BTI 2012 | Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika
BTI 2012 | Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika BTI 2012 | Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika
BTI 2012 | Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika Von Jan Claudius Völkel * Überblick zu den Transformationsprozessen in Ägypten, Algerien, Bahrain, Irak, Iran, Jemen, Jordanien, Katar, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Oman, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Türkei, Tunesien und den Vereinigten Arabischen Emiraten Dieser Regionalbericht analysiert die Ergebnisse des Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) 2012. Weitere Informationen finden Sie unter www.bti-project.de Zitiervorschlag: Jan Claudius Völkel, BTI 2012 – Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2012. * Dr. Jan Claudius Völkel ist Researcher im Borderlands-Projekt des Robert Schuman Centre for Advanced Studies am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und BTI-Regionalkoordinator Naher Osten und Nordafrika.
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<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong><br />
<strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong><br />
Von Jan Claudius Völkel *<br />
Überblick zu den Transformationsprozessen in Ägypten, Algerien, Bahrain, Irak, Iran, Jemen,<br />
Jordanien, Katar, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Oman, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien,<br />
Türkei, Tunesien <strong>und</strong> den Vereinigten Arabischen Emiraten<br />
Dieser <strong>Regionalbericht</strong> analysiert die Ergebnisse des Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (<strong>BTI</strong>)<br />
<strong>2012</strong>. Weitere Informationen finden Sie unter www.bti-project.de<br />
Zitiervorschlag: Jan Claudius Völkel, <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> – <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong>, Gütersloh:<br />
Bertelsmann Stiftung <strong>2012</strong>.<br />
* Dr. Jan Claudius Völkel ist Researcher im Borderlands-Projekt des Robert Schuman Centre for Advanced Studies am<br />
Europäischen Hochschulinstitut Florenz <strong>und</strong> <strong>BTI</strong>-Regionalkoordinator <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong>.
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Die Entwicklung Ägyptens, <strong>und</strong> damit in gewisser Weise die der gesamten Region, erfuhr am 28.<br />
Januar 2011 eine entscheidende Wendung. An diesem Tag wies Staatspräsident Hosni Mubarak<br />
seinen langjährigen Innenminister Habib al-Adli rüde zurecht, weil die Sicherheitskräfte die Lage<br />
trotz Einsatz von scharfer Munition nicht mehr unter Kontrolle hätten. Mubarak entzog al-Adli das<br />
Vertrauen <strong>und</strong> befahl dem ihm selbst unterstellten Militär, die landesweiten Demonstrationen zu<br />
beenden <strong>und</strong> die innere Sicherheit wiederherzustellen. Damit hatte Mubarak sein Schicksal selbst<br />
besiegelt. Denn entgegen seiner Einschätzung machten die Generäle ihm schnell <strong>und</strong><br />
unmissverständlich klar, dass das Militär zwar öffentliche Gebäude <strong>und</strong> Einrichtungen schützen,<br />
aber keinesfalls gegen die eigene Bevölkerung vorgehen werde. Die Loyalität zum Präsidenten sei<br />
unverändert, doch Mubarak müsse sich den Forderungen der Demonstranten stellen <strong>und</strong> eine<br />
politische Lösung finden. Damit hatte Mubarak zwei wesentliche Säulen seiner Herrschaft, nämlich<br />
Polizei <strong>und</strong> Militär, in kürzester Zeit verloren. Nur zwei Wochen später trat er zurück.<br />
Die Welle der Demonstrationen, die zwischenzeitlich nahezu die gesamte Region erfasst hatte, war<br />
nun nicht mehr aufzuhalten. Tunesien hatte wenige Wochen zuvor den Anfang gemacht, <strong>und</strong> schon<br />
hier staunten Staatsbürger <strong>und</strong> auswärtige Beobachter angesichts des schnellen Abdankens von<br />
Staatspräsident Ben Ali am 14. Januar 2011. Aber erst der Erfolg im großen, machtvollen Ägypten,<br />
das Hinwegfegen eines seit 30 Jahren regierenden Despoten vom Schlage Mubaraks durch<br />
friedliche Demonstrationen setzte das Signal für die folgenden Protestbewegungen in Bahrain,<br />
Jemen, Libyen, Syrien <strong>und</strong> anderen Ländern der Region.<br />
Lassen sich aus den Daten des <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> Hinweise gewinnen, die den Ausbruch dieser<br />
Demonstrationen erklären? Ja <strong>und</strong> nein. Nein deswegen, weil für die Länder, in denen am stärksten<br />
gegen Repression <strong>und</strong> soziale Missstände protestiert wurde, keine einheitliche Entwicklung im<br />
Vorfeld der Umbrüche herauszulesen ist. Ja deswegen, weil für die Region als Ganzes nach den<br />
positiven Entwicklungen der vergangenen Jahre nun im Berichtszeitraum keine Verbesserungen in<br />
allen drei Dimensionen mehr festzustellen sind, also das Niveau von politischer Transformation,<br />
wirtschaftlicher Transformation <strong>und</strong> Managementleistung im regionalen Durchschnitt auf nach wie<br />
vor niedrigem Stand stagniert. Abgesehen von einigen länderindividuellen Verbesserungen wurden<br />
die positiven Veränderungen, die noch im <strong>BTI</strong> 2010 festgestellt worden waren, seitens der Regime<br />
nicht konsolidierend weiterverfolgt, sondern in manchen Ländern sogar rückgängig gemacht. Dies<br />
ist zweifelsohne ein zentraler Gr<strong>und</strong> für die generationen- <strong>und</strong> länderübergreifende Unzufriedenheit<br />
in den Bevölkerungen vieler der untersuchten Länder.<br />
Die geringe Reformbereitschaft der meisten Regierungen <strong>und</strong> der daraus resultierende<br />
Veränderungsdruck, der sich im Frühjahr 2011 machtvoll entlud, spiegeln sich in allen drei<br />
Untersuchungsdimensionen des <strong>BTI</strong> wider. Bei der politischen Transformation sind lediglich zwei<br />
Ländern nennenswerte Verbesserungen gelungen, namentlich Kuwait (+0,27 Punkte) <strong>und</strong> Irak<br />
(+0,18); alle anderen Länder bleiben konstant oder verschlechtern sich, mit Iran (–0,20) <strong>und</strong> Jemen<br />
(–0,53) als den größten Verlierern. Insgesamt stagnierte die Region hinsichtlich ihrer politischen<br />
Transformation auf niedrigem Niveau, <strong>und</strong> es gibt weiterhin lediglich drei Demokratien in der<br />
Region, nämlich die Türkei, der Libanon <strong>und</strong> der Irak.
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Im Marktwirtschafts-Index weisen lediglich der Irak <strong>und</strong> weniger ausgeprägt auch Marokko<br />
deutlich positive Veränderungen auf. Selbst die Türkei als regionaler Vorreiter kommt hier auf<br />
keine höheren Werte, sondern stagniert auf einem allerdings guten Niveau. Im Bereich der<br />
wirtschaftlichen Transformation stellt Saudi-Arabien mit –0,46 Punkten das abgeschlagene<br />
Schlusslicht dar. Somit hat nur der Irak in beiden Teildimensionen, also bei politischer <strong>und</strong><br />
wirtschaftlicher Transformation, spürbare Fortschritte gemacht, nämlich um durchschnittlich 0,27<br />
Punkte.<br />
Schließlich weist die Region deutliche Unterschiede hinsichtlich der Steuerungsleistung der<br />
einzelnen Regierungen auf. Die starke Verbesserung Syriens (+0,38 Punkte) mag angesichts der im<br />
Frühjahr 2011 ausgebrochenen gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Regierungskräften <strong>und</strong><br />
Demonstranten erstaunen, spiegelt aber tatsächlich gemachte Reformschritte der Assad-Regierung<br />
in den vergangenen Jahren wider. Kaum positive Entwicklungen können hingegen der Regierung<br />
des sudanesischen Staatspräsidenten Omar al-Bashir attestiert werden: Insbesondere der<br />
kompromisslose Umgang mit internationalen Hilfsorganisationen, die im Sommer 2009 aus Darfur<br />
verbannt wurden, aber auch die nur sehr zögerliche Umsetzung des Umfassenden<br />
Friedensabkommens (Comprehensive Peace Agreement), mit dem 2005 der jahrzehntelange<br />
Bürgerkrieg zwischen Nord- <strong>und</strong> Südsudan beendet wurde, führten hier zu einer Abwertung um<br />
drastische 0,70 Punkte.<br />
Politische Transformation<br />
Nach den hoffnungsvollen Entwicklungen bei der politischen Transformation, die zahlreiche<br />
Länder der Region zwischen 2005 <strong>und</strong> 2008 gezeigt hatten (<strong>und</strong> die ihnen im <strong>BTI</strong> 2010<br />
entsprechende Verbesserungen eingebracht hatten) ist in nahezu allen Ländern Ernüchterung<br />
eingekehrt. Einst als „Kairoer“, „Beiruter“ oder „Damaszener Frühling“ gefeiert, wurden<br />
zahlreiche Verbesserungen von den jeweiligen Regimen in der letzten Zeit nicht weiter verfolgt<br />
oder sogar zurückgenommen. Das wohl bekannteste Beispiel, die zunehmende politische<br />
Repression in Ägypten nach den relativ freien Präsidentschafts- <strong>und</strong> Parlamentswahlen 2005, steht<br />
dabei nur stellvertretend für den nun eingetretenen Stillstand in fast allen Staaten der Region.<br />
Der durchschnittliche Wert für die politische Transformation für alle 19 Staaten verschlechterte<br />
sich von 4,21 Punkten im <strong>BTI</strong> 2010 auf nunmehr 4,13 Punkte. Die Region ist damit die mit<br />
Abstand schlechteste aller <strong>BTI</strong>-Regionen. Sie ist mit Ausnahme der Türkei (7,65 Punkte, Rang 28<br />
bei dieser Teildimension), des Libanon (6,15 Punkte, Rang 57) <strong>und</strong> des Irak (4,40 Punkte, Rang 85)<br />
durchgängig autokratisch regiert. In der Türkei blieb das Demokratieniveau weitgehend stabil, im<br />
Libanon jedoch haben sich die Verhältnisse im Vergleich zum <strong>BTI</strong> 2010 im Bereich des staatlichen<br />
Gewaltmonopols <strong>und</strong> der institutionellen Gewaltenteilung verschlechtert, während Verbesserungen<br />
einzig mit Blick auf die Versammlungsfreiheit festgestellt wurden. Der Irak wird im <strong>BTI</strong> als stark
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defekte Demokratie eingestuft. Das Land setzte die 2007 begonnene positive Entwicklung auch im<br />
jüngsten Berichtszeitraum fort. So verbesserten sich sowohl die Unabhängigkeit der Justiz als auch<br />
die Professionalität der öffentlichen Verwaltung. Ebenso konsolidierte sich das Parteienwesen,<br />
wenngleich auf nach wie vor sehr niedrigem Niveau.<br />
Alle anderen Staaten werden, wie in Tabelle 1 ersichtlich, im <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> nach wie vor als<br />
Autokratien eingeordnet. Kuwait übertrifft mit einem Wert von 4,95 (Rang 79) zwar den Irak, wird<br />
aufgr<strong>und</strong> nicht ausreichend freier <strong>und</strong> fairer Wahlen aber weiterhin als Autokratie gewertet – wenn<br />
auch als die mit Abstand offenste <strong>und</strong> politisch am weitesten liberalisierte Autokratie der Region.<br />
Tab. 1: Entwicklungsstand der politischen Transformation<br />
Die bemerkenswerteste Veränderung in Kuwait war der erstmalige Einzug weiblicher<br />
Abgeordneter ins nationale Parlament nach den Wahlen 2009; damit einhergehend gelten auch die<br />
Performanz der demokratischen Institutionen <strong>und</strong> deren öffentliche Unterstützung als leicht<br />
verbessert.<br />
Wenig Gr<strong>und</strong> zum Optimismus bieten die Entwicklungen innerhalb der restlichen autoritären<br />
Staaten der Region. Lediglich die Vereinigten Arabischen Emirate (Rang 90) <strong>und</strong> Tunesien (Rang<br />
100) erzielten minimale Verbesserungen – bei allen anderen Staaten stagniert der Trend oder zeigt<br />
sogar nach unten. Für Tunesien gaben Fortschritte im Bereich der Meinungs- <strong>und</strong><br />
Versammlungsfreiheit den Ausschlag für eine verbesserte Einstufung. Im Falle der Vereinigten<br />
Arabischen Emirate sind vor allem Fortschritte im Bereich der Korruptionsbekämpfung zu nennen,<br />
Rückschritte gab es in den Emiraten hingegen bei der Presse- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit.
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Ansonsten bleiben ausschließlich negative Entwicklungen zu konstatieren. Den deutlichsten<br />
Einbruch bei der politischen Transformation verzeichnete der Jemen mit –0,53 Punkten (Rang<br />
104). Bei sieben der insgesamt 18 Einzelwerte für politische Transformation erfuhr das Land – in<br />
den 1990er Jahren einer der „demokratischen Hoffnungsträger“ <strong>und</strong> auch im <strong>BTI</strong> 2010 noch mit<br />
einigen Verbesserungen notiert – teils deutliche Abwertungen. Alarmierend sind dabei die<br />
Verschlechterungen im Bereich der Staatlichkeit sowie der Meinungs- <strong>und</strong> der Pressefreiheit. Der<br />
Länderbericht beschreibt detailliert, wie Staatspräsident Ali Abdallah Salih schleichend, aber<br />
beständig an Autorität verlor. Die Massenk<strong>und</strong>gebungen <strong>und</strong> die folgenden schweren<br />
Ausschreitungen zwischen Demonstranten <strong>und</strong> Sicherheitskräften im Frühjahr 2011 erscheinen so<br />
als Fortsetzung einer vor längerer Zeit begonnenen, kontinuierlichen Entwicklung.<br />
Weiter spitzten sich auch die Entwicklungen im Sudan zu, gegen dessen Präsidenten Omar al-<br />
Bashir im Frühsommer 2009 Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs erlassen wurde. Mit<br />
der Einsetzung einer „Regierung der nationalen Einheit“ im Sudan waren große Hoffnungen<br />
verb<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> in der Tat waren nach 2005 einige Fortschritte erkennbar. Die aktuelle Ausgabe des<br />
<strong>BTI</strong> verzeichnet bezüglich der politischen Transformation jedoch einen Rückgang um 0,15 Punkte,<br />
sodass der Sudan bei dieser Dimension nur noch auf Rang 119 von 128 Ländern rangiert. Zwar<br />
wurden die Vorgaben des „umfassenden Friedensabkommens“ von 2005, das den jahrzehntelangen<br />
Konflikt zwischen dem Norden <strong>und</strong> Süden des Landes offiziell beendete, weitgehend umgesetzt –<br />
am eindrücklichsten dabei das nach mehreren Verschiebungen am 9. Januar 2011 endlich<br />
durchgeführte Referendum im Südsudan über die Unabhängigkeit vom Norden. Doch wurden die<br />
Freiheitsrechte eingeschränkt <strong>und</strong> zivilgesellschaftliche Gruppen in ihrer Arbeit derart behindert,<br />
dass die Verschlechterungen die Verbesserungen überwiegen.<br />
Ein vergleichbares Bild gibt der Iran ab, dessen Werte für die politische Transformation – im <strong>BTI</strong><br />
2010 bereits deutlich gesunken – sich nochmals um 0,20 Punkte verschlechterten <strong>und</strong> das Land<br />
nunmehr auf Rang 114 abfallen ließen. Dabei sind die Aussichten auf eine Demokratisierung hier<br />
geringer als in den meisten Ländern der Region, denn die Auseinandersetzung zwischen<br />
demokratischen Reformkräften <strong>und</strong> der Regierung, die momentan in so vielen Ländern der Region<br />
geführt wird, wurde im Iran bereits im Sommer 2009 entschieden – zugunsten der Regierung. Nach<br />
den nachweislich manipulierten Präsidentschaftswahlen vom 12. Juni 2009 war es in den großen<br />
Städten Irans zu wochenlangen Demonstrationen gegen Staatspräsident Mahmud Ahmadinejad<br />
gekommen; mit massivem Polizei- <strong>und</strong> Militäreinsatz gelang es der Regierung, die „grüne<br />
Bewegung“ niederzuschlagen. Etliche Oppositionsvertreter wurden hingerichtet oder sitzen bis<br />
heute im Gefängnis.<br />
Auch die Staaten des Golfkooperationsrats – im <strong>BTI</strong> 2010 noch mit vielen positiven<br />
Veränderungen aufgefallen – haben mit Ausnahme der Vereinigten Arabischen Emirate <strong>und</strong><br />
Kuwaits schlechtere Werte für den Stand der politischen Transformation erzielt. Während Bahrain<br />
bei der politischen Transformation nun auf Rang 88 rangiert, fielen Oman sowie Saudi-Arabien<br />
gleichermaßen um 0,10 Punkte ab <strong>und</strong> liegen nun auf Rang 99 beziehungsweise 123. Saudi-<br />
Arabien ist nach wie vor das autoritärste Land der gesamten Region. Hier führten<br />
Verschlechterungen in der Leistung der öffentlichen Verwaltung <strong>und</strong> Rückschritte bei der
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Meinungs- <strong>und</strong> Pressefreiheit sowie der Gewaltenteilung zur Abwertung. Letzteres führte auch im<br />
Oman zur Abwertung, negativ verstärkt durch eine zunehmend eingeschränkte Unabhängigkeit der<br />
Justiz.<br />
Auch Katar (Rang 91) bestätigte seine zuletzt hoffnungsvollen Liberalisierungsschritte nicht <strong>und</strong><br />
fiel um 0,12 Punkte zurück. Zum einen wird in dem kleinen Emirat ein stärkerer Einfluss religiöser<br />
Würdenträger auf den politischen Prozess ausgemacht, zum anderen wurden die Gewaltenteilung<br />
sowie die Bürgerrechte zunehmend verletzt. Zur Abwertung führte zudem die Tatsache, dass die<br />
ursprünglich einmal für 2004 vorgesehenen Parlamentswahlen im Berichtszeitraum ein weiteres<br />
Mal verschoben wurden <strong>und</strong> nun erst für 2013 anberaumt sind.<br />
Die nordafrikanischen Staaten (mit Ausnahme Tunesiens) <strong>und</strong> die Länder der Levante gehören<br />
schließlich allesamt zu den Verlierern. Auf äußerst niedrigem Niveau verblieb Syrien, das seit den<br />
Fortschritten nach dem Abzug aus dem Libanon 2005 ohne nennenswerte Änderungen bei der<br />
politischen Transformation nach wie auf Rang 115 aller 128 <strong>BTI</strong>-Länder steht. Das harte Vorgehen<br />
der Regierung gegen die Demonstrierenden im Jahr 2011 zeigt in erschreckender Weise die<br />
Unmenschlichkeit des technokratischen Regimes <strong>und</strong> führt Syrien in Zustände zurück, die man mit<br />
dem Tod von Hafiz al-Assad überw<strong>und</strong>en gehalten hätte.<br />
Gleiches gilt für Libyen. Das Land, bei der politischen Transformation in den vergangenen Jahren<br />
stets auf extrem niedrigem Niveau, wurde aufgr<strong>und</strong> verschlechterter Presse- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit,<br />
die nun auf dem untersten Niveau rangiert, sowie wegen Einschränkungen bei der Unabhängigkeit<br />
der Justiz nochmals um 0,10 Punkte abgewertet <strong>und</strong> befindet sich damit nun auf Rang 117. Obwohl<br />
das Regime um Muammar al-Gaddafi das eigene Land stets als Musterbeispiel für eine<br />
funktionierende direkte Demokratie dargestellt hatte <strong>und</strong> es sogar als Modell für die gesamte Welt<br />
propagierte, sind in Wirklichkeit nicht einmal mehr Ansätze von funktionierender Demokratie zu<br />
finden. Und dies, obwohl die jüngsten, mit großer Brutalität gegen die Oppositionsbewegung<br />
durchgeführten Unterdrückungsmaßnahmen erst nach Beendigung des Untersuchungszeitraums für<br />
den <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> einsetzten, nämlich ab dem 16. Februar 2011.<br />
In Ägypten setzte sich der bereits im letzten <strong>BTI</strong> festgestellte Abwärtstrend im politischen Bereich<br />
bis zum Ende von Hosni Mubaraks Amtszeit als Staatspräsident am 11. Februar 2011 fort. Das<br />
Land erfährt eine Abwertung um 0,13 Punkte, sodass Ägypten im aktuellen Demokratie-Ranking<br />
nur noch auf Rang 91 liegt. Damit zählte das Mubarak-Regime mit einem Wert von 4,08 zwar noch<br />
zu den moderaten Autokratien, jedoch nur noch mit leichtem Abstand zur untersten Kategorie, den<br />
harten Autokratien (ab einem Wert kleiner als 4,00). Verschlechterungen wurden insbesondere im<br />
Bereich der Versammlungsfreiheit, der Gewaltenteilung <strong>und</strong> der Unabhängigkeit der Justiz<br />
verzeichnet. Für Letzteres war die Beschneidung der Beaufsichtigungsrechte von Richtern bei der<br />
Durchführung von landesweiten Wahlen ausschlaggebend, die man ihnen erst eingeräumt <strong>und</strong> dann<br />
wieder entzogen hatte. Zudem installierte das Mubarak-Regime parallele Sondergerichte, um mehr<br />
<strong>und</strong> mehr Justizverfahren unter unmittelbare Kontrolle zu bekommen. Diese Sondergerichte<br />
unterlagen keinerlei zivilrechtlicher Kontrolle <strong>und</strong> schränkten die gr<strong>und</strong>legenden Bürgerrechte der<br />
Angeklagten in deutlicher Weise ein.
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In Algerien wurden vor allem die politischen Partizipationsmöglichkeiten von Interessengruppen<br />
eingeschränkt. Neben der offiziellen Gewerkschaft Union générale des travailleurs Algériens haben<br />
es die kleineren, autonomen Gewerkschaften zunehmend schwerer, für die Interessen ihrer<br />
Mitglieder einzutreten. Gegenüber dem Lehrerverband Conseil national des enseignants<br />
contractuels ging der Staatsapparat beispielsweise bei mehreren Protestaktionen im Jahr 2009<br />
ausgesprochen repressiv vor: Demonstrationsteilnehmer wurden verhaftet oder von Polizeikräften<br />
auf offener Straße zusammengeschlagen, sodass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten.<br />
Derartige Maßnahmen trafen auch einige weitere Gewerkschaften. Dass die innenpolitische<br />
Situation in Algerien im Vergleich zu anderen arabischen Ländern dennoch relativ ruhig blieb, hat<br />
vor allem zwei Gründe: Zum einen reagierte das Regime von Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika<br />
auf die im Januar 2011 aufkommenden Proteste relativ schnell <strong>und</strong> hob am 23. Februar 2011 den<br />
seit 19 Jahren währenden Ausnahmezustand auf; zum anderen leidet die algerische Gesellschaft<br />
immer noch unter dem Trauma des Bürgerkriegs (1992–2000), sodass für die Mehrheit der<br />
Bevölkerung öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Ruhe wichtiger sind als Forderungen nach Demokratie.<br />
Jordanien verharrt bei der politischen Transformation zwar auf Rang 97, allerdings mit einem um<br />
0,10 Punkte verschlechterten Wert (jetzt 3,92 Punkte). Gr<strong>und</strong> dafür waren Abwertungen in den<br />
Bereichen Gewaltmonopol <strong>und</strong> Staatsidentität, die durch einige Zusammenstöße der Clans in den<br />
ländlichen Gegenden r<strong>und</strong> um Ajlun, Mafraq <strong>und</strong> anderen Städten hervorgerufen wurden.<br />
Höhepunkt der gewaltsamen Auseinandersetzungen waren die Parlamentswahlen im November<br />
2010, bei denen es zu Unruhen an verschiedenen Orten des Landes kam.<br />
Insgesamt lassen sich für die Mehrzahl der untersuchten Länder leichte bis deutliche Rückschritte<br />
bei der politischen Transformation konstatieren. Die Öffnungstendenzen r<strong>und</strong> um das Jahr 2005<br />
haben sich als temporäre Ausnahme, nicht aber als Trendwende in der „demokratieresistenten“<br />
Region erwiesen. Die jetzige Demokratisierungswelle ist im Gegensatz dazu jedoch von unten<br />
getragen anstatt von oben verordnet, sodass Anlass zur Hoffnung besteht, dass zumindest in<br />
Tunesien <strong>und</strong> Ägypten tatsächlich nachhaltige Demokratisierungsschritte eingeleitet werden<br />
können.<br />
Wirtschaftliche Transformation<br />
Bei der wirtschaftlichen Transformation ist „Stagnation“ das prägende Stichwort für die<br />
Beschreibung der jüngsten Entwicklungen. Bemerkenswert ist einzig der Aufstieg Katars von der<br />
zweitbesten in die beste Kategorie – das kleine Emirat ist damit die einzige „entwickelte<br />
Marktwirtschaft“ der Region. Das Gegenstück dazu bildet der Sudan, der den Irak als regionales<br />
Schlusslicht abgelöst hat. Positiv ist der Sprung Marokkos von der zweitschlechtesten Kategorie<br />
ins Mittelfeld mit einer Einstufung als „Marktwirtschaft mit Funktionsdefiziten“. Allerdings fiel<br />
Oman, im letzten <strong>BTI</strong> erst aufgestiegen, in ebendiese Kategorie wieder zurück. Keine Kategorie-
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Änderungen gab es für die verbleibenden 16 Länder: Vier Volkswirtschaften gehören nach wie vor<br />
zur zweitbesten Kategorie der „funktionsfähigen Marktwirtschaften“, sieben unverändert ins<br />
Mittelfeld der „Marktwirtschaften mit Funktionsdefiziten“ <strong>und</strong> fünf zur zweitschlechtesten<br />
Kategorie der „schlecht funktionierenden Marktwirtschaften“ (vgl. Tab. 2).<br />
Tab. 2: Entwicklungsstand der wirtschaftlichen Transformation<br />
Katar (+0,18 Punkte, Rang 14 aller 128 <strong>BTI</strong>-Länder bei dieser Teildimension) setzte den erklärten<br />
Transformationsprozess von einer rentenbasierten hin zu einer wissensbasierten Gesellschaft fort<br />
<strong>und</strong> erzielte Verbesserungen insbesondere in den Bereichen Antimonopolpolitik, Stärkung privaten<br />
Unternehmertums <strong>und</strong> Umweltschutz. So startete Vodafone am 1. März 2009 als erster<br />
Wettbewerber im katarischen Mobilfunksektor, der zuvor exklusiv dem staatlichen Anbieter QTel<br />
vorbehalten war. Verbesserungen brachten auch Änderungen am Investitionsgesetz im Jahr 2010,<br />
die die Beteiligungsmöglichkeiten ausländischer Investoren im Land erhöhen.<br />
Die Abwertung Omans (Rang 33) um 0,14 Punkte ist Verschlechterungen im Umwelt- <strong>und</strong><br />
Bildungsbereich geschuldet. Bei Letzterem herrscht nach wie vor eine enorme Kluft zwischen dem<br />
Ausbildungsniveau <strong>und</strong> den Bedürfnisses des omanischen Arbeitsmarktes. Marokkos verbesserte<br />
Einstufung (+0,21 Punkte, Rang 79) basiert vor allem auf Erleichterungen des Außenhandels durch<br />
neue Zollbestimmungen <strong>und</strong> einer erhöhten Beachtung von Umweltbelangen. Die National Charter<br />
for Environment and Sustainable Development, verabschiedet im April 2010, bildet einen festen<br />
Rahmen für alle wirtschaftlichen Aktivitäten unter ökologischen Gesichtspunkten <strong>und</strong> bietet<br />
Referenzwerte für die Einhaltung umweltpolitischer Standards. Zwar ist zweifelhaft, ob damit<br />
tatsächlich reelle Fortschritte erzielt werden können, aber immerhin ist damit erstmals eine<br />
offizielle Absichtserklärung zur Berücksichtigung umweltpolitischer Belange gegeben.
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Die stärksten Verbesserungen erzielte der Irak, der die „rote Laterne“ an den Sudan abgab <strong>und</strong> mit<br />
einem Plus von +0,36 Punkten um neun Plätze nach oben kletterte (auf Rang 107). Damit liegt das<br />
Land zwar immer noch in einem sehr schlechten Bereich, mit der stetig verbesserten<br />
Sicherheitslage wurden aber einige Rahmenbedingungen für Wettbewerb einschließlich der<br />
Monopolbekämpfung, dem Schutz der Eigentumsrechte <strong>und</strong> dem Umweltschutz geschaffen. Die<br />
Einsetzung eines Council for Competitiveness and the Prevention of Monopoly im März 2010 ist<br />
ein eindrückliches Beispiel für die erzielten Verbesserungen.<br />
Die größten Verschlechterungen hingegen betrafen Saudi-Arabien. Die Finanzdisziplin wurde in<br />
den vergangenen Jahren zunehmend kurzfristigen ökonomischen Interessen geopfert, die<br />
nominalen Staatsausgaben wurden verdreifacht. Außerdem stützt sich die saudische Wirtschaft zu<br />
sehr auf Ölexporte (<strong>und</strong> hier vor allem auf einen hohen Ölpreis), da zu wenig in produktive<br />
Wirtschaftszweige investiert wurde <strong>und</strong> die ökonomischen Strukturen nicht ausreichend<br />
diversifiziert wurden.<br />
Saudi-Arabien <strong>und</strong> Oman sind die einzigen Mitgliedsstaaten des Golfkooperationsrates, die nicht<br />
als mindestens funktionsfähige Marktwirtschaften gelten. Kuwait erreichte mit einem Wert von<br />
7,14 Punkten genau den gleichen Wert wie im <strong>BTI</strong> 2010. Verschlechterungen um 0,21 bzw. um<br />
0,25 Punkte waren hingegen für die Vereinigten Arabischen Emirate (Rang 23) <strong>und</strong> Bahrain (Rang<br />
21) zu verzeichnen.<br />
Während in den Vereinigten Arabischen Emiraten die Antimonopolgesetzgebung leichte<br />
Fortschritte machte, gab es Abwertungen in den Bereichen Bankenwesen <strong>und</strong><br />
Inflationsbekämpfung, da insbesondere der Finanzstandort Dubai starke Rückschläge durch die<br />
Weltfinanzkrise 2008/2009 hinnehmen musste. Hier wurde das Fehlen geeigneter Aufsichts- <strong>und</strong><br />
Kontrollstrukturen im Bankensektor schmerzhaft deutlich: In diesem Sektor wurde 2009 ein<br />
Profitrückgang um 24 Prozent verzeichnet. Nach einer Wachstumsrate von 13 Prozent (2006)<br />
wuchs die Gesamtwirtschaft im Jahr 2010 nur noch um 2,1 Prozent. Rückschritte gab es auch im<br />
Bereich des Umweltschutzes, wo die stark zunehmende Bevölkerungszahl <strong>und</strong> der damit<br />
verb<strong>und</strong>ene steigende Verbrauch natürlicher Ressourcen nicht ausreichend umweltpolitisch<br />
flankiert werden: Im internationalen Vergleich haben die Einwohner der Vereinigten Arabischen<br />
Emiraten die schlechteste CO2-Bilanz pro Kopf. Bahrain verbesserte zwar sein Bankenwesen <strong>und</strong><br />
verfügt nach Ansicht von Analysten des Weltwirtschaftsforums über den weltweit am weitesten<br />
liberalisierten Finanzsektor, weist jedoch Rückschritte bei den sozialen Sicherungssystemen <strong>und</strong><br />
der Chancengleichheit auf. Ersteres bezieht sich wesentlich auf die zahlreichen ausländischen<br />
Gastarbeiter, die beispielsweise von der im April 2010 beschlossenen Anhebung des Mindestlohnes<br />
wurden, Letzteres vor allem auf die schiitische Bevölkerungsmehrheit, die im Gegensatz zur<br />
sunnitischen Minderheit in Politik, Militär <strong>und</strong> öffentlicher Verwaltung deutlich unterrepräsentiert<br />
ist.<br />
In der Türkei ist trotz fortgesetzter EU-Beitrittsbemühungen eine Stagnation im wirtschaftlichen<br />
Transformationsprozess eingetreten. Wie auch im <strong>BTI</strong> 2010 wurde ein Gesamtwert von 7,43<br />
Punkten erreicht, was einer Platzierung auf Rang 21 für diese Untersuchungsdimension für den <strong>BTI</strong>
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<strong>2012</strong> entspricht. Leichten Verbesserungen im Bereich der Eigentumsrechte standen dabei<br />
Verschlechterungen im Sozialsystem gegenüber. Nach wie vor sind nur etwa 80 Prozent der<br />
türkischen Bevölkerung in soziale Sicherungsmechanismen eingeb<strong>und</strong>en.<br />
Auch in Ägypten stockte der wirtschaftliche Transformationsprozess. Das Land verharrte mit<br />
einem Wert von 5,43 Punkten auf Rang 67. Der Stillstand im Wirtschaftsbereich in Kombination<br />
mit den weiter oben beschriebenen Einschränkungen politischer Partizipationsmöglichkeiten sind<br />
anschauliche Gründe für die Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung, die sich in den<br />
vergangenen Jahren zunehmend aufstauten <strong>und</strong> sich dann in den Massenprotesten auf dem Tahrir-<br />
Platz im Januar <strong>und</strong> Februar 2011 entluden.<br />
Ähnliches lässt sich für Tunesien, Ausgangspunkt des „arabischen Frühlings“, konstatieren. Hier<br />
verschlechterten sich vor allem die marktwirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen, nicht zuletzt<br />
hervorgerufen durch hohe Korruption <strong>und</strong> schleppende Arbeit der Behörden. Für die Bevölkerung<br />
war die Erhöhung der Benzinpreise um vier Prozent im Jahr 2010 besonders spürbar, eine<br />
Maßnahme, mit der die Regierung die steigenden Subventionen bremsen wollte. Zusammen mit<br />
den steigenden Lebensmittelpreisen sowie dem abflauenden Wirtschaftswachstum (3,2 Prozent im<br />
Jahr 2010 nach 6,3 Prozent im Jahr 2007) verschärfte sich der wirtschaftliche Druck für die<br />
Bevölkerung während der vergangenen Jahre zunehmend. Auffällig zudem: Als einziges Land der<br />
gesamten Region verringerte Tunesien nach 2008 seine Leistungen für die soziale Sicherung,<br />
sodass die Bevölkerung auch hier vermehrt Druck verspürte. Die Selbstverbrennung des jungen<br />
Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 vor der Präfektur in Sidi Bouzid – aus<br />
Protest gegen die staatlichen Willkürmaßnahmen – <strong>und</strong> die folgenden Massenproteste gegen das<br />
Regime waren eine zwar schlecht vorhersehbare, aber im Rückblick nachvollziehbare Entwicklung.<br />
Leichte Verbesserungen erzielte hingegen der Iran, im <strong>BTI</strong> 2010 neben Tunesien noch der einzige<br />
Verlierer bei der wirtschaftlichen Transformation. Zwar verschlechterte sich die Ahmadinejad-<br />
Regierung ein weiteres Mal bei der Bekämpfung der Monopolbildung <strong>und</strong> der Unterstützung<br />
privaten Unternehmertums, da die Regierung <strong>und</strong> die ihr nahestehenden verschiedenen Milizen zu<br />
den größten Profiteuren der monopolistisch strukturierten Wirtschaft gehören. Andererseits gab es<br />
einige Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung (nur noch 8,5 Prozent im Jahr 2010 nach<br />
25,5 Prozent im Jahr 2008).<br />
Die Bewertung des Libanons stieg um 0,14 Punkte. Das Land belegt nun mit einem Gesamtwert<br />
von 6,32 Punkten Rang 45 bei der Untersuchung dieser Teildimension (im <strong>BTI</strong> 2010 noch Rang<br />
51). Die zunehmende Liberalisierung des Außenhandels sowie Verbesserungen im Bankenwesen<br />
<strong>und</strong> bei der Inflationsbekämpfung trugen wesentlich zu dieser positiven Entwicklung bei,<br />
wenngleich Verschlechterungen bei der Makrostabilität <strong>und</strong> im Bildungssystem das Bild wieder<br />
etwas eintrüben. So sanken die Staatsausgaben für Bildung als Anteil der staatlichen<br />
Gesamtausgaben von 12 Prozent (2002) auf etwa 8 Prozent (2010).<br />
Als ausnahmslos desaströs lässt sich die Situation im Sudan beschreiben. Die zahlreichen Konflikte<br />
sowie das Missmanagement der Bashir-Regierung schlugen sich in einer Verschlechterung um 0,25
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong> 11<br />
Punkte auf nur noch 3,79 Punkte bei der wirtschaftlichen Transformation. Schuld an dem Abstieg<br />
waren verschlechterte Inflationsbekämpfung, mangelnde Gewährung von Eigentumsrechten <strong>und</strong><br />
Defizite in der Bildungspolitik. Anhand der Bildungspolitik ist der Niedergang des Landes<br />
besonders eindrücklich feststellbar: Einst mit einem der besten Bildungssysteme Afrikas in die<br />
Unabhängigkeit gestartet, ist der Sudan heute weit entfernt von der UN-Vorgabe, bis 2015 allen<br />
Kindern eine Gr<strong>und</strong>schulbildung zu gewähren. Im Jahr 2010 waren lediglich 71 Prozent der Kinder<br />
im Norden <strong>und</strong> 48 Prozent der Kinder im Süden des Landes eingeschult. Generell lässt sich im<br />
Wirtschaftsbereich ein starkes Gefälle zwischen Nord- <strong>und</strong> Südsudan feststellen; die Ausgangslage<br />
für den am 9. Juli 2011 unabhängig gewordenen Südsudan ist denkbar ungünstig. So beträgt die<br />
aktuelle Alphabetisierungsquote bei Erwachsenen im Nordsudan 78 Prozent, im Gebiet des<br />
Südsudans aber nur 37 Prozent. Nicht nur aus politischer, sondern auch aus wirtschaftlicher<br />
Perspektive sind die Entwicklungsaussichten trotz der vorhandenen Bodenschätze für den<br />
unabhängigen Südsudan also äußerst schlecht.<br />
Nur geringfügig besser steht der Jemen da. Mit einem Wert von 4,00 Punkten verbesserte sich das<br />
Land zwar minimal (einzig resultierend aus Verbesserungen im Umweltschutzbereich), rangiert<br />
aber dennoch nur auf Rang 110 bei der Untersuchung der wirtschaftlichen Transformation.<br />
Ebenfalls nur geringfügig verbesserten sich Syrien <strong>und</strong> Libyen. Während Syrien mit einem Wert<br />
von 4,61 Punkten <strong>und</strong> Rang 91 aber immer noch zu den „schlecht funktionierenden<br />
Marktwirtschaften“ gehört, gilt Libyen mit einem Wert von 5,86 Punkten Rang 58 als<br />
„Marktwirtschaft mit Funktionsdefiziten“.<br />
Das technokratische Regime Syriens hat Verbesserungen vor allem im Bereich des<br />
marktwirtschaftlichen Wettbewerbs, der Antimonopolpolitik, der Makrostabilität <strong>und</strong> des<br />
Bankenwesens erreicht. Bei Letzterem überzeugte insbesondere das neue Bankengesetz aus dem<br />
Jahr 2010, das erstmals ausländische Beteiligungen von bis zu 60 Prozent an syrischen Banken<br />
erlaubt. Die Verbesserungen Libyens resultieren hingegen primär aus Reformbemühungen im<br />
Bildungsbereich, die im April 2009 verkündet wurden <strong>und</strong> bis 2014 Investitionen von neun<br />
Milliarden Dollar in das libysche Bildungswesen vorsehen.<br />
Die regionsweite Stagnation im Wirtschaftsbereich ist ein wesentlicher Gr<strong>und</strong> für die Anfang 2011<br />
ausgebrochene Protestwelle. Nicht nur, dass die Umverteilungsmaßnahmen der Regime ihrer durch<br />
Ölverkäufe oder internationale Unterstützungsgelder erzielten Renteneinnahmen zunehmend an<br />
Machbarkeitsgrenzen stießen – es ist vor allem die wachsende Kluft zwischen den dekadenten<br />
Führungsschichten <strong>und</strong> den verarmten, stark wachsenden Unterschichten, die die Wirtschaftslage<br />
bestimmt <strong>und</strong> die Ausbeutung der Länder durch ihre Regierungen offensichtlich werden lässt.
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong> 12<br />
Transformationsmanagement<br />
Die politischen Steuerungsleistungen in der Region verbleiben auf dem niedrigen Niveau von<br />
durchschnittlich 4,15 Punkten. Allerdings gibt es eine deutliche Zweiteilung zwischen Gewinnern<br />
<strong>und</strong> Verlierern: Während insbesondere Syrien (+0,38 Punkte) <strong>und</strong> Katar (+0,34) eine verbesserte<br />
Managementleistung zeigten, verschlechterten sich Libanon (–0,32) <strong>und</strong> Jemen (–0,37) in nahezu<br />
gleichem Umfang. Sieben der insgesamt 19 untersuchten Staaten wurden im <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> einer<br />
anderen Management-Kategorie zugeordnet als im <strong>BTI</strong> 2010 (vgl. Tab. 3).<br />
Katastrophal zeigte sich dabei die Lage im Sudan: Hier verschlechterte sich die<br />
Managementleistung von Präsident Omar al-Bashir <strong>und</strong> seiner Regierung um dramatische 0,70; das<br />
Land liegt für diese Teildimension nun mit mageren 2,56 Punkten auf Rang 118, ihm wird damit<br />
im <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> erstmals ein „gescheitertes Transformationsmanagement“ attestiert. Damit ist der<br />
Sudan aber immer noch besser regiert als der „worst performer“ der Region: Iran liegt aufgr<strong>und</strong><br />
einer Verschlechterung um 0,17 Punkte auf jetzt 2,14 Punkte auf Rang 122. Als Staaten mit<br />
„gescheitertem Transformationsmanagement“ stehen Iran <strong>und</strong> der Sudan in der Region allerdings<br />
nicht allein: Libyen unter Muammar al-Gaddafi, im <strong>BTI</strong> 2010 noch als Land mit „schwacher<br />
Management-Leistung“ gewertet, verschlechterte sich um 0,16 Punkte <strong>und</strong> wird mit einem<br />
Gesamtpunktestand von 2,89 fortan ebenfalls in diese Kategorie eingeordnet (Rang 115). Positive<br />
Kategorie-Veränderungen erreichten die bereits erwähnten Länder Syrien <strong>und</strong> Katar.<br />
Tab. 3: Qualität des Transformationsmanagements<br />
Managementverbesserungen erreichten die beiden Länder der Spitzengruppe in der Region: Die<br />
Türkei setzte – trotz zögerlicher Reaktion auf die globale Wirtschafts- <strong>und</strong> Finanzkrise 2008/2009<br />
– ihre positive Entwicklung fort, verbesserte sich um 0,26 Punkte <strong>und</strong> liegt nun mit einer<br />
Gesamtpunktzahl von 6,60 beim Transformationsmanagement auf Rang 17 (im <strong>BTI</strong> 2010 noch
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong> 13<br />
Rang 23). Entscheidende Faktoren waren die verbesserte Korruptionsbekämpfung durch die<br />
Erdoğan-Regierung, die Schwächung des Militärs als potenziellen Veto-Akteurs, versinnbildlicht<br />
durch die Aufdeckung der Ergenekon-Verschwörung, eine verbesserte Herangehensweise an die<br />
Kurdenfrage mit der Gewährung zahlreicher neuer (wenngleich kleiner) Zugeständnisse <strong>und</strong> die<br />
größere regionale Kooperation, insbesondere mit Blick auf den Irak, Armenien <strong>und</strong> Griechenland.<br />
Katar überzeugte insbesondere beim verbesserten Konfliktmanagement, der stärkeren Einbindung<br />
der Zivilgesellschaft <strong>und</strong> erhöhten Werten für Glaubwürdigkeit auf internationalem Parkett. So<br />
wurden Konflikte zwischen Einheimischen <strong>und</strong> Gastarbeitern, die 2007 noch zu Streiks <strong>und</strong><br />
Zusammenstößen führten, von der Regierung weitgehend geschlichtet <strong>und</strong> beigelegt.<br />
Die meisten Verbesserungen hat – angesichts der jüngsten Ereignisse zunächst überraschend –<br />
Syrien erreicht. Zwar kommt das Regime von Bashar al-Assad immer noch nicht auch nur<br />
annähernd in einen positiven Bewertungsbereich, doch wurde insbesondere die internationale<br />
Zusammenarbeit entschieden verbessert. Hier zeigen sich erste Erfolge der Strategie des Regimes,<br />
mehr <strong>und</strong> mehr zentrale Positionen mit gut ausgebildeten Technokraten <strong>und</strong> nicht mehr primär mit<br />
folgsamen Anhängern der Baath-Partei zu besetzen. Im Westen ausgebildete <strong>und</strong> international<br />
erfahrene Diplomaten prägen das Gesicht der neuen syrischen Führungselite, die weniger mit der<br />
traditionellen panarabischen <strong>und</strong> antiisraelischen Propaganda Politik macht, sondern mehr mit<br />
wirtschaftspolitisch f<strong>und</strong>ierten Entscheidungen. Dass die syrische Führung dabei einen rein<br />
ökonomisch determinierten <strong>und</strong> sozial nicht ausgewogenen Entwicklungskurs verfolgt <strong>und</strong><br />
politische Freiheitsrechte vollkommen ignoriert, erweist sich auf Dauer allerdings als keine<br />
hinreichende Legitimitätsgr<strong>und</strong>lage. Die anhaltenden, landesweiten Protestmärsche gegen das<br />
Regime sind jedenfalls ein deutliches Signal der Unzufriedenheit in weiten Teilen der<br />
Bevölkerung.<br />
Lohnenswert ist auch ein detaillierterer Blick auf die drei größten Management-Verlierer Libanon,<br />
Jemen <strong>und</strong> Sudan. Libanon (–0,32 Punkte, Rang 92) verlor vor allem aufgr<strong>und</strong> des politischen Patts<br />
zwischen den beiden Koalitionen des „8. März“ (getragen von der Hisbollah) <strong>und</strong> des „14. März“<br />
(getragen von den prowestlichen Kräften um den ehemaligen Premierminister Saad Hariri), der das<br />
Parlament über Monate paralysierte <strong>und</strong> eine effektive Regierungsbildung unmöglich machte. Die<br />
konfessionellen Unterschiede, seit jeher kennzeichnend für das Land, konnten nicht zugunsten<br />
eines „gesamtstaatlichen Interesses“ verringert werden, sondern gewannen erneut an Bedeutung.<br />
Der Libanon wurde damit auch hinsichtlich seiner internationalen Glaubwürdigkeit abgewertet;<br />
insbesondere seit dem Scheitern der prowestlichen Regierungskoalition im Januar 2011 <strong>und</strong> dem<br />
nachfolgenden Regierungswechsel zur Hisbollah-geführten „Koalition des 8. März“ sind Zweifel<br />
an der künftigen Verlässlichkeit Libanons in der schwierigen Nahost-Diplomatie angebracht.<br />
Im Jemen (–0,37 Punkte, Rang 102) wurde die Aufgabe langfristiger Politikziele zugunsten der<br />
Verfolgung kurzfristiger Interessen in den vergangenen Jahren immer deutlicher. Dabei war es<br />
nicht nur die mangelhafte Implementierung von Politikbeschlüssen, die die Steuerungsfähigkeit der<br />
Regierung von Staatspräsident Ali Abdallah Salih schwächte, sondern vor allem auch die kaum<br />
vorhandene Fähigkeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. So wurden auf die drängendsten<br />
Fragen des Landes (Wasserknappheit, Ernährungslage, Stammeskonflikte, Staatszerfall) keine
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong> 14<br />
innovativen Antworten gef<strong>und</strong>en, sondern versucht, mit Hilfe des Militärs Lösungen für die<br />
zahlreichen Probleme des Landes zu erzwingen.<br />
Die Regierung des Sudan (–0,70 Punkte, Rang 118) handelte weitgehend ohne überzeugendes<br />
Konzept. Sowohl bei der Politikentwicklung als auch der Politikkoordinierung <strong>und</strong> -durchsetzung<br />
gab es enorme Schwächen. Es herrscht zunehmend Unsicherheit über die exakten Regierungsziele<br />
<strong>und</strong> die Ernsthaftigkeit bei der Konfliktbewältigung. Zwar wurde die Frage der möglichen<br />
Unabhängigkeit des Südsudans seitens des Regimes nicht so restriktiv gehandhabt wie befürchtet,<br />
doch wurden im seit 2003 anhaltenden Darfur-Konflikt keine nennenswerten Fortschritte erzielt.<br />
Ganz im Gegenteil: Die Ausweisung von 13 internationalen Hilfsorganisationen aus der<br />
Krisenregion im März 2009 führte dazu, dass al-Bashir weiter an Glaubwürdigkeit verlor <strong>und</strong> sich<br />
auf dem internationalen diplomatischen Parkett weiter isoliert hat.<br />
Ausblick<br />
Die Ergebnisse des <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> für die Region <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong> veranschaulichen<br />
eindrücklich den Reformdruck, der sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hat <strong>und</strong> der durch<br />
wenige, teils kosmetische Liberalisierungsschritte der autoritären Regime nur unbedeutend<br />
verringert wurde. Hatten die Machthaber Mitte des vergangenen Jahrzehnts in ihrer Mehrzahl noch<br />
einige Konzessionen an politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Partizipationsbedürfnisse gemacht, so<br />
spiegeln die stagnierenden Ergebnisse des <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> die fast komplette Bewegungslosigkeit <strong>und</strong><br />
Reformaversion der arabischen Regime bis zum Ende des Untersuchungszeitraums am 31. Januar<br />
2011 wider; erstmals seit 2006 kann der <strong>BTI</strong> für diese Region keine Fortschritte konstatieren,<br />
sondern nur Stillstand – <strong>und</strong> dies sowohl für die politische als auch die wirtschaftliche<br />
Transformation. Im regionalen Durchschnitt blieben die Bewertungen für politische<br />
Transformation mit einem Rückgang um 0,08 Punkte auf niedrigem Niveau – lediglich Kuwait,<br />
Irak, Tunesien <strong>und</strong> die Vereinigten Arabischen Emirate weisen verbesserte Werte auf. Im Bereich<br />
der wirtschaftlichen Transformation halten sich „Gewinner“ <strong>und</strong> „Verlierer“ die Waage, mit dem<br />
Irak als „best performer“ <strong>und</strong> Saudi-Arabien als „worst performer“. Die Betrachtung des<br />
Transformationsmanagements schließlich vervollständigt die ernüchternden Erkenntnisse: Hier<br />
lassen sich nennenswerte Verbesserungen nur in Syrien, Katar <strong>und</strong> der Türkei feststellen.<br />
„Stagnation“ ist also der Begriff, der die Lage in <strong>Nordafrika</strong> <strong>und</strong> im Nahen <strong>Osten</strong> insgesamt am<br />
besten beschreibt.<br />
Bis zu dem Umsturz in Tunesien schien diese umfassende Stagnation für ein erfolgreiches<br />
Niederhalten von sozialem Protest <strong>und</strong> Partizipationswünschen seitens der Regime zu stehen. Die<br />
niedergeknüppelten Proteste gegen Ahmadinejads verfälschte Wahlergebnisse in Iran 2009 ließen<br />
den Schluss aufkommen, dass sich sozialer <strong>und</strong> politischer Protest trotz repressiver
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong> 15<br />
Rahmenbedingungen zwar in beeindruckender Stärke artikulieren kann, letztlich aber dennoch die<br />
reaktionären Kräfte obsiegen.<br />
Doch offenbar stellte der scheinbare Stillstand nur die Ruhe vor dem Sturm dar. Die Unfähigkeit<br />
der Regierungen zu Erneuerung <strong>und</strong> Modernisierung, die beständige Vernachlässigung breiter<br />
Gesellschaftsschichten <strong>und</strong> die fortschreitende Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation –<br />
hervorgerufen nicht nur durch das beschriebene Missmanagement, sondern auch durch das starke<br />
Bevölkerungswachstum <strong>und</strong> beschleunigt durch die ab dem Jahr 2008 rapide gestiegenen<br />
Lebensmittelpreise – ließen die Unzufriedenheit fortwährend anschwellen. Explosionsartig<br />
entluden sich die Spannungen dann in den Slogans <strong>und</strong> Forderungen der Demonstranten in Tunis,<br />
Kairo <strong>und</strong> anderen Metropolen der arabischen Welt. Dabei war nicht nur die Wucht der Ereignisse<br />
das Überraschende, sondern auch, dass seit den Umstürzen in den 1950er <strong>und</strong> 1960er Jahren<br />
(insbesondere die Coups d’État der Militärs in Ägypten <strong>und</strong> Libyen sowie der Baathisten in Syrien<br />
<strong>und</strong> Irak) erstmals echte Reformen von unten erzwungen wurden. Bis dato waren die in der Region<br />
unternommenen Transformationsschritte nahezu ausschließlich von oben verordnet worden, um<br />
entweder interne Kritiker oder gar die internationale Gemeinschaft zufrieden- <strong>und</strong> ruhigzustellen.<br />
Angesichts des diagnostizierten Stillstands in der Region kamen die Ereignisse des Jahres 2011<br />
also als eine echte Überraschung. Wer hätte gedacht, dass Ben Ali <strong>und</strong> Hosni Mubarak nicht aus<br />
Altersgründen oder aufgr<strong>und</strong> des Eingreifens der Militärs von der Macht vertrieben werden,<br />
sondern aufgr<strong>und</strong> wochenlanger, überwiegend friedlicher Massenproteste? Wer hätte gedacht, dass<br />
zivilgesellschaftliche Gruppen <strong>und</strong> Akteure, jahrzehntelang von den Regimen strikt kontrolliert <strong>und</strong><br />
unterdrückt, plötzlich eine derartige Macht entfalten <strong>und</strong> generationen- wie schichtenübergreifend<br />
Menschen zusammenbringen würden, die ihre verhassten Regierungen zum Rücktritt zwingen? Die<br />
Daten des <strong>BTI</strong> können dabei nicht als Prognose-Instrument für die Vorhersage der kommenden<br />
Entwicklungen genutzt werden, sehr wohl aber als Diagnose-Instrument für die bestehenden<br />
Defizite in den politischen sowie wirtschaftlichen Systemen der untersuchten<br />
Transformationsländer. Was Analysten <strong>und</strong> Beobachter der Region aus den <strong>BTI</strong>-Daten <strong>und</strong> aus den<br />
Geschehnissen des Jahres 2011 lernen können, ist, dass <strong>und</strong>emokratische Regime zwar mit strikt<br />
autoritären Maßnahmen ihre Macht über Jahrzehnte absichern können, dass aber dennoch die<br />
Attraktivität <strong>und</strong> Anziehungskraft von Demokratie, Freiheit <strong>und</strong> Selbstbestimmung auf Dauer nicht<br />
zu unterdrücken sind.
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Naher</strong> <strong>Osten</strong> <strong>und</strong> <strong>Nordafrika</strong> 16<br />
Hinweis: Einen weiterführenden Bericht zur Transformationsdynamik in der Region, der die<br />
gesellschaftlichen Umbrüche in der arabischen Welt vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Daten des <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong><br />
einordnet <strong>und</strong> einen Ausblick auf die künftige arabisch-europäische Zusammenarbeit liefert, bietet<br />
die Sonderpublikation „The Arab Spring: One Year After“ in der Schriftenreihe „Europe in<br />
Dialogue“, abrufbar unter www.bti-project.de/fortschrittsbericht-mena.