Art Center Oakland, California) unter Anleitung von Künst-<br />

lern, Kunstpädagogen o<strong>de</strong>r Kunsttherapeuten entstan<strong>de</strong>n sind. In-<br />

sofern gibt es sehr wohl auch „Outsi<strong>de</strong>r“, die Vorerfahrungen haben<br />

und professionell geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n (TAYLOR 2005; JUNOR o. J.;<br />

RIVERS o. J.). An dieser Stelle wird <strong>de</strong>utlich, dass die „Outsi<strong>de</strong>r<br />

Art“ heute nicht nur für die „self taught art“ o<strong>de</strong>r „raw art“ steht,<br />

son<strong>de</strong>rn generell als Label für eine Kunst, die von bestimmten<br />

Randgruppen <strong>de</strong>r Gesellschaft produziert wird (Autisten, Be-<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

hin<strong>de</strong>rte, psychisch Kranke, Senioren…). Diese Gepflogenheit kann<br />

kritisiert wer<strong>de</strong>n (MÜRNER 1999) – verleitet doch <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s<br />

„Außenseiters“ allzu leicht zu negativen Konnotationen 11 und einer<br />

„doppel<strong>de</strong>utigen Etikettierung“, die für eine Integration behin<strong>de</strong>rter<br />

Menschen bzw. im Lichte <strong>de</strong>r Leiti<strong>de</strong>e von Inklusion kontraproduk-<br />

tiv sind. Die Doppel<strong>de</strong>utigkeit besteht darin, dass nicht selten<br />

Künstlern sowieso eine gesellschaftliche Außenseiter- o<strong>de</strong>r „Exoten-<br />

rolle“ zugeschrieben wird, so dass allzu leicht Künstler mit geistiger<br />

Behin<strong>de</strong>rung als Exoten, Son<strong>de</strong>rlinge o. ä. in einem Außenseiter-<br />

o<strong>de</strong>r „Exotenbereich“ (SCHUPPENER 2005, 133) abgestempelt<br />

wür<strong>de</strong>n. Um dieses Problem zu vermei<strong>de</strong>n, bietet es sich an, auf<br />

die Etikettierung als „Außenseiter-Künstler“ zu verzichten. An<strong>de</strong>rer-<br />

seits steht diese Bezeichnung für ein bestimmtes Markenzeichen,<br />

das heute seinen Platz in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>s 20. Jahr-<br />

hun<strong>de</strong>rts gefun<strong>de</strong>n hat und damit aus kunstwissenschaftlicher Sicht<br />

integriert wor<strong>de</strong>n ist. Diese Integration und implizite Wertschätzung<br />

könnte <strong>de</strong>r Grund dafür sein, dass im angloamerikanischen Sprach-<br />

raum am Ausweis einer „Outsi<strong>de</strong>r Art“ festgehalten wird. Hinzu<br />

kommt, dass sich Betroffene selbst <strong>de</strong>m Anschein nach „in (selbst)<br />

aufwerten<strong>de</strong>r Form“ von An<strong>de</strong>ren (Nicht-Künstlern) abgrenzen, sich<br />

quasi im Lichte einer positiv konnotierten „An<strong>de</strong>rsartigkeit“ sehen<br />

(ebd., 211, 261), und dass darüber hinaus <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s Außen-<br />

seiters – so wie er sich im Bereich <strong>de</strong>r Kunst(theorie) etabliert hat -<br />

<strong>de</strong>r Verständigung dienen kann, wenn es um die Würdigung<br />

außergewöhnlicher, unkonventioneller Bildwerke nicht-<br />

professioneller Künstler geht.<br />

Genau darum ist es uns im abschließen<strong>de</strong>n Kapitel zu tun, das bio-<br />

graphisch untersetzte, künstlerisch-kreative Prozesse und Bildbei-<br />

spiele vorstellt, die von Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung<br />

stammen und unter <strong>de</strong>r Art Brut diskutiert wer<strong>de</strong>n können. Dabei<br />

11 Zum Beispiel zu rassistischen Konnotationen bei ethnischen Gruppen (schwarzen Künstlern), zu<br />

einer Entwertung geistig behin<strong>de</strong>rter Menschen…<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

erlauben wir uns zunächst das Schaffen von Johann HAUSER anzu-<br />

sprechen, um einen <strong>de</strong>r prominentesten Art Brut-Künstler <strong>de</strong>r<br />

ersten Stun<strong>de</strong> zu würdigen. Danach wer<strong>de</strong>n wir ein Beispiel aus <strong>de</strong>r<br />

heutigen Zeit kurz herausgreifen, das in <strong>de</strong>r Tradition <strong>de</strong>r Art Brut<br />

steht (GORSKI 1979, 7ff., 127) und ein außergewöhnliches Werk<br />

zur Schau stellt.<br />

Zum Abschluss: Zwei außergewöhnliche Beispiele<br />

1. Beispiel<br />

Johann HAUSER (1926 - 1996), <strong>de</strong>m eine geistige Behin<strong>de</strong>rung (IQ<br />

52 [1966]; 56 [1977]) und (schwere) affektive Störung nachgesagt<br />

wird, galt von Geburt an als geistig zurückgeblieben, konnte we<strong>de</strong>r<br />

Lesen, Schreiben noch Rechnen, wur<strong>de</strong> mit 17 Jahren in eine<br />

psychiatrische Klinik eingewiesen, im Alter von 19 Jahren „wegen<br />

Geistesschwäche“ entmündigt und drei Jahre später in die Heil- und<br />

Pfleganstalt Gugging verlegt. Dort wur<strong>de</strong> er von Leo NAVRATIL<br />

ent<strong>de</strong>ckt, <strong>de</strong>r ihn in sein „Haus <strong>de</strong>r Künstler“, ein an die Klinik<br />

angeschlossenes Zentrum für Kunst und Psychotherapie, aufnahm.<br />

Nach NAVRATIL (1998) begann J. HAUSER erst im Alter von etwa<br />

30 Jahren zu zeichnen (119). Hierbei ließ er sich vor allem durch<br />

Bil<strong>de</strong>r (z. B. Starporträts) aus Zeitschriften inspirieren. Seine<br />

Bildnereien zeichnen sich durch eine unverwechselbare, dynamisch,<br />

mitunter wuchtig wirken<strong>de</strong>, affektiv getönte, entla<strong>de</strong>ne<br />

Darstellungsweise aus, die auf richtige Proportionen o<strong>de</strong>r<br />

Perspektive keine Rücksicht nimmt, son<strong>de</strong>rn von selbsterfun<strong>de</strong>nen,<br />

klar umrissenen, kanonisierten Figurationen lebt, die durch ein zum<br />

Teil von außen durch Zeichnungskringel „bewil<strong>de</strong>rtes“ Farb-Form-<br />

Gefüge geschickt in Szene gesetzt wer<strong>de</strong>n (dazu die Bildbeispiele in<br />

MUSEUM KUNST PALAST 2005, 96f.). In seinen manischen Phasen,<br />

in <strong>de</strong>nen er sich oft auf „Wan<strong>de</strong>rschaft“ begab, galt er als<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

„überaktiv“ und beson<strong>de</strong>rs produktiv. In diesen Zeiten sind seine<br />

künstlerisch be<strong>de</strong>utsamsten Werke entstan<strong>de</strong>n (z. B. Mutteridole),<br />

die sich heute weithin in <strong>de</strong>r Collection <strong>de</strong> l’Art brut in Lausanne<br />

befin<strong>de</strong>n und die schon zu seinen Lebzeiten internationale<br />

Anerkennung gefun<strong>de</strong>n hatten. Darauf sei J. HAUSER immer stolz<br />

gewesen. Während die Manie für sein bildnerisches Arbeiten<br />

beför<strong>de</strong>rnd war, musste er in seinen <strong>de</strong>pressiven Phasen „oft zum<br />

Zeichnen“ (NAVRATIL 1998, 126) angestiftet wer<strong>de</strong>n. „Spontan<br />

zeichnete er dann überhaupt nicht und auf Wunsch nur die<br />

einfachsten Motive: ein Herz, eine Schlange, einen Stern, ein<br />

Vierecke“ (41). Während dieser Zeit entstan<strong>de</strong>n eher „äußerst<br />

sparsame“ Bil<strong>de</strong>r mit einem „hohen Abstraktionsgrad“, <strong>de</strong>nen im<br />

Unterschied zu seinen an<strong>de</strong>ren Arbeiten nur zum Teil künstlerische<br />

Qualität attestiert wur<strong>de</strong> (126).<br />

Was die psychologische Be<strong>de</strong>utung seines künstlerischen Schaffen<br />

und seiner Bildwerke betrifft, so gibt es nach NAVRATIL Anzeichen<br />

für eine kompensatorische, selbsttherapeutische Funktion, zum<br />

Beispiel mit Blick auf sein Bild „Sophia Loren mit Carlito“<br />

„Schmerzen und Enttäuschungen <strong>de</strong>s Lebens zu ertragen“ (81).<br />

Diese Arbeit, „die aus seiner Begeisterung für eine junge<br />

Krankenschwester und seinem Wunsch, sie zu heiraten und eine<br />

Familie zu grün<strong>de</strong>n, hervorgegangen ist, hat jedoch auch bewirkt,<br />

dass er sich <strong>de</strong>r tragischen Differenz zwischen seinen Wünschen<br />

und <strong>de</strong>r Wirklichkeit <strong>de</strong>utlicher bewusst gewor<strong>de</strong>n ist – und dass es<br />

ihm vielleicht ein bisschen leichter wur<strong>de</strong>, diese Enttäuschung<br />

auszuhalten. So hat die künstlerische Tätigkeit zur Reifung seiner<br />

Persönlichkeit… beigetragen“ (81).<br />

2. Beispiel<br />

Unser zweites Beispiel, entnommen aus <strong>de</strong>r heutigen Zeit (GROSS-<br />

WENDT & THEUNISSEN 2006), steht für einen außergewöhnlichen,<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

unkonventionellen bildnerischen Ausdruck. Es stammt von A.,<br />

einem zwölfjährigen Jungen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung, <strong>de</strong>m durch<br />

<strong>de</strong>n Unfalltod seiner Mutter eine psychische Traumatisierung nach-<br />

gesagt wird.<br />

Abbildung 1: Hexen<br />

Betrachten wir A.’s Zeichnungen, so treten uns diese mit einer ver-<br />

blüffend eigenwilligen Formensprache entgegen. Die eckigen,<br />

geometrisierten Körperformen <strong>de</strong>r von ihm gezeichneten Men-<br />

schenwesen erinnern zunächst an mechanische Roboter. Im Bild<br />

Abb.1 „Hexen“ sind sie so dicht aneinan<strong>de</strong>r gesetzt und überlagern<br />

einan<strong>de</strong>r, dass <strong>de</strong>r Betrachter auf <strong>de</strong>n ersten Blick fast die<br />

Orientierung verlieren kann. Je<strong>de</strong> einzelne Figur baut sich zwar aus<br />

ähnlichen Segmenten auf, ist aber im Detail immer einmalig aus-<br />

formuliert. Die wechseln<strong>de</strong> Frontal- und Seitenansicht führt zu einer<br />

dynamischen Verdrehung <strong>de</strong>r Figuren in sich selbst. Nur ein Wesen<br />

(ganz links) wen<strong>de</strong>t das Gesicht <strong>de</strong>m Betrachter frontal zu. Alle<br />

an<strong>de</strong>ren Gesichter sind seitlich dargestellt. Die anfängliche<br />

Orientierungslosigkeit <strong>de</strong>s Betrachters löst sich durch genaues Hin-<br />

schauen auf und wir erkennen Mün<strong>de</strong>r, Ohren, Ohrringe, Haare,<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Halstücher. A. bezeichnet seine Figuren als Hexen; sie sind sein<br />

Lieblingsmotiv. So kann <strong>de</strong>r Betrachter auch die je<strong>de</strong>r Hexe zuge-<br />

ordneten länglichen Formen als Besen i<strong>de</strong>ntifizieren. Eine <strong>de</strong>r He-<br />

xen trägt ein katzenartiges Wesen.<br />

Abbildung 2: Hexe<br />

A.s Zeichnungen (z. B. auch Abb. 2 „Hexe“) la<strong>de</strong>n mit ihrer vari-<br />

ieren<strong>de</strong>n, teils dichten Bildstruktur zu einer intensiven Betrachtung<br />

ein. Den berechtigten Hinweisen auf die psychologische Be<strong>de</strong>utung<br />

seiner Darstellungen gehen wir hier nicht nach. Trotz einer forma-<br />

len Grundstruktur aus meist geometrischen Formen erschafft A.<br />

immer wie<strong>de</strong>r neue Variationen, die durch ihre Vielfalt verblüffen.<br />

Seine Bil<strong>de</strong>r können uns in ihren Bann ziehen, <strong>de</strong>nn sie geben <strong>de</strong>n<br />

Blick frei in eine sehr eigenwillige Welt.<br />

- 54 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Abbildung 3: Fahrstuhl<br />

Abbildung 4: Autorennen<br />

Es ist zu erwähnen, dass A. in <strong>de</strong>r Schule zwar eine AG für bildne-<br />

risches Gestalten besucht, sich dort aber meist nur sehr ungern mit<br />

vorgegebenen Themen auseinan<strong>de</strong>rsetzt. Als beispielsweise das<br />

Thema „Frühblüher“ bearbeitet wur<strong>de</strong>, zeichnete er ein einziges<br />

Bild, um dann zu sagen: „Das reicht aber. Jetzt will ich malen, was<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

ich will!“ Auch in <strong>de</strong>r Unterrichtszeit zieht er sich häufig mit Stift<br />

und Papier zurück. Es entstehen dann Bil<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Titeln „Fahr-<br />

stuhl“ (Abb. 3), „Autorennen“ (Abb. 4), „Mein Bru<strong>de</strong>r“ (Abb. 5),<br />

„Vögel“ (Abb. 6). Das Bild eines „Engel“s (Abb. 7) entstand<br />

dagegen in <strong>de</strong>r Weihnachtszeit im Rahmen <strong>de</strong>s vorgegebenen The-<br />

mas.<br />

Abbildung 5: Mein Bru<strong>de</strong>r<br />

- 56 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Literatur<br />

Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Abbildung 6: Vögel<br />

Abbildung 7: Engel<br />

BADER, A. (Hrsg.): Geisteskrankheit, bildnerischer Ausdruck und<br />

Kunst, Bern 1975<br />

ARTE: Die Kunst <strong>de</strong>r Namenlosen: Art Brut, TV La Sept. ARTE,<br />

Mai 2000<br />

- 57 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

BLUMENTHAL, R.: Jonathan Lerman. An Artist’s Success at 14,<br />

Despite Autism, In: The New York Times, The Arts, January 16,<br />

2001, online: http//www.ksartonline.com/ilpress.hmtl (Stand<br />

9.06.2005)<br />

BRÖG, H.: Arnold Schönberg als Anlaß. In: WICHELHAUS, B.<br />

(Hrsg.): KUNSTtheorie, KUNSTtherapie, KUNSTpsychologie,<br />

Berlin 1993, 42-49<br />

CAMPBELL, B.: Outsi<strong>de</strong>r Art: Just another put-down? Online:<br />

http://thewitness.org/archive/janfeb2003/commentcamp-<br />

bell.html (Stand 15.04.2005)<br />

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Zu zitieren als:<br />

THEUNISSEN, Georg: Art Brut, Kreativität und geistige Behin<strong>de</strong>rung, in: Heilpädagogik<br />

online 02/06, 32-60<br />

http://www.heilpaedagogik-online.com/2006/heilpaedagogik_online_0206.pdf,Stand:<br />

08.04.2006<br />

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- 60 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Sven Jenessen<br />

Systemisches Verstehen von Entwicklung<br />

und Sozialisation bei progredienter<br />

Erkrankung als Grundlage schulpädagogischen<br />

Han<strong>de</strong>lns<br />

Die individuelle Entwicklung und Sozialisation umfasst für<br />

progredient erkrankte Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche neben <strong>de</strong>r Bewältigung<br />

<strong>de</strong>r normativen Entwicklungsaufgaben häufig<br />

eine Vielzahl beson<strong>de</strong>rer Entwicklungsaufgaben. Der vorliegen<strong>de</strong><br />

Beitrag zeigt, dass das Wissen und Verstehen<br />

dieser spezifischen Bedingungen <strong>de</strong>n begleiten<strong>de</strong>n Pädagoginnen<br />

und Pädagogen bei <strong>de</strong>r Gestaltung unterstützen<strong>de</strong>r<br />

För<strong>de</strong>rbedingungen in <strong>de</strong>r Schule unabdingbar ist. Die Differenzierung<br />

<strong>de</strong>s För<strong>de</strong>rangebotes in psycho-emotionale Begleitung,<br />

För<strong>de</strong>rung leistungsbezogener Fähigkeiten und<br />

För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Copings bietet hierfür sinnvolle Handlungsansätze.<br />

Schlüsselwörter: Progrediente Erkrankung, Entwicklung und<br />

Sozialisation, För<strong>de</strong>rung, Begleitung, Coping<br />

Young people with terminal illnesses have to cope with a variety<br />

of issues during their <strong>de</strong>velopment. In addition to their<br />

every day tasks they are confronted with a variety of special<br />

challenges. Teachers working with these pupils need a complex<br />

un<strong>de</strong>rstanding of these pupils’ specific circumstances<br />

and needs in or<strong>de</strong>r to create a supportive setting. It is<br />

shown that differentiating between psycho-emotional,<br />

achievement-related and coping-related support strategies<br />

can help create such settings.<br />

keywords: Terminal illness, socialisation, potential distress, school<br />

support, coping strategies<br />

1 Einleitung<br />

Erleben Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche die Bedrohung <strong>de</strong>s eigenen Lebens<br />

durch eine schwere Erkrankung, stellt dies eine unmittelbare Kon-<br />

frontation mit <strong>de</strong>r Möglichkeit <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s dar, die für die Betrof-<br />

fenen eine Vielzahl von existentiellen Fragen, Verän<strong>de</strong>rungen und<br />

- 61 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Belastungen beinhalten kann. Allein aus ethischer Sicht lässt sich<br />

hier die Notwendigkeit <strong>de</strong>r Unterstützung und Begleitung <strong>de</strong>r er-<br />

krankten Heranwachsen<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Schule ableiten, für die die dort<br />

tätigen Pädagoginnen und Pädagogen spezifisches Wissen und<br />

beson<strong>de</strong>re Kompetenzen benötigen. Dieses Wissen bezieht sich bei-<br />

spielsweise auf <strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>r Progredienz dieser Krankheiten, von<br />

<strong>de</strong>r dann gesprochen wer<strong>de</strong>n kann, wenn Erkrankungen unheilbar<br />

sind, schubweise o<strong>de</strong>r kontinuierlich voranschreiten und gemessen<br />

an <strong>de</strong>r altersgemäßen Morbiditätsrate zu einem verfrühten Tod füh-<br />

ren (vgl. JENNESSEN 2005, 176).<br />

Auf <strong>de</strong>r Grundlage systemtheoretischen Denkens wer<strong>de</strong>n im<br />

Folgen<strong>de</strong>n die spezifischen Sozialisationsprozesse progredient<br />

erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher aufgezeigt, wobei in Anlehnung<br />

an BRONFENBRENNER (1989) eine Differenzierung in personale,<br />

familiäre, institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen erfolgt.<br />

Diese Vorgehen erlaubt es, „Faktoren <strong>de</strong>r Sozialisation und<br />

musterhafte Prozesse isoliert zu beschreiben, um zu Aussagen über<br />

Bedingungen zu gelangen, die die meisten betroffenen Menschen<br />

ähnlich erleben und aus diesen Hinweise für Verän<strong>de</strong>rungen und<br />

Operationalisierungen abgeleitet wer<strong>de</strong>n können“ (BERGEEST<br />

1999, 223).<br />

Das Wissen um die beson<strong>de</strong>ren Charakteristika progredienter Er-<br />

krankungen und ihrer Auswirkungen auf die unterschiedlichen So-<br />

zialisationsebenen bietet die maßgebliche Grundlage für sämtliche<br />

potentielle pädagogische Interventionsstrategien. So können Lehr-<br />

kräfte nur durch eine differenzierte Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit diesen<br />

(individuellen) Sozialisationsprozessen ihr eigenes schulpädago-<br />

gisches Han<strong>de</strong>ln begrün<strong>de</strong>t ableiten.<br />

- 62 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

2 Spezifische Sozialisations- und Entwicklungsbe-<br />

dingungen bei progredienter Erkrankung<br />

„Sozialisation bezeichnet <strong>de</strong>n Prozeß <strong>de</strong>r Entstehung und Entwick-<br />

lung <strong>de</strong>r Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von <strong>de</strong>r<br />

gesellschaftlich vermittelten sozialen und dinglich-materiellen Um-<br />

welt“ (HURRELMANN 2001, 70). In diesem Begriffsverständnis ist<br />

zum Ausdruck gebracht, dass die Entwicklung <strong>de</strong>s Individuums<br />

durch soziale und gesellschaftliche Faktoren beeinflusst ist und sich<br />

in einem Prozess <strong>de</strong>r sozialen Interaktion konstituiert. Diese allge-<br />

meine Aussage behält selbstverständlich für die Sozialisationspro-<br />

zesse von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen ihre Gül-<br />

tigkeit. Auch hier han<strong>de</strong>lt es sich um individuelle Prozesse, die sich<br />

gleichwohl mit <strong>de</strong>r Hilfe überindividueller Dimensionen beschreiben<br />

lassen.<br />

2.1 Die personale Ebene<br />

„Die Basis <strong>de</strong>r sozialen Entwicklung ist die subjektive Realität <strong>de</strong>s<br />

Individuums“ (BERGEEST 1999, 223). Die subjektive Realität – <strong>de</strong>r<br />

Alltag – lebensbedrohlich erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher ist<br />

häufig geprägt durch das Erleben „seelischer Erschütterungen,<br />

Schmerzen, Unwohlsein, Verzichte, <strong>de</strong>n zunehmen<strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>r<br />

eigenen Selbständigkeit mit gleichzeitiger Zunahme <strong>de</strong>r Hilfs- und<br />

Pflegebedürftigkeit, Einschränkungen <strong>de</strong>r Bewegungsfreiheit,<br />

Trennung von Bezugspersonen und Bezugsgruppen, Mitleidsre-<br />

aktionen <strong>de</strong>r sozialen Umwelt sowie durch das persönliche Erleben<br />

<strong>de</strong>s „Nicht-mehr-dazu-Gehörens“, <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>rs-Seins“ (ORTMANN<br />

1996, 509). Grundsätzlich sind alle subjektiven Belastungsfaktoren<br />

und die <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n<br />

Copingstrategien maßgeblich vom Entwicklungsalter <strong>de</strong>r Betrof-<br />

fenen bestimmt. So divergieren Bedingungen und Erleben von<br />

- 63 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Krankheit in <strong>de</strong>n ersten Lebensjahren maßgeblich von <strong>de</strong>nen in <strong>de</strong>r<br />

Adoleszenz. Aus salutogenetischer Perspektive bedarf die Aussage<br />

BÜRGINs „Krankheit ist also auch eine Situation von psychischem<br />

Streß“ (BÜRGIN 1981, 93) <strong>de</strong>mnach einer genaueren Diffe-<br />

renzierung und expliziten Berücksichtigung <strong>de</strong>r für die Bewältigung<br />

von Anfor<strong>de</strong>rungen hilfreichen Teilkomponenten <strong>de</strong>s Kohärenz-<br />

sinnes <strong>de</strong>r betroffenen Individuen (vgl. ANTONOVSKY 1997).<br />

Festzuhalten ist, dass die drei aus <strong>de</strong>r Stressforschung bekannten<br />

potentiellen Belastungssituationen im Kin<strong>de</strong>s- und Jugendalter alle<br />

für die spezifische Lebenssituation progredient erkrankter Kin<strong>de</strong>r<br />

und Jugendlicher zutreffen. Bei diesen han<strong>de</strong>lt es sich „(a) um<br />

Entwicklungsaufgaben, (b) um kritische Lebensereignisse und (c)<br />

um alltägliche Belastungen“ (TANJOUR/RESCHKE 2002, 99).<br />

Als ein bestimmen<strong>de</strong>s Kriterium auf <strong>de</strong>r personale Ebene lässt sich<br />

die Progredienz <strong>de</strong>r Erkrankung herausstellen: So kann davon aus-<br />

gegangen wer<strong>de</strong>n, dass das Erleben <strong>de</strong>s Fortschreitens einer Er-<br />

krankung Denken und Fühlen eines jungen Menschen erheblich be-<br />

einflusst. Intrapsychisch gelten krankheitsspezifische Ängste als<br />

beson<strong>de</strong>re Begleiterscheinungen <strong>de</strong>s Lebens mit einer pro-<br />

gredienten Erkrankung. Diese können sich in hilflos wirken<strong>de</strong>r<br />

aggressiver Abwehr, in körperlicher Erstarrung und stummer<br />

Verweigerung o<strong>de</strong>r in Formen psychovegetativer Dekompensation<br />

bis hin zur Ohnmacht äußern (vgl. SCHRÖDER 1996, 15). Diese<br />

Ängste beziehen sich meist auf die mit medizinischen Maßnahmen<br />

o<strong>de</strong>r körperlichen Symptomen verbun<strong>de</strong>nen Schmerzen, <strong>de</strong>n zu<br />

erwarten<strong>de</strong>n vorgezogenen Tod o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Verlust sozialer Bezie-<br />

hungen.<br />

Erleben körperlich beeinträchtigte Menschen im Kin<strong>de</strong>s- und<br />

Jugendalter generell „problematische Entwicklungsbedingungen bei<br />

<strong>de</strong>r natürlichen, spontanen Bildung ihres basalen Selbstkonzeptes“<br />

- 64 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

(BERGEEST 1999, 224), so stellt das Erleben, „dass sich <strong>de</strong>r kör-<br />

perliche Zustand nicht „zum Besseren“ verän<strong>de</strong>rt (...) für die Be-<br />

troffenen ein großes Problem für eine positive Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

mit ihrer Körperlichkeit und für eine positive Einstellung zu ihrem<br />

Körper dar“ (KAMPMEIER 1999, 245f). SCHMEICHEL, <strong>de</strong>r sich als<br />

einer <strong>de</strong>r ersten Körperbehin<strong>de</strong>rtenpädagogen intensiv <strong>de</strong>r Lebens-<br />

situation progredient erkrankter Schülerinnen und Schüler widme-<br />

te, formuliert die Problematik <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s körperlichen<br />

Selbst folgen<strong>de</strong>rmaßen:<br />

„Im progressiven Verlauf kündigt <strong>de</strong>r Körper in Intervallen<br />

ständig neu seine I<strong>de</strong>ntität auf. Wenn sich in <strong>de</strong>m Kranken die<br />

Konturen seiner erwachsenen Gestalt abzuzeichnen beginnen,<br />

kündigt sich in <strong>de</strong>ren Umrissen bereits die Auflösung <strong>de</strong>s<br />

erreichten Ausdrucks an“ (SCHMEICHEL 1978a, 87).<br />

In enger Konnotation mit <strong>de</strong>m Erleben <strong>de</strong>s Fortschreitens <strong>de</strong>r Be-<br />

wegungseinschränkungen und somit <strong>de</strong>r Barrieren altersspezi-<br />

fischer, selbständiger Lebensgestaltung entwickeln progressiv er-<br />

krankte Kin<strong>de</strong>r ein Gespür für die Wahrscheinlichkeit eines frühen<br />

To<strong>de</strong>s. Selbst wenn eine offene Thematisierung von Krankheit und<br />

Tod mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn unterbleibt, spüren diese intuitiv die vorzeitige<br />

Begrenzung ihres Lebens. DAUT vermutet, dass es „kein selbst be-<br />

troffenes Kind und schon gar keinen lebensbedrohlich erkrankten<br />

Jugendlichen ohne wenigstens eine Ahnung von seinem eigenen<br />

physischen Zustand (gibt)“ (DAUT 2001a, 385). Die frühzeitige,<br />

häufig isolierte Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n existentiellen Fragen<br />

von Leben und Tod kann sich bei betroffenen Kin<strong>de</strong>rn und Jugendli-<br />

chen in einem „bemerkenswerten Lebensernst (zeigen), <strong>de</strong>r wie<br />

eine vorverlegte menschliche Reife wirkt“ (ORTMANN 1995, 163).<br />

Der mögliche Zerfall von Lebensdynamik und zukunftsorientierten<br />

Handlungsentwürfen bedingt die Aktualisierung von Zukunft in „Be-<br />

- 65 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

mühungen um Gegenwartsbewältigung“ (SEIFERT 1991, 504). In<br />

diesem Punkt unterschei<strong>de</strong>t sich die Lebenssituation progredient<br />

erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher signifikant von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer –<br />

möglicherweise ebenfalls kranker o<strong>de</strong>r körperlich beeinträchtigter –<br />

Gleichaltriger. Gefühle <strong>de</strong>r Einsamkeit und <strong>de</strong>s Unverstan<strong>de</strong>nseins<br />

und daraus resultieren<strong>de</strong> soziale Rückzugsten<strong>de</strong>nzen o<strong>de</strong>r aber <strong>de</strong>r<br />

Ausschluss aus <strong>de</strong>r Bezugsgruppe können die Folgen dieses<br />

An<strong>de</strong>rsseins sein.<br />

In <strong>de</strong>n vorliegen<strong>de</strong>n wissenschaftlichen Texten zur personalen Si-<br />

tuation progressiv erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher überwiegt<br />

eine <strong>de</strong>utlich negative und belastungsorientierte Beschreibung <strong>de</strong>r<br />

Situation <strong>de</strong>r Betroffenen. Die Be<strong>de</strong>utung von individuellen<br />

Ressourcen und Copingstrategien sowie Resilienzfaktoren wer<strong>de</strong>n<br />

bislang kaum in Verbindung mit <strong>de</strong>r Herausfor<strong>de</strong>rung einer pro-<br />

gressiven Erkrankung gesetzt und somit meist <strong>de</strong>m vorherrschen-<br />

<strong>de</strong>n kompetenzorientierten son<strong>de</strong>rpädagogischen Paradigma wi<strong>de</strong>r-<br />

sprechen<strong>de</strong> Schlussfolgerungen gezogen. Die exemplarische<br />

Beschreibung eines progredient erkrankten Schülers als emotional<br />

äußerst stabil sowie Freu<strong>de</strong>, Zufrie<strong>de</strong>nheit und Ausgeglichenheit<br />

ausstrahlend (vgl. ORTMANN/JENNESSEN 2003, 154), spiegelt die<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Frage nach Möglichkeiten <strong>de</strong>r individuellen Kompe-<br />

tenz und persönlichkeitsgebun<strong>de</strong>nen Ressourcen auf <strong>de</strong>r persona-<br />

len Ebene wi<strong>de</strong>r. Für weitere diesbezügliche Studien scheinen ka-<br />

suistische Forschungspläne geeignet, um zu stärken- und<br />

ressourcenorientierten Zugängen zur subjektiven Lebenswirklich-<br />

keit Betroffener zu gelangen.<br />

2.2 Die familiäre Ebene<br />

Als zweite isolierbare Ebene gelten die familiären Bedingungen, die<br />

als mikrosozialer Bereich unmittelbare Auswirkungen „auf<br />

- 66 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Selbstkonzept, I<strong>de</strong>ntität und die daraus folgen<strong>de</strong>n Möglichkeiten<br />

<strong>de</strong>s Sozialverhaltens <strong>de</strong>s körperbehin<strong>de</strong>rten Menschen“ (BERGEEST<br />

1999, 225f) beinhalten.<br />

Zur Situation von Familien, in <strong>de</strong>nen fortschreitend erkrankte<br />

Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche leben, liegen lediglich vereinzelte<br />

Erfahrungs- und Erlebnisberichte vor, ohne dass differenzierte<br />

wissenschaftliche Ergebnisse verfügbar wären. Folgen<strong>de</strong>s, einem<br />

Erfahrungsbericht entnommene Zitat spiegelt die Bandbreite <strong>de</strong>r<br />

familialen Umstrukturierungsprozesse nach <strong>de</strong>r Diagnose einer<br />

progredienten Erkrankung wi<strong>de</strong>r:<br />

„Als die Krankheit bei ihr im Kleinkindalter diagnostiziert<br />

wur<strong>de</strong>, än<strong>de</strong>rte sich unser gesamtes Familienleben von einem<br />

Tag zum an<strong>de</strong>ren, und zwar sehr umfassend und drastisch.<br />

Plötzlich musste täglich eine zeitaufwendige Therapie durchge-<br />

führt wer<strong>de</strong>n; es gab Arzttermine, Krankenhausaufenthalte,<br />

Sorgen wegen immer wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n Verschlechterungen in<br />

ihrem Gesundheitszustand; dann hoffnungsvolle Besserungen<br />

und dann wie<strong>de</strong>r gna<strong>de</strong>nlose Tiefpunkte – es eine emotionale<br />

Achterbahn ohne En<strong>de</strong>, die über Jahre hinweg an <strong>de</strong>n Kräften<br />

unserer Familie zerrte“<br />

(GEORGIADIS 1996, 73).<br />

Die Vielzahl <strong>de</strong>r Belastungen und Probleme, mit <strong>de</strong>nen Familien<br />

progressiv erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher konfrontiert sind,<br />

lassen sich nach PETERMANN (1990, 25) in vier Belastungsbereiche<br />

differenzieren:<br />

• Die Alltagsbewältigung <strong>de</strong>r Erkrankung<br />

- 67 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

• Die Krankenhausaufenthalte <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

• Die emotionalen Probleme während <strong>de</strong>s Krankheitsverlaufes<br />

• Die existentielle Konfrontation mit Krankheit und Tod<br />

Die dargestellten Problembereiche geben wie<strong>de</strong>rum nur die belas-<br />

tungsorientierte Perspektive <strong>de</strong>r familiären Situation wie<strong>de</strong>r.<br />

Dennoch birgt gera<strong>de</strong> eine nahe Bindung zwischen Eltern und Kind<br />

vielfältige Chancen <strong>de</strong>r Begleitung und Unterstützung für das er-<br />

krankte Kind. „Wahrheit, Liebe und Vertrauen helfen <strong>de</strong>m Kind, sei-<br />

ne Isolation, die die Ahnung <strong>de</strong>s kommen<strong>de</strong>n To<strong>de</strong>s notwendig mit<br />

sich bringt, zu überwin<strong>de</strong>n und die Tatsache <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s in das Ich<br />

zu integrieren und zur Reife zu bringen“ (LÖBSACK 1984, 160).<br />

Wer<strong>de</strong>n intrafamiliäre Kommunikationsbarrieren überwun<strong>de</strong>n und<br />

Ausdrucksmöglichkeiten für die subjektiven Gefühle und Gedanken<br />

<strong>de</strong>r Familienmitglie<strong>de</strong>r entwickelt, äußern viele erkrankte Kin<strong>de</strong>r<br />

und Jugendliche ein<strong>de</strong>utige, offene und wissen<strong>de</strong> Aussagen über<br />

ihre Lebensperspektive und die emotionale Befindlichkeit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>-<br />

re Familienmitglie<strong>de</strong>r. Gera<strong>de</strong> für die Äußerung negativer und für<br />

die Angehörigen schmerzhafter Themen ist eine offene und ver-<br />

trauensvolle Gesprächsatmosphäre unabdingbare Voraussetzung,<br />

um das seelische Gleichgewicht <strong>de</strong>r Betroffenen unabhängig vom<br />

aktuellen Stadium <strong>de</strong>r Erkrankung zu stabilisieren. Die aktive, ko-<br />

operative familiale Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Herausfor<strong>de</strong>rung<br />

einer progredienten Erkrankung kann <strong>de</strong>s Weiteren <strong>de</strong>n innerfamili-<br />

ären Zusammenhalt stärken und sich zusätzlich positiv auf <strong>de</strong>n<br />

Krankheitsverlauf <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s auswirken (vgl. ORTMANN 2000,<br />

254). In diesem Prozess scheint auch <strong>de</strong>r Aspekt antizipatorischer<br />

Trauer von Be<strong>de</strong>utung. Die Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe<br />

ist nicht als isolierter Prozess <strong>de</strong>r Eltern zu verstehen, son<strong>de</strong>rn<br />

- 68 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

beinhaltet in <strong>de</strong>r enttabuisierten Kommunikation mit <strong>de</strong>n betrof-<br />

fenen Kin<strong>de</strong>rn sowie <strong>de</strong>n möglicherweise vorhan<strong>de</strong>nen Geschwis-<br />

tern auch copingför<strong>de</strong>rliche und entlasten<strong>de</strong> Aspekte.<br />

2.3 Die institutionelle Ebene<br />

Die Ebene <strong>de</strong>s sozialisationsrelevanten Beziehungsgefüges<br />

beinhaltet die institutionalisierten Hilfen, die Menschen mit körperli-<br />

chen Beeinträchtigungen zur Prävention von Folgebeeinträchti-<br />

gungen und zur Rehabilitation zu Seite stehen. Die Unterscheidung<br />

in vorschulische, schulische, berufliche und geriatrische Rehabilita-<br />

tion differenziert die Ebene <strong>de</strong>r institutionellen Bedingungen, wobei<br />

für progredient erkrankte Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche auf Grund <strong>de</strong>s<br />

vorgezogenen To<strong>de</strong>s nur die drei erstgenannten von Relevanz sind.<br />

Da die schulische Begleitung und För<strong>de</strong>rung am En<strong>de</strong> dieses<br />

Artikels in beson<strong>de</strong>rer Weise berücksichtigt wer<strong>de</strong>n soll, wird an<br />

dieser Stelle lediglich ein kurzer Überblick über vorschulische und<br />

berufliche Rehabilitationshilfen bei fortschreiten<strong>de</strong>r Erkrankung<br />

gegeben.<br />

Die Frühför<strong>de</strong>rung gilt als „komplexes System <strong>de</strong>r Beratung,<br />

Anleitung und Unterstützung für Eltern (...), <strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />

ersten Lebensjahren auf Grund individuell und sozial bedingter<br />

Entwicklungsauffälligkeiten und -gefährdungen (Risiken, Be-<br />

hin<strong>de</strong>rungen) spezialisierter pädagogischer und therapeutischer Hil-<br />

fen bedürfen“ (SPECK 2001, 373), sowie als Unterstützungs- und<br />

För<strong>de</strong>rangebot für die betroffenen Kin<strong>de</strong>r selbst.<br />

In Bezug auf die frühe För<strong>de</strong>rung bei progredienter Erkrankung ist<br />

die Hilfe durch Institutionen <strong>de</strong>r Frühför<strong>de</strong>rung krankheitsspezifisch<br />

äußerst unterschiedlich. Während beispielsweise <strong>de</strong>r regelhafte<br />

Verlauf <strong>de</strong>r Duchenne Muskeldystrophie (DMD) erste Krankheits-<br />

symptome vor Beginn <strong>de</strong>r Schulzeit erwarten lässt und somit medi-<br />

- 69 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

zinische Einrichtungen <strong>de</strong>r Frühför<strong>de</strong>rung hier häufig die be<strong>de</strong>ut-<br />

same Funktion <strong>de</strong>r möglichst frühen Diagnosestellung über-<br />

nehmen, treten an<strong>de</strong>re Erkrankungen erst zu späteren, nach <strong>de</strong>m<br />

sechsten Lebensjahr liegen<strong>de</strong>n Zeitpunkten auf. Am Beispiel <strong>de</strong>r<br />

DMD wird die Relevanz einer frühen Diagnose trotz <strong>de</strong>r mit ihr<br />

einhergehen<strong>de</strong>n Belastung offensichtlich, da diese sicherstellen<br />

kann, dass „die betroffenen Kin<strong>de</strong>r medizinisch, therapeutisch und<br />

pädagogisch rechtzeitig angemessen behan<strong>de</strong>lt“ wer<strong>de</strong>n und „Über-<br />

for<strong>de</strong>rungen und Misserfolgserlebnissen (...) pädagogisch begegnet<br />

wer<strong>de</strong>n (kann)“ (ORTMANN 2000, 251). Außer<strong>de</strong>m können bzw.<br />

sollten so zu einem frühen Zeitpunkt <strong>de</strong>s Krankheitsverlaufes die<br />

Eltern <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r umfassend informiert und bedarfs- und situa-<br />

tionsadäquat beraten wer<strong>de</strong>n. Die Unterstützung <strong>de</strong>s elterlichen<br />

Coping-Prozesses gilt als wichtiges Element in <strong>de</strong>r Frühför<strong>de</strong>rung,<br />

wobei es im Sinne <strong>de</strong>s Empowerment-Ansatzes darauf ankommt,<br />

„die Vorstellung <strong>de</strong>r Hilflosigkeit und Versorgungsbedürftigkeit <strong>de</strong>r<br />

Eltern behin<strong>de</strong>rter Kin<strong>de</strong>r zu überwin<strong>de</strong>n, ihre Kompetenzen zu re-<br />

spektieren und ihre Ressourcen zu aktivieren“ (SCHLACK 1997,<br />

20). Hierfür sind die spezifischen potentiellen Belastungsbereiche,<br />

wie sie in Familien mit progredient erkrankten Kin<strong>de</strong>rn zu beobach-<br />

ten sind, zu berücksichtigen.<br />

Die weitere hier zu erwähnen<strong>de</strong> institutionelle Ebene stellt die <strong>de</strong>r<br />

beruflichen Rehabilitation dar. Dieser Bereich ist wissenschaftlich<br />

für <strong>de</strong>n Formenkreis progredienter Erkrankungen bislang weitge-<br />

hend vernachlässigt, so dass Übertragungen <strong>de</strong>r allgemeinen beruf-<br />

lichen Rehabilitation bei körperlicher Beeinträchtigung unter <strong>de</strong>m<br />

beson<strong>de</strong>ren Akzent eines vorzeitigen Lebensen<strong>de</strong>s notwendig<br />

wer<strong>de</strong>n. Dies scheint schon aus <strong>de</strong>m Grund erfor<strong>de</strong>rlich, da sich<br />

durch spezialisiertes und vertieftes medizinisches Wissen über ein-<br />

zelne Krankheitsbil<strong>de</strong>r Behandlungsmöglichkeiten und somit<br />

- 70 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Lebenserwartung <strong>de</strong>r Betroffenen in <strong>de</strong>n vergangenen Jahren<br />

zunehmend verbessert haben (z.B. bei DMD, Mukoviszidose). Auch<br />

wenn auf theoretischer Ebene postuliert wird, dass berufliche<br />

Rehabilitation und Integration „kein Gna<strong>de</strong>nakt, son<strong>de</strong>rn selbstver-<br />

ständliche Pflicht unseres sozialen Staates“ (BLUMENTHAL 1999, 1)<br />

sei und auch das SGB IX (vgl. BMA 2002) als rechtliche Grundlage<br />

<strong>de</strong>s heutigen Rehabilitationssystems alle Maßnahmen an <strong>de</strong>n indivi-<br />

duellen Bedürfnissen und Bedarfen <strong>de</strong>r beeinträchtigten Menschen<br />

auszurichten versucht, ist die tatsächliche berufliche Einglie<strong>de</strong>rung<br />

gera<strong>de</strong> schwer körperlich beeinträchtigter Menschen in <strong>de</strong>n Arbeits-<br />

markt häufig äußerst schwierig. Aktuelle Probleme <strong>de</strong>s Arbeits-<br />

marktes sowie die „Dominanz vereinheitlichter Kommunikations-<br />

und Leitungsnormen“ (BERGEEST 1999, 231) stellen zusätzliche<br />

Barrieren beruflicher Inklusion dar.<br />

Für die beson<strong>de</strong>re Situation progredient erkrankter Jugendlicher ist<br />

zusätzlich zu diesen Aspekten zu be<strong>de</strong>nken, dass die progressive<br />

Einschränkung <strong>de</strong>r motorischen Fähigkeiten eine nur äußerst einge-<br />

schränkte Wahl potentieller Berufsfel<strong>de</strong>r zulässt. Gera<strong>de</strong> für Men-<br />

schen mit fortschreiten<strong>de</strong>n Muskelerkrankungen, die keinerlei Aus-<br />

wirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten <strong>de</strong>r Betroffenen haben,<br />

ergeben sich durch die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten <strong>de</strong>s<br />

Computers jedoch zunehmend Berufsperspektiven, die auch in<br />

einem späten Krankheitsstadium berufliche Teilhabe ermöglichen.<br />

Diese sich in <strong>de</strong>n vergangenen zehn Jahren verstärkt<br />

erschließen<strong>de</strong>n Perspektiven gilt es in die beruflichen Rehabilita-<br />

tionsprozesse zu integrieren und spezielle Ausbildungs- und<br />

Arbeitsangebote zu entwickeln, die <strong>de</strong>n spezifischen Bedürfnissen<br />

<strong>de</strong>r progressiv erkrankten Jugendlichen und jungen Erwachsenen<br />

entsprechen. So bedürfen beispielsweise häufige krankheitsbeding-<br />

te Ausfallzeiten durch Operationen, Krankheitsschübe o<strong>de</strong>r Sekun-<br />

- 71 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

därerkrankungen <strong>de</strong>r Berücksichtigung in <strong>de</strong>r Gestaltung von Aus-<br />

bildungsplänen. Potentiellen Arbeitgebern sollten hierfür sozial- und<br />

arbeitsrechtliche Ausgleiche gewährt wer<strong>de</strong>n. Des Weiteren ist zu<br />

beachten, dass <strong>de</strong>r hohe persönliche Energieaufwand für die Krank-<br />

heitsbewältigung möglicherweise Einsatzvolumen und –fähigkeiten<br />

<strong>de</strong>r Betroffenen beeinträchtigt. Auch durch diesen Umstand können<br />

sich die beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten als reduziert dar-<br />

stellen.<br />

Spezielle Probleme ergeben sich durch <strong>de</strong>m mit einigen<br />

Erkrankungen (z.B. Formen <strong>de</strong>r Leukodystrophie) einhergehen<strong>de</strong>n<br />

Abbau kognitiver Fähigkeiten. Hierdurch reduziert sich <strong>de</strong>r Kreis <strong>de</strong>r<br />

Berufsperspektiven drastisch und führt selten zur Beschäftigung in<br />

alternativen Mo<strong>de</strong>llprojekten, meist jedoch zu einer Unterbringung<br />

in Werkstätten für behin<strong>de</strong>rte Menschen (WfbM), da diese ein<br />

Angebot zur beruflichen Bildung und zu einer Arbeitstätigkeit<br />

anbieten, „welches traditionell eher für Menschen mit einer<br />

geistigen Behin<strong>de</strong>rung entwickelt wur<strong>de</strong>“ (LELGEMANN 2003, 69).<br />

Alternativ zum Aspekt <strong>de</strong>r beruflichen Rehabilitation hat vor allem<br />

STADLER (2001) verschie<strong>de</strong>ntlich zu be<strong>de</strong>nken gegeben, dass es<br />

auch Aufgabe <strong>de</strong>r Schule für Körperbehin<strong>de</strong>rte sei, auf ein Leben<br />

ohne Erwerbsarbeit vorzubereiten. Für einen solchen Lebens-<br />

entwurf, wie er auch für viele an progredienten Erkrankungen<br />

lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> junge Erwachsene häufig die Realität darstellt, gilt „ins-<br />

beson<strong>de</strong>re eine lebenspraktische Befähigung als be<strong>de</strong>utsam“<br />

(STADLER 2001, 467), um die Chancen <strong>de</strong>r Betroffenen zur weitge-<br />

hend selbstbestimmten Lebensführung nutzen zu können. Gera<strong>de</strong><br />

angesichts <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Berufes für das individuelle Selbst-<br />

konzept sowie die gesellschaftliche Integration gibt LELGEMANN je-<br />

doch mit Recht zu be<strong>de</strong>nken, dass <strong>de</strong>r Diskurs <strong>de</strong>s Themas Arbeits-<br />

losigkeit so anzulegen sei, „dass Perspektiven nicht zu früh auf-<br />

- 72 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

gegeben wer<strong>de</strong>n und Wünsche an die Gesellschaft nicht zu früh<br />

„’selbst-beschei<strong>de</strong>n’ zurückgenommen wer<strong>de</strong>n“ (LELGEMANN 2003,<br />

68).<br />

Ergänzt wer<strong>de</strong>n sollen in <strong>de</strong>r Thematisierung <strong>de</strong>r institutionellen<br />

Ebene in Bezug auf progrediente Erkrankungen die Einrichtungen<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rhospize. Diese stellen eine in <strong>de</strong>n vergangenen Jahren<br />

durch Impulse aus an<strong>de</strong>ren europäischen Län<strong>de</strong>rn gewachsene Be-<br />

wegung dar, die sich auf Pflege und Betreuung fortschreitend und<br />

final erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher und <strong>de</strong>ren Familien spe-<br />

zialisiert haben. Kin<strong>de</strong>rhospize wollen „Unterstützungsmöglichkei-<br />

ten anbieten, die innerhalb <strong>de</strong>r herkömmlichen Strukturen <strong>de</strong>r am-<br />

bulanten, stationären o<strong>de</strong>r teilstationären Versorgung bislang nicht<br />

realisiert wer<strong>de</strong>n konnten“ (WINGENFELD/MIKULA 2002, 19). In-<br />

sofern sehen sie ein breites Hilfsspektrum vor, <strong>de</strong>ssen Schwerpunkt<br />

je nach Krankheitsphase unterschiedlich ausfällt und sowohl auf die<br />

erkrankten Kin<strong>de</strong>r als auch auf <strong>de</strong>ren Familien und Geschwister<br />

ausgerichtet ist. Kin<strong>de</strong>rhospize erfüllen <strong>de</strong>mnach eine wichtige<br />

Funktion in <strong>de</strong>r Versorgung und Unterstützung <strong>de</strong>r Betroffenen und<br />

entwickeln sich zunehmend zu be<strong>de</strong>utsamen Kooperationspartnern<br />

für an<strong>de</strong>re Rehabilitationseinrichtungen innerhalb <strong>de</strong>s Hilfesystems.<br />

2.4 Die gesellschaftliche Ebene<br />

Auf <strong>de</strong>r vierten Ebene <strong>de</strong>s sozialisatorischen Beziehungsgefüges<br />

sind die gesellschaftlichen Bedingungen verortet, wobei in die „sozi-<br />

alpolitische Organisation zum Nachteilsausgleich und die gesell-<br />

schaftliche Einstellung(sän<strong>de</strong>rung) gegenüber behin<strong>de</strong>rten Men-<br />

schen im Sinne einer Überwindung ihrer Beson<strong>de</strong>rung und damit<br />

<strong>de</strong>r Entstigmatisierung“ (BERGEEST 1999, 232) differenziert<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Im Rahmen <strong>de</strong>r sozialpolitischen Organisation sind<br />

vor allem die an <strong>de</strong>n historisch gewachsenen Paradigmen ori-<br />

- 73 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

entierten Rechtsansprüche beeinträchtigter Menschen zu nennen,<br />

die im Sozialgesetzbuch (SGB), <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>ssozialhilfegesetz<br />

(BSHG) und <strong>de</strong>m Gesetz zur Sicherung <strong>de</strong>r Einglie<strong>de</strong>rung Schwer-<br />

behin<strong>de</strong>rter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (SchwbG) verankert<br />

sind. Für die Ebene <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Einstellung gegenüber<br />

Menschen mit Beeinträchtigungen ist in Bezug auf Körperbe-<br />

hin<strong>de</strong>rungen vor allem die meist vorhan<strong>de</strong>ne Visibilität <strong>de</strong>r Schädi-<br />

gung von Relevanz (vgl. CLOERKES 2001, 6f). Auf die Be<strong>de</strong>utung<br />

an<strong>de</strong>rer grundlegen<strong>de</strong>r Aspekte <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Einstellung<br />

gegenüber körperlicher Schädigung kann an dieser Stelle nur<br />

verwiesen wer<strong>de</strong>n. So haben sowohl die Stigmatheorie GOFFMANs<br />

(2002) als auch ihre Weiterentwicklung und i<strong>de</strong>ntitätsspezifische<br />

Akzentuierung durch FREY (1983) dazu beigetragen, „die Mühen<br />

betroffener körperbehin<strong>de</strong>rter Menschen zu einem Ausgleich zwi-<br />

schen ihren gespürten Bedürfnissen und <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen ihrer<br />

Umwelt zu gelangen“ (BERGEEST 1999, 236) zu beschreiben.<br />

Es ist davon auszugehen, dass die gesellschaftliche Sozialisations-<br />

ebene in Bezug auf progrediente Erkrankungen neben <strong>de</strong>n<br />

generellen Aspekten <strong>de</strong>s Umgangs mit Schädigung und Be-<br />

hin<strong>de</strong>rung vor allem durch <strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>s vorgezogenen To<strong>de</strong>s in<br />

beson<strong>de</strong>rer Weise akzentuiert ist. Zusammenfassend kann von<br />

einer gewissen Ambivalenz im Umgang mit Sterben und Tod aus-<br />

gegangen wer<strong>de</strong>n. So steht auf <strong>de</strong>r einen Seite die These von <strong>de</strong>r<br />

Verdrängung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft: Der Tod<br />

wird „ignoriert, verdrängt, tabuisiert, verschleiert, beschönigt,<br />

verharmlost, maskiert, bagatellisiert, verobjektiviert, privatisiert,<br />

entöffentlicht und entexistentialisiert“ (ARENS 1994, 25). ARIÈS<br />

bezeichnet diese Entwicklung als Ausbürgerung und „Verwil<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s“ (1999, 716), die in westlichen Gesellschaften von Aus-<br />

- 74 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

grenzung, Institutionalisierung und Anonymisierung <strong>de</strong>s Sterbens<br />

gekennzeichnet sei.<br />

Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite wird vor allem aus soziologischer Perspektive<br />

die Undifferenziertheit und inhaltliche Pauschalisierung <strong>de</strong>r Ver-<br />

drängungsthese kritisiert. Hinzu kommen neue Wege in<br />

Bestattungskultur und Totenge<strong>de</strong>nken, die als Anzeichen eines Pro-<br />

zesses ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n können, „in <strong>de</strong>ssen Verlauf sich zeitgemä-<br />

ße, sicher individuelle Formen <strong>de</strong>s gemeinschaftlichen Abschieds<br />

von verstorbenen Angehörigen, Freun<strong>de</strong>n und Mitmenschen entwi-<br />

ckeln könnten“ (ORTMANN 1999, 388). Neben <strong>de</strong>r offensichtlichen<br />

Notwendigkeit eines differenzierten Diskurses über gesellschaftliche<br />

Ten<strong>de</strong>nzen im Umgang mit thanatalen Themen ist <strong>de</strong>r Tod im<br />

Kin<strong>de</strong>s- o<strong>de</strong>r Jugendalter durch beson<strong>de</strong>re Merkmale gekennzeich-<br />

net.<br />

Als entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Kriterium <strong>de</strong>s frühen To<strong>de</strong>s gilt das gesell-<br />

schaftliche Unverständnis angesichts <strong>de</strong>r scheinbaren Sinnlosigkeit<br />

eines To<strong>de</strong>s im Kin<strong>de</strong>s- und Jugendalter. Wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Tod historisch<br />

betrachtet in allen Kulturen und zu allen Zeiten als ein beson<strong>de</strong>res<br />

Ereignis verstan<strong>de</strong>n und interpretiert, so scheint er „in unserer Zeit<br />

seinen Sinn verloren“ (CHUN 2000, 8) zu haben. Ist diese Feststel-<br />

lung eher grundsätzlicher Art, so scheint ein früher Tod auf Grund<br />

<strong>de</strong>s ‚noch nicht gelebten Lebens’ in einem beson<strong>de</strong>ren Maße sinnlos<br />

und unfassbar. So ist <strong>de</strong>r Tod in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft<br />

zunehmend ein Phänomen <strong>de</strong>s hohen Alters gewor<strong>de</strong>n. Die allge-<br />

meinen Ängste und sozialen Umgangsweisen mit Lebensbedrohung,<br />

Leid, Sterben und Tod scheinen sich <strong>de</strong>shalb zu potentieren, wenn<br />

ein junger Mensch betroffen ist. So übertrifft die Intensität <strong>de</strong>r<br />

Trauer um ein gestorbenes Kind, „im Durchschnitt wahrscheinlich<br />

alle an<strong>de</strong>ren Typen [von Trauer; Anm. S.J.] in mo<strong>de</strong>rnen Indust-<br />

riegesellschaften“ (FELDMANN 1997, 58). Der Tod eines Kin<strong>de</strong>s<br />

- 75 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

„gilt schon beinahe als ein obszönes Ereignis, als eine Last, die<br />

durchschnittliche Eltern nicht zu tragen erwarten“ (BÜRGIN 1981,<br />

28). Die überwiegen<strong>de</strong> Interpretation <strong>de</strong>s Sterbens eines Kin<strong>de</strong>s als<br />

zu frühes, abnormes, ungerechtes und unverständliches Sterben,<br />

ist im Gegensatz zu früheren Gesellschaft auch dadurch bedingt,<br />

dass Kin<strong>de</strong>r stärker als Bestandteil <strong>de</strong>r eigenen I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>r<br />

Erwachsenen begriffen wer<strong>de</strong>n. Die Erwartung eines frühen To<strong>de</strong>s<br />

auf Grund einer progredienten Erkrankung be<strong>de</strong>utet somit immer<br />

auch die Bedrohung <strong>de</strong>r adulten I<strong>de</strong>ntität.<br />

Außer<strong>de</strong>m besteht in unserer Gesellschaft die weit verbreitete Auf-<br />

fassung, dass Kindheit „eine sorglose glückliche Zeit sei“ (ORBACH<br />

1990, 27). Krankheit, Leid und Tod passen nicht in diese Vorstel-<br />

lung von Kindheit. Diese Tatsache unterstützt einen Umgang mit<br />

<strong>de</strong>m Themenkreis Kin<strong>de</strong>r und Tod, <strong>de</strong>r die Integration schmerz-<br />

haften, krankheitsspezifischen und sich auf einen frühen Tod zu be-<br />

wegen<strong>de</strong>n Erlebens von Kin<strong>de</strong>rn nur schwer in das vorherrschen<strong>de</strong><br />

Diktat von Unversehrtheit, Glück, Lebensbeginn und Zukunftspla-<br />

nung zu leisten vermag. Dies hat zur Konsequenz, dass die un-<br />

mittelbar betroffenen Kin<strong>de</strong>r, Jugendlichen, Eltern und Geschwister-<br />

kin<strong>de</strong>r häufig keinen sozial <strong>de</strong>finierten Platz vorfin<strong>de</strong>n, „einen Raum<br />

in unserer Gesellschaft, in <strong>de</strong>m sie alle Gefühle mitteilen, aus-<br />

drücken und leben dürfen“ (WIESE 2003, 10). Die im vorange-<br />

gangenen Abschnitt bereits erwähnte Kin<strong>de</strong>rhospizbewegung hat<br />

auch hier entschei<strong>de</strong>nd dazu beigetragen <strong>de</strong>n scheinbaren Gegen-<br />

satz von Kindheit, Jugend und Leid stärker in das öffentliche Be-<br />

wusstsein zu rücken.<br />

Zur Situation <strong>de</strong>r betroffenen Kin<strong>de</strong>r und Jugendlichen sei ab-<br />

schließend konstatiert, dass die „Sozialisationsbedingungen im<br />

westlichen Kulturkreis auf die individuelle und zwischenmenschliche<br />

Verarbeitung <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sgewißheit nicht so vorbereiten, daß sich<br />

- 76 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

jene schmerzhafte Umstrukturierung <strong>de</strong>r Lebenskonzepte erübrigen<br />

wür<strong>de</strong>“ (SCHMEICHEL 1983, 226), die von KÜBLER-ROSS (1971) in<br />

ihrem Phasenmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Trauerverarbeitung beschrieben wur<strong>de</strong>.<br />

2.5 Die sinngeben<strong>de</strong> Ebene<br />

„Sozialisation ist ein Prozeß, <strong>de</strong>r für je<strong>de</strong>n Menschen (bewußt o<strong>de</strong>r<br />

unbewußt) auf <strong>de</strong>r allen Ebene übergeordneten Metaebene mit <strong>de</strong>r<br />

Sinnfrage <strong>de</strong>r Existenz verknüpft ist, wie sie nur <strong>de</strong>r Mensch stellen<br />

kann“ (BERGEEST 1999, 236). Die Frage nach <strong>de</strong>m Wohin und<br />

Warum <strong>de</strong>s Lebens wird gera<strong>de</strong> von kranken und körperlich einge-<br />

schränkten Menschen meist sehr viel früher gestellt als von ihren<br />

Mitmenschen. Häufig steht hinter dieser Reflexion metaphysischer<br />

Dimensionen <strong>de</strong>r Wunsch, das vermeintliche An<strong>de</strong>rs- o<strong>de</strong>r So-sein<br />

im Abgleich mit <strong>de</strong>r Situation <strong>de</strong>r Mitmenschen zu verstehen, um so<br />

im günstigsten Fall zu einer sinnerfüllten Gestaltung <strong>de</strong>s eigenen<br />

Selbst zu gelangen. Gera<strong>de</strong> in jüngeren Altergruppen ist davon<br />

auszugehen, dass die individuelle Ausgestaltung <strong>de</strong>r Krankheitskon-<br />

zepte und somit auch <strong>de</strong>r Sinnfrage <strong>de</strong>r Betroffenen „stark durch<br />

die unmittelbare soziale Umgebung geprägt ist“ (LOHAUS 1996,<br />

10).<br />

Auch auf dieser Ebene lassen sich Spezifika <strong>de</strong>r Sozialisation<br />

progredient erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher herausarbeiten, die<br />

wie<strong>de</strong>rum vor allem im Kontext <strong>de</strong>r Bedrohung <strong>de</strong>s Lebens<br />

anzusie<strong>de</strong>ln sind. So ist davon auszugehen, dass sich progredient<br />

erkrankte Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche je<strong>de</strong>n Alters mit <strong>de</strong>r Beson<strong>de</strong>rheit<br />

ihrer Lebenssituation und <strong>de</strong>n hiermit konnotierten Sinnfragen<br />

auseinan<strong>de</strong>rsetzen.<br />

Betrachtet man die Entwicklung <strong>de</strong>s altersspezifischen To<strong>de</strong>sver-<br />

ständnisses so kann zu Beginn <strong>de</strong>r Grundschulzeit die Vorstellung<br />

<strong>de</strong>s Verlustes <strong>de</strong>r nächsten Angehörigen auf Grund eines ersten<br />

- 77 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Verständnisses von <strong>de</strong>r Endgültigkeit <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s Traurigkeit und<br />

Verbitterung hervorrufen. Die Angst vor <strong>de</strong>m eigenen Tod äußert<br />

sich zum Beispiel in <strong>de</strong>m Wunsch, „nie älter zu wer<strong>de</strong>n und immer<br />

klein (jung) zu bleiben“ (DAUT 1980, 256). Diese Angst kann nach<br />

<strong>de</strong>m sechsten Lebensjahr zunehmen, wobei sich das Bewusstsein<br />

für <strong>de</strong>n bevorstehen<strong>de</strong>n Tod differenzierter entwickelt und das Kind<br />

bereit ist, sich zu diesen Vorstellungen zu äußern. In <strong>de</strong>r Ausein-<br />

an<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>m Sinn <strong>de</strong>s nahen<strong>de</strong>n To<strong>de</strong>s<br />

scheinen sich progredient erkrankte Kin<strong>de</strong>r im Prinzip nicht an<strong>de</strong>rs<br />

zu verhalten als Erwachsene: „Sie zeigen Zorn, Schuldgefühle und<br />

Verneinung. Man muß also stets mit <strong>de</strong>r Möglichkeit rechnen, daß<br />

totbezogene Ängste, Wut und Schuldgefühle nicht nur offen ge-<br />

äußert wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sich in versteckter Form manifestieren“<br />

(WITTKOWSKI 1990, 139). Während in <strong>de</strong>r Altersphase zwischen<br />

<strong>de</strong>m zehnten und zwölften Lebensjahr häufig eine Stagnation in <strong>de</strong>r<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m eigenen Sterben zu beobachten ist,<br />

da die konkreten Erfor<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Lebenswelt im Vor<strong>de</strong>rgrund<br />

stehen, setzt in <strong>de</strong>r anschließen<strong>de</strong>n frühen Adoleszenz eine intensi-<br />

ve Sinnsuche bezogen auf das eigene Leben ein. Die Frage nach<br />

<strong>de</strong>r individuellen Sinnhaftigkeit scheint bei progressiv erkrankten<br />

Jugendlichen durch die Beschäftigung mit <strong>de</strong>r eigenen Endlichkeit<br />

und <strong>de</strong>r Reflexion <strong>de</strong>r eigenen Biographie in beson<strong>de</strong>rs intensiver<br />

Weise angeregt zu wer<strong>de</strong>n. Das spezifische Ziel <strong>de</strong>r Sinnsuche be-<br />

steht hier in <strong>de</strong>r „Annahme <strong>de</strong>s Lebens in seiner unaufhebbaren Be-<br />

grenztheit“ (SCHMEICHEL 1978b, 35). BROCHER zitiert einen<br />

achtzehnjährigen Jugendlichen mit folgen<strong>de</strong>r Aussage:<br />

„Weil ich weiß, daß ich sterben muß, muß ich mein Leben<br />

nutzen. Nach <strong>de</strong>m Sinn meines Lebens fragen (…)“<br />

(BROCHER 1985, 54).<br />

- 78 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Die I<strong>de</strong>ntitätssuche geht mit <strong>de</strong>m Bemühen um Abgrenzung von<br />

<strong>de</strong>n erwachsenen Bezugspersonen einher, da die dort gelebten<br />

Wertesysteme mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Jugendlichen kollidieren. Insofern ist<br />

es problematisch, die thanatale Thematik mit <strong>de</strong>r ihr eigenen<br />

Trennungsproblematik in <strong>de</strong>r Familie zu bewältigen, „vor allem in<br />

einer Lebensphase, in <strong>de</strong>r Jugendliche sich von <strong>de</strong>n Eltern trennen<br />

wollen, nicht aber vom Leben selbst“ (NEDER-VON DER GOLTZ<br />

2001, 129). Die emotionale Distanzierung kann im Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>n häufig schwierigen, meist nicht befriedigend zu beant-<br />

worten<strong>de</strong>n Fragen nach <strong>de</strong>m Sinn <strong>de</strong>s frühen To<strong>de</strong>s zu De-<br />

pressionen, Ängsten und sozialem Rückzug führen. So können sich<br />

die betroffenen Jugendlichen um die Erfahrungen eines langen<br />

Lebens beraubt fühlen und auch verdrängen<strong>de</strong> Bewältigungsme-<br />

chanismen o<strong>de</strong>r gesteigerte Empfindlichkeit im Kontakt mit <strong>de</strong>n<br />

Menschen ihres Umfel<strong>de</strong>s aufzeigen. Die mit <strong>de</strong>m Krankheitsverlauf<br />

zunehmen<strong>de</strong> Fokussierung <strong>de</strong>s Gegenwartsbezuges kann dazu füh-<br />

ren, dass Äußerungen <strong>de</strong>r Jugendlichen über Zukunftsvorstellungen<br />

„zunehmend zaghafter, unbestimmter (wer<strong>de</strong>n) o<strong>de</strong>r sie bezeugen<br />

Umfang und Wirksamkeit irrealen Wunsch<strong>de</strong>nkens“ (SCHMEICHEL<br />

1978a, 84). Die Lebensbegrenzung löst nach SCHMEICHEL eine<br />

„Zielkrise“ aus, die sich „unter <strong>de</strong>r progressiven Ausgrenzung von<br />

körperlichen Leistungen zur I<strong>de</strong>ntitätskrise“ (SCHMEICHEL 1978a,<br />

88) verschärfen kann.<br />

Es scheint evi<strong>de</strong>nt, dass die Begrenzung <strong>de</strong>r Lebenszeit die Basis<br />

für die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r sinnhaft-inhaltlichen Dimension<br />

<strong>de</strong>s Lebens für junge Menschen mit begrenzter Lebenserwartung<br />

darstellt.<br />

- 79 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

3 Konsequenzen für die pädagogische Begleitung<br />

progredient erkrankter Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen<br />

Neben <strong>de</strong>n allgemeinen Empfehlungen zur (son<strong>de</strong>r-)pädagogischen<br />

För<strong>de</strong>rung von Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />

För<strong>de</strong>rschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung festge-<br />

stellt wur<strong>de</strong>, formuliert die KMK auch einen spezifischen För<strong>de</strong>rbe-<br />

darf für progredient erkrankte Schülerinnen und Schüler:<br />

„Die beson<strong>de</strong>re Lebenssituation von Schülerinnen und Schü-<br />

lern mit fortschreiten<strong>de</strong>n Erkrankungen und mit begrenzter<br />

Lebenserwartung erfor<strong>de</strong>rt eine intensive pädagogische Be-<br />

gleitung auf <strong>de</strong>r Suche nach Möglichkeiten einer sinnvollen<br />

Lebensgestaltung und <strong>de</strong>r Befriedigung <strong>de</strong>r aktuellen Bedürf-<br />

nisse. Einige können aufgrund <strong>de</strong>r speziellen Beeinträchtigung<br />

nicht regelmäßig die Schule besuchen und erhalten ggf. Haus-<br />

unterricht. Das Unterrichtsangebot muß <strong>de</strong>r jeweiligen Bedürf-<br />

nislage <strong>de</strong>r Schülerin bzw. <strong>de</strong>s Schülers angepaßt wer<strong>de</strong>n“<br />

(KMK 1998, 5).<br />

Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche mit progredienten Erkrankungen wer<strong>de</strong>n in<br />

sämtlichen Schulformen unterrichtet. Meist sind sie jedoch in<br />

För<strong>de</strong>rschulen mit <strong>de</strong>m Schwerpunkt körperliche und motorische<br />

Entwicklung anzutreffen o<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n durch Fachkräfte <strong>de</strong>r<br />

För<strong>de</strong>rzentren mit diesem Schwerpunkt betreut. Die o.g. För<strong>de</strong>r-<br />

schulform stellt häufig <strong>de</strong>n geeigneten Lern- und Lebensort für<br />

Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche mit eingeschränkter Lebenserwartung dar,<br />

da <strong>de</strong>n Schülerinnen und Schülern in dieser Schulform beson<strong>de</strong>re<br />

Aufmerksamkeit gewidmet wer<strong>de</strong>n kann. „Im Rahmen <strong>de</strong>r rich-<br />

tungsweisen<strong>de</strong>n Lehrpläne können bedürfnisorientiert verän<strong>de</strong>rte<br />

didaktische Schwerpunkte gesetzt wer<strong>de</strong>n“ (ORTMANN/JENNESSEN<br />

2003, 8). Die Begründung für <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Regel empfohlenen<br />

- 80 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

För<strong>de</strong>rort Schule mit Schwerpunkt körperliche und motorische<br />

Entwicklung – häufig nach <strong>de</strong>m vorherigen Besuch <strong>de</strong>r Grundschule<br />

– leitet sich aus <strong>de</strong>n umfangreichen, differenzierten und gera<strong>de</strong><br />

Aspekte <strong>de</strong>r Persönlichkeitsför<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Betroffenen explizit zu<br />

berücksichtigen<strong>de</strong>n Dimensionen <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung ab.<br />

3.1 Dimensionen <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung progressiv erkrankter<br />

Schülerinnen und Schüler<br />

Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche mit progredienten Erkrankungen sind ins-<br />

beson<strong>de</strong>re in unmittelbar präthanatalen Lebenssituationen auf päd-<br />

agogische Hilfen angewiesen. Dieser Hilfebedarf erwächst aus <strong>de</strong>n<br />

radikalen Auswirkungen fortschreiten<strong>de</strong>r Erkrankungen auf das<br />

Leben <strong>de</strong>r Betroffenen. „Sie bestimmen und verän<strong>de</strong>rn die gesamte<br />

Lebenssituation, die Beziehung zu sich selbst, die Beziehungen zu<br />

an<strong>de</strong>ren Menschen und zur Umwelt“ (ISB 1993, 18). Die benötigten<br />

Hilfen gilt es im Sinne eines ganzheitlichen För<strong>de</strong>ransatzes zusam-<br />

menzuführen und in ein <strong>de</strong>n jeweiligen För<strong>de</strong>rbedürfnissen entspre-<br />

chen<strong>de</strong>s För<strong>de</strong>rangebot zu integrieren. Zur Differenzierung <strong>de</strong>r ein-<br />

zelnen För<strong>de</strong>rdimensionen wer<strong>de</strong>n im Folgen<strong>de</strong>n nachstehen<strong>de</strong><br />

För<strong>de</strong>rbereiche geson<strong>de</strong>rt betrachtet:<br />

· Psycho-emotionale Begleitung<br />

· För<strong>de</strong>rung leistungsbezogener Fähigkeiten<br />

· För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Copings<br />

3.1.1 Psycho-emotionale Begleitung<br />

Die schulpädagogische Begleitung progredient erkrankter Kin<strong>de</strong>r<br />

und Jugendlicher stellt eine anspruchsvolle Aufgabe für Lehrkräfte<br />

dar, da sie die Konfrontation mit einer Problemstellung be<strong>de</strong>utet,<br />

- 81 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

die nicht per se Bestandteil <strong>de</strong>r originären Lehrerrolle ist. Schule<br />

erhält hier die Aufgabe, heranwachsen<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn nicht nur die im<br />

traditionellen Sinne lebensvorbereiten<strong>de</strong> Hilfen zu geben, son<strong>de</strong>rn<br />

vom Tod bedrohten Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen auch Begleitung in<br />

Phasen <strong>de</strong>s sukzessiven Abschieds vom Leben zu gewähren.<br />

Der Begriff <strong>de</strong>r Begleitung als pädagogische Aufgabe lässt sich im<br />

Sinne SEIFERTs (1991) von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Pflege, Betreuung und<br />

För<strong>de</strong>rung abgrenzen, da diese gewisse Abhängigkeiten auf Seiten<br />

<strong>de</strong>r Schwächeren konstituieren. Begleitung ist dagegen als Angebot<br />

gemeint, mit <strong>de</strong>m betroffenen Kind o<strong>de</strong>r Jugendlichen „ein Stück<br />

seines Weges durch die Krankheit o<strong>de</strong>r im Sterben mitzugehen“<br />

(SEIFERT 1991, 505).<br />

AUE/BADER/LÜHMANN (1995) führen Aspekte <strong>de</strong>r Betreuung<br />

lebensbedrohlich erkrankter Menschen an, die sich auch für die<br />

schulpädagogische Begleitung progressiv erkrankter Kin<strong>de</strong>r und<br />

Jugendlicher adaptieren lassen. So kann bzw. sollte Begleitung für<br />

die Betroffenen bieten:<br />

• „Solidarität<br />

• Kontakt und Nähe<br />

• Möglichkeit zum Gespräch über existentielle Fragen<br />

• Klärung<br />

• Entlastung<br />

• Hilfe bei <strong>de</strong>r Aktivierung eigener Kräfte für die weitere<br />

Lebensplanung und –gestaltung<br />

• Orientierungshilfe im Hinblick auf verschie<strong>de</strong>ne Hilfsmöglichkei-<br />

ten<br />

- 82 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


• Praktische Hilfeleistung“<br />

Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

(AUE/BADER/LÜHMANN 1995, 200)<br />

SCHMEICHEL (1978a, 1983) hat mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r pädago-<br />

gischen Koexistenz einen Handlungsansatz in <strong>de</strong>r wissenschaftli-<br />

chen Diskussion geprägt, <strong>de</strong>r geeignet scheint, eine Form <strong>de</strong>r Be-<br />

gleitung zu <strong>de</strong>finieren, bei <strong>de</strong>r es „nicht wie im traditionellen<br />

Schulbetrieb um die Sicherung <strong>de</strong>s kindlichen Bildungsanspruches<br />

mit Perspektive auf sein späteres Erwachsenenleben“ geht, son<strong>de</strong>rn<br />

um die „Sicherung <strong>de</strong>s kindlichen Existenzanspruches“ (ORTMANN<br />

1995, 162). Koexistenz meint hier „die Beziehung Einzelner zu kon-<br />

kreten gemeinschaftlichen Wirkformen, ohne dass bereits ein<br />

großes übergeordnetes Ganzes als Legitimation für die gegenseitige<br />

Zuwendung zur Verfügung stehen muß“ (SCHMEICHEL 1978a, 92).<br />

Gera<strong>de</strong> angesichts zukunftsorientierter Bildungsprozesse in Schulen<br />

sind perspektivische Partizipations- und Motivationsprobleme pro-<br />

gredient erkrankter Schülerinnen und Schüler zu beobachten,<br />

<strong>de</strong>nen in dialogischen Beziehungen Gegenwartsbezug und Sinnhaf-<br />

tigkeit entgegengesetzt wer<strong>de</strong>n kann. Hierzu bedarf es <strong>de</strong>s Dia-<br />

loges und <strong>de</strong>r Kooperation mit allen am Prozess Beteiligten, um<br />

stabilisieren<strong>de</strong> und stützen<strong>de</strong> Maßnahmen und Hilfen zu initiieren<br />

und zu offerieren. SCHMEICHEL postuliert pädagogische Koexistenz<br />

als Möglichkeit <strong>de</strong>r Interaktion, die „die Thematik <strong>de</strong>r Situation ein-<br />

bezieht und durch diesen Bezug die Persönlichkeit <strong>de</strong>s Kranken<br />

nicht vor seinem Tod zerfallen lässt“ (SCHMEICHEL 1983, 228).<br />

Neben antizipieren<strong>de</strong>r Trauerarbeit kommt <strong>de</strong>r Unterstützung <strong>de</strong>r<br />

Sinnfindung angesichts <strong>de</strong>r Notwendigkeit kontinuierlicher Neube-<br />

wertungsprozesse <strong>de</strong>s Selbst durch die stetige Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />

eigenen Physis beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung zu. Folgen<strong>de</strong> Abbildung<br />

- 83 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

ver<strong>de</strong>utlicht die sinnbezogenen Aufgabenstellung in <strong>de</strong>r pädago­<br />

gischen Begleitung progredient erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher:<br />

Der im Sinne pädagogischer Koexistenz notwendige Einbezug <strong>de</strong>r<br />

thanatalen Thematik in die Interaktionsprozesse ist häufig<br />

erschwert, da in <strong>de</strong>r Begleitung lebensbedrohlich erkrankter Men­<br />

schen die begleiten<strong>de</strong>n Bezugspersonen regelmäßig vieles von <strong>de</strong>m<br />

mit vollziehen, was die Erkrankten bewegt: „Ebenso wie dieser bi­<br />

lanziert er [<strong>de</strong>r Begleiten<strong>de</strong>; Anm. S.J.] sein Leben, fragt nach <strong>de</strong>m<br />

Sinn <strong>de</strong>s Lebens, wird sich seiner eigenen Sterblichkeit bewußt und<br />

überprüft seine persönliche Einstellung zu Tod und Sterben“<br />

(AUE/BADER/LÜHMANN 1995, 205). Da diese Reflexionsprozesse<br />

jedoch häufig schmerzhaft sind, da vergangene, möglicherweise<br />

unbewältigte Verlust- und Trauererfahrungen tangiert wer<strong>de</strong>n, be­<br />

steht die Gefahr <strong>de</strong>r Verdrängung dieser gedanklichen Prozesse,<br />

was wie<strong>de</strong>rum eine weitgehen<strong>de</strong> Tabuisierung <strong>de</strong>r Thematik und<br />

die Erschwerung interpersonaler Auseinan<strong>de</strong>rsetzung bedingt (vgl.<br />

SCHWEIZER/NIEDERMANN 2000, 111). Spüren progressiv er­<br />

krankte Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche, dass ihre Bezugspersonen nicht<br />

bereit sind, über Sterben und Tod zu sprechen, „schweigen sie aus<br />

Angst vor <strong>de</strong>m Verlust <strong>de</strong>r wichtigsten Bezugspersonen. Das<br />

Schweigen dieser Kin<strong>de</strong>r stellt einen vergeblichen Versuch dar, sich<br />

- 84 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

gegen soziale Isolierung, emotio-nale Kälte und ihre eigene Annu-<br />

lierung zu schützen“ (ORTMANN 1995, 163). Die Vemeidung von<br />

Artikulationsangeboten durch Pädagogen und Pädagoginnen für<br />

thanatale Themen be<strong>de</strong>utet „Kommunikationsverweigerung und<br />

vereitelt <strong>de</strong>n Aufbau von Koexistenz“ (SCHMEICHEL 1983, 229)<br />

und ist zugleich „ein Übersehen und Nichtbeantworten von Zeichen,<br />

die gesetzt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r geäußert wer<strong>de</strong>n, um mitmenschliche Zu-<br />

wendung und Anwesenheit in dieser schweren Situation zu erbitten<br />

und auch zu ermöglichen“ (SCHMEICHEL 1978b, 39).<br />

DAUT verweist in diesem Kontext auch auf die offene und ehrliche<br />

Information <strong>de</strong>s betroffenen Kin<strong>de</strong>s über seinen Gesundheitszu-<br />

stand. Hierbei gibt er jedoch zu be<strong>de</strong>nken, dass die Mitteilung <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit immer auch Raum für Hoffnung bieten muss, „ohne die<br />

kein Mensch überleben kann“ (DAUT 2001a, 390; vgl. DAUT 2005).<br />

Generell geht es im Sinne pädagogischer Koexistenz nicht um die<br />

Fixierung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s als En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lebens, son<strong>de</strong>rn um die Wahr-<br />

nehmung und das dialogisch-partnerschaftliche Aufgreifen <strong>de</strong>r ver-<br />

mittelten kommunikativen Signale <strong>de</strong>r betroffenen Schülerinnen<br />

und Schüler. Diese können in unterschiedlichster Weise und in di-<br />

vergieren<strong>de</strong>n Offenheitsgra<strong>de</strong>n geäußert wer<strong>de</strong>n. Die Aufgabe <strong>de</strong>r<br />

pädagogischen Begleitung <strong>de</strong>r Betroffenen besteht zum einen darin<br />

sensibel zu sein für nonverbale o<strong>de</strong>r auch verbale Signale, die „eine<br />

intensive Auseinan<strong>de</strong>rsetzung eines progredient erkrankten Kin<strong>de</strong>s<br />

mit <strong>de</strong>m Tod auch schon in jüngeren Jahren anzeigen können“<br />

(SCHUBERT 1996, 23). Häufig wird in symbolischen Darstellungen<br />

nicht nur die psychische, son<strong>de</strong>rn auch die subjektiv erlebte<br />

physische Situation <strong>de</strong>r Betroffenen zum Ausdruck gebracht.<br />

SEIFERT warnt davor, symbolische Ausdrucksformen erkrankter<br />

Kin<strong>de</strong>r fehl zu interpretieren, in<strong>de</strong>m „Ungewohntes unbedacht mit<br />

<strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r Verhaltensauffälligkeit o<strong>de</strong>r –störung in Verbindung<br />

- 85 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

gebracht und damit das lebensbedrohlich erkrankte Kind zum Sym-<br />

ptomträger einer Interaktionsstörung <strong>de</strong>gradiert wird“ (SEIFERT<br />

1991, 507). Vielmehr gilt es, diese auffälligen Signale als Ausdruck<br />

existentieller Not zu interpretieren und in <strong>de</strong>r schulischen Be-<br />

gleitung Räume zu schaffen, in <strong>de</strong>nen die Betroffenen „diese<br />

Verzweiflung ungestraft herausschreien und heraustoben“ (DAUT<br />

2001b, 438) können.<br />

Über die Beziehungsgestaltung zwischen Pädagogen und Pädago-<br />

ginnen sowie <strong>de</strong>m erkrankten Kind o<strong>de</strong>r Jugendlichen hinaus gilt<br />

<strong>de</strong>r Verbleib im sozialen Interaktionskontext und die Erfüllung un-<br />

terschiedlicher sozialer Rollen als be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> pädagogische Auf-<br />

gabe (vgl. NEDER-VON DER GOLTZ 2001, 188). Für eine im i<strong>de</strong>nti-<br />

tätsför<strong>de</strong>rlichen Sinne gestaltete schulische För<strong>de</strong>rung ist zu beach-<br />

ten, dass auch während Krankenhausaufenthalten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Abwesenheit <strong>de</strong>s betroffenen Schülers o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schülerin wegen<br />

medizinischer, therapeutischer o<strong>de</strong>r rehabilitativer Maßnahmen <strong>de</strong>r<br />

Kontakt zur schulischen Bezugsgruppe aufrechterhalten wer<strong>de</strong>n<br />

sollte. Neuere Kooperationsprojekte zwischen Kliniken und Schulen<br />

bieten hier sinnvolle Ansätze (vgl. UNIVERSITÄT BONN/FTLK o.J.).<br />

Pädagogisch koexistentiell gestaltete Beziehungen erhalten oftmals<br />

ihre Begrenzung zu einem Zeitpunkt, wenn Schülerinnen und Schü-<br />

ler in unmittelbar präthanatalen Lebensabschnitten nicht mehr zum<br />

Schulbesuch in <strong>de</strong>r Lage sind. Gera<strong>de</strong> hier bedürfen sie jedoch <strong>de</strong>r<br />

Kontinuität gewachsener Beziehungen, was für die begleiten<strong>de</strong>n<br />

Lehrkräfte eine Erweiterung ihres pädagogischen Auftrages über<br />

<strong>de</strong>n schulischen Rahmen hinaus impliziert. Für die mit dieser Auf-<br />

gabe einhergehen<strong>de</strong>n Belastungen sollten die Schulen <strong>de</strong>n Lehre-<br />

rinnen und Lehrern strukturelle und psychosoziale Unterstützung<br />

anbieten.<br />

- 86 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

3.1.2 För<strong>de</strong>rung leistungsbezogener Fähigkeiten<br />

Ausgehend von <strong>de</strong>r Hypothese, dass Schule einem progredient<br />

erkrankten Kind eine Reihe von Chancen bieten kann, die für die<br />

Entwicklung und Ausformung seiner individuellen Copingstrategien<br />

nützlich sind, kommt auch <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung leistungsorientierter<br />

Fähigkeiten als schulpädagogische Aufgabe beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung<br />

zu. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass es für die<br />

Persönlichkeitsentwicklung progredient erkrankter Kin<strong>de</strong>r und<br />

Jugendlicher wichtig ist, sie „auf kulturell-geistiger und<br />

intellektueller Ebene zu för<strong>de</strong>rn“ (NEDER-VON DER GOLTZ 2004,<br />

18). SCHMITT (1991) formuliert neben <strong>de</strong>n im obigen Abschnitt<br />

bereits herausgestellten sozialen Aspekten <strong>de</strong>r Beziehung zu <strong>de</strong>n<br />

begleiten<strong>de</strong>n Lehrpersonen sowie <strong>de</strong>n Peers zwei eng mit diesen<br />

Faktoren verknüpfte zusätzliche positive Charakteristika schulischer<br />

För<strong>de</strong>rung:<br />

• Die Schule ermöglicht Erfolgserlebnisse im Leistungsbereich.<br />

• Die Schule ermöglicht das Erreichen eines qualifizierten<br />

Schulabschlusses.<br />

Allerdings ist es möglich, dass die Leistungsfähigkeit und Leistungs-<br />

bereitschaft <strong>de</strong>r Schülerinnen und Schüler auf Grund <strong>de</strong>r bereits<br />

skizzierten beson<strong>de</strong>ren Belastungsmomente und zusätzlichen<br />

Entwicklungsaufgaben individuell vermin<strong>de</strong>rt sein kann. Auf <strong>de</strong>r<br />

Verhaltensebene lassen sich beispielsweise folgen<strong>de</strong> Ausdrucksvari-<br />

anten <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Situation progressiv erkrankter Kin<strong>de</strong>r und<br />

Jugendlicher beobachten: Schulangst, Leistungsabfall, offene o<strong>de</strong>r<br />

leise Leistungsverweigerung o<strong>de</strong>r in übertriebenem Maße auftre-<br />

ten<strong>de</strong>r Ehrgeiz (vgl. DAUT 2001b, 437ff). Die grundsätzliche Fest-<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

stellung, dass unterrichtsmei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Verhaltensmuster stets multi-<br />

faktoriell bedingt sind, gilt auch für entsprechen<strong>de</strong> Verhaltens-<br />

weisen progredient erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher. Zum Ver-<br />

stehen <strong>de</strong>s in Schule häufig als problematisch bzw. je nach Grad<br />

<strong>de</strong>r Extrinsion auffällig erlebten Verhaltens bedarf es spezifischer,<br />

intensiver för<strong>de</strong>rdiagnostischer Prozesse, die sich niemals auf das<br />

Kind allein, son<strong>de</strong>rn im Sinne einer Kind-Umfeld-Analyse auf die<br />

komplexen Lebensbezüge <strong>de</strong>s jeweiligen Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen<br />

beziehen müssen. Nur so scheint es möglich, <strong>de</strong>n individuellen Be-<br />

dürfnissen und Lern- und Leistungsblocka<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s einzelnen Schü-<br />

lers o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schülerin entsprechen<strong>de</strong> För<strong>de</strong>rbedingungen zu<br />

entwickeln und diese angesichts <strong>de</strong>r sich kontinuierlich verän<strong>de</strong>rn-<br />

<strong>de</strong>n körperlichen wie psychischen Gegebenheiten adäquat zu modi-<br />

fizieren und zu optimieren.<br />

Im Zusammenhang mit Abhängigkeits-Unabhängigkeitskonflikten<br />

können verschie<strong>de</strong>ne Verweigerungshaltungen von Schülern und<br />

Schülerinnen interpretiert wer<strong>de</strong>n, wobei Leistungsverweigerung<br />

ein Symptom dafür sein kann, dass „ein chronisch kranker Jugend-<br />

licher um Autonomie und Ablösung kämpft“ (SCHMITT 1991, 500).<br />

Aber auch die subjektive Wahrnehmung <strong>de</strong>s spezifischen An<strong>de</strong>rss-<br />

eins auf Grund einer fortschreiten<strong>de</strong>n Erkrankung kann Selbstwert-<br />

probleme und Selbstwertkrisen und daraus resultieren<strong>de</strong> Schulleis-<br />

tungsprobleme bedingen.<br />

Auf <strong>de</strong>r Grundlage differenzierter Einzelfallanalysen konnte festge-<br />

stellt wer<strong>de</strong>n, dass die Bewältigung <strong>de</strong>r eigenen fortschreiten<strong>de</strong>n<br />

Erkrankung ein solch hohes Maß an Lebensenergie erfor<strong>de</strong>rt, dass<br />

häufig keine hinreichen<strong>de</strong>n Energien zur Verfügung stehen, „um<br />

<strong>de</strong>n entwicklungsangemessen schulischen Lernstoff zu bewältigen“<br />

(ORTMANN/JENNESSEN 2003, 190). Auch NEDER-VON DER GOLTZ<br />

sieht in dieser Tatsache Konzentrationsstörungen im Unterricht, das<br />

- 88 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Abdriften in Tagträumereien o<strong>de</strong>r das Versinken in eigene Ge-<br />

danken begrün<strong>de</strong>t (vgl. NEDER-VON DER GOLTZ 2001, 205). Hier<br />

ist es unbedingt erfor<strong>de</strong>rlich, das Wissen um diese intrapsychischen<br />

Zusammenhänge in Leistungsbewertungen mit einfließen zu lassen<br />

und weitere selbstwertmin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Konsequenzen wie Klassen-<br />

wie<strong>de</strong>rholungen möglichst zu vermei<strong>de</strong>n.<br />

Ebenso heterogen wie die Persönlichkeitsstrukturen und ökosyste-<br />

mischen Lebensbedingungen fortschreitend erkrankter Kin<strong>de</strong>r und<br />

Jugendlicher zeigen sich auch <strong>de</strong>ren Bedürfnisse, Kompetenzen und<br />

Erwartungen an schulische Leistungen. Ist es einigen Schülerinnen<br />

und Schülern aufgrund <strong>de</strong>s Wunsches nach Partizipation an einem<br />

„normalen“ Leben und <strong>de</strong>r mit Leistungserfolgen verbun<strong>de</strong>nen Ge-<br />

fühlen <strong>de</strong>r Selbstaufwertung wichtig, so lange wie möglich schu-<br />

lische Leistung zu erbringen, be<strong>de</strong>utet an<strong>de</strong>ren Betroffenen <strong>de</strong>r<br />

Leistungsaspekt weniger.<br />

Auf Grund <strong>de</strong>r einleitend skizzierten potentiellen Be<strong>de</strong>utung schu-<br />

lischen Leistungserlebens betroffener Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher be-<br />

<strong>de</strong>utet dies nicht eine generell auf Leitungsschonung beruhen<strong>de</strong><br />

pädagogische Haltung gegenüber <strong>de</strong>n Schülerinnen und Schülern,<br />

son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Aufbau eines pädagogischen Verhältnisses, das die<br />

„Untrennbarkeit <strong>de</strong>r Erschließung von Sachwelt und Sachproblemen<br />

von <strong>de</strong>r Personenerschließung vermittelt“ (SCHMEICHEL 1983,<br />

229). So besteht die Möglichkeit, dass die Betroffenen ihre Per-<br />

spektive von Sachen und Problemen als relevant und als Interesse<br />

an ihrer Person erfahren.<br />

3.1.3 För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Copings<br />

„Im Erleben fortschreiten<strong>de</strong>r körperlicher Funktionsverluste erhal-<br />

ten progredient erkrankte Schülerinnen und Schüler seitens <strong>de</strong>r<br />

Schule keine o<strong>de</strong>r eine nur unzureichen<strong>de</strong> Unterstützung zur<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Entwicklung von Copingstrategien“ (ORTMANN/JENNESSEN 2003,<br />

188). Dieses Ergebnis einer Studie zur schulischen Situation betrof-<br />

fener Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher weist auf eine beson<strong>de</strong>re Problema-<br />

tik <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung eben dieser Personengruppe hin, die unter an<strong>de</strong>-<br />

rem damit begrün<strong>de</strong>t wird, dass „Son<strong>de</strong>rschullehrkräfte – inklusive<br />

<strong>de</strong>rjenigen mit einer körperbehin<strong>de</strong>rtenpädagogischen Ausbildung –<br />

nicht über Fachwissen zur Entwicklung und För<strong>de</strong>rung von Co-<br />

pingstrategien verfügen“ (ORTMANN/JENNESSEN 2003, 188). Wird<br />

die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Krankheitsbewältigung auf Seiten <strong>de</strong>r Schüler je-<br />

doch als eine maßgebliche pädagogische Aufgabe in <strong>de</strong>r schulpäd-<br />

agogischen Begleitung verstan<strong>de</strong>n, bedürfen Lehrkräfte zwingend<br />

copingspezifischer Kenntnisse und Handlungskompetenzen für <strong>de</strong>-<br />

ren Umsetzung.<br />

In einem erweiterten Begriffsverständnis bezieht sich Coping nicht<br />

auf die Bewältigung von Krankheit allein, son<strong>de</strong>rn bezeichnet<br />

generell die im oben <strong>de</strong>finierten Sinne geleisteten Prozesse zum<br />

Umgang mit Stressoren.<br />

Auf <strong>de</strong>r Grundlage salutogenetischen Denkens nach ANTONOVSKY<br />

(1997) sollen einige copingför<strong>de</strong>rliche, pädagogische Aspekt skiz-<br />

ziert wer<strong>de</strong>n, die sich vor allem an <strong>de</strong>n Teilkomponenten <strong>de</strong>s Kohä-<br />

renzsinnes (Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit)<br />

orientieren.<br />

So ist in <strong>de</strong>r Begleitung und schulpädagogischen För<strong>de</strong>rung pro-<br />

gredient erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher die beson<strong>de</strong>re Beach-<br />

tung <strong>de</strong>s Informations- und Wissensaspektes bezüglich krankheits-<br />

spezifischer Fakten von Relevanz (Verstehbarkeit). Es erscheint<br />

sinnvoll, Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche altersgemäß über ihre Erkrankung<br />

und die durch sie bedingten und zu erwarten<strong>de</strong>n Entwicklungen zu<br />

informieren, um eine psychische wie kognitive Vorbereitung auf<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

diese Verän<strong>de</strong>rungen zu ermöglichen und typische krankheitsspezi-<br />

fische Entwicklungen verstehen zu helfen. Auch <strong>de</strong>r Aspekt <strong>de</strong>r ge-<br />

meinsamen Beschulung von an gleichen Erkrankungen lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Schülerinnen und Schülern scheint in diesem Kontext be<strong>de</strong>nkens-<br />

wert, da die gegenseitige Wahrnehmung und <strong>de</strong>r Austausch über<br />

Entwicklungserfahrungen ebenfalls ein tieferes und antizipieren<strong>de</strong>s<br />

Verständnis <strong>de</strong>r eigenen Entwicklung leisten kann. Die gemeinsame<br />

För<strong>de</strong>rung zweier von ähnlichen Erkrankungen betroffener Kin<strong>de</strong>r<br />

o<strong>de</strong>r Jugendlicher kann im Hinblick auf die Komponente Versteh-<br />

barkeit im Sinne <strong>de</strong>s Selbsthilfegedankens „kognitive Orientierung<br />

durch Informationen, emotionale Unterstützung und praktische Hil-<br />

fe“ (BECK 2001, 345) bieten und erklärt möglicherweise die Beob-<br />

achtung, dass, „wenn an<strong>de</strong>re, ebenfalls von einer progredienten Er-<br />

krankung betroffene Jugendliche als Gesprächspartner zur Verfü-<br />

gung stehen, diese in <strong>de</strong>n meisten Fällen auch für die Thema-<br />

tisierung krankheitsbezogener und thanataler Themen favorisiert<br />

und genutzt wer<strong>de</strong>n“ (ORTMANN/JENNESSEN 2003, 161).<br />

Diese Komponente ist gera<strong>de</strong> angesichts einer sich ständig<br />

verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Physis von erheblicher Be<strong>de</strong>utung und impliziert<br />

auch die Möglichkeit <strong>de</strong>r rechtzeitigen, vorbereiten<strong>de</strong>n Ausein-<br />

an<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>s Einsatzes krankheitsbedingter<br />

Hilfsmittel. Hier bietet die probeweise Nutzung beispielsweise eines<br />

Elektrorollstuhls die Möglichkeit eines sanften und bewusst<br />

gestalteten Überganges in eine neue Krankheitsphase.<br />

Die zweite Teilkomponente <strong>de</strong>s Kohärenzsinnes <strong>de</strong>r Salutogenese –<br />

die Handhabbarkeit – entsteht beim <strong>de</strong>m heranwachsen<strong>de</strong>n Indivi-<br />

duum vor allem durch das Erleben ausgewogener Belastungen,<br />

„d.h. die Person ist we<strong>de</strong>r Über- noch Unterfor<strong>de</strong>rungen ausge-<br />

setzt“ (BENGEL u.a. 2001, 31). Für die schulische För<strong>de</strong>rung be-<br />

<strong>de</strong>utet dies, die Leistungsför<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s progredient erkrankten<br />

- 91 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Schülers o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schülerin immer auf <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r indivi-<br />

duellen psychischen wie physischen Konstitution zu gestalten.<br />

Dennoch ist neben <strong>de</strong>n Möglichkeiten <strong>de</strong>r professionellen Berück-<br />

sichtigung von Aspekten <strong>de</strong>r Über- und Unterfor<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r schu-<br />

lischen För<strong>de</strong>rung davon auszugehen, dass sich progredient er-<br />

krankte Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche durch die beson<strong>de</strong>re psychische<br />

Belastung einer unaufhaltsamen und tödlich en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Krankheit<br />

mit <strong>de</strong>r Bewältigung ihrer Lebenssituation zumin<strong>de</strong>st phasenweise<br />

überfor<strong>de</strong>rt fühlen. Hier konzentriert sich die pädagogische Be-<br />

gleitung <strong>de</strong>r Krankheitsverarbeitung auf Formen <strong>de</strong>r zugewandten,<br />

trösten<strong>de</strong>n Unterstützung und stellt im Sinne <strong>de</strong>s „social supports“<br />

(SCHWARZER/LEPPIN 1998) eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Ressource im Um-<br />

gang mit Erlebnissen und Wahrnehmungen <strong>de</strong>r Überfor<strong>de</strong>rung dar.<br />

Die För<strong>de</strong>rung von Sinnhaftigkeit scheint vor allem durch das<br />

Erleben <strong>de</strong>r Erfahrung möglich, „auf die Gestaltung von Situationen<br />

Einfluß zu haben“ (BENGEL u.a. 2001, 31). Das Gefühl, dass sich<br />

Anstrengungen und Engagement in herausfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Situationen<br />

lohnen, entsteht <strong>de</strong>mnach aus <strong>de</strong>m Erleben <strong>de</strong>r eigenen Selbstwirk-<br />

samkeit und Kompetenz in Bezug auf die Auswirkungen in-<br />

tervenieren<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lns. Gera<strong>de</strong> in Lebenssituationen, in <strong>de</strong>nen<br />

fortschreiten<strong>de</strong> Erkrankungen einen kontinuierlichen Zuwachs an<br />

Abhängigkeiten und <strong>de</strong>n sukzessiven Verlust bereits erworbener<br />

Selbstständigkeit be<strong>de</strong>uten, ist es von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung, im<br />

schulischen Rahmen Räume für eigenständige Lebens- und Lern-<br />

wege zu eröffnen. Dies be<strong>de</strong>utet für die begleiten<strong>de</strong>n Pädagogen<br />

auch die Akzeptanz unbequemer, möglicherweise objektiv irratio-<br />

naler und die schulischen Abläufe stören<strong>de</strong>r Bedürfnisse, die <strong>de</strong>r<br />

aktuellen Bedürfnislage <strong>de</strong>r Betroffenen entsprechen und unter <strong>de</strong>r<br />

Prämisse <strong>de</strong>s Ausschlusses <strong>de</strong>r Fremd- o<strong>de</strong>r Selbstgefährdung ge-<br />

lebt wer<strong>de</strong>n sollten.<br />

- 92 -<br />

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Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Unter Verweis auf empirische Studien zu dieser Thematik empfiehlt<br />

MILLER drei Interventionen zur Erhöhung <strong>de</strong>s Selbstwertgefühls,<br />

die auch für die schulpädagogische För<strong>de</strong>rung progredient er-<br />

krankter Schülerinnen und Schüler be<strong>de</strong>utsam erscheinen: Den<br />

„Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r sozialen In-<br />

teraktion und <strong>de</strong>s Engagements in Gruppen sowie Anleitung zur<br />

Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r eigenen Fähigkeiten und Potentiale“ (MILLER 2003,<br />

422). Diese Aspekte <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung dienen ganz im salutogene-<br />

tischen Sinne dazu, „die krankheitsbedingten Verluste zu akzep-<br />

tieren, ohne sich in seinem Wert herabgesetzt zu fühlen“ (MILLER<br />

2003, 426).<br />

4 Ausblick<br />

Wie in <strong>de</strong>n meisten wissenschaftlichen Abhandlungen zu dieser<br />

Thematik wird auch im vorliegen<strong>de</strong>n Artikel <strong>de</strong>r Fokus auf das indi-<br />

viduelle Wissen und die persönlichen sowie fachlichen Kompetenzen<br />

<strong>de</strong>r einzelnen Pädagoginnen und Pädagogen in <strong>de</strong>r Begleitung pro-<br />

gredient erkrankter Heranwachsen<strong>de</strong>r gelegt. Es konnte aufgezeigt<br />

wer<strong>de</strong>n, dass diese zweifelsohne von hoher Be<strong>de</strong>utung für die<br />

Gestaltung adäquater För<strong>de</strong>rprozesse sind. Entgegen <strong>de</strong>r häufig zu<br />

beobachten<strong>de</strong>n Individualisierung und Privatisierung dieses speziel-<br />

len pädagogischen Auftrages sollte jedoch zunehmend die Schule<br />

als System ihre Zuständigkeit und Verantwortung in diesem häufig<br />

tabuisierten Feld erkennen und wahrnehmen (vgl. JENNESSEN<br />

2005). Wer<strong>de</strong>n Krankheit, Sterben, Tod und Trauer als existentielle<br />

Themen menschlichen Seins in die Schulkultur von Einzelschulen<br />

integriert, so können diese adäquate Kommunikations- und Unter-<br />

stützungsangebote für betroffene Kin<strong>de</strong>r, Jugendliche und die be-<br />

gleiten<strong>de</strong>n Lehrkräfte bereithalten. Dies ermöglicht Schule als ei-<br />

- 93 -<br />

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Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

nen Lebens- und Lernort zu gestalten, an <strong>de</strong>m sich progredient er-<br />

krankte Schülerinnen und Schüler aufgehoben, begleitet, gefor<strong>de</strong>rt<br />

und geför<strong>de</strong>rt fühlen, wodurch Schule außer<strong>de</strong>m zur Ent-<br />

tabuisierung <strong>de</strong>r Phänomene Sterben und Tod in <strong>de</strong>r nach-<br />

wachsen<strong>de</strong>n Generation beiträgt.<br />

Literatur<br />

ANTONOVSKY, A.: Salutogenese. Zur Entmystifizierung von<br />

Gesundheit. Tübingen 1997<br />

ARENS, V.: Grenzsituationen. Mit Kin<strong>de</strong>rn über Sterben und Tod<br />

sprechen. Essen 1994<br />

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Ausbildung, Krisenintervention, Training. 2. ergänzte<br />

und neu ausgest. Ausga-be. Weinheim 1995<br />

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Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Sautogenese – Diskussionsstand und Stellenwert.<br />

Köln 2001<br />

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BMA (Bun<strong>de</strong>sministerium für Arbeit und Sozialordnung): SGB IX.<br />

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Frankfurt a.M. 1989<br />

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Auflage. Hei<strong>de</strong>lberg 2001<br />

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253-260<br />

- 94 -<br />

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Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

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DAUT, V.: Beson<strong>de</strong>rheiten im Verhalten lebensbedrohlich erkrankter<br />

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In: Die neue Son<strong>de</strong>r-schule 46, 2001b, 436-444<br />

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2005<br />

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<strong>de</strong>m Tod. 3. Auflage, Freiburg im Breisgau 1996, 72-89<br />

GOFFMAN, G.: Stigma. Über Techniken <strong>de</strong>r Bewältigung<br />

beschädigter I<strong>de</strong>ntität. 16. Auflage. Frankfurt am Main 2002<br />

HURRELMANN, K.: Einführung in die Sozialisationstheorie. 7., neu<br />

ausgestattetet Ausgabe. Weinheim 2001<br />

ISB (Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung<br />

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Bad Heilbrunn 1999, 241-251<br />

KMK (Sekretariat <strong>de</strong>r Ständigen Konferenz <strong>de</strong>r Kultusminister <strong>de</strong>r<br />

Län<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland): Empfehlungen<br />

zum För<strong>de</strong>rschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung.<br />

Beschluss vom 20.03.1998. Bonn 1998<br />

KÜBLER-ROSS, E.: Interviews mit Sterben<strong>de</strong>n. Stuttgart 1971<br />

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- 95 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

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Erziehungswirklichkeit und Schulalltag zwischen<br />

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Herausfor<strong>de</strong>rung für die Körperbehin<strong>de</strong>rtenpädagogik.<br />

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ORTMANN, M.: Progredient erkrankte Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche –<br />

Pädagogische Aufgaben und Probleme im prä-, peri- und postthanatalen<br />

Problemkreis. In: Vierteljahreszeitschrift für Heilpädagogik<br />

und ihre Nachbargebiete 4/1996, 502-526<br />

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chronisch kranker und final erkrankter Kin<strong>de</strong>r. In: BERGEEST,<br />

H./HANSEN, G. (Hg.). Theorien <strong>de</strong>r Körperbehin<strong>de</strong>rtenpädagogik.<br />

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Maßnahmen. Bad Heilbrunn 2000, 247-271<br />

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progredient erkrankter Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher – zum<br />

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Kin<strong>de</strong>rn: Konzeption und empirische Ergebnisse. 2. Aufl.,<br />

Frankfurt am Main 1990<br />

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MANN, T. (Hg.). Frühför<strong>de</strong>rung und Frühbehandlung.<br />

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Son<strong>de</strong>rpädagogik <strong>de</strong>r Pädagogischen Hochschule Reutlingen<br />

(Hg.). Handlungsorientierte Son<strong>de</strong>rpädagogik. Rheinstetten<br />

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SCHMEICHEL, M.: Begrenzung <strong>de</strong>s Lebens durch fortschreiten<strong>de</strong><br />

Körperbe-hin<strong>de</strong>rung – Ein Problem <strong>de</strong>r Erziehung. In: FRÖH-<br />

LICH, A. (Hg.). Dokumentation zur Situation Schwerstbehin<strong>de</strong>rter.<br />

Staufen, 1978b, 33-48<br />

- 96 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

SCHMEICHEL, M.: Probleme <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung von Kin<strong>de</strong>rn und<br />

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U./JANSEN, G. (Hg.). Handbuch <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rpädagogik. Band 8.<br />

Pädagogik <strong>de</strong>r Körperbehin<strong>de</strong>rten. Berlin 1983, 221-230<br />

SCHMITT, M.: Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Schule im Leben chronisch<br />

kranker Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher. In: Zeitschrift für Heilpädagogik<br />

8/1991, 597-502<br />

SCHRÖDER, G.: Bewältigung <strong>de</strong>r Angst vor medizinischen Maßnahmen.<br />

In: SCHMITT, G. M./KAMMERER, E./HARMS, E. (Hg.):<br />

Kindheit und Jugend mit chronischer Erkrankung. Göttingen<br />

1996, 15-30<br />

SCHUBERT, T.: Symbolik für Tod und Sterben im Bil<strong>de</strong>rbuch –<br />

eine Hilfe für die thematische Arbeit mit progredient erkrankten<br />

Schülern im Unterricht <strong>de</strong>r Schule für Körperbehin<strong>de</strong>rte. In:<br />

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SCHWARZER, R./LEPPIN, A.: Sozialer Rückhalt und Gesundheit.<br />

Berlin/New York 1989<br />

SCHWEIZER, R./NIEDERMANN, A.: Wenn Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Tod begegnen.<br />

(Heil-) Pädagogische Hilfestellungen für trauern<strong>de</strong><br />

Kin<strong>de</strong>r. In: VHN, 2/2000, 111-128<br />

SEIFERT, R.: Die Begleitung lebensbedrohlich erkrankter Schüler.<br />

In: Zeitschrift für Heilpädagogik 8/1991, 503-513<br />

SPECK, O.: Frühför<strong>de</strong>rung. In: Antor, G./Bleidick, U. (Hg.). Handlexikon<br />

<strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rtenpädagogik. Stuttgart 2001, 373-376<br />

STADLER, H.: Die Vorbereitung junger Menschen mit schweren<br />

Körperbehin<strong>de</strong>rung auf ein Leben ohne Erwerbsarbeit als Aufgabe<br />

<strong>de</strong>r Schulpädagogik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik<br />

11/2001, 464-470<br />

TANJOUR, I./RESCHKE, K.: Stress und Stressbewältigung bei<br />

Kin<strong>de</strong>rn. In: SCHUMACHER, J./RESCHKE, K./SCHRÖDER, H.<br />

(Hg.). Mensch unter Belastung. Frankfurt am Main 2002, 99-<br />

121<br />

UNIVERSITÄT BONN/För<strong>de</strong>rverein für Tumor- und Leukämieerkrankte<br />

Kin<strong>de</strong>r e.V.: Wenn ein Schüler Krebs hat.... Klassissimo<br />

Bonn: Aus <strong>de</strong>m Klassenzimmer in das Krankenzimmer. Bonn,<br />

0.J.<br />

WIESE, A.: Um Kin<strong>de</strong>r trauern. Eltern und Geschwister begegnen<br />

<strong>de</strong>m Tod. 2. aktualisierte Auflage, Gütersloh 2003<br />

WINGENFELD, K./MIKULA, M: Innovative Ansätze <strong>de</strong>r Sterbebegleitung<br />

von Kin<strong>de</strong>rn: Das Kin<strong>de</strong>rhospiz Balthasar. Forschungsbericht.<br />

Bielefeld 2002<br />

WITTKOWSKI, J.: Psychologie <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s. Darmstadt 1990<br />

- 97 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Entwicklung und Sozialisation bei progredienter Erkrankung<br />

Zu zitieren als:<br />

Jenessen, Sven: Systemisches Verstehen von Entwicklung und Sozialisation bei progredienter<br />

Erkrankung als Grundlage schulpädagogischen Han<strong>de</strong>lns, in: Heilpädagogik online<br />

02/06, 61-98<br />

http://www.heilpaedagogik-online.com/2006/heilpaedagogik_online_0206.pdf,<br />

Stand: 08.04.2006<br />

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- 98 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Interview mit Konrad Bundschuh<br />

„Es gibt keine Alternative zur schulischen<br />

Integration von Schülerinnen<br />

und Schülern mit Verhaltensstörungen.“<br />

Interview mit Konrad Bundschuh<br />

Heilpädagogik online: Herr Bundschuh, <strong>de</strong>rzeit wird wie<strong>de</strong>r sehr<br />

viel über Gewalt an Schulen und gewalttägige Schüler und Jugend-<br />

liche diskutiert. Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen scheint<br />

angesichts dieser gesellschaftlichen Debatte vor beson<strong>de</strong>ren Her-<br />

ausfor<strong>de</strong>rungen zu stehen. Wo sehen Sie die momentan wichtigs-<br />

ten Aufgaben <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Verhaltensgestörtenpädagogik<br />

mit Blick auf das Thema Jugendgewalt?<br />

Konrad Bundschuh: Grundsätzlich kann angenommen wer<strong>de</strong>n,<br />

dass fast alle Jugendliche Regeln verletzen o<strong>de</strong>r Gesetze übertre -<br />

ten, sogar straffällig wer<strong>de</strong>n. La<strong>de</strong>ndiebstähle beispielsweise gehö-<br />

ren zu <strong>de</strong>n gängigen Taten. Bei <strong>de</strong>n meisten verschwin<strong>de</strong>t dieses<br />

episo<strong>de</strong>nhafte Verhalten von alleine. Sorge bereitet eine<br />

Min<strong>de</strong>rheit:<br />

Zur Person:<br />

Prof. Dr. Konrad Bundschuh, Jahrgang 1944.<br />

Konrad Bundschuh ist Inhaber <strong>de</strong>s Lehrstuhls<br />

für Geistigbehin<strong>de</strong>rten- und<br />

Verhaltensgestörtenpädagogik an <strong>de</strong>r Ludwig-<br />

Maximilians-Universität München.<br />

- 99 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Interview mit Konrad Bundschuh<br />

Jugendliche, die zu Dauertätern wer<strong>de</strong>n und auch massive Gewalt<br />

anwen<strong>de</strong>n.<br />

Darüber hinaus ist festzuhalten, dass Gewalthandlungen und<br />

kriminelle Delikte von Jugendlichen in aller Regel außerhalb <strong>de</strong>r<br />

Schule stattfin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn die Schule ist nach wie vor ein sozial eng<br />

kontrollierter Raum, in <strong>de</strong>m Jugendliche bei massivem Fehlverhal-<br />

ten mit <strong>de</strong>utlichen Sanktionen rechnen müssen. Das heißt aber<br />

nicht, dass in <strong>de</strong>r Schule gewalttätiges Verhalten keinen sozi-<br />

alräumlichen Auffor<strong>de</strong>rungscharakter erhalten kann. Allerdings<br />

scheinen die vor Jahren implementierten Streitschlichter- und Me-<br />

diatorenprogramme sowie die Maßnahmen zur Verbesserung <strong>de</strong>r<br />

Schulentwicklung und -qualität dazu beigetragen zu haben, dass<br />

die Gewaltzahlen an Schulen eher rückläufig sind.<br />

Betrachtet man die Entstehung von Jugendgewalt, so kann keines-<br />

falls nur eine Ursache konstatiert wer<strong>de</strong>n. Gewalt in <strong>de</strong>r Familie,<br />

das Wohnumfeld und mangeln<strong>de</strong> soziale Kompetenzen können<br />

ebenso eine Rolle spielen wie eine schlechte Ausbildung, fehlen<strong>de</strong><br />

Zukunftsperspektiven und sozialer Neid. Auch Gewalt in <strong>de</strong>n Medi-<br />

en, ethnische Probleme, mangeln<strong>de</strong> Sprachkenntnisse bei auslän-<br />

dischen Jugendlichen und Langeweile kommen als Auslöser in<br />

Frage.<br />

Betrachtet man sich die gegenwärtige Forschungslage, lassen sich<br />

akzentuiert folgen<strong>de</strong> Thesen zur Jugendgewalt aufstellen:<br />

Jugendgewalt ist vor allem männlich.<br />

Jugendliche, die in ihrer Kindheit o<strong>de</strong>r aber auch als Jugendliche<br />

von ihren Eltern massiv geschlagen o<strong>de</strong>r misshan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>n,<br />

wer<strong>de</strong>n erheblich häufiger selbst gewalttätig als nicht ge-<br />

schlagene junge Menschen.<br />

Der festzustellen<strong>de</strong> Anstieg <strong>de</strong>r Gewalttaten steht oftmals in<br />

einem Zusammenhang mit niedriger Schulbildung, gesellschaftli-<br />

- 100 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Interview mit Konrad Bundschuh<br />

chen Positionen von relativer Armut, sozialer Ausgrenzung und<br />

schlechten Integrationsperspektiven.<br />

Eine Einbindung in eine aggressive und gewaltbereite Jugendcli-<br />

que beför<strong>de</strong>rt gewalttätiges Verhalten.<br />

Eine beson<strong>de</strong>re Problemgruppe im Kontext Jugendgewalt stellen<br />

Migranten dar, die seit längerem in Deutschland unter Be-<br />

dingungen sozialer Benachteiligungen aufwachsen.<br />

Vor diesem Hintergrund wird evi<strong>de</strong>nt, dass eine Pädagogik bei<br />

Verhaltensstörungen in Verbindung mit an<strong>de</strong>ren wissenschaftlichen<br />

Disziplinen insbeson<strong>de</strong>re Konzepte zur Früherkennung einer mögli-<br />

chen sozialen Desintegration und somit Risikoentwicklung entwi-<br />

ckeln und evaluieren muss.<br />

Auf die Notwendigkeit von primärer und sekundärer Prävention<br />

kann hier nur verwiesen wer<strong>de</strong>n. Dabei scheint nicht nur die Bera-<br />

tung und Unterstützung <strong>de</strong>r Familien in ihrer Erziehungsarbeit ein<br />

zentraler Aspekt pädagogischer Arbeit zu sein, son<strong>de</strong>rn auch die<br />

Stärkung von Selbstwertgefühl und soziale Kompetenzen über ziel-<br />

gruppenspezifische Bildungs-, Sport- und Freizeitangebote.<br />

Auch auf <strong>de</strong>r Basis neuerer bindungstheoretischer Erkenntnisse<br />

muss die große und vor allem nachhaltige Be<strong>de</strong>utung von Erzie-<br />

hung endlich von <strong>de</strong>r Politik und Gesellschaft wie<strong>de</strong>r verstärkt in<br />

<strong>de</strong>n Blick genommen und gewürdigt wer<strong>de</strong>n. Im Bereich <strong>de</strong>r in-<br />

terventionsbezogenen Maßnahmen benötigt es zu<strong>de</strong>m dringend sol-<br />

cher Konzepte, die sich in einer geschlechts-spezifischen Perspek-<br />

tive mit problematischen Männlichkeitsvorstellungen konstruktiv<br />

auseinan<strong>de</strong>rsetzen.<br />

Heilpädagogik online: Sie beschreiben damit ein sehr komplexes<br />

Feld möglicher Aufgaben für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen<br />

aus wissenschaftlicher Sicht und betonen die beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung<br />

<strong>de</strong>r Prävention. Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Rolle<br />

- 101 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Interview mit Konrad Bundschuh<br />

<strong>de</strong>r Schule für Erziehungshilfe in Zusammenhang mit <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung<br />

nach schulischer Integration ein - was spricht überhaupt für In-<br />

tegration von Schülern mit massiven Verhaltensauffälligkeiten?<br />

Konrad Bundschuh: Grundsätzlich gibt es nach meiner Auf-<br />

fassung keine Alternative zur schulischen Integration von Schüle-<br />

rinnen und Schülern mit Verhaltensstörungen, wie nationale und<br />

auch internationale Forschungsarbeiten aufzeigen. Integrative Un-<br />

terrichtung ist allerdings „qualitätsintensiver“, d.h. Schulen bzw.<br />

Lehrerinnen und Lehrer benötigen insbeson<strong>de</strong>re im Kontext emo-<br />

tionaler und sozialer Störungen ein hohes Maß externer<br />

Ressourcen, wie z.B. Orientierungshilfen vor Ort und auch kompe-<br />

tente Unterstützungssysteme, um sich entsprechend <strong>de</strong>n Erfor<strong>de</strong>r-<br />

nissen schulintern weiterentwickeln zu können. Darüber hinaus er-<br />

scheint es mir unumgänglich, dass schulische Integration <strong>de</strong>r Un-<br />

terstützung aller Lehrkräfte, d.h. die <strong>de</strong>r Allgemeinen Schulen so-<br />

wie <strong>de</strong>r dort arbeiten<strong>de</strong>n Son<strong>de</strong>rpädagoginnen und -pädagogen be-<br />

darf.<br />

Heilpädagogik online: Warum gibt es keine Alternative zur schu-<br />

lischen Integration von Schülerinnen und Schülern mit Verhaltens-<br />

störungen? Welche Konsequenzen hat diese Einschätzung für die<br />

Schule für Erziehungshilfe?<br />

Konrad Bundschuh: Mit <strong>de</strong>r Aussage, dass es zur Integration von<br />

Schülern mit Verhaltensstörungen an <strong>de</strong>r Regelschule grundsätzlich<br />

keine Alternative gibt, verbin<strong>de</strong>t sich eine programmatische<br />

For<strong>de</strong>rung, institutionelle pädagogische Rahmenbedingungen so zu<br />

verän<strong>de</strong>rn, dass nicht die Separation in Schulen zur Erziehungshil-<br />

fe, son<strong>de</strong>rn die Integration an <strong>de</strong>r Allgemeinen Schule <strong>de</strong>r Regelfall<br />

ist. Der sog. „Berliner Weg", auf Schulen zur Erziehungshilfe zu<br />

- 102 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Interview mit Konrad Bundschuh<br />

verzichten und Kin<strong>de</strong>r mit Verhaltensstörungen ganz überwiegend<br />

integrativ zu erziehen und zu unterrichten scheint realisierbar.<br />

Wichtig wäre mir hierbei, dass eine Erziehungs- und Unterrichts-<br />

arbeit geleistet wird, die sich entsprechen<strong>de</strong>n Qualitätsstandards<br />

verpflichtet sieht und bei <strong>de</strong>r alle am Lernprozess beteiligten Per-<br />

sonen sich kritisch und kooperativ in diese Arbeit einbringen. Dies<br />

bedarf aber auch einer verän<strong>de</strong>rten Lehrerbildung. Es erscheint<br />

sinnvoll, bereits im Lehramtsstudium diese kooperativen Prozesse<br />

in <strong>de</strong>zidierter Form in Studien- bzw. die jeweiligen Lehrerprüfungs-<br />

ordnungen einzubin<strong>de</strong>n.<br />

Heilpädagogik online: Eine wichtige Rolle dürfte in diesem Kon-<br />

text auch die Frage nach <strong>de</strong>m Umgang mit aggressivem und ge-<br />

waltbereiten Verhalten von Jugendlichen spielen. Neben <strong>de</strong>r<br />

möglichst frühzeitig einsetzen<strong>de</strong>n Prävention steht die Frage nach<br />

sinnvollen Möglichkeiten <strong>de</strong>r Intervention. In diesem Zusammen-<br />

hang geraten die Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Konfrontativen Pädagogik<br />

zunehmend in <strong>de</strong>n Blickpunkt <strong>de</strong>r Öffentlichkeit. In <strong>de</strong>r Heilpäda-<br />

gogik wird dieses Thema sehr kontrovers diskutiert. Sehen Sie in<br />

<strong>de</strong>r konfrontativen Pädagogik interessante Perspektiven für die<br />

schulische Erziehungshilfe?<br />

Konrad Bundschuh: In <strong>de</strong>r Schule zur Erziehungshilfe fin<strong>de</strong>n wir<br />

eine große Zahl an Kin<strong>de</strong>rn, die unter familiären Gewalt-, Verlust-<br />

und Vernachlässigungserfahrungen lei<strong>de</strong>n. Es han<strong>de</strong>lt sich um<br />

Erfahrungen, die in beson<strong>de</strong>rer Weise die emotionale, kognitive und<br />

soziale Entwicklung beeinträchtigen können.<br />

Für mich stellt sich <strong>de</strong>shalb die Frage, inwieweit eine konfrontative<br />

Pädagogik - <strong>de</strong>ren wissenschaftliche Theoriebildung zurecht kritisch<br />

diskutiert wird - <strong>de</strong>n behutsamen Aufbau einer entwicklungsför<strong>de</strong>r-<br />

lichen, von Vertrauen und Achtsamkeit geprägten pädagogischen<br />

- 103 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Interview mit Konrad Bundschuh<br />

Beziehung durch ihr methodisches Repertoire nicht eher verhin<strong>de</strong>rt.<br />

Ich teile die Auffassung meiner Kollegin Birgit Herz, dass in ihrem<br />

pädagogischen Alltag überfor<strong>de</strong>rte Kolleginnen und Kollegen in ih-<br />

rer Not anfällig für repressive Sozialtechniken wer<strong>de</strong>n können, wie<br />

sie teilweise auch <strong>de</strong>r konfrontativen Pädagogik zugrun<strong>de</strong> liegen.<br />

Dass diese vermeintlich schnellen „Lösungen“ letztlich zulasten <strong>de</strong>r<br />

betroffenen Kin<strong>de</strong>r und ihrer komplexen Lebensprobleme gehen,<br />

liegt auf <strong>de</strong>r Hand. In <strong>de</strong>r Negierung systemischer Erkenntnisse<br />

wird das Kind als <strong>de</strong>r eigentliche „Verursacher“ <strong>de</strong>s „gestörten“<br />

Verhaltens gesehen, ohne seine subjektive Betroffenheit im Zu-<br />

sammenspiel mit <strong>de</strong>r Umwelt zu erhellen und die subjektiv sinn-<br />

hafte Konstruktion seines Verhaltens zu verstehen. Für eine solch<br />

einseitige Sichtweise, die pädagogisches Han<strong>de</strong>ln letztlich auf Re-<br />

pression reduziert und vielmehr Ausdruck institutioneller (Ohn-)<br />

macht ist, scheint mir in <strong>de</strong>r Schule zur Erziehungshilfe kein Platz<br />

zu sein. Eine Schule, die die Personalität ihrer Schüler anerkennt,<br />

ist angst- und repressionsfrei, setzt auf ein vertrauensvolles Leh-<br />

rer-Schüler-Verhältnis und auf pädagogische Maßnahmen, welche<br />

Zufrie<strong>de</strong>nheit, Ausgeglichenheit und (Arbeits-)Freu<strong>de</strong> wecken und<br />

för<strong>de</strong>rn.<br />

Heilpädagogik online: Befürworter <strong>de</strong>r Konfrontativen Pädagogik<br />

betonen, dass auch ihre pädagogische Arbeit auf Basis einer ver-<br />

trauensvollen Beziehung erst möglich wird. Sie sagen aber auch,<br />

dass viele Pädagogen, die mit gewaltbereiten und -tätigen Jugendli-<br />

chen arbeiten, <strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>r klaren Grenzsetzung vernach-<br />

lässigen, auch um die Beziehung zu diesen Jugendlichen nicht zu<br />

gefähr<strong>de</strong>n. Wie sehen die von Ihnen erwähnten pädagogischen<br />

Maßnahmen jenseits <strong>de</strong>r Konfrontation konkret aus?<br />

- 104 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Interview mit Konrad Bundschuh<br />

Konrad Bundschuh: Ich bin nicht gegen Grenzsetzung und gegen<br />

sachbezogene Konfrontation per se, son<strong>de</strong>rn gegen repressive<br />

Maßnahmen als (schul-)pädagogisches Konzept. Auch für die<br />

Schule zur Erziehungshilfe gilt, dass Konfrontation im Sinne <strong>de</strong>r<br />

Grenzsetzung notwendig sein kann – aber nicht nach <strong>de</strong>n Vorgaben<br />

<strong>de</strong>r „Konfrontativen Pädagogik“. Grenzen aufzeigen bzw. Schüler<br />

damit zu konfrontieren, ist sehr wohl ein wichtiger Bestandteil einer<br />

gelingen<strong>de</strong>n Persönlichkeitsentwicklung. Allerdings ist dies nur auf<br />

<strong>de</strong>r Grundlage eines auf vertrauensvolle emotionale Gegenseitigkeit<br />

gegrün<strong>de</strong>ten Verhältnisses von Schülern und Lehrern sowie von<br />

Schülern untereinan<strong>de</strong>r möglich. Alle Schüler müssen erfahren<br />

dürfen, dass sie anerkannt, angenommen und verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n,<br />

auch wenn abweichen<strong>de</strong>s Verhalten abgelehnt, ggf. sanktioniert<br />

wird. Die Möglichkeiten <strong>de</strong>s pädagogischen Umgangs mit aggressi-<br />

vem, nicht <strong>de</strong>n allgemeinen Normen entsprechen<strong>de</strong>m, abwei-<br />

chen<strong>de</strong>m Verhalten in <strong>de</strong>r Schule sind insbeson<strong>de</strong>re vor <strong>de</strong>m Hin-<br />

tergrund von Prävention und Intervention vielfältig, zweifellos auch<br />

arbeitsintensiv. Die Verbesserung <strong>de</strong>r Schulkultur (z. B. durch<br />

peerbezogene Programme, einer Ausweitung <strong>de</strong>r Schülerpartizipati-<br />

on) sowie die Stärkung sozialer Handlungskompetenzen und vor<br />

allem individueller Ressourcen, über die ja viele Schüler in hohem<br />

Maße verfügen, stellen wichtige, präventive Maßnahmen dar. Aber<br />

auch Möglichkeiten schulinterner und –externer Krisenintervention<br />

können für <strong>de</strong>n einzelnen Schüler be<strong>de</strong>utsam wer<strong>de</strong>n. Der ver-<br />

trauensvollen Zusammenarbeit mit an<strong>de</strong>ren Institutionen, wie z. B.<br />

<strong>de</strong>r Jugendhilfe, ist hierbei ein hoher Stellenwert beizumessen.<br />

Schülern muss ver<strong>de</strong>utlicht wer<strong>de</strong>n, dass sich ihre Chancen für zu-<br />

künftige Lebensbewältigung, durch einen respektvollen Umgang<br />

miteinan<strong>de</strong>r verbessern. So treten an die Stelle von Konfrontation<br />

Eigenverantwortung und Einsicht.<br />

- 105 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Interview mit Konrad Bundschuh<br />

Heilpädagogik online: Herr Bundschuh, wir danken Ihnen für<br />

dieses Interview!<br />

Das Interview führten S. Barsch, T. Bendokat und Markus Brück<br />

Zu zitieren als:<br />

Interview: Konrad Bundschuh, in: Heilpädagogik online 02/06, 99-106<br />

http://www.heilpaedagogik-online.com/2006/heilpaedagogik_online_0206.pdf,<br />

Stand: 08.04.2006<br />

- 106 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Leserbriefe<br />

Leserbriefe<br />

Reaktionen zu BARSCH, Sebastian/ BENDOKAT, Tim/ BRÜCK,<br />

Markus: In eigener Sache: Anmerkungen zum fachkritischen<br />

Diskurs in <strong>de</strong>r Heil- und Son<strong>de</strong>rpädagogik, in: Heilpädagogik online<br />

04/05, 4-19<br />

Rudolf C. Zelfel<br />

An die drei Autoren, (warum fangen die alle mit B an?),<br />

zunächst recht herzlichen Dank für Ihren erfrischen<strong>de</strong>n Artikel und die<br />

respektlose Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit einigen dieser selbst ernannten<br />

Päpste <strong>de</strong>r Anti-Son<strong>de</strong>rpädagogik wie Feuser o<strong>de</strong>r Eberwein. Hier zu<br />

noch ein Zitat aus <strong>de</strong>m Gedächtnis: „Die Beschäftigung mit <strong>de</strong>m Behin<strong>de</strong>rungsbegriffe<br />

erübrigt sich, wenn die Integrationspädagogik weiter<br />

ausgebaut ist." Sinngemäßes Zitat aus <strong>de</strong>r Zeitschr.f. Heilp. ca. 1998.<br />

Man könnte hier noch einige an<strong>de</strong>re nennen, die sich allerdings mit<br />

Hilfe <strong>de</strong>r „Behin<strong>de</strong>rten“, die es ja eigentlich gar nicht gibt, ihre verbeamteten<br />

C 4-Lehrstühle für „Behin<strong>de</strong>rtenpädagogik“ geschaffen haben.<br />

Letzteres beeinflusst die wissenschaftliche Diskussion. Die gängige<br />

Besetzungspolitik in <strong>de</strong>n zwanzig Jahren hat ein Ungleichgewicht zwischen<br />

pädagogischer Realität und Lehre erzeugt.<br />

Ein Beispiel, das ich u. a. aus meiner langjährigen Honorar-Lehrtätigkeit<br />

an <strong>de</strong>r Uni Köln belegen kann. Nahezu 99% <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rpädagogik-<br />

Stu<strong>de</strong>ntinnen wer<strong>de</strong>n ihre Tätigkeit in <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rschule o<strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rschule,<br />

davon etwa zwei Drittel in <strong>de</strong>r für Lernbehin<strong>de</strong>rte (o<strong>de</strong>r Lernför<strong>de</strong>rung<br />

o<strong>de</strong>r wie auch immer sie genannt wird) beginnen. Sie kommen<br />

dann in eine Einrichtung, die ausson<strong>de</strong>rt (Feuser), sozial<br />

diskriminiert (Begemann), längst pädagogisch überholt ist (Eberwein),<br />

von <strong>de</strong>n Eltern abgelehnt wird (Ellger-Rüttgard) und müssen irgendwelche<br />

Zombies (Behin<strong>de</strong>rte gibt's ja nicht!) unterrichten. Kann uns<br />

- 107 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Leserbriefe<br />

vielleicht mal einer dieser Theoretiker erklären, welchen Unterricht<br />

diese jungen Lehrerinnen halten sollen und warum wir im Jahre 2002,<br />

zwanzig Jahre nach <strong>de</strong>r ersten gemeinsamen Unterricht in einer sogenannten<br />

„Integrationsklasse“ Rekordzahlen an <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rschulen<br />

haben? Könnte es vielleicht sein, dass sich die Realität partout nicht<br />

nach <strong>de</strong>n Konstrukten richten will?<br />

Ergänzen möchte ich auch Ihren treffend geschil<strong>de</strong>rten Hinweis auf die<br />

„Behin<strong>de</strong>rungsbegriff“-Diskussion. Ich habe lange Zeit mein Geld als<br />

Funktionär für einen Behin<strong>de</strong>rtenverband verdient. Mit <strong>de</strong>n schwammigen<br />

Begriffen aus <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rpädagogik hätte ich keine Verbün<strong>de</strong>ten<br />

für meine zum Teil doch erfolgreiche Lobbyarbeit vor allem bei <strong>de</strong>r beruflichen<br />

Einglie<strong>de</strong>rung gewinnen können. Bekanntlich gibt es ja die<br />

ICF <strong>de</strong>r WHO. Davor gab es die ICIDH II, die unter Anwendung <strong>de</strong>s<br />

bio-psycho-sozialen Mo<strong>de</strong>lls die Eindimensionalität <strong>de</strong>s ICIDH I<br />

ersetzen sollte. Die Diskussion um einen Behin<strong>de</strong>rtenbegriff, <strong>de</strong>r neben<br />

körperlichen Funktionen und Strukturen, Aktivitäten und Teilhabe sowie<br />

Umweltfaktoren berücksichtigt, (so die ICF) ist auch für alle Formen von<br />

Behin<strong>de</strong>rungen im Schulbereich möglich. Für „Lernbehin<strong>de</strong>rung“ habe<br />

ich dies auf <strong>de</strong>r Tagung "teil-haben.<strong>de</strong>" 2002 in Ansätzen vorgestellt.<br />

(Ist dort auch im download). In <strong>de</strong>n einschlägigen behin<strong>de</strong>rungspädagogischen<br />

Selbstveröffentlichungsorganen habe ich bis auf die Ausnahme<br />

<strong>de</strong>r Schweiz keine Teilnahme <strong>de</strong>r weltweiten wissenschaftlichen<br />

Diskussion vorgefun<strong>de</strong>n.<br />

In vielen Bereiche ist die Anwendung <strong>de</strong>s ICF inzwischen obligatorisch,<br />

im Rehabilitationsbereich wird sie mit Sicherheit kommen. International<br />

wird sie längst verwen<strong>de</strong>t. Das wäre doch alles nicht möglich, wenn<br />

nicht das Konzept <strong>de</strong>s ICF überzeugend wäre. Nur in diesem „kleinen<br />

gallischem Dorf“ <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen „Son<strong>de</strong>r“pädagogik . . .<br />

- 108 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Leserbriefe<br />

Vielen Dank für Ihre Mühe, man sollte Sie mal für <strong>de</strong>n vds-Preis vorschlagen!<br />

Rudolf C. Zelfel<br />

jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

Institut für Qualitätssicherung in Prävention GmbH<br />

und Rehabilitation an <strong>de</strong>r Deutschen Sporthochschule Köln<br />

E-mail: zelfel@web.<strong>de</strong><br />

- 109 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

Ute Geiling/ Integrationspädagogik im<br />

Andreas Hinz: Diskurs. Auf <strong>de</strong>m Weg zu<br />

einer inklusiven Pädagogik?<br />

Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005<br />

Preis: 18,00 €<br />

ISBN: 3-7815-1318-5<br />

Rezensionen<br />

Ute GEILING und Andreas HINZ legen mit <strong>de</strong>m Buch „Integrations-<br />

pädagogik im Diskurs. Auf <strong>de</strong>m Weg zu einer inklusiven<br />

Pädagogik?“ einen Sammelband vor, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r 18. Jahrestagung<br />

<strong>de</strong>r IntegrationsforscherInnen in <strong>de</strong>utschsprachigen Län<strong>de</strong>rn im Fe-<br />

bruar 2004 entstan<strong>de</strong>n ist. Ziel <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s ist es, die Integrations-<br />

pädagogik in ihrer Heterogenität, Buntheit und Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit<br />

erkennbar wer<strong>de</strong>n zu lassen.<br />

Dazu wird zunächst im ersten Teil <strong>de</strong>s Buches aus drei unterschied-<br />

lichen Außenperspektiven die Integrationspädagogik in <strong>de</strong>n Blick<br />

genommen:<br />

Annedore PRENGEL fragt aus Sicht <strong>de</strong>r Grundschulpädagogik nach<br />

Prozessen <strong>de</strong>r Anerkennung im Anfangsunterricht. Sie fokussiert<br />

dabei unter Berücksichtigung <strong>de</strong>r zentralen Relevanz an-<br />

erkennen<strong>de</strong>r Prozesse als Ausgangspunkt aller sozialen Handlungen<br />

vor allem die Frage: „Wie können Unterricht und Schulleben in <strong>de</strong>n<br />

ersten bei<strong>de</strong>n Schuljahren so gestaltet wer<strong>de</strong>n, dass Schülerinnen<br />

und Schüler möglichst angemessen von Kin<strong>de</strong>rn und Erwachsenen<br />

anerkannt wer<strong>de</strong>n?“ (18) Dabei stellt PRENGEL neben die egalitäre<br />

- 110 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

und heterogene Anerkennung die im Bildungssystem und im<br />

Generationenverhältnis verankerte hierarchische Anerkennung.<br />

Unergiebig bleibt <strong>de</strong>r zweite Artikel: Hans-Joachim MAAZ betrachtet<br />

aus psychoanalytischer Perspektive <strong>de</strong>sintegrative Prozesse im Er-<br />

ziehungsgeschehen. Er konstatiert in unterschiedlicher Ausprägung<br />

Mütterlichkeitsstörungen (Mutterbedrohung, Muttermangel, Mutter-<br />

vergiftung) in Ost- und West<strong>de</strong>utschland und beschreibt gesell-<br />

schaftlich-kulturelle Wurzeln und Auswirkungen auf das Gesamt<br />

und <strong>de</strong>n Einzelnen. Auch wenn man von groben holzschnittartigen<br />

Thesen absieht („Je größer die innere Not aus Selbstunsicherheit<br />

und Bedürftigkeit, <strong>de</strong>sto leichter entstehen paranoi<strong>de</strong> Bedrohungs-<br />

phantasien mit <strong>de</strong>r Illusion, sich durch eine aufgesetzte und aus-<br />

agierte Geste <strong>de</strong>r Stärke von <strong>de</strong>r Bedrückung befreien zu können.<br />

Zuletzt war das bei <strong>de</strong>r Entwicklung zum Irak-Krieg wie auf einer<br />

Bühne zu beobachten.“, 47) ist die Berechtigung <strong>de</strong>s Artikels<br />

fraglich: We<strong>de</strong>r beschäftigt er sich in irgen<strong>de</strong>iner Form mit Proble-<br />

men, die auch die Integrationspädagogik umtreiben, noch wirft er<br />

einen Blick von außen auf die Integrationspädagogik.<br />

Im dritten Artikel geht Volker SCHÖNWIESE aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Di-<br />

sability Studies <strong>de</strong>r Frage nach, wie Behin<strong>de</strong>rung produziert wird.<br />

Dabei stellt er vier Dimensionen <strong>de</strong>s Alltagsbewusstseins von Be-<br />

hin<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>n Mittelpunkt. Diese könnten im Rahmen <strong>de</strong>r Di-<br />

sability Studies einen „relativ breit angelegten Blick auf die Kon-<br />

struktionsbedingungen von Behin<strong>de</strong>rung lenken“ (67). Gera<strong>de</strong>zu<br />

beispielhaft blen<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Artikel dabei die Frage nach <strong>de</strong>r Körperlich-<br />

keit (<strong>de</strong>r Beeinträchtigung) aus und fokussiert ein ausschließlich so-<br />

ziales Mo<strong>de</strong>ll von Behin<strong>de</strong>rung. Auch hier sind die Berührungs-<br />

punkte zur Integrationspädagogik marginal bzw. wird die Integra-<br />

tionspädagogik nicht in <strong>de</strong>n Blick genommen.<br />

- 111 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

Im zweiten Teil <strong>de</strong>s Buches wer<strong>de</strong>n fünf Problembereiche thema-<br />

tisiert, in<strong>de</strong>m einem einführen<strong>de</strong>n knappen Artikel kurze State-<br />

ments verschie<strong>de</strong>ner Autoren folgen, die weitere Perspektiven ein-<br />

bringen, bestimmte Aspekte fokussieren, etc.<br />

1) Das disziplinäre und professionelle Selbstverständnis <strong>de</strong>r In-<br />

tegrations-/Inklusionspädagogik: In <strong>de</strong>r schulischen Praxis nur<br />

marginal verankert, vom Begriff <strong>de</strong>r Inklusion in Frage gestellt und<br />

eigentlich auf <strong>de</strong>m Weg sich in einer wirklich „Allgemeinen Pädago-<br />

gik“ aufzulösen geht es hier um Fragen <strong>de</strong>n Kern <strong>de</strong>r Integrations-<br />

pädagogik betreffend. Wenn die Integrationspädagogik die Zwei-<br />

Gruppen-Theorie aufgibt und sich im Kern um das Phänomen „He-<br />

terogenität“ in schulischen Situationen bemüht: Wie kann dann <strong>de</strong>r<br />

Umgang mit dieser Heterogenität bzw. mit Behin<strong>de</strong>rung gesichert<br />

wer<strong>de</strong>n? Worin unterschei<strong>de</strong>t sich die Integrationspädagogik <strong>de</strong>nn<br />

dann von einer „Allgemeinen Pädagogik“? Und an<strong>de</strong>rs: Wie müsste<br />

sich eigentlich die Allgemeine Pädagogik zum Phänomen <strong>de</strong>r Hete-<br />

rogenität stellen?<br />

2) Integrative / inklusive Qualität, Bildungsstandards und Bildungs-<br />

barrieren: Die im Zuge <strong>de</strong>r PISA-Debatte entstan<strong>de</strong>nen bun<strong>de</strong>swei-<br />

ten bzw. län<strong>de</strong>rspezifischen Bildungsstandards wer<strong>de</strong>n Aus-<br />

wirkungen auf <strong>de</strong>n Umgang mit leistungsschwachen Schülern<br />

haben, etwa in<strong>de</strong>m diese Standards als Prüfungs- und Kontrollin-<br />

strumente benutzt wer<strong>de</strong>n können. Wie sehen hingegen fruchtbare<br />

Standards etwa nach <strong>de</strong>m KLIEME-Gutachten aus? Können von<br />

verbindlichen Kompetenzstandards nicht alle Schüler profitieren?<br />

Und orientiert sich nicht auch die Integrationspädagogik an Vorstel-<br />

lungen über allgemein notwendige Kompetenzen, wenn es etwa um<br />

die Kompetenz „Lesen“ geht? Neben diesen Fragen wer<strong>de</strong>n vor<br />

- 112 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

allem Qualitäts-Merkmale guter inklusiver Schulen bzw. guter<br />

integrationspädagogischer Arbeit diskutiert.<br />

3) Assistenz als neuer integrationspädagogischer Leitbegriff? Nach<br />

<strong>de</strong>r zunehmen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Begriffes „Assistenz“ vor allem<br />

im Rahmen <strong>de</strong>r Selbsthilfe aber auch in an<strong>de</strong>ren behin<strong>de</strong>rtenpäd-<br />

agogischen Arbeitsfel<strong>de</strong>rn fragt dieser Abschnitt <strong>de</strong>s Buches da-<br />

nach, ob „Assistenz“ auch als neuer integrationspädagogischer Leit-<br />

begriff taugt. „Integrationspädagogisch ist die Frage entschei<strong>de</strong>nd,<br />

wie Unterstützungsformen gestaltet wer<strong>de</strong>n können, damit von Be-<br />

hin<strong>de</strong>rungen betroffene Kin<strong>de</strong>r, Jugendlichen und Erwachsene Kon-<br />

trolle über ihr Leben entwickeln.“ (SCHÖNWIESE, 144) Ob gera<strong>de</strong><br />

in „pädagogischen“ (und damit zum Beispiel auch hierarchischen)<br />

Zusammenhängen sinnvoll von „Assistenz“ gesprochen wer<strong>de</strong>n<br />

kann, o<strong>de</strong>r ob <strong>de</strong>r Begriff „Unterstützung“ genauer ist, fragen LOE-<br />

KEN und WINDISCH. Damit ist zugleich auch die Frage auf-<br />

geworfen, wieso <strong>de</strong>nn die Integrationspädagogik in einem Konzept<br />

aus <strong>de</strong>r Selbsthilfebewegung einen neuen „Leitbegriff“ vermutet<br />

und welchen Stellenwert ein solcher Leitbegriff haben sollte.<br />

4) Netzwerke als unterstützen<strong>de</strong>s Momente integrationspädago-<br />

gischer und inklusiver Projekte: Netzwerkarbeit spielt an ganz ver-<br />

schie<strong>de</strong>nen Stellen mit integrationspädagogischem Fokus eine<br />

Rolle. Mehrere Beispiele unterschiedlicher Netzwerkarbeit wer<strong>de</strong>n<br />

hier vorgestellt, etwa bei <strong>de</strong>r Zusammenlegung von Grund-,<br />

För<strong>de</strong>r- und Gesamtschule in Birkenwer<strong>de</strong>r (Bran<strong>de</strong>nburg), bei<br />

einem kommunalen Projekt in Köln, etc. Von Interesse als Konzept<br />

für die möglichst weitgehen<strong>de</strong> Integration Einzelner über die ge-<br />

samte Lebenszeit ist die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r „Unterstützerkreise“, die Ines<br />

BOBAN vorstellt. Im Kern wer<strong>de</strong>n hier informelle Netzwerke<br />

zentriert um eine Person beschrieben, die mit ganz unterschiedli-<br />

- 113 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

chen professionellen und individuellen Kompetenzen ausgestattet<br />

sind.<br />

5) Fragen <strong>de</strong>r Verankerung integrations-/inklusionspädagogischer<br />

Inhalte im Zuge <strong>de</strong>r europäischen Neustrukturierung <strong>de</strong>r Hoch-<br />

schulen nach Bologna: Zwei Studiengänge mit hauptsächlich o<strong>de</strong>r<br />

integrierten integrationspädagogischen Anteilen wer<strong>de</strong>n hier vorge-<br />

stellt (European Masters in Inclusive Education und <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>llver-<br />

such Lehrerausbildung im BA/MA Studium <strong>de</strong>r Universität<br />

Bielefeld). Interessanter sind die Ausführungen von Reinhard<br />

MARKOWETZ über eine zunehmen<strong>de</strong> Positionierung und Profilierung<br />

verschie<strong>de</strong>ner Fachhochschulen mit integrationspädagogischen Stu-<br />

dienmöglichkeiten. Gera<strong>de</strong> im Zuge <strong>de</strong>s Bologna-Prozesses wird<br />

sich hier die oft behäbigere Universitäts-Landschaft bewegen<br />

müssen. Einige Fachhochschulen sind dabei schon viele Schritte<br />

voraus.<br />

Wie ist das Buch insgesamt zu bewerten?<br />

Nimmt man <strong>de</strong>n Titel <strong>de</strong>s Buches und die einleiten<strong>de</strong>n Be-<br />

merkungen <strong>de</strong>r Herausgeber ernst und sieht in <strong>de</strong>m Buch eine Zu-<br />

sammenschau unterschiedlicher Perspektiven auf die Integrations-<br />

pädagogik, so lassen sich einige bemerkenswerte Schlüsse zum<br />

Stand <strong>de</strong>r Integrationspädagogik ziehen:<br />

1. Zum Gegenstandsbereich <strong>de</strong>r Integrationspädagogik:<br />

Die Integrationspädagogik ist im Moment ihres Gegenstan<strong>de</strong>s gar<br />

nicht sicher. In einigen Artikeln <strong>de</strong>s Buches wird selbstverständlich<br />

davon ausgegangen, dass sich Integrationspädagogik ganz primär<br />

um die schulische Integration zu bemühen hat: Welche Rolle<br />

spielen Bildungsstandards für die Integrationspädagogik? Wie ist<br />

die Integrationspädagogik im Rahmen <strong>de</strong>r Erziehungswissen-<br />

- 114 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

schaften zu verorten? Welche Rolle spielt die Integrationspädagogik<br />

in <strong>de</strong>r Lehrerbildung? Dieses Verständnis wird jedoch gebrochen:<br />

Die Diskussion <strong>de</strong>s Assistenzbegriffs als neuer Leitbegriff zielt auf<br />

ein ganz an<strong>de</strong>res Praxis- und Gegenstandsfeld. Im ursprünglichen<br />

Sinne kann <strong>de</strong>r Begriff „Assistenz“ gera<strong>de</strong> wenn es um Kin<strong>de</strong>r geht<br />

nicht verwandt wer<strong>de</strong>n! Und sodann versucht die Integrations-<br />

pädagogik in <strong>de</strong>r Abwendung von <strong>de</strong>r Zwei-Gruppen-Theorie (be-<br />

hin<strong>de</strong>rt-nicht behin<strong>de</strong>rt) und <strong>de</strong>r Ausweitung auf das Phänomen He-<br />

terogenität (auch im Zusammenhang mit Migranten, sozial Benach-<br />

teiligten in unterschiedlichen Lebensfel<strong>de</strong>rn wie Arbeit, Freizeit,<br />

etc.) die gesamtgesellschaftliche Aufgabe <strong>de</strong>r Integration für sich<br />

zu ent<strong>de</strong>cken. Damit begibt sie sich aber in die Schnittmengen<br />

höchst unterschiedlicher und umfangreicher Wissenschaften (Poli-<br />

tik, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, etc.) und wird sich in<br />

einem vermutlich katastrophalen Maße überfor<strong>de</strong>rn, ohne letztlich<br />

wirksam wer<strong>de</strong>n zu können.<br />

2. Zum Kernbereich <strong>de</strong>r Integrationspädagogik und zu ihrer<br />

Herkunft, <strong>de</strong>r schulischen Integration:<br />

Hier lässt vor allem <strong>de</strong>r Artikel von Simone SEITZ aufhorchen: Im<br />

Kern besagt dieser Artikel, dass sich die Integrationspädagogik bis<br />

auf einige Ausnahmen im Rahmen <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Begleit-<br />

forschungen <strong>de</strong>r Schulversuche nicht um die didaktische und damit<br />

vor allem die schulpraktische Ausgestaltung <strong>de</strong>r Integration bemüht<br />

hat. „Für die Praxisebene be<strong>de</strong>utet dies, dass LehrerInnen auch<br />

gegenwärtig eigeninitiativ didaktische Konzepte entwickeln, <strong>de</strong>nn<br />

sie können we<strong>de</strong>r auf Unterrichtsmaterialien zurückgreifen, die für<br />

<strong>de</strong>n gemeinsamen Unterricht konzipiert wor<strong>de</strong>n wären, noch auf<br />

lernbereichsdidaktisch angelegte Didaktikkonzeptionen als Absi-<br />

cherung ihrer täglichen Unterrichtsplanung.“ (117) Der globale<br />

Verweis auf eine „inklusive Didaktik“ lässt es, so SEITZ weiter, an<br />

- 115 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

konzeptionellen Konkretisierungen o<strong>de</strong>r belastbaren Lehr-/<br />

Lernforschungen fehlen. Das praktische Ergebnis: „In irgend einer<br />

Klasse sitzt irgend ein Kind mit irgend einem För<strong>de</strong>rbedarf und<br />

irgend ein Son<strong>de</strong>rschullehrer kommt ab und zu vorbei, bringt das<br />

neue Programm mit und kümmert sich.“ (HINZ, zit. Nach DEPPE-<br />

WOLFINGER, 108) Hieran ist die Integrationspädagogik als<br />

Wissenschaft sicher nicht unschuldig! (Vgl. BENDOKAT, BARSCH,<br />

BRÜCK in: Heilpädagogik online 4/2005)<br />

3. Die Abgrenzung zur Son<strong>de</strong>rpädagogik:<br />

Einige Autoren lassen ein Bemühen um Abgrenzung gegenüber <strong>de</strong>r<br />

Son<strong>de</strong>rpädagogik erkennen, das sich in klischeehaften Vorwürfen<br />

bzw. Abwertungen gegenüber <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rpädagogik erschöpft. So<br />

schreibt SCHÖNWIESE: „Die Hauptströmung <strong>de</strong>r traditionellen Heil-<br />

und Son<strong>de</strong>rpädagogik ist seit ihrer Entstehung anfangs <strong>de</strong>s 19.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts in Anlehnung an medizinische Erkenntnis- und Heils-<br />

vorstellungen <strong>de</strong>fektorientiert, in ihrer Erkenntnisgewinnung über<br />

die Abweichung von behin<strong>de</strong>rten Personen auf einen allgemeinen<br />

Normbegriff von Gesundheit und Funktionsfähigkeit festgelegt und<br />

bemüht, eine genaue Systematik von Abweichungen zu erstellen.“<br />

(63)<br />

JACOBS charakterisiert „die nach wie vor innerhalb <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>r-<br />

schulpraxis gegebene Selektionsdiagnostik als wichtigstes<br />

Professionalitätsmerkmal von Son<strong>de</strong>rpädagogInnen“ (92). Bei<strong>de</strong><br />

Autoren sind anscheinend (aus i<strong>de</strong>ologischen Grün<strong>de</strong>n?) nicht ge-<br />

willt, seit Jahrzehnten ablaufen<strong>de</strong> Entwicklungen innerhalb <strong>de</strong>r Son-<br />

<strong>de</strong>rpädagogik zur Kenntnis zu nehmen; o<strong>de</strong>r sie trauen wie kurze<br />

Bemerkungen von SCHÖNWIESE im Weiteren zeigen, dieser Ver-<br />

än<strong>de</strong>rung zumin<strong>de</strong>st nicht.<br />

Und wenn nach BRILL die pädagogischen Prinzipien einer inklusiven<br />

Pädagogik und <strong>de</strong>r Integrationspädagogik <strong>de</strong>ckungsgleich „Indivi-<br />

- 116 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

dualisierung, Differenzierung, Handlungsorientierung, die Be<strong>de</strong>u-<br />

tung <strong>de</strong>r Emotion und <strong>de</strong>s sozialen Lernens, Selbsttätigkeit, ent<strong>de</strong>-<br />

cken<strong>de</strong>s Lernen, Situationsorientierung“ (94-95) sind – allesamt<br />

Prinzipien, die <strong>de</strong>m einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Son<strong>de</strong>rpädagogen aus <strong>de</strong>r<br />

täglichen Arbeit bekannt sein dürften -, dann ist auch zu fragen, ob<br />

die Differenz von Son<strong>de</strong>r- und Integrationspädagogik eben doch<br />

nur in <strong>de</strong>n unterschiedlichen För<strong>de</strong>rorten liegt (obschon die In-<br />

tegration dann doch von Son<strong>de</strong>rpädagogen geleistet wird!).<br />

Auch wenn im ersten Teil <strong>de</strong>s Buches nur <strong>de</strong>r Artikeln von PRENGEL<br />

lesenswert ist, ist das Buch gera<strong>de</strong> wegen <strong>de</strong>r unterschiedlichen<br />

Perspektiven und <strong>de</strong>r im zweiten Teil tatsächlich erkennbaren<br />

diskursiven Auseinan<strong>de</strong>rsetzung um bestimmte Problembereiche<br />

<strong>de</strong>r Integrationspädagogik lohnend.<br />

Tüppker, Rosemarie / Musiktherapie in<br />

Hippel, Natalie/ <strong>de</strong>r Schule.<br />

Laabs, Frie<strong>de</strong>mann (Hrsg.): Wiesba<strong>de</strong>n 2005<br />

Preis: 19,90 €<br />

ISBN: 3-89500-471-5<br />

Markus Brück<br />

Die I<strong>de</strong>e, Musiktherapie als festen Bestandteil <strong>de</strong>s För<strong>de</strong>rangebots<br />

einer Schule zu installieren, dürfte vielen Son<strong>de</strong>rschullehrern<br />

vertraut sein. Das vorliegen<strong>de</strong> Buch geht allerdings von <strong>de</strong>m Ge-<br />

danken aus, dass Musiktherapie an je<strong>de</strong>r Schulform eingesetzt<br />

wer<strong>de</strong>n kann und eingesetzt wer<strong>de</strong>n sollte, um Schüler bei <strong>de</strong>r Be-<br />

arbeitung und Bewältigung von Krisen unterstützen zu können. Die<br />

Herausgeber und Autoren gehen davon aus, dass Musiktherapie als<br />

fester Bestandteil an Schulen dazu beitragen kann, Schülern bei<br />

- 117 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

<strong>de</strong>r Lösung bestehen<strong>de</strong>r und teils tiefgreifen<strong>de</strong>r Probleme zu hel-<br />

fen, welche mit <strong>de</strong>n sonstigen pädagogischen Möglichkeiten einer<br />

Schule nicht o<strong>de</strong>r nicht ausreichend bearbeitet wer<strong>de</strong>n können.<br />

Das Buch entstand aus <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>r Studiengemeinschaft im Zu-<br />

satzstudiengang Musiktherapie <strong>de</strong>r Universität Münster. Die Teil-<br />

nehmer <strong>de</strong>r Studiengemeinschaft verbin<strong>de</strong>t das genannte Inter-<br />

esse, Musiktherapie als Bestandteil <strong>de</strong>s Angebots von Schulen über<br />

die Son<strong>de</strong>rschulen hinaus auch an Regelschulen einzuführen und zu<br />

etablieren, auch – wie es im ersten Beitrag heißt – mit Blick auf die<br />

eigene berufliche Zukunft.<br />

Die in diesem Buch verhan<strong>de</strong>lten Probleme <strong>de</strong>r Schüler fin<strong>de</strong>n ihren<br />

Ausdruck oftmals in Verhaltensauffäligkeiten, welche für viele Leh-<br />

rer eine im Schulalltag zu große Herausfor<strong>de</strong>rung darstellen, <strong>de</strong>r<br />

sie nicht mehr gerecht wer<strong>de</strong>n können. Da Verhaltensauffäligkeiten<br />

an <strong>de</strong>n meisten Schulen ein wachsen<strong>de</strong>s Problem darstellen,<br />

scheint die Mehrheit <strong>de</strong>r Pädagogen zusätzliche therapeutische<br />

Angebote an Schulen zu begrüßen, wie Natalie HIPPEL in ihrem<br />

Beitrag feststellt. Sie sieht hier Handlungsmöglichkeiten <strong>de</strong>r Musik-<br />

therapie: „Musiktherapie in <strong>de</strong>r Schule kann Kin<strong>de</strong>rn und Jugendli-<br />

chen eine Hilfe bieten, die <strong>de</strong>m Erleben, Verhalten, Kontakt zu Mit-<br />

schülern und Lehrern, in <strong>de</strong>n schulischen Leistungen o<strong>de</strong>r im kör-<br />

perlichen Bereich Auffälligkeiten bzw. Störungen zeigen“ (23). Sie<br />

diskutiert darüber hinaus auch Grenzen und Risiken musikthera-<br />

peutischer Arbeit an Schulen und nennt Arbeitsprinzipien, die als<br />

Grundlage für einen Erfolg dieser Arbeit an Schulen zu beachten<br />

sind.<br />

Abgesehen von diesen - vielleicht etwas zu kurzen - theoretischen<br />

Vorüberlegungen ist das Buch im Wesenlichen sehr praxisorientiert.<br />

Den Leser erwarten konkrete Berichte <strong>de</strong>r jeweiligen Autoren über<br />

ihre musiktherapeutische Arbeit an verschie<strong>de</strong>nen Schulformen. Im<br />

Son<strong>de</strong>rschulbereich sind das die Schule für Geistigbehin<strong>de</strong>rte im<br />

- 118 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

Beitrag von Beate KLEIN, die Schule für Blin<strong>de</strong> (Frank AEPKERS,<br />

Andreas STARK) und die Schule für Hörgeschädigte (Hannelore<br />

GUTH). Im Regelschulbereich wer<strong>de</strong>n Beispiele aus <strong>de</strong>r Realschule<br />

(Petra SPROTEN), <strong>de</strong>r Grundschule (Erika MENEBRÖCKER) und <strong>de</strong>r<br />

Gesamtschule (Reinhild BOß) beschrieben und reflektiert. Daneben<br />

wird die musiktherapeutische Arbeit mit Flüchtlingskin<strong>de</strong>rn (Isabell<br />

PADUCH) und im Gemeinsamen Unterricht (Frie<strong>de</strong>mann LAABS)<br />

thematisiert. Dabei wer<strong>de</strong>n in einigen Beiträgen eher die organi-<br />

satorischen Rahmenbedingungen zum Thema gemacht (etwa in<br />

<strong>de</strong>m Beitrag von Reinhild BOß), in an<strong>de</strong>ren Beiträgen stehen<br />

dagegen konkrete Fallbeispiele im Vor<strong>de</strong>rgrund (z.B. bei Hannelore<br />

GUTH).<br />

Allen Beiträgen gemein ist eine klare und gut verständliche Spra -<br />

che, die auf unnötiges Fachvokabular verzichtet und so eine gute<br />

Lesbareit auch für <strong>de</strong>n musiktherapeutischen Laien gewährleistet.<br />

Fazit: Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, <strong>de</strong>n Praxisberichten ein<br />

breiteres Theoriefundament voranzustellen, um z.B. Fragen wie<br />

„Was genau ist Musiktherapie?“, „Welche Ziele verfolgt sie und wie<br />

wird das Erreichen dieser Ziele angestrebt?“ vorab <strong>de</strong>utlicher zu<br />

klären.<br />

Dass diese Fragen in <strong>de</strong>m vorgebenen Rahmen nicht erschöpfend<br />

beantwortet wer<strong>de</strong>n können, ist klar. Eine kurzer Abriss dazu wäre<br />

jedoch wünschenswert gewesen, <strong>de</strong>nn so muss <strong>de</strong>r Leser sich aus<br />

<strong>de</strong>n einzelnen Beiträgen einiges zusammenreimen, um seine<br />

Fragen zu beantworten.<br />

Resümierend bleibt <strong>de</strong>nnoch festzustellen, dass an Musiktherapie<br />

interessierte Leser, die im schulischen Bereich tätig sind, durch die<br />

Lektüre <strong>de</strong>s Buches sowohl viele Anregungen für die Praxis ge-<br />

winnen können als auch Argumentationshilfen, falls sie für ein mu-<br />

siktherapeutisches Angebot an <strong>de</strong>r eigenen Schule eintreten.<br />

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Tim Bendokat<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Pitsch, Hans-Jürgen/ Han<strong>de</strong>ln im Unterricht.<br />

Thümmel, Ingeborg: Zur Theorie und Praxis<br />

<strong>de</strong>s Handlungsorientierten<br />

Unterrichts<br />

mit Geistigbehin<strong>de</strong>rten.<br />

Oberhausen 2005<br />

Preis: 18,50 €<br />

ISBN: 3-898-96237-7<br />

Rezensionen<br />

Das als Lehrwerk konzipierte Buch von PITSCH und THÜMMEL ver-<br />

sucht die bisher nicht hinreichend ausgearbeiteten Handlungstheo-<br />

rien zu einem schlüssigen Konzept für die praktische Unter-<br />

richtsplanung in <strong>de</strong>r Arbeit mit geistig behin<strong>de</strong>rten Menschen um-<br />

zugestalten. Die Autoren berichten unter <strong>de</strong>r Überschrift „Metho-<br />

<strong>de</strong>n-Chaos“ zunächst über <strong>de</strong>n aktuellen Markt an pädagogischen<br />

Meinungen und Theorien und zitieren in diesem Zusammenhang<br />

<strong>de</strong>n Luxemburger Zeitungskommentatoren Gelhausen, <strong>de</strong>r 2000<br />

feststellte, dass sich manche „pädagogische Experten [...] wie<br />

pseudoreligiöse Sekten [benehmen]“. Darauf PITSCH und THÜM-<br />

MEL: „Gelhausens Kritik gilt grundsätzlich und überall.“ (9).<br />

Im Folgen<strong>de</strong>n schil<strong>de</strong>rn die Autoren die historische Entfaltung <strong>de</strong>s<br />

Handlungsorientierten Unterrichts, von <strong>de</strong>n Anfängen im 19. Jahr-<br />

hun<strong>de</strong>rt bis zu <strong>de</strong>n aktuellen Entwicklungslinien. Speziell für die<br />

Gruppe <strong>de</strong>r geistig behin<strong>de</strong>rten Menschen stellen sie im Anschluss<br />

Konzepte vor, die aus <strong>de</strong>r Allgemeinpädagogik entlehnt und variiert<br />

wur<strong>de</strong>n. Diese und die theoretischen Grundlagen wer<strong>de</strong>n sehr aus-<br />

führlich und übersichtlich abgehan<strong>de</strong>lt, auch wenn sich die Ausführ-<br />

lichkeit gelegentlich sehr auf die veraltete Jantzen-Leontjew-Wy-<br />

gotski-Piaget-Denkweise stützt und mo<strong>de</strong>rnere Abhandlungen zum<br />

Aneignungsprozess durch han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>s Lernen kaum beachtet<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Ab etwa <strong>de</strong>r Hälfte <strong>de</strong>s Buches wird die Unterrichtsform <strong>de</strong>s Pro-<br />

jektunterrichts näher thematisiert und mit <strong>de</strong>n Merkmalen <strong>de</strong>s<br />

- 120 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

handlungsorientierten Unterichts an Schulen für geistig behin<strong>de</strong>rte<br />

Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche verglichen, so wie ihn sich Mühl 1979<br />

vorgestellt hat. Die folgen<strong>de</strong>n Kapitel befassen sich mit <strong>de</strong>r Planung<br />

von Unterricht, abschließend zeigen die Autoren auf zweieinhalb<br />

Seiten die Grenzen von handlungsorientiertem Unterricht, was sie<br />

allerdings absolut unfundiert und ungenau tun - es wird schlicht<br />

nicht klar, ob sie <strong>de</strong>nn nun Grenzen sehen o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong> vermeintliche<br />

Grenze doch in eine Form <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns umge<strong>de</strong>utet wird.<br />

Die optische Gestaltung von „Han<strong>de</strong>ln im Unterricht“ ist anspre-<br />

chend. Die einzelnen Kapitel lassen sich leicht erfassen, verschie-<br />

<strong>de</strong>ne Übungsaufgaben festigen das erworbene Wissen. Darüber<br />

hinaus jedoch bietet das Buch kaum Neues – es scheint, als ob es<br />

auf <strong>de</strong>m Wissensstand <strong>de</strong>r west<strong>de</strong>utschen Geistigbehin<strong>de</strong>rtenpäd-<br />

agogik <strong>de</strong>r frühen 1990er Jahre verfasst wur<strong>de</strong> (auch wenn einige<br />

aktuellere Publikationen herangezogen wer<strong>de</strong>n).<br />

Scot Danforth / Engaging Troubling Stu<strong>de</strong>nts:<br />

Terry Jo Smith: A Constructivist Approach.<br />

Thousand Oaks 2005<br />

Preis: 75,50 €<br />

ISBN: 141290448X<br />

Sebastian Barsch<br />

Konstruktivistische Pädagogik für <strong>de</strong>n Umgang mit verhaltens-<br />

schwierigen Kin<strong>de</strong>rn – so lautet das Thema <strong>de</strong>s Werkes <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />

U.S.-amerikanischen Hochschullprofessoren und Son<strong>de</strong>rpädagogen,<br />

Scot DANFORTH und Terry Jo SMITH. Der Einschlag in eine kon-<br />

struktivistische Aufbereitung <strong>de</strong>s Themas ist für die von lerntheore-<br />

tischen Ansätzen und verhaltensmodifikatorischen Programmen do-<br />

minierte Son<strong>de</strong>rpädagogik in <strong>de</strong>n USA sehr ungewöhnlich – seit<br />

- 121 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

<strong>de</strong>m Werk von MOLNAR und LINQUIST (1990: „Verhaltensprobleme<br />

in <strong>de</strong>r Schule. Lösungsstrategien für die Praxis. Dortmund: Borg-<br />

mann; amerikanische Originalauflage von 1989) wur<strong>de</strong>n kaum wei-<br />

tere, in sich geschlossene Darstellungen zum Umgang mit schwie-<br />

rigen Verhaltensweisen aus systemisch-konstruktivistischer Sicht<br />

vorgelegt. Aber auch für die Diskussion im <strong>de</strong>utschsprachigen<br />

Raum ist das Werk von einigem Interesse, <strong>de</strong>nn es bietet – trotz<br />

seiner nachweislich theoretischen Schwächen – einige Argumenta-<br />

tionslinien, die dazu beitragen können, die Lücke zu schließen in<br />

<strong>de</strong>r Vermittlung von Theorie und Praxis einer konstruktivistischen<br />

Pädagogik bei Verhaltensstörungen in <strong>de</strong>r Schule.<br />

Nach einer geschichtlichen und konzeptionellen Einführung in die<br />

amerikanische Son<strong>de</strong>rpädagogik, in <strong>de</strong>r auch grundlegen<strong>de</strong> Fragen<br />

zum Umgang mit schwierigem Schülerverhalten diskutiert wer<strong>de</strong>n<br />

(Kap. 1), wer<strong>de</strong>n im weiteren die Grundlagen <strong>de</strong>r „Pädagogiken <strong>de</strong>s<br />

Konstruktivismus“ (Kap. 2) erörtert und schließlich Programme und<br />

Praktiken (Kap. 3) beschrieben.<br />

Der von <strong>de</strong>n Autoren eingeführte „kritisch konstruktivistische“ An-<br />

satz führt zu einem radikalen Perspektivwechsel, <strong>de</strong>r mit vielen ein-<br />

gefahrenen Sichtweisen auf schwierige und auffällige Verhaltens-<br />

weisen von Schülern bricht. Die Dekonstruktion <strong>de</strong>r eigenen Wahr-<br />

nehmungen und Haltungen <strong>de</strong>r Pädagogen soll die Konstruktion<br />

neuer Sichtweisen anregen und so zu verän<strong>de</strong>rten Handlungsprak-<br />

tiken im Umgang mit verhaltensschwierigen Schülern führen. Den<br />

Beziehungen (Lehrer-Schüler- und Schüler-Schüler-Interaktionen)<br />

wer<strong>de</strong>n hierbei beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung beigemessen: Unterrichten<br />

wird nicht als Technik verstan<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn als ein Beziehungs-<br />

angebot, das zugleich einer professionellen Reflexion bedarf. Die<br />

Grundlagen für för<strong>de</strong>rliche Lernprozesse wer<strong>de</strong>n durch einen ak-<br />

tiven Einbezug <strong>de</strong>r Schüler geschaffen: durch die Einrichtung eines<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

Unterrichtsangebots als „teilnehmen<strong>de</strong> Klassengemeinschaft“,<br />

durch eine Philosophie <strong>de</strong>s respektvollen Umgangs miteinan<strong>de</strong>r und<br />

ein umsorgen<strong>de</strong>s Miteinan<strong>de</strong>r, durch die Zusammenarbeit und<br />

Teamarbeit in kleinen und größeren Schülergruppen.<br />

Für die Intervention bei schwierigem Schülerverhalten wer<strong>de</strong>n ver-<br />

schie<strong>de</strong>ne Strategien und Interventionsprogramme vorgestellt, von<br />

<strong>de</strong>nen einige bewusst auf die Ressourcen <strong>de</strong>r Mitschülergruppen<br />

setzen. Neben <strong>de</strong>n im <strong>de</strong>utschsprachigen Raum inzwischen recht<br />

bekannten Streitschlichterprogrammen wer<strong>de</strong>n weitere För<strong>de</strong>rpro-<br />

gramme vorgestellt, wie z.B. die Peer-group-Verfahren <strong>de</strong>s Peer<br />

Monitoring und <strong>de</strong>s Circle of Friends o<strong>de</strong>r KEYS (Keeping Every<br />

Youth Successfull), ein aus <strong>de</strong>m ökologischen Ansatz abgeleitetes<br />

regionales För<strong>de</strong>rprogramm für Schüler mit Gefühls- und Verhal-<br />

tensstörungen.<br />

Interessant sind insbeson<strong>de</strong>re auch die Überlegungen, schulischen<br />

Konflikten gegenüber eine verän<strong>de</strong>rte Haltung einzunehmen. Die<br />

Autoren gehen davon aus, dass es sinnvoller ist, Konflikte zwischen<br />

Schülern in <strong>de</strong>r Schule zuzulassen und sie bearbeitbar zu machen,<br />

als erhebliche Energien in <strong>de</strong>m (aussichtslosen) Versuch zu bin<strong>de</strong>n,<br />

sie aus <strong>de</strong>r Schule herauszuhalten: „Rather than spending the<br />

school day running away from problems (and any experienced tea-<br />

cher realizes that problems will hunt you down and find you any-<br />

way), we can take a current predicament as a prime opportunity to<br />

teach the stu<strong>de</strong>nts how to handle things in a better way“ (S. 15f.).<br />

Konflikte sind somit immer auch als Lern-Chancen begreifbar: Rea-<br />

le Konflikte, an <strong>de</strong>nen einzelne Schüler beteiligt sind, bieten die<br />

Möglichkeit, exemplarische Lernprozesse anzustoßen, bei <strong>de</strong>nen<br />

alternative und sozial angemessene Handlungsweisen zur gewalt-<br />

freien Konfliktlösung vermittelt wer<strong>de</strong>n können.<br />

- 123 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

Als Lösungsperspektive für verbesserte Integrationschancen<br />

verhaltensschwieriger Schüler setzten die Autoren ganz zentral auf<br />

die I<strong>de</strong>e, die Schüler in eine Position zu bringen, aus <strong>de</strong>r heraus sie<br />

sich selbst und an<strong>de</strong>re im Kontext <strong>de</strong>r Schule akzeptieren lernen<br />

und die sie vor allem befähigen sollen, kompromisslos ablehnen<strong>de</strong><br />

Haltungen abzubauen, um eine aktive und differenzierte Einstellung<br />

gegenüber schulischen Lehr- und Lernprozessen zu entwickeln und<br />

sich aktiv einzubringen (und einbin<strong>de</strong>n zu lassen).<br />

Ebenso zielen die Autoren auf eine aktive Einbindung <strong>de</strong>r Eltern,<br />

obwohl und gera<strong>de</strong> weil die Eltern <strong>de</strong>r hier betrachteten Schüler-<br />

schaft aus Sicht vieler Lehrer zu <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs problematischen<br />

und „unwilligen“ o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>sinteressierten Elternhäusern zählen. Die<br />

Autoren unterschei<strong>de</strong>n drei Formen <strong>de</strong>r Elternarbeit, bei <strong>de</strong>nen<br />

ebenfalls sehr <strong>de</strong>utlich wird, dass das hier vertretene Verständnis<br />

von konstruktivistischer Pädagogik in erster Linie auf die Reflexion<br />

<strong>de</strong>r eigenen Grundhaltungen und persönlichen Einstellungen<br />

professioneller Pädagogen abzielt: „The three mo<strong>de</strong>ls of working<br />

with parents view parents in very different ways. Parents may be<br />

seen as the recipients of training from school-based experts; as<br />

participants in schooling activities; or as empowered and valued<br />

educational colleagues, knowledgeable co-partners with schools in<br />

the many tasks of raising and educating children ...“ (S. 237).<br />

Die Stärken <strong>de</strong>s Buches liegen vor allem in seinem klaren Aufbau,<br />

<strong>de</strong>r einfachen Lesbarkeit (die unvergleichliche „Leichtigkeit“ <strong>de</strong>r<br />

amerikanischen Wissenschaftssprache zeigt, dass auch wissen-<br />

schaftliche Literatur „Spaß“ bereiten kann und darf) und in <strong>de</strong>r aus-<br />

giebigen Schil<strong>de</strong>rung von Fallbeispielen aus <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r Beschu-<br />

lung verhaltensschwieriger Kin<strong>de</strong>r. In diesem Zusammenhang ist<br />

auch hervorzuheben, dass die Autoren sich nicht auf eine i<strong>de</strong>olo-<br />

gische Diskussion über <strong>de</strong>n För<strong>de</strong>rort einlassen, son<strong>de</strong>rn sehr klar<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

die strukturellen Grenzen <strong>de</strong>r Integration aufzeigen (vgl. Kapitel<br />

10: „Consi<strong>de</strong>ring Inclusive Education“). Konsequenterweise wer<strong>de</strong>n<br />

Fallbeispiele aus allen möglichen För<strong>de</strong>rsettings gewählt: von <strong>de</strong>r<br />

Son<strong>de</strong>rschule für Verhaltensschwierige über Son<strong>de</strong>rklassen bis hin<br />

zu Integrationsversuchen. Die zahlreichen Fallbeispiele stammen<br />

allesamt aus <strong>de</strong>r langjährigen eigenen son<strong>de</strong>rpädagogischen Be-<br />

rufserfahrung <strong>de</strong>r Autoren und wer<strong>de</strong>n nicht nur <strong>de</strong>zidiert (meist<br />

mehrere Seiten lang) aus Sicht <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rpädagogen geschil<strong>de</strong>rt,<br />

um theoretische Überlegungen zu veranschaulichen, son<strong>de</strong>rn auch<br />

ausführlich interpretiert und schließlich als Aufgabe zur eigenen<br />

Reflexion an <strong>de</strong>n Leser weitergereicht, <strong>de</strong>r hierüber zur eigenen Be-<br />

<strong>de</strong>utungsbildung angeregt wird: Eine konsequente Umsetzung kon-<br />

struktivistischer Didaktik in Lehrbuchform!<br />

Das Buch ist im großen und ganzen wenig „theorielastig“ (eine in-<br />

teressante Parallele übrigens zur Mehrheit <strong>de</strong>r Entwürfe konstruk-<br />

tivistischer Pädagogik bei Verhaltensstörungen im <strong>de</strong>utschspra-<br />

chigen Raum!), obwohl es teilweise mit umfangreichen Quellenver-<br />

weisen arbeitet. In diesem mangeln<strong>de</strong>n Theoriebezug liegt zugleich<br />

<strong>de</strong>r wesentlichen Kritikpunkt, <strong>de</strong>nn die von <strong>de</strong>n Autoren be-<br />

schriebenen Vorgehensweisen wer<strong>de</strong>n nur teilweise aus konstruk-<br />

tivistischen Hypothesen abgeleitet. Es wird hiermit dann teilweise<br />

auch fraglich, was an <strong>de</strong>n beschriebenen Maßnahmen nun eigent-<br />

lich das spezifisch „Konstruktivistische“ sei.<br />

Dieses Problem zeigt sich vor allem an einem <strong>de</strong>r Kardinalpunkte<br />

einer konstruktivistisch orientierten Pädagogik bei Verhaltensstö-<br />

rungen: Die Frage nach <strong>de</strong>m Umgang mit <strong>de</strong>n Emotionen <strong>de</strong>r Betei-<br />

ligten. Die Problematik sei exemplarisch an einem Aspekt ange<strong>de</strong>u-<br />

tet: Die Autoren bringen eine ganz hervorragen<strong>de</strong> Analyse, die<br />

ver<strong>de</strong>utlicht, warum die Integration bei <strong>de</strong>r Gruppe <strong>de</strong>r sogenann-<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

ten verhaltensgestörten Schüler sich als äußerst schwierig erweist<br />

(diese Gruppe bleibt die am wenigsten integrativ beschulte Be-<br />

hin<strong>de</strong>rungsgruppe in <strong>de</strong>n USA). Der wesentliche Grund wird darin<br />

gesehen, dass die stark abweichen<strong>de</strong>n und unberechenbaren<br />

Verhaltensweisen dieser Kin<strong>de</strong>r und Jugendlichen auf an<strong>de</strong>re Betei-<br />

ligte, vor allem die Lehrer, höchst irritierend und angstauslösend<br />

wirken und zu<strong>de</strong>m permanent die vermeintliche Kontrolle <strong>de</strong>r Un-<br />

terrichtssituation infrage stellen.<br />

Bei <strong>de</strong>n involvierten Personen (Lehrern und Mitschülern) rufen dann<br />

diese Verhaltensweisen häufig starke affektive Reaktionen und<br />

Emotionen hervor. – Diese Analyse ist aber nur bedingt von prak-<br />

tischem Nutzen, <strong>de</strong>nn aus <strong>de</strong>r konstruktivistischen Perspektive<br />

lassen sich nur schwerlich aussagekräftige Positionen beziehen, die<br />

theoretisch und wissenschaftlich begründbar sind und es ermögli-<br />

chen wür<strong>de</strong>n, eine gezielte Reflexion und Bearbeitung emotionaler<br />

Reaktionen aus ihnen abzuleiten. Es fehlt hier an konstruktivis-<br />

tischen Theoremen, die – etwa vergleichbar zu verschie<strong>de</strong>nen psy-<br />

chodynamischen Ansätzen – diese handlungspraktischen Konse-<br />

quenzen auch theoretisch herzuleiten in <strong>de</strong>r Lage wären.<br />

Auf theoriebil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Ebene bringt das hier betrachtete Werk keine<br />

wesentlichen neuen Erkenntnisse und es vermag das ange<strong>de</strong>utete<br />

konstruktivistische Grundproblem (<strong>de</strong>n Mangel an Erklärungs- und<br />

Interpretationswissen über psychische Prozesse) nicht aufzulösen,<br />

scheint es nicht einmal zu bemerken. Im Übrigen wird <strong>de</strong>r im kon-<br />

struktivistischen Diskurs <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen Son<strong>de</strong>rpädagogik<br />

versierte Leser <strong>de</strong>n Beitrag <strong>de</strong>r systemischen Sichtweise zum Kon-<br />

struktivismus vermissen – erhält dafür aber eine kritische<br />

Diskussion über <strong>de</strong>n die Fachrichtung in <strong>de</strong>n USA dominieren<strong>de</strong>n<br />

lerntheoretischen Ansatz.<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

Der Nutzen <strong>de</strong>s Buchs liegt vor allem auf <strong>de</strong>r praktisch-<br />

beschreiben<strong>de</strong>n Ebene: Es ist ein I<strong>de</strong>enpool für einen Bereich <strong>de</strong>r<br />

Pädagogik, <strong>de</strong>m die I<strong>de</strong>en und Handlungsperspektiven ausgehen zu<br />

scheinen (vgl. die wie<strong>de</strong>raufleben<strong>de</strong> Diskussion über die konfronta-<br />

tive Pädagogik). Es wäre wünschenswert, wenn das Buch einer<br />

breiteren Fachöffentlichkeit von Wissenschaftlern und Praktikern<br />

zugänglich wer<strong>de</strong>n könnte, <strong>de</strong>n es bietet eine Vielzahl an prak-<br />

tischen Einblicken, I<strong>de</strong>en und Denkanstößen, Schule und Unterricht<br />

so zu gestalten, dass auch und gera<strong>de</strong> die sogenannte Schülerpo-<br />

pulation mit schwierigen Verhaltensweisen sinnvoll eingebun<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Empfehlenswert ist das Buch auch <strong>de</strong>shalb, weil es einmal mehr<br />

ver<strong>de</strong>utlicht, dass Fragen <strong>de</strong>s (schulischen) Umgangs mit abwei-<br />

chen<strong>de</strong>m Verhalten einen universalen Problembereich ansprechen<br />

und schwieriges Schülerverhalten enorme Herausfor<strong>de</strong>rungen für<br />

das System Schule und die gesamte Gesellschaft darstellen, un-<br />

abhängig davon, wie sehr sich die einzelnen gesellschaftspoli-<br />

tischen Systeme im Detail voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n mögen.<br />

Falko von Ameln: Konstruktivismus.<br />

Die Grundlagen<br />

systemischer Therapie,<br />

Beratung, und Bildungsarbeit.<br />

Tübingen 2004<br />

Preis: 24,90 €<br />

ISBN: 3-82522-585-2<br />

Marc Willmann<br />

Das hier betrachtete Buch stellt ein komplementäres Gegenstück<br />

dar zum oben rezensierten Werk von Danforth und Smith, <strong>de</strong>nn es<br />

beschäftigt sich vor allem mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>engeschichte und <strong>de</strong>n theore-<br />

tischen Grundlagen <strong>de</strong>s Konstruktivismus. VON AMELN gelingt es<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

überzeugend, die zentralen Grundannahmen und verschie<strong>de</strong>nen<br />

Positionen innerhalb <strong>de</strong>s systemisch-konstruktivistischen Ansatzes<br />

nachzuzeichnen und die verständliche Schreib- und übersichtliche<br />

Darstellungsweise ermöglichen es <strong>de</strong>m Leser, sich auf die Inhalte<br />

zu konzentrieren, was eine große Erleichterung bringt, da <strong>de</strong>r sys-<br />

temisch-konstruktivistische Diskurs mitunter einige begriffliche und<br />

gedankliche Anstrengungen erfor<strong>de</strong>rt.<br />

Das Buch glie<strong>de</strong>rt sich in fünf Kapitel, wovon die ersten vier auf<br />

vergleichsweise wenig Raum (200 Seiten) eine prägnante Darstel-<br />

lung und Diskussion <strong>de</strong>r theoretischen Grundlagen von Konstruk-<br />

tivismus und Systemtheorie beinhalten. Dem Autor gelingt es<br />

vortrefflich, die vielen Faccetten, die <strong>de</strong>m Konstruktivismus als zeit-<br />

genössischer Erkenntnistheorie zugrun<strong>de</strong> liegen und die Vielzahl<br />

unterschiedlicher Disziplinen und Forschungsrichtungen, die ihren<br />

Beitrag geleistet haben, in seine Darstellung zu integrieren. Das<br />

Buch könnte an dieser Stelle getrost en<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn es hat seinen<br />

Auftrag erfüllt und einen angemessenen Rundumriss erarbeitet. Die<br />

dann folgen<strong>de</strong>n drei Beispiele aus unterschiedlichen Kontexten sys-<br />

temischer Praxis, die von verschie<strong>de</strong>nen Autoren beigesteuert<br />

wur<strong>de</strong>n, haben höchstens illustrativen Charakter und geben nur<br />

einen kleinen Einblick in die Vielfältigkeit möglicher Anwendungs-<br />

fel<strong>de</strong>r. Es liegt inzwischen eine ganze Reihe an Arbeiten vor, die<br />

einen umfassen<strong>de</strong>ren Eindruck <strong>de</strong>r unterschiedlichsten<br />

Anwendungskontexte <strong>de</strong>s systemisch-konstruktivistischen Ansatzes<br />

bieten, als es sozusagen im Anhang <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Werkes<br />

gelingen könnte. – Konzentrieren wir uns also auf die beson<strong>de</strong>rs<br />

lohnenswerten ersten 200 Seiten:<br />

Die i<strong>de</strong>engeschichtlichen Vorläufer und die Anfänge <strong>de</strong>s Konstruk-<br />

tivismus und seine enge Verbindung zu systemischen Theorien<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

wer<strong>de</strong>n durch Bezugnahme auf die relevanten Beiträge einzelner<br />

Wissenschaftler und verschie<strong>de</strong>ner wissenschaftlicher Disziplinen<br />

entwickelt und die Erfindung <strong>de</strong>s Radikalen Konstruktivismus nach-<br />

gezeichnet. In diesem Zusammenhang ist beson<strong>de</strong>rs herauszu-<br />

stellen, dass von Ameln sich die Zeit nimmt, neben <strong>de</strong>n üblichen<br />

Protagonisten (wie BROWN, BATESON, PIAGET, WATZLAWICK, MA-<br />

TURANA, VON FOERSTER und VON GLASERSFELD) auch relevante<br />

Beiträge zum Konstruktivismus und seiner I<strong>de</strong>engeschichte zu<br />

beschreiben, die innerhalb <strong>de</strong>s konstruktivistischen Mainstreams<br />

bisher kaum hinreichend beachtet wur<strong>de</strong>n, vor allem die Arbeiten<br />

Emanuel KANTS und die Theorie <strong>de</strong>r persönlichen Konstrukte von<br />

George A. KELLY. Die wissenssoziologische Theorie von Peter L.<br />

BERGER und Thomas LUCKMANN wird lei<strong>de</strong>r auch in <strong>de</strong>r vor-<br />

liegen<strong>de</strong>n Abfassung in <strong>de</strong>n Schatten <strong>de</strong>r Arbeiten von Keneth<br />

GERGEN gestellt und somit marginalisiert. Das ist insofern ein<br />

Verlust, als gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ansatz von BERGER/LUCKMANN eine sehr<br />

hohe theoretische Integrationskraft besitzt und somit kommunika-<br />

tive Anschlussfähigkeit für <strong>de</strong>n wissenschaftlichen Diskurs bietet,<br />

ohne, dass er (wie etwa <strong>de</strong>r Ansatz von LUHMANN) an empirischer<br />

Relevanz einbüßen wür<strong>de</strong>.<br />

Einen in Umfang und inhaltlicher Be<strong>de</strong>utung zentralen Teil <strong>de</strong>s<br />

Buchs macht die Diskussion <strong>de</strong>r Theorie sozialer Systeme von Ni-<br />

klas LUHMANN aus. Die Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>m Luhmannschen Werk<br />

hiermit zugedacht wird, erscheint einerseits angebracht, wenn man<br />

sich Umfang und Komplexität <strong>de</strong>r Theorie vor Augen hält. An<strong>de</strong>rer-<br />

seits aber ist diese Ausführlichkeit sehr fragwürdig, <strong>de</strong>nn es ent-<br />

steht ein klares Missverhältnis zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, teilweise nicht<br />

weniger be<strong>de</strong>utsamen Theoriebeiträgen (es sei nochmals an Kelly<br />

o<strong>de</strong>r BERGER/LUCKMANN erinnert). Zu<strong>de</strong>m bleibt hiermit die in-<br />

ternationale Diskussion unberücksichtigt, für die verschie<strong>de</strong>ne Re-<br />

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Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

zeptionslinien nachzuzeichnen wären: Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Einfluss von Luh-<br />

mann führt zu <strong>de</strong>r für die <strong>de</strong>utschsprachige Diskussion charakteris-<br />

tische enge Verknüpfung von konstruktivistischen und syste-<br />

mischen Überlegungen. Insofern trägt das vorliegen<strong>de</strong> Buch auch<br />

einen ungenauen Titel und wäre vielleicht zutreffen<strong>de</strong>r mit „Das<br />

systemisch-konstruktivistische Paradigma“ zu betiteln.<br />

Bei <strong>de</strong>m Versuch, <strong>de</strong>n Konstruktivismus in seiner theoretischen<br />

Komplexität und <strong>de</strong>r Vielzahl seiner theoretischen Bezüge darzu-<br />

stellen, kann es kaum ausbleiben, dass Korrekturen und<br />

Ergänzungen im Detail notwendig erscheinen. So ist es zum Bei-<br />

spiel nicht zutreffend, dass <strong>de</strong>r Konstruktivismus „keine signifi-<br />

kanten Berührungspunkte“ (S. 176) zu <strong>de</strong>n mathematisch-natur-<br />

wissenschaftlichen Überlegungen aus <strong>de</strong>m Umkreis <strong>de</strong>s Selbst-<br />

organisationsparadigmas und <strong>de</strong>r Chaosforschung herstellen konn-<br />

te. Als Gegenbeispiele lassen sich hier exemplarisch die Arbeiten<br />

von Siegfried J. SCHMIDT und Luc CIOMPI heranzuziehen. – Aber<br />

diese kleineren Kritikpunkte im Detail sind verzeihlich, <strong>de</strong>nn das Po-<br />

tential <strong>de</strong>s Buchs liegt in <strong>de</strong>m enormen Überblicksspektrum zu<br />

einem überkomplexen Gegenstandsbereich – es ähnelt in seiner<br />

Zielsetzung tatsächlich <strong>de</strong>m klassischen Auftrag eines wissenschaft-<br />

lichen Handbuchs.<br />

Die Stärke <strong>de</strong>s Buchs liegt in <strong>de</strong>r Systematisierung <strong>de</strong>r verschie-<br />

<strong>de</strong>nen Theorierichtungen und Protagonisten <strong>de</strong>s systemisch-kon-<br />

struktivistischen Paradigmas und in <strong>de</strong>r profun<strong>de</strong>n Arbeit mit <strong>de</strong>n<br />

relevanten Originalquellen. Das Buch bietet einen sehr gelungenen<br />

Gesamtüberblick als Einstieg in die Thematik und auch für <strong>de</strong>n in<br />

<strong>de</strong>r Thematik geschulten Leser eignet es sich gut als ein Raster zur<br />

Ordnung <strong>de</strong>s eigenen Wissens. Hiermit erfüllt es einen wichtigen<br />

Zweck sowohl für <strong>de</strong>n theoretischen Diskurs als auch für die prak-<br />

- 130 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Rezensionen<br />

tische (son<strong>de</strong>r)pädagogische Arbeit: Grundüberlegungen und<br />

Grundhaltungen <strong>de</strong>s Konstruktivismus wer<strong>de</strong>n auf ihre Ursprünge<br />

und theoretischen Manifestationen zurückführbar. So wird eine ar-<br />

gumentativ begrün<strong>de</strong>te und begründbare Bezugnahme ermöglicht.<br />

Die systematische Aufarbeitung <strong>de</strong>s Themas erscheint auch <strong>de</strong>shalb<br />

dringend notwendig, weil eine Vielzahl <strong>de</strong>r konstruktivistischen Bei-<br />

träge (gera<strong>de</strong> auch in <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>r- und Heilpädagogik) sich vor<br />

allem dadurch auszeichnet, dass Sie kaum fundierte Bezüge zu <strong>de</strong>n<br />

mannigfaltigen theoretischen Grundlagen herleiten bzw. auch nicht<br />

darlegen, auf welche Form von Systemtheorie und/o<strong>de</strong>r Konstruk-<br />

tivismus sie sich jeweils beziehen o<strong>de</strong>r häufig auch nur eine sehr<br />

verkürzte Auffassung repetiert wird. Mit <strong>de</strong>m vorliegen<strong>de</strong>n Buch<br />

kann hier Abhilfe geschaffen wer<strong>de</strong>n.<br />

- 131 -<br />

Marc Willmann<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Veranstaltungshinweise<br />

April 2006<br />

Die Didaktik fragt nach ... / Didaktik bei<br />

Lernbehin<strong>de</strong>rungen<br />

Freitag, 28.04.06 14:00 Uhr - Samstag, 29.04.06<br />

Ort: Hamburg<br />

Veranstaltungshinweise<br />

Die Intention einer je<strong>de</strong>n Schule, ja eines je<strong>de</strong>n Lehrers besteht<br />

darin, <strong>de</strong>n Unterricht in <strong>de</strong>r Schule für Lernbehin<strong>de</strong>rte und in<br />

Schulen, in <strong>de</strong>nen Schülern mit Lernbehin<strong>de</strong>rungen integrativ beschult<br />

wer<strong>de</strong>n, zu verbessern.<br />

Die Didaktik soll in diesem Kontext die Fragen, wer, was, mit wem,<br />

wo, wie, womit, warum und wozu lernen beantworten.<br />

Um die Fragenfülle zu entwirren, lohnt sich ein Exkurs in die Geschichte<br />

<strong>de</strong>r Didaktik bei Lernbehin<strong>de</strong>rungen. Die Seminarteilnehmer<br />

erinnern sich an alte didaktische Konzepte und leiten daraus<br />

Erkenntnisse <strong>de</strong>r aktuellen Didaktik bei Lernbehin<strong>de</strong>rungen ab.<br />

Ein Schwerpunkt <strong>de</strong>s Seminars beschäftigt sich mit <strong>de</strong>r Didaktik bei<br />

Lernbehin<strong>de</strong>rungen in höheren Klassenstufen.<br />

Die didaktischen Prinzipien bil<strong>de</strong>n das Herzstück eines je<strong>de</strong>n guten<br />

Unterrichts. Anhand unterrichtsrelevanter Beispiele wer<strong>de</strong>n im Seminar<br />

Möglichkeiten eines offenen, lebenspraktischen und zeitgemäßen<br />

Unterrichts erarbeitet.<br />

Anmeldung:<br />

http://www.bildungsaka<strong>de</strong>mieson<strong>de</strong>rpaedagogik.<strong>de</strong>/cms/front_content.php?client=4&lang=4&idcat=&idart=638&m=&s<br />

Konflikt- und Krisenmanagement für Lehrkräfte bei<br />

massiven Konfrontationen<br />

Freitag, 28.04.06 14:00 Uhr - Samstag, 29.04.06<br />

Ort: Köln<br />

In diesem Seminar erlernen Sie Ihr individuelles Handwerkzeug,<br />

um sich und an<strong>de</strong>re erfolgreich aus Stress- und Angstsituationen<br />

herauszuführen. Sie erleben in kurzer Zeit, wie Sie vielen <strong>de</strong>nkbaren<br />

Situationen, von Problemen auf <strong>de</strong>r Kommunikationsebene, bis<br />

- 132 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Veranstaltungshinweise<br />

hin zu körperlichen Bedrohungen, kontrolliert und aktiv begegnen<br />

können.<br />

Sie arbeiten also nicht theoretisch, son<strong>de</strong>rn praktisch und trainieren<br />

eine effiziente Abwehr- und Deeskalationsstrategie auf verbaler und<br />

körperlicher Ebene (ZSV®) gegen Bedrohungen und tätliche Angriffe<br />

gegen die eigene Person.<br />

Sie lernen eine Deeskalationsstrategie, die Ihnen hilft, sich in<br />

Krisensituationen aus inaktiven Verhaltensmustern herauszulösen,<br />

sich zu schützen und aktiv, aber angemessen und wirkungsvoll zu<br />

han<strong>de</strong>ln. Sie erlernen <strong>de</strong>n Mut, besonnen zu reagieren und sich<br />

selbst und an<strong>de</strong>ren gegenüber gerecht zu verhalten.<br />

Anmeldung:<br />

http://www.bildungsaka<strong>de</strong>mieson<strong>de</strong>rpaedagogik.<strong>de</strong>/cms/front_content.php?client=4&lang=4&idcat=&idart=637&m=&s<br />

Mai 2006<br />

Schulentwicklung und Schulkultur<br />

Freitag, <strong>de</strong>n 05.05.06 14:00 Uhr bis Samstag, <strong>de</strong>n 06.05.06<br />

15:00 Uhr<br />

Ort: Kassel<br />

Dieses Fortbildungsangebot richtet sich vor allem an Lehrkräfte und<br />

Schulleiterinnen und Schulleiter an För<strong>de</strong>rschulen und soll <strong>de</strong>r<br />

Qualitätsentwicklung <strong>de</strong>r Schulen und <strong>de</strong>r damit einhergehen<strong>de</strong>n<br />

Berufszufrie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Beteiligten dienen. Als thematischer Hintergrund<br />

fungieren Problem- und Belastungsfel<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Schule,<br />

die sich als hemmend o<strong>de</strong>r blockierend für die Gestaltung von<br />

Schulen darstellen und somit die optimale För<strong>de</strong>rung und Begleitung<br />

von Schülerinnen und Schülern erschweren.<br />

Die Inhalte <strong>de</strong>r Veranstaltung orientieren sich in ihrer Schwerpunktsetzung<br />

an <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>r Beteiligten und setzen sich<br />

aus unterschiedlichen Bausteinen zusammen:<br />

Als handlungsleiten<strong>de</strong> Ausgangsfrage stellt sich die Frage, was eine<br />

gute (Son<strong>de</strong>r-/För<strong>de</strong>r-) Schule ausmacht und wie diese gestaltet<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Die Wege zu einer guten Schule sind vielschichtig,<br />

häufig kurvenreich und nicht immer unproblematisch. Aus diesem<br />

Grund sollen im Rahmen <strong>de</strong>s Seminars unterschiedliche<br />

- 133 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Veranstaltungshinweise<br />

Dimensionen von Schulentwicklung genauer beleuchtet und mögliche<br />

Handlungsschritte für Schulen gemeinsam erarbeitet wer<strong>de</strong>n.<br />

Zu diesen Dimensionen gehören folgen<strong>de</strong> Aspekte:<br />

• Teamentwicklung, Kooperation und Kommunikation<br />

• Ursachen von Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n gegen Verän<strong>de</strong>rungen in Schule<br />

• Konflikte, vertraute Strukturen, Angst vor Verän<strong>de</strong>rung etc.<br />

• Strategien zum Umgang mit Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n<br />

• Vereinbarungen<br />

• Wann ist ein Beschluss ein Beschluss und wie kann die<br />

Einhaltung von Vereinbarungen gewährleistet wer<strong>de</strong>n?<br />

• Planung und Evaluation von Entwicklungsvorhaben (z.B. struktureller<br />

Verän<strong>de</strong>rungen, Projekte etc.)<br />

• Umsetzung vorgegebener Erlasse<br />

• Schulklima, Atmosphäre, Schule als Ganzes<br />

• Leiten, Führen und Motivieren<br />

Referenten: Dr. Sven Jennessen und Dr. Nicole Kastirke, Köln<br />

Anmeldung:<br />

http://www.bildungsaka<strong>de</strong>mieson<strong>de</strong>rpaedagogik.<strong>de</strong>/cms/front_content.php?client=4&lang=4&idcat=&idart=639&m=&s<br />

4. Forum für Heil- und Religionspädagogik<br />

Montag 15.05.2006, 09:00 Uhr bis Mittwoch 17.05.2006,<br />

18:00 Uhr<br />

Ort: Bad Honnef<br />

Vom 15. bis 17. Mai 2006 fin<strong>de</strong>t in Bad Honnef das ökumenisch<br />

ausgerichtet 4. Forum für Heil- und Religionspädagogik statt.<br />

Das Forum wen<strong>de</strong>t sich an Personen, die sich in <strong>de</strong>n Bereichen<br />

Heil-/Son<strong>de</strong>rpädagogik und Religionspädagogik/Theologie für Menschen<br />

mit Behin<strong>de</strong>rungen engagieren. Vertreterinnen und Vertreter<br />

<strong>de</strong>r Hochschulen und Universitäten, <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen theologischen<br />

und son<strong>de</strong>rpädagogischen Einrichtungen und Handlungsfel<strong>de</strong>r,<br />

Beauftragte <strong>de</strong>r kirchlichen und staatlichen Schulabteilungen<br />

nutzen dieses Forum zum Austausch und zur Fortbildung, da es zu<strong>de</strong>m<br />

eine kritische Anwaltschaft in Kirche und Gesellschaft für die<br />

Belange von Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungen wahrnimmt.<br />

Das Thema <strong>de</strong>r Tagung lautet: Leibhaftig leben. Der Körper wird<br />

häufig in theologischen, aber auch medizinischen Betrachtungen als<br />

- 134 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Veranstaltungshinweise<br />

ein Gegenüber gedacht. Die Orientierung am Körper und die Einbeziehung<br />

<strong>de</strong>s Körpers in unsere heilpädagogischen, seelsorglichen<br />

und religionspädagogischen Betrachtungen ist dringend notwendig.<br />

Leibhaftigkeit wird als Chance für Erfahrungen verstan<strong>de</strong>n, die mit<br />

<strong>de</strong>m Körper genauso rechnen wie mit <strong>de</strong>m Geist, die we<strong>de</strong>r die<br />

Lust noch die Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Leibes vernachlässigen und zugleich die<br />

Leibhaftigkeit als spirituelle Möglichkeit aufnehmen. Das Forum<br />

wird Impulse geben, wie biblische Bil<strong>de</strong>r, theologische und philosophische<br />

Traditionen mitwirken könnten, <strong>de</strong>n Leib als Weg <strong>de</strong>r<br />

Sinnerfahrung neu wahr zu nehmen.<br />

Nähere Informationen erhalten Sie beim Comenius Institut,<br />

Schreiberstr. 12, 48149 Münster, Telefon +49 (0)251/98101-0,<br />

info@comenius.<strong>de</strong><br />

Juni 2006<br />

Für diesen Monat liegen uns keine Veranstaltungshinweise<br />

vor.<br />

- 135 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Über die Autoren<br />

Über die Autoren<br />

Julia Strupp<br />

Studium <strong>de</strong>r Erziehungswissenschaften und Sozialen Verhaltenswissenschaften<br />

mit Schwerpunkt Heil- und Son<strong>de</strong>rpädagogik an <strong>de</strong>r<br />

FernUniversität in Hagen. Seit April 2005 Wissenschaftliche Hilfskraft<br />

beim Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und<br />

Forschung CEWS in Bonn.<br />

Kontakt: julia.strupp@arcor.<strong>de</strong><br />

Geog Theunissen<br />

Prof. Dr. päd. Georg Theunissen, Ordinarius für Geistigbehin<strong>de</strong>rtenpädagogik<br />

am Institut für Rehabilitationspädagogik <strong>de</strong>s Fachbereichs<br />

Erziehungswissenschaften <strong>de</strong>r Martin-Luther-Universität<br />

Halle-Wittenberg.<br />

Kontakt: Martin-Luther-Universität; FB Erziehungswissenschaften<br />

Institut für Rehabilitationspädagogik;<br />

D-06099 Halle (Saale)<br />

E-mail: theunissen@paedagogik.uni-halle.<strong>de</strong><br />

Sven Jenessen<br />

Dr. phil. Sven Jennessen, Dipl. Heilpädagoge und Son<strong>de</strong>rpädagoge,<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in <strong>de</strong>r Fachrichtung Pädagogik bei<br />

körperlichen Beeinträchtigungen an <strong>de</strong>r Carl von Ossietzky<br />

Universität Ol<strong>de</strong>nburg; Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind<br />

neben thanatopädagogischen und körperbehin<strong>de</strong>rtenpädagogischen<br />

Fragestellungen Aspekte <strong>de</strong>r Qualitätsentwicklung von (För<strong>de</strong>r-)<br />

Schulen unter Berücksichtigung von Schulkultur, Teamentwicklung,<br />

Schulberatung und Gesundheit.<br />

Kontakt: sven.jennessen@uni-ol<strong>de</strong>nburg.<strong>de</strong><br />

- 136 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Hinweise für Autoren<br />

Hinweise für Autoren<br />

Falls Sie in „Heilpädagogik online“ veröffentlichen möchten, bitten<br />

wir Sie, ihre Artikel als Mailanhang an eine <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Adressen<br />

zu sen<strong>de</strong>n:<br />

sebastian.barsch@heilpaedagogik-online.com<br />

tim.bendokat@heilpaedagogik-online.com<br />

markus.brueck@heilpaedagogik-online.com<br />

Texte sollten uns vorzugsweise als reine ASCII-Datei zugesandt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Falls Sie <strong>de</strong>n Text jedoch lieber als Word-Dokument versen<strong>de</strong>n<br />

möchten, können Sie diese Formatvorlage nutzen. Der Umfang<br />

eines Beitrages sollte <strong>de</strong>n eines herkömmlichen Zeitschriften -<br />

Artikels nicht überschreiten, also nicht länger als 20- 25 (maximal)<br />

DIN A4-Seiten sein.<br />

Je<strong>de</strong>r Beitrag soll <strong>de</strong>n Standard-Anfor<strong>de</strong>rungen wissenschaftlichen<br />

Arbeitens entsprechen. Zitate und Vergleiche sind im Text zu kenn-<br />

zeichnen (AUTOR + Jahr, Seite). Dem Beitrag ist ein Verzeichnis<br />

<strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>ten Literatur anzufügen (Nachname, Vorname abge-<br />

kürzt: Titel. Erscheinungsort + Jahr, ggf. Seitenzahlen). Zur In-<br />

formation <strong>de</strong>r Leser ist weiterhin ein kurzes Abstract zu je<strong>de</strong>m Bei-<br />

trag erfor<strong>de</strong>rlich (Umfang max. 10 Zeilen).<br />

- 137 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06


Leserbriefe und Forum<br />

Leserbriefe<br />

Leserbriefe sind erwünscht und wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Aus-<br />

gaben in Auswahl aufgenommen – soweit uns Leserbriefe errei-<br />

chen. Sie sind an folgen<strong>de</strong> Adresse zu richten:<br />

leserbrief@heilpaedagogik-online.com<br />

Alternativ können Sie ihre Meinung auch direkt und ohne Zeitver-<br />

lust im Forum auf unserer Seite kundtun:<br />

http://heilpaedagogik-online.com/netzbrett<br />

Wir wer<strong>de</strong>n die dort vorgenommenen Eintragungen – ob anonym<br />

o<strong>de</strong>r namentlich – nicht löschen o<strong>de</strong>r än<strong>de</strong>rn, sofern sie nicht<br />

gegen gelten<strong>de</strong>s Recht verstoßen o<strong>de</strong>r Personen und Institutionen<br />

beleidigen.<br />

- 138 -<br />

Heilpädagogik online 02/ 06

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