BTI 2012 | Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika

BTI 2012 | Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika BTI 2012 | Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika

09.02.2013 Aufrufe

BTI 2012 | Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika 2 Die Entwicklung Ägyptens, und damit in gewisser Weise die der gesamten Region, erfuhr am 28. Januar 2011 eine entscheidende Wendung. An diesem Tag wies Staatspräsident Hosni Mubarak seinen langjährigen Innenminister Habib al-Adli rüde zurecht, weil die Sicherheitskräfte die Lage trotz Einsatz von scharfer Munition nicht mehr unter Kontrolle hätten. Mubarak entzog al-Adli das Vertrauen und befahl dem ihm selbst unterstellten Militär, die landesweiten Demonstrationen zu beenden und die innere Sicherheit wiederherzustellen. Damit hatte Mubarak sein Schicksal selbst besiegelt. Denn entgegen seiner Einschätzung machten die Generäle ihm schnell und unmissverständlich klar, dass das Militär zwar öffentliche Gebäude und Einrichtungen schützen, aber keinesfalls gegen die eigene Bevölkerung vorgehen werde. Die Loyalität zum Präsidenten sei unverändert, doch Mubarak müsse sich den Forderungen der Demonstranten stellen und eine politische Lösung finden. Damit hatte Mubarak zwei wesentliche Säulen seiner Herrschaft, nämlich Polizei und Militär, in kürzester Zeit verloren. Nur zwei Wochen später trat er zurück. Die Welle der Demonstrationen, die zwischenzeitlich nahezu die gesamte Region erfasst hatte, war nun nicht mehr aufzuhalten. Tunesien hatte wenige Wochen zuvor den Anfang gemacht, und schon hier staunten Staatsbürger und auswärtige Beobachter angesichts des schnellen Abdankens von Staatspräsident Ben Ali am 14. Januar 2011. Aber erst der Erfolg im großen, machtvollen Ägypten, das Hinwegfegen eines seit 30 Jahren regierenden Despoten vom Schlage Mubaraks durch friedliche Demonstrationen setzte das Signal für die folgenden Protestbewegungen in Bahrain, Jemen, Libyen, Syrien und anderen Ländern der Region. Lassen sich aus den Daten des BTI 2012 Hinweise gewinnen, die den Ausbruch dieser Demonstrationen erklären? Ja und nein. Nein deswegen, weil für die Länder, in denen am stärksten gegen Repression und soziale Missstände protestiert wurde, keine einheitliche Entwicklung im Vorfeld der Umbrüche herauszulesen ist. Ja deswegen, weil für die Region als Ganzes nach den positiven Entwicklungen der vergangenen Jahre nun im Berichtszeitraum keine Verbesserungen in allen drei Dimensionen mehr festzustellen sind, also das Niveau von politischer Transformation, wirtschaftlicher Transformation und Managementleistung im regionalen Durchschnitt auf nach wie vor niedrigem Stand stagniert. Abgesehen von einigen länderindividuellen Verbesserungen wurden die positiven Veränderungen, die noch im BTI 2010 festgestellt worden waren, seitens der Regime nicht konsolidierend weiterverfolgt, sondern in manchen Ländern sogar rückgängig gemacht. Dies ist zweifelsohne ein zentraler Grund für die generationen- und länderübergreifende Unzufriedenheit in den Bevölkerungen vieler der untersuchten Länder. Die geringe Reformbereitschaft der meisten Regierungen und der daraus resultierende Veränderungsdruck, der sich im Frühjahr 2011 machtvoll entlud, spiegeln sich in allen drei Untersuchungsdimensionen des BTI wider. Bei der politischen Transformation sind lediglich zwei Ländern nennenswerte Verbesserungen gelungen, namentlich Kuwait (+0,27 Punkte) und Irak (+0,18); alle anderen Länder bleiben konstant oder verschlechtern sich, mit Iran (–0,20) und Jemen (–0,53) als den größten Verlierern. Insgesamt stagnierte die Region hinsichtlich ihrer politischen Transformation auf niedrigem Niveau, und es gibt weiterhin lediglich drei Demokratien in der Region, nämlich die Türkei, der Libanon und der Irak.

BTI 2012 | Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika 3 Im Marktwirtschafts-Index weisen lediglich der Irak und weniger ausgeprägt auch Marokko deutlich positive Veränderungen auf. Selbst die Türkei als regionaler Vorreiter kommt hier auf keine höheren Werte, sondern stagniert auf einem allerdings guten Niveau. Im Bereich der wirtschaftlichen Transformation stellt Saudi-Arabien mit –0,46 Punkten das abgeschlagene Schlusslicht dar. Somit hat nur der Irak in beiden Teildimensionen, also bei politischer und wirtschaftlicher Transformation, spürbare Fortschritte gemacht, nämlich um durchschnittlich 0,27 Punkte. Schließlich weist die Region deutliche Unterschiede hinsichtlich der Steuerungsleistung der einzelnen Regierungen auf. Die starke Verbesserung Syriens (+0,38 Punkte) mag angesichts der im Frühjahr 2011 ausgebrochenen gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Regierungskräften und Demonstranten erstaunen, spiegelt aber tatsächlich gemachte Reformschritte der Assad-Regierung in den vergangenen Jahren wider. Kaum positive Entwicklungen können hingegen der Regierung des sudanesischen Staatspräsidenten Omar al-Bashir attestiert werden: Insbesondere der kompromisslose Umgang mit internationalen Hilfsorganisationen, die im Sommer 2009 aus Darfur verbannt wurden, aber auch die nur sehr zögerliche Umsetzung des Umfassenden Friedensabkommens (Comprehensive Peace Agreement), mit dem 2005 der jahrzehntelange Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südsudan beendet wurde, führten hier zu einer Abwertung um drastische 0,70 Punkte. Politische Transformation Nach den hoffnungsvollen Entwicklungen bei der politischen Transformation, die zahlreiche Länder der Region zwischen 2005 und 2008 gezeigt hatten (und die ihnen im BTI 2010 entsprechende Verbesserungen eingebracht hatten) ist in nahezu allen Ländern Ernüchterung eingekehrt. Einst als „Kairoer“, „Beiruter“ oder „Damaszener Frühling“ gefeiert, wurden zahlreiche Verbesserungen von den jeweiligen Regimen in der letzten Zeit nicht weiter verfolgt oder sogar zurückgenommen. Das wohl bekannteste Beispiel, die zunehmende politische Repression in Ägypten nach den relativ freien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2005, steht dabei nur stellvertretend für den nun eingetretenen Stillstand in fast allen Staaten der Region. Der durchschnittliche Wert für die politische Transformation für alle 19 Staaten verschlechterte sich von 4,21 Punkten im BTI 2010 auf nunmehr 4,13 Punkte. Die Region ist damit die mit Abstand schlechteste aller BTI-Regionen. Sie ist mit Ausnahme der Türkei (7,65 Punkte, Rang 28 bei dieser Teildimension), des Libanon (6,15 Punkte, Rang 57) und des Irak (4,40 Punkte, Rang 85) durchgängig autokratisch regiert. In der Türkei blieb das Demokratieniveau weitgehend stabil, im Libanon jedoch haben sich die Verhältnisse im Vergleich zum BTI 2010 im Bereich des staatlichen Gewaltmonopols und der institutionellen Gewaltenteilung verschlechtert, während Verbesserungen einzig mit Blick auf die Versammlungsfreiheit festgestellt wurden. Der Irak wird im BTI als stark

<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong> 2<br />

Die Entwicklung Ägyptens, <strong>und</strong> damit in gewisser Weise die der gesamten Region, erfuhr am 28.<br />

Januar 2011 eine entscheidende Wendung. An diesem Tag wies Staatspräsident Hosni Mubarak<br />

seinen langjährigen Innenminister Habib al-Adli rüde zurecht, weil die Sicherheitskräfte die Lage<br />

trotz Einsatz von scharfer Munition nicht mehr unter Kontrolle hätten. Mubarak entzog al-Adli das<br />

Vertrauen <strong>und</strong> befahl dem ihm selbst unterstellten Militär, die landesweiten Demonstrationen zu<br />

beenden <strong>und</strong> die innere Sicherheit wiederherzustellen. Damit hatte Mubarak sein Schicksal selbst<br />

besiegelt. Denn entgegen seiner Einschätzung machten die Generäle ihm schnell <strong>und</strong><br />

unmissverständlich klar, dass das Militär zwar öffentliche Gebäude <strong>und</strong> Einrichtungen schützen,<br />

aber keinesfalls gegen die eigene Bevölkerung vorgehen werde. Die Loyalität zum Präsidenten sei<br />

unverändert, doch Mubarak müsse sich den Forderungen der Demonstranten stellen <strong>und</strong> eine<br />

politische Lösung finden. Damit hatte Mubarak zwei wesentliche Säulen seiner Herrschaft, nämlich<br />

Polizei <strong>und</strong> Militär, in kürzester Zeit verloren. Nur zwei Wochen später trat er zurück.<br />

Die Welle der Demonstrationen, die zwischenzeitlich nahezu die gesamte Region erfasst hatte, war<br />

nun nicht mehr aufzuhalten. Tunesien hatte wenige Wochen zuvor den Anfang gemacht, <strong>und</strong> schon<br />

hier staunten Staatsbürger <strong>und</strong> auswärtige Beobachter angesichts des schnellen Abdankens von<br />

Staatspräsident Ben Ali am 14. Januar 2011. Aber erst der Erfolg im großen, machtvollen Ägypten,<br />

das Hinwegfegen eines seit 30 Jahren regierenden Despoten vom Schlage Mubaraks durch<br />

friedliche Demonstrationen setzte das Signal für die folgenden Protestbewegungen in Bahrain,<br />

Jemen, Libyen, Syrien <strong>und</strong> anderen Ländern der Region.<br />

Lassen sich aus den Daten des <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> Hinweise gewinnen, die den Ausbruch dieser<br />

Demonstrationen erklären? Ja <strong>und</strong> nein. Nein deswegen, weil für die Länder, in denen am stärksten<br />

gegen Repression <strong>und</strong> soziale Missstände protestiert wurde, keine einheitliche Entwicklung im<br />

Vorfeld der Umbrüche herauszulesen ist. Ja deswegen, weil für die Region als Ganzes nach den<br />

positiven Entwicklungen der vergangenen Jahre nun im Berichtszeitraum keine Verbesserungen in<br />

allen drei Dimensionen mehr festzustellen sind, also das Niveau von politischer Transformation,<br />

wirtschaftlicher Transformation <strong>und</strong> Managementleistung im regionalen Durchschnitt auf nach wie<br />

vor niedrigem Stand stagniert. Abgesehen von einigen länderindividuellen Verbesserungen wurden<br />

die positiven Veränderungen, die noch im <strong>BTI</strong> 2010 festgestellt worden waren, seitens der Regime<br />

nicht konsolidierend weiterverfolgt, sondern in manchen Ländern sogar rückgängig gemacht. Dies<br />

ist zweifelsohne ein zentraler Gr<strong>und</strong> für die generationen- <strong>und</strong> länderübergreifende Unzufriedenheit<br />

in den Bevölkerungen vieler der untersuchten Länder.<br />

Die geringe Reformbereitschaft der meisten Regierungen <strong>und</strong> der daraus resultierende<br />

Veränderungsdruck, der sich im Frühjahr 2011 machtvoll entlud, spiegeln sich in allen drei<br />

Untersuchungsdimensionen des <strong>BTI</strong> wider. Bei der politischen Transformation sind lediglich zwei<br />

Ländern nennenswerte Verbesserungen gelungen, namentlich Kuwait (+0,27 Punkte) <strong>und</strong> Irak<br />

(+0,18); alle anderen Länder bleiben konstant oder verschlechtern sich, mit Iran (–0,20) <strong>und</strong> Jemen<br />

(–0,53) als den größten Verlierern. Insgesamt stagnierte die Region hinsichtlich ihrer politischen<br />

Transformation auf niedrigem Niveau, <strong>und</strong> es gibt weiterhin lediglich drei Demokratien in der<br />

Region, nämlich die Türkei, der Libanon <strong>und</strong> der Irak.

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