Biografiearbeit mit Jugendlichen
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<strong>Biografiearbeit</strong> <strong>mit</strong> <strong>Jugendlichen</strong><br />
Inkarnatorische Schritte als Vollzug christlichen Glaubens<br />
Dekanatsweiterbildung 2008<br />
Patrik Böhler<br />
Fachstelle Religionspädagogik<br />
Mittelstrasse 6a<br />
3012 Bern<br />
1. Biografie: Intention und Begriff............................................................................................. 2<br />
2. Biografie: Struktur und Spielraum ......................................................................................... 2<br />
3. <strong>Biografiearbeit</strong>: Fokus Freiraum ............................................................................................ 3<br />
4. <strong>Biografiearbeit</strong> – Wichtige Voraussetzungen ........................................................................ 4<br />
5. <strong>Biografiearbeit</strong> – Schritte ....................................................................................................... 6<br />
6. Meine Biografie.................................................................................................................... 11
1. Biografie: Intention und Begriff<br />
Intention: <strong>Biografiearbeit</strong> befähigt den Menschen, die eigene Geschichte zu sichten,<br />
wertzuschätzen, einzuordnen und zu erzählen. Die eigene Geschichte erzählen führt<br />
zu einer neuen Art von Identifikation <strong>mit</strong> seiner Vergangenheit und <strong>mit</strong> sich selbst und<br />
lässt Zukunft sichten und planen<br />
Biografie: in lebenslangem Prozess erworbene Aufschichtung von Erfahrungen, die<br />
bewusst oder unbewusst geronnen in unser Handeln eingehen. Erfahrung umfasst<br />
nach diesem Verständnis nicht nur die kognitive Dimension, sondern ist ein<br />
„ganzheitlicher, den Körper und das ganze Spektrum sinnlicher, vorbewusster,<br />
unbewusster und rationaler Potentiale einschliessender Vorgang“ 1<br />
<strong>Biografiearbeit</strong>: ein Mittel zum Verorten des gegenwärtigen Standorts in<br />
entwicklungspsychologischer Hinsicht oder innerhalb des Spannungsfeldes zwischen<br />
kollektiver, gesellschaftlicher und individueller, persönlicher Gestaltung von<br />
Lebensentwürfen.<br />
2. Biografie: Struktur und Spielraum<br />
Menschen verschiedenster Kulturen und Epochen und Wissenschaften haben schon<br />
immer versucht, dem Lebenslauf eine „gesetzmässige“ Ordnung zu geben: Die<br />
Biografie bildet ein derartiges Raster, nach dem den chronologischen Lebensphasen<br />
unterschiedliche Lebensaufgaben zugeordnet werden. Beliebt ist beispielsweise<br />
noch bis vor kurzer Zeit das Bild der „Lebenstreppe“ oder dem „Lebensrad“ gewesen<br />
<strong>mit</strong> einer Auf- und Abstiegsphase und dazwischen einem Höhepunkt.<br />
Charakteristisch für derartige Lebenslaufvorstellungen ist die Annahme, dass Zahl und<br />
Art der Lebensphasen definiert sind und diese eine geordnete Abfolge haben. Sie<br />
bilden das “Sequenzraster“ einer „Normalbiografie“ und diese gibt als Standart ein<br />
allgemeines Orientierungsmuster ab. „Biografie ist (...) nicht die triviale Abfolge von<br />
Lebensereignissen, sondern eine in wesentlichen Teilen vorgegebene soziale Struktur,<br />
die von den Individuen aktualisiert werden muss“ 2<br />
Spätestens in der Folge von 1968 nimmt die Reichweite des „Normallebenslaufs“ als<br />
Orientierungsmuster ab. Im Zuge der technischen Entwicklung und der grossen,<br />
gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, im<br />
Zusammenhang <strong>mit</strong> höherer Mobilität und bedeutenden Migrationswellen, aber<br />
auch <strong>mit</strong> demografischen Veränderungen können wir eine zunehmende<br />
„Deregulierung der Lebensläufe“ beobachten und entsprechend eine Pluralisierung<br />
der Lebensformen. Bisher allgemein(er) anerkannte Werte, Normen und<br />
Rollenvorstellungen werden sowohl individuell als auch gesellschaftlich zunehmend<br />
in Frage gestellt. Zunehmender Rhythmus und unberechenbarere Reichweite von<br />
Veränderungen zwingen uns zu fortlaufenden Anpassungen in einer komplexer<br />
gewordenen Welt.<br />
„Biographien werden komplizierter, individueller, „para-normaler“, zugleich freilich<br />
bunter, autonomer und eigensinniger. Der Lebenslauf scheint sich (...) zu einer Art<br />
1 Herbert Gudjons, Marianne Piper, Birgit Wagner: Auf meinen Spuren, Hamburg 1996, S. 16<br />
2 Peter Alheit: Biographizität als Projekt, Bremen, 1990: S. 14<br />
2
Laboratorium zu entwickeln, in welchem wir Fähigkeiten entwickeln müssen, die<br />
vorläufig kein „curriculum“ haben.“ 3<br />
Bei der Biographiearbeit geht es im weitesten Sinne darum, sinnhafte<br />
Zusammenhänge herzustellen zwischen unserer Lebensgeschichte und unserem<br />
alltäglichen gesellschaftlichen (auch religiösen) und beruflichen (schulischen)<br />
Handeln.<br />
Es wird von einem Verständnis ausgegangen, das Menschen als „produktive<br />
Realitätsverarbeitende“ begreift 4 . Sie stehen immer in Wechselwirkung <strong>mit</strong> ihrer<br />
Umwelt. Sie beeinflussen ständig und werden auch ständig beeinflusst. In diesem<br />
lebenslangen Prozess erzeugen sie fortlaufend ihr spezifisches Denken, ihre<br />
eigenständige Wahrnehmung, ihre subjektive Einstellung, planen und führen ihre<br />
Handlungen aus. Sie schichten in ihrem Leben – immer auf der Folie bereits<br />
vorhandener Erfahrungsstrukturen - konkrete biografische Erfahrungen auf, die sie zu<br />
sinnvollem Tun und Handeln befähigen.<br />
Biografie ist „keine ahistorische / ungesellschaftliche Privatsache“ 5 . Wir machen<br />
unsere Erfahrungen in konkreten gesellschaftlichen und geschichtlichen Bezügen. -<br />
„Biografisches Handeln orientiert sich an gesellschaftlich vorgegebenen<br />
Ablaufmustern, ist auf sie angewiesen und kann sich ihren Zwängen nicht<br />
entziehen….“ 6 stellt Alheit fest.<br />
Auch innerhalb des gesellschaftlich festgelegten Grundrasters „Biografie“ sind<br />
unzählige Alternativen möglich, über die Menschen individuell, unterschiedlich und<br />
eigenwillig entscheiden, Menschen gestalten – trotz struktureller Grenzen - ihren<br />
persönlichen Entwurf.<br />
Menschen „erzeugen ihr Denken, ihre Wahrnehmung, ihre Einstellung, ihre<br />
Handlungen und die Meinung, die sie von der Welt haben selbst in ihren ureigenen,<br />
gewohnten und für jeden Menschen einzigartigen Bahnen.“ 7<br />
3. <strong>Biografiearbeit</strong>: Fokus Freiraum<br />
<strong>Biografiearbeit</strong> beinhaltet diesen subjektiven Faktor: Sie will der Vielschichtigkeit und<br />
Widersprüchlichkeit konkreter Lebenserfahrung im Alltag aus der Sicht der<br />
Betroffenen nachgehen. Sie will ihnen durch „biografische Selbstreflexion“ eine<br />
(Wieder-)aneignung der eigenen Biografie ermöglichen. 8 : „Man verlässt die Ebene<br />
des unreflektierten Alltagsdenkens, geht (...) einen Schritt von sich weg, blickt aus<br />
diesem selbstreflexiven Abstand auf sich und kommt sich da<strong>mit</strong> zugleich auch wieder<br />
einen Schritt näher, indem man die eigene Geschichte besser versteht, begreift, sich<br />
aneignet.“ 9 beschreibt Gudjons diesen Prozess.<br />
Grundsätzlich ermöglicht biografische Selbstreflexion:<br />
• Aus-ein-ander-setzung: Mit Abstand Selbstverständliches und Alltägliches zu<br />
hinterfragen<br />
3<br />
Ebenda, S.12<br />
4<br />
Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie, Weinheim und Basel 1986, S.10<br />
5<br />
Gudjons: S. 16, unter Gudjons sind die Mitautorinnen durchgehend <strong>mit</strong>gemeint<br />
6<br />
Alheit: S. 20,21<br />
7<br />
Radatz Sonja, Beratung ohne Ratschlag, Wien 2000: S. 73<br />
8 Gudjons: S. 24<br />
9 Gudjons:: S.25<br />
3
• Persönliche Interpretation: Vorangegangene Erfahrungen neu – aus der<br />
Gegenwartsperspektive – zu interpretieren und zu bewerten und da<strong>mit</strong><br />
• Perspektivenwechsel: Veränderte Sichtweisen und erweiterte<br />
Orientierungsmöglichkeiten zu gewinnen.<br />
4. <strong>Biografiearbeit</strong> – Wichtige Voraussetzungen<br />
Dieser Abschnitt hat den Fokus auf die <strong>Jugendlichen</strong>. Die Voraussetzungen lassen<br />
sich aber ohne weiteres auf andere Altersklassen übertragen.<br />
A. Der inkarnatorische Ansatz 10<br />
Die Herausforderung einer „zweckfreien Mission“ ist der „inkarnatorische Blick“. Die<br />
Inkarnationstheologie nimmt die Welt nicht als Gegensatz (böse und dunkel im<br />
Gegensatz zur Botschaft – gut und hell), sondern nimmt sie an und versteht sie als<br />
Boden der Verwandlung. Sie ist überzeugt, dass Gott in dieser Welt wirkt, dass der<br />
Heilige Geist die Menschen in ihrem Tun durchdringt und dass Menschen lernen und<br />
in Beziehungen sein wollen. Das inkarnatorische Wirkprinzip Gottes in der säkularen<br />
Welt und ihren Menschen bildet die gegenwärtige Herausforderung der Pastoral. Die<br />
Frage stellt sich: „Wo wird Gott gegenwärtig?“ Die Antwort lautet: „Wo, wenn nicht<br />
da! Wann, wenn nicht jetzt! Und dies in allen Facetten; im scheinbar Dunkeln und<br />
Hellen!<br />
Christliche Rituale sind biographische Sinn- und Handlungsorientierungen. Die Kirchen<br />
bieten Rituale an, welche Schlüsselpunkte des Lebenszyklus in irgendeiner Weise<br />
gestaltbar machen. Wenn Biographie der Ort ist, an den Glaubensvollzüge und<br />
Glaubensinhalte andocken können, dann muss Pastoral biographischer werden.<br />
„Religion“ kann dann als ein lebensbegleitendes Gefühl erscheinen, als der Kitt der<br />
persönlichen Erfahrungen, als der Stoff, der die biographischen Stationen sinnhaft<br />
zusammenhält.<br />
B. Zeit<br />
Für die Begleitung von Menschen stehen beschränkte Zeitgefässe zur Verfügung, so<br />
dass meist nur die dringendsten Fragen behandelt werden. Kirchliche Diakonie,<br />
welche „zu Grunde geht“ ist für eine eingehende Betrachtung der Situation der<br />
Menschen <strong>mit</strong> einem Blick für das Ganze aus einer übergeordneten Perspektive da.<br />
Dies im Auftrag und der Überzeugung, dass Himmel heute schon wird, wenn wir uns,<br />
getragen von einer christlichen und jesuanischen Spiritualität, für andere einsetzen.<br />
Die Menschen schätzen es vor diesem Hintergrund, wenn ihnen Zeit zugestanden<br />
wird, in welcher sie sich über diesen Rahmen hinaus <strong>mit</strong> ihrer Gegenwart und der<br />
Entwicklung längerfristiger Perspektiven beschäftigen können. Da besonders das<br />
Jugendalter eine Neuorientierung Richtung Erwachsenenwelt bedeutet, diese<br />
jedoch meist nicht als Identifikationsspielraum wahrgenommen wird, benötigen sie<br />
ausreichend Zeit, persönliche Zielorientierungen definieren zu können um daraus<br />
Handlungsspielräume zu erarbeiten.<br />
C. Geschützter Raum<br />
Jugendliche sind von verschiedener Seite her – oft auch von sich selbst - unter<br />
Druck, den eigenen und scheinbar fremden Ansprüchen zu genügen. Sie erleben<br />
sich oft unsicher und tendenziell in der Defensive. Sie sind per Definition nicht<br />
10 Vgl: Christiane Bundschuh-Schramm; Skript: biografischer und spiritueller werden.<br />
4
Erwachsen und in dieser Umbruch- und Krisenzeit oft dünnhäutig und verletzlich. Sie<br />
sind empfänglich für einen geschützten Raum, in welchem sie als Personen<br />
wertgeschätzt und als Gesprächspartner ernst genommen und gefordert werden,<br />
wo man ihnen etwas zutraut und sie sich dabei nicht mehr exponieren als es ihnen im<br />
gegenwärtigen Zustand möglich ist.<br />
D. Vernetzung<br />
Wir Menschen (und insbesondere Jugendliche) neigen bei persönlichen Krisen dazu,<br />
uns zurückzuziehen und sind tendenziell von Isolation bedroht. <strong>Biografiearbeit</strong> in einer<br />
Gruppe schafft <strong>mit</strong> ihrem Setting neue Kontakte. Die Verbindung bleibt oft nicht an<br />
der Oberfläche, da im gleichberechtigten und intensiven Austausch Persönliches<br />
preisgegeben und aufgenommen wird. Derartige Begegnungen <strong>mit</strong> Tiefgang führen<br />
häufig zu erweiterten Netzwerken, die über den Moment hinaus Bestand haben.<br />
E. Begleitende Unterstützung und Struktur:<br />
Die allermeisten <strong>Jugendlichen</strong> sind empfänglich für persönliche Selbstreflexion und<br />
setzen sich aus eigenem Antrieb auch <strong>mit</strong> ihrer (Lern- und Glaubens-)Biografie<br />
auseinander. Sie stellen sich in vielen Bereichen in Frage, loten aus eigener Kraft<br />
Möglichkeiten aus, die ihnen offenstehen und unternehmen oft entsprechende<br />
Schritte. Jugendliche schätzen es in der Regel, wenn ihnen jemand zuhört, wenn sie<br />
ein neues Gegenüber zum Austausch finden, das sie bestätigt, ihre Bemühungen<br />
würdigt und sich <strong>mit</strong> diesen wohlwollend aber kritisch und ernsthaft auseinandersetzt.<br />
Sie sind zum Ordnen und Gewichten ihrer Gedanken häufig auf Struktur angewiesen.<br />
Methodische Unterstützung und gezielte Impulse zur zielgerichteten und<br />
lösungsorientierten Suche nach weiteren Möglichkeiten bedeuten für sie eine<br />
willkommene Hilfestellung. Diese Unterstützung kann sowohl von der Gruppenleitung<br />
als auch von andern Gruppen<strong>mit</strong>gliedern kommen. Die Mehrzahl der <strong>Jugendlichen</strong><br />
schätzen es ausserdem, wenn sie ihre Fähigkeiten und Stärken ganz gezielt anhand<br />
einer vorgegebenen konkreten Aufgabenstellung in einer zusammenhängenden<br />
Tätigkeit einsetzen, schulen und weiterentwickeln können. Sie schätzen es, selbst<br />
wirksam zu werden (siehe unten: Projekt).<br />
<strong>Biografiearbeit</strong> gewinnt oft, wenn sie auf spezifische Bedürfnisse einzelner Zielgruppen<br />
zugeschnitten wird, wenn sie sich dem konkreten „Horizont der Beteiligten“ annähert.<br />
- So setzt sich <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>mit</strong> <strong>Jugendlichen</strong> die zentrale spezifisches Zielsetzung,<br />
dass sich diese ihres Erfahrungsreichtums, ihrer – allenfalls verborgenen - Ressourcen<br />
und Kompetenzen, ihres Potentials (neu) bewusst werden und ihr Selbstvertrauen<br />
dadurch stärken können. Da<strong>mit</strong> Zielgruppenorientiert gearbeitet werden kann muss<br />
der Gruppenleitende den Horizont der Beteiligten vorgängig ausloten.<br />
Sprechen Jugendliche überhaupt auf <strong>Biografiearbeit</strong> an? Hier stellt sich eine<br />
Schwierigkeit. Das bisher kurze Leben, welches sich zumindest oberflächig<br />
zukunftsorientiert gibt, hat rein faktisch weniger Zeit zum Reflektieren als ein<br />
Erwachsenenleben. Ebenso „ist die gesellschaftliche Normierung nicht für alle<br />
Lebensabschnitte gleich rigide: So sind die Kindheit und die Jugendphase viel<br />
weniger von der Deregulierung beeinflusst als die späteren Lebensjahre. Ganz<br />
offensichtlich gelten für die Sozialisationsphase noch recht starre Normen, so z. B.<br />
hinsichtlich Schul- und Berufsbildung sowie familiärer Verankerung. 11 In dieser<br />
biografischen Aufbauphase muss sensibel und begleitend <strong>Biografiearbeit</strong> eingeführt<br />
werden, ebenso muss sie locker und auch spielerisch sein. (siehe Kapitel<br />
<strong>Biografiearbeit</strong> - Schritte)<br />
11 Perrig-Chiello Pasqualina: in der Lebens<strong>mit</strong>te: Zürich 2007: S 24<br />
5
<strong>Biografiearbeit</strong> setzt in der Regel keinen ausdrücklichen Schwerpunkt auf einzelne<br />
Entwicklungsstadien (wie z.B. die frühe Kindheit) oder einzelne Lebensbereiche (wie<br />
z.B. die Arbeitswelt), sondern nimmt die ganze Biografie in den Blick. <strong>Biografiearbeit</strong><br />
versucht, einzelne individuelle Erlebnisse im Gesamtzusammenhang der Biografie zu<br />
bestimmen. Dieser lebensgeschichtliche Gesamtsinn wird umgekehrt aber erst<br />
sichtbar, wenn die einzelnen Erlebnisinhalte ihr Profil gewinnen. 12 In<br />
„Gegeneinanderbewegungen“ 13 von Einzel- und Gesamtsicht, und aus<br />
unterschiedlicher Perspektiven befasst sich <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>mit</strong> Lebensrhythmen und -<br />
gesetzmässigkeiten, ortet Brüche und Übergänge, klärt Motive und kann auf diese<br />
Weise einen Beitrag dazu liefern, „den roten Faden“ innerhalb einer<br />
Lebensgeschichte zu finden.<br />
5. <strong>Biografiearbeit</strong> – Schritte<br />
A. Sensibilisierung 14 :<br />
Übergeordnete Zielsetzung in dieser Phase ist es, ein Klima des Vertrauens<br />
aufzubauen und Sicherheit zu ver<strong>mit</strong>teln. Das kann erreicht werden, wenn die<br />
Teilnehmenden abschätzen können, was auf sie zukommt, wenn Erwartungen, Rollen<br />
und Beziehungen geklärt werden. Die Gruppen<strong>mit</strong>glieder sollen wissen, dass sie sich<br />
in einem geschützten Raum befinden. Zwingend gehört dazu das gegenseitige<br />
Vereinbaren von Vertraulichkeit und die Zusicherung von Autonomie und Integrität:<br />
die TN sind verantwortlich für den Inhalt, bekennen sich zu Engagement, bestimmen<br />
aber uneingeschränkt den Grad an Offenheit. Sie sind alleinige ExpertInnen für Ihre<br />
Biografie. Die Moderation bestimmt über Methode und Struktur des Prozesses.<br />
Der Kernprozess umfasst folgende Arbeitseinheiten:<br />
B. Lebenspanorama<br />
In diesem Schritt forschen Menschen im „Archiv“ ihrer Erinnerungen und holen aktiv<br />
frühere Erfahrungen ins aktuelle Bewusstsein. Diese „Auslegeordnung“ erlaubt ein<br />
„nachvollziehendes Verstehen“ 15 I<br />
In individueller Rekonstruktion aus dem Gedächtnis oder auch durch Austausch <strong>mit</strong><br />
Bezugspersonen werden individuelle Daten aus dem eigenen Lebenslauf zugänglich<br />
gemacht, erfasst, aufgegliedert und in ein gemeinsames Kategoriensystem<br />
übertragen. Dieses besteht aus chronologisch gegliederten einzelnen Bahnen aus<br />
unterschiedlichen Lebensbereichen, in welchen die bedeutsamen Ereignisse und<br />
Phasen graphisch dargestellt werden. Die erfassten Bahnen sind: Familie und<br />
Haushalt / Aus- und Weiterbildung / Erwerbsarbeit / Freiwilligenrbeit / übrige<br />
Aktivitäten und markante Ereignisse. Hier kann <strong>mit</strong> einer Bahn „Glaubensbiografie“<br />
ergänzt werden.<br />
Die bildliche/graphische Darstellung ist so strukturiert, dass eine vergleichende<br />
Betrachtungsweise möglich ist. Dies erleichtert das Herstellen von Zusammenhängen<br />
und unterschiedliche (nicht-sprachliche!) Zugänge. Sie erlaubt Überblick aus der<br />
Distanz und wird daher „Lebenspanorama“ genannt.<br />
12 Gudjons: S.31<br />
13 Gudjons: S. 39<br />
14 Weiterführender Methodenbeschrieb: Effe: Kompetenzen; Portfolio – von der Biografie zum Projekt, hep,<br />
Bern 2001<br />
15 Effe: S.35<br />
6
In einem zweiten Schritt werden die einzelnen „Lebenpanoramen“ in der Gruppe<br />
gegenseitig vorgestellt.<br />
Die wichtigsten Aktivitäten werden parallel dazu in tabellarischer Form schriftlich<br />
festgehalten.<br />
Eine weitere alternative Methode bietet sich an, indem Jugendliche ihre Lebensinsel<br />
gestalten. Auf dieser Insel hat es einen „Wohlfühlstrand“, eine „Unsinnschlucht“, ein<br />
„Highlight-Gebirge“, eine „Zuckerwüste“, einen „Lianen-Urwald“ und im Meer gibt es<br />
den diffusen Ort, den die Seefahrer <strong>mit</strong> der Bezeichnung „here are dragons“<br />
bezeichneten. Diese Insel wird bemalt und beschrieben und stellt das bisherige<br />
Leben <strong>mit</strong> den zentralen Ereignissen, Schicksalsschlägen und Motivationen dar.<br />
Das Lebensbuch bietet eine weitere Alternative. Folgende Elemente können dem<br />
Lebensbuch Inhalt geben: Woher ich komme / meine Geburtsurkunde / mein<br />
Stammbaum / meine eigene Landkarte / Meine Lebensgrafik / Besuch der<br />
Vergangenheit / Fotografien von mir / meine Beziehungsnetze. Hier macht es Sinn,<br />
pro Inhalt eine Seite gestalten zu lassen.<br />
C. Lupenarbeit<br />
Im gegensätzlich zum „Panoramablick“ heranzoomenden“ Lupenblick“ werden auf<br />
einem Arbeitsblatt („Lupenblatt“) einzelne abgeschlossene Aktivitäten aus den<br />
verschiedenen erfassten Bahnen ausgewählt und aufgegliedert in einzelne<br />
Tätigkeiten. In einem Folgeschritt werden die dabei verwendeten Ressourcen<br />
formuliert. Sie werden anhand eines Rasters in Selbsteinschätzung auf das Niveau hin<br />
bewertet, auf den sie eingesetzt werden können. Sinn und Zweck dieser Übung ist,<br />
die eigenen Stärken zu erfassen. Exemplarisch Ereignisse und der eigene<br />
Handlungsspielraum dabei führen auf ein Verständnis für die eigenen Fähigkeiten.<br />
Diese werden von der Person dadurch neu wertgeschätzt.<br />
Ein Beispiel: Ich kann mein Fahrrad selbst reparieren. Welche Grundfähigkeiten<br />
gehören dazu: Geduld, Fachwissen, Tips von Kollegen, gutes Material, Freude am<br />
Handwerk usw…<br />
Als Alternative kann aus der Sichtung der <strong>Biografiearbeit</strong> die Frage gestellt werden,<br />
welche 10 Fähigkeiten die betreffende Person ausmachen. Die 10 Fähigkeiten<br />
werden in eine Prioritätenliste gebracht (1 – 10). Diese persönliche Einschätzung wird<br />
der Kleingruppe erzählt. Die Gruppen<strong>mit</strong>glieder können nachfragen, welche<br />
Geschichten aus der Lebensbiografie hinter den einzelnen Grundfähigkeiten<br />
stecken. So werden Phase B und C <strong>mit</strong>einander verbunden.<br />
D. Synthese<br />
In einem folgenden Schritt werden die gesammelten „Daten“, Erfahrungen<br />
<strong>mit</strong>einander in Bezug gesetzt, überprüft modifiziert und neu bewertet. Dies geschieht<br />
aus der gegenwärtigen Perspektive, <strong>mit</strong> den Deutungsmustern der aktuellen<br />
Lebenssituation und soll den Zugang zu einem „analytischen Verstehen“ 16 frei<br />
machen. In der Regel machen Menschen bei diesem Vorgang die bewusste<br />
Erfahrung, dass sich Deutungsmuster verrändert haben und verändern.<br />
Da<strong>mit</strong> wird neben dem Re-Konstruieren <strong>mit</strong> dem Verstehen des Vergangenen die<br />
ergänzende Zielsetzung biografischer Selbstreflexion sichtbar: das Entwickeln von<br />
Veränderungsmöglichkeiten und Handlungsperspektiven für die Zukunft.<br />
„Wenn sich das Subjekt am biografischen Material neu bestimmt, dann enthält dies<br />
immer auch Entwürfe für die Zukunft. Insofern trägt biografische Rekonstruktion<br />
durchaus konstruktive Züge“ 17 schreibt Gudjons. Einfacher ausgedrückt heisst das:<br />
16 Effe<br />
17 Effe: S. 33<br />
7
Indem wir rückblickend neu beschreiben, wie zur Gegenwart gekommen ist<br />
erweitern wir gleichzeitig den Horizont für das, was sich zukünftig daraus gestalten<br />
lässt.<br />
Dieser Schritt der Synthese geschieht am einfachsten im Gespräch in der Gruppe<br />
(oder in Partnerarbeit), bei welchem die Gruppen<strong>mit</strong>glieder nachfragen können.<br />
E. Aussensichten / Synopse<br />
Mit diesem Bewusstsein wächst Raum für ein „entwerfendes Verstehen“ 18 , indem nun<br />
auch andere Möglichkeiten, alternative Entwürfe ins Blickfeld geholt werden.<br />
Mögliche alternative Entwürfe sind diejenigen der Gruppen<strong>mit</strong>glieder, die animieren,<br />
anspornen und eine Vergleichsbasis für die eigene Reflexion darstellen.<br />
Daneben bieten sich dem Moderator nun verschiedenste Methoden, um alternative<br />
Aussensichten herbeizuholen. Hier geht es darum, neuen Inhalt zu holen, diesen <strong>mit</strong><br />
der eigenen momentanen Situation zu vergleichen und schlussendlich Schlüsse für<br />
das eigene Leben und den möglichen Perspektiven zu ziehen.<br />
Hier kann der Religionsunterricht <strong>mit</strong> ihren spezifischen Stärken einsetzen. Wir kennen<br />
in der Bibel viele biografische Ansätze. Ebenso sind im Film, in der Musik und auch aus<br />
dem Umfeld der jungen Menschen Biografien präsent.<br />
a) Kirchenjahr – Leben Jesu<br />
Das Leben Jesu bietet sich für uns Christen als Wegweiser für ein Leben aus dem<br />
Vertrauen hinaus. Die Spannung zwischen Geburt – Leben – Sterben – Auferstehung<br />
können Vergleichsebenen für das eigene Leben sein. Wo erlebe ich „Geburt“,<br />
„Sterben“ und „Auferstehung“.<br />
b) Begegnungsstunden<br />
Begegnungsstunden <strong>mit</strong> engagierten Christen und Christinnen organisieren<br />
18 Effe<br />
c) Biografische Biblische Geschichten<br />
� Abraham<br />
� Jakob<br />
� Jeremia<br />
� Jona<br />
� Hiob<br />
� Ruth (Noemi)<br />
� Judith<br />
� Esther<br />
� David<br />
� Josef<br />
� Paulus<br />
� Petrus<br />
� Maria von Magdala (dazu: ISBN 978-3-7252-0824-7: Maria Magdalena –<br />
Freundin, Verkünderin, Apostelin / Werkbuch <strong>mit</strong> Arbeitsblätern)<br />
d) Biografische Spielfilme<br />
� Gran Paradiso<br />
� Gandhi<br />
� Adams Apple<br />
� Warum Bodi Darma in den Orient aufbrach<br />
8
� Anna und der König<br />
� Im Juli<br />
� Basquiat<br />
� Novecento<br />
� Dead Poets Society<br />
� Missisippi – Fluss der Hoffnung<br />
� Brodback Mountains<br />
� Drachenläufer<br />
� Billy Eliot<br />
� Bend it like Beckham<br />
�<br />
e) Individuelle biografische Zugänge<br />
� Grossvater/Grossmutter<br />
� Mutter/Vater<br />
� Onkel/Tante<br />
� Nachbar<br />
� Star/Held<br />
f) Biografie von Kulturen/Völkern<br />
� Die Juden<br />
� Die Armenier<br />
� Die Griechen<br />
� Die Römer<br />
g) Biografien von Heiligen<br />
� Franz von Assisi<br />
� Clara<br />
� Hildegard von Bingen<br />
� Ignatius von Lozola<br />
� Elisabeth von Thürigen<br />
� Thomas von Aquin<br />
� Augustinus<br />
� Niklaus von Flüe<br />
� Theresa von Avila<br />
� …die Namens-Heiligen<br />
h) Biografien von Musikern/Filmschauspielern<br />
� Bob Marley<br />
� Bob Dylan<br />
� Curt Cobain<br />
� Marilin Monroe<br />
� James Dean<br />
� Heath Ledger<br />
9
i) Biografie in Bildern/Kunst<br />
� Van Gogh (Das Feld und die schwarzen Raben)<br />
� Edvard Munch (Der Schrei)<br />
� Spitzweg<br />
� Cezanne<br />
� Max Ernst<br />
� Hodler (Tod der Frau)<br />
� Dürrer (Mutter)<br />
� Rodin (Der Denker)<br />
j) Biografie in Märchen und Geschichten<br />
Eigentlich sind alle Märchen biografische Geschichten <strong>mit</strong> einer verpackten,<br />
teilweise moralischen Weisheit<br />
� Die Schneekönige<br />
� Hänsel und Gretel<br />
� Frau Holle<br />
F: Zielformulierungen/Zukunftsplanung/Visionen<br />
Aus all den oben gemachten Schritte heraus macht es Sinn, sich selber für die<br />
nähere und weitere Zukunft Ziele zu stecken und für sein Leben Aussichten und<br />
Visionen hinzustellen.<br />
Eine spielerische Möglichkeit bietet die Methode der 100 Möglichkeiten. 100<br />
Möglichkeiten bieten sich an. Der Jugendliche kreuzt jene an, die ihn am meisten<br />
interessieren. Als zweiter Schritt wird überlegt, weshalb gerade diese Möglichkeit so<br />
attraktiv erscheint (welche Gefühle, Hoffnungen, Werte werden da<strong>mit</strong> verbunden).<br />
Aus dieser Analyse wird überlegt, welches realistische Projekt, welches diese Gefühle,<br />
Hoffnungen und Werte abdecken, sich umsetzen liesse. Meist sind es Projekte, die<br />
nicht alleine umgesetzt werden können sondern die Hilfe anderer benötigt (evtl. die<br />
Hilfe der Gruppen<strong>mit</strong>glieder).<br />
Alleine oder In der Gruppe werden die Ziele definiert: Ziele sollen terminiert sein und<br />
jeweils überprüft werden. Gute Dienste bietet die SMART-Methode:<br />
S = Spezifisch<br />
M = Messbar<br />
A = Attratkiv<br />
R = Realistisch<br />
T = Terminiert<br />
Diese Zielformulierung wird <strong>mit</strong> der Gruppe ausgehandelt. Jeder und jede verspricht<br />
den Beitrag, der ihnen möglich ist. Gemeinsam werden die ersten Schritte zur<br />
Umsetzung des Projekts geplant<br />
G: Projektumsetzung<br />
Das Ziel wird gemeinsam festegelegt, am besten in einer gemeinsamen Sitzung.<br />
Sinnvoll kann es auch sein, dies schriftlich festzuhalten als Protokoll oder Vertrag. Z.<br />
Bsp. kann eine Gruppe folgendes Ziel definieren:<br />
10
Wir sammeln bis am 1. November 50 alte Fahrräder und bringen diese dem Drahtesel<br />
für sein entwicklungspolitisches Projket.<br />
Ganz wichtig im Protokoll oder im Vertrag ist die Belohnung. Wenn wir es schaffen,<br />
gehen wir zusammen essen (usw….)<br />
Was hier für gemeinsame Projekte vielversprechend tönt, lässt sich auch für<br />
persönliche Projekte umsetzen. Sinnvoll ist es hier, jemanden beizuziehen, der die<br />
Zielerreichung überprüft (eine Freundin, ein Freund).<br />
H: …und feiern<br />
Neben der Belohnung, welche ein Teil der Honorierung ist, ist es auch ganz wichtig,<br />
diese Honorierung in eine Art Fest oder Feier einzubinden. Weshalb nicht eine<br />
spirituelle Feier <strong>mit</strong>einander gestalten, welche aufnimmt, was im ganzen Prozess<br />
geschehen ist, <strong>mit</strong> all den Höhen und Tiefen? Das eingebunden Sein in den Prozess<br />
lässt auch das eingebunden Sein in eine grössere Gemeinschaft und in die Religion<br />
(Bindung…) wertvoll erscheinen.<br />
Patrik Böhler<br />
(Mit Besten Dank an Martin Junker für die wertvollen Hintergrundinformationen zur <strong>Biografiearbeit</strong>)<br />
6. Meine Biografie<br />
<strong>Biografiearbeit</strong> interessiert mich, seitdem ich einen Teil einer <strong>Biografiearbeit</strong><br />
durchgearbeitet habe, Ich bin überzeugt, dass <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>mit</strong> Menschen aller<br />
Altersklassen ein befreiender Prozess ist. In der christlichen Religion haben wir <strong>mit</strong> dem<br />
Begriff „Heilige“ einen zentralen Ausdruck für ein ganzheitliches Werden. Heilig<br />
werden bedeutet nichts anderes als „ganz zu werden“. Dies <strong>mit</strong> all den Lebens<br />
umfassenden Dimensionen wie Schuld und Vergebung, Angst und Hoffnung,<br />
Widerstand und Grenzerfahrung, Tod und Auferstehung, Stillstand und Vision. Diese<br />
aufgelisteten Worte finde ich auch in meiner Biografie als emotionale Erfahrungen,<br />
die mich geprägt und ge-bildet haben.<br />
Patrik Böhler<br />
11
Für weitere Informationen / Literatur:<br />
patrik.boehler@kathbern.ch<br />
Fachstelle Religionspädagogik<br />
Mittelstrasse 6a<br />
3012 Bern<br />
Weiterführende Literatur:<br />
� Alheit Peter: Biographizität als Projekt, Bremen, 1990<br />
� ARRA – Association Romand pour la Reconnaissance des Aquis: Portfolio der Kompetenzen,<br />
Bern 2003<br />
� Brandl W. M. A.: Portfolio in der Lehrerbildung in Haushalt und Bildung. Schneiderverlag, 2004<br />
� Brunner Ilse, Häcker Thomas, Winter Felix: Das Handbuch Portfolioarbeit. Konzepte. Anregungen.<br />
Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung, Seelze-Velber, 2006<br />
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� Herbert Gudjons, Marianne Piper, Birgit Wagner: Auf meinen Spuren, Hamburg 1996<br />
� Häcker Thomas: Portfolio - ein Entwicklungsinstrument für selbstbestimmtes Lernen,<br />
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� Hans Furrer: Kompetenzenmanagement der EB: Ressourcen, Kompetenzen, Performanzen,<br />
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