Mündlichkeit - elementargermanistik.uni-bremen.de - Universität ...
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Das Geschichtenschema<br />
Wer?<br />
Eine Geschichte hat einen Hauptfigur<br />
(das kann ein Mensch, ein Tier o<strong>de</strong>r auch ein Gegenstand sein).<br />
Wo? Wann?<br />
Zu Beginn wird die Ausgangslage <strong>de</strong>r Hauptfigur beschrieben.<br />
Was passiert?<br />
In Gang kommt die Geschichtenhandlung durch ein Ereignis, das in das Leben <strong>de</strong>r Hauptfigur eingreift. Das kann<br />
eine Bedrohung, eine brennen<strong>de</strong> Sehnsucht, eine Aufgabe o<strong>de</strong>r ein Problem sein. Die gewohnte Ordnung wird<br />
durcheinan<strong>de</strong>r gebracht und die Hauptfigur muss sich dazu verhalten.<br />
Was folgt darauf?<br />
Geschichten nehmen einen an<strong>de</strong>ren Verlauf, als ihre Hel<strong>de</strong>n beabsichtigen und erwarten. Gera<strong>de</strong> diese überraschen<strong>de</strong>n<br />
Wen<strong>de</strong>punkte machen Geschichten anziehend und „spannend“. Am En<strong>de</strong> ist es <strong>de</strong>r Dümmste, <strong>de</strong>r die<br />
dicksten Kartoffeln erntet o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wunsche geht ganz an<strong>de</strong>rs in Erfüllung, als <strong>de</strong>r Held sich das vorstellte.<br />
Wie en<strong>de</strong>t die Geschichte?<br />
Zum Schluss muss gesagt wer<strong>de</strong>n, ob und wie<br />
die Sehnsucht erfüllt, die Aufgabe gemeistert, das Problem gelöst wur<strong>de</strong>.<br />
Das einfache Schema wird als Grundbaustein begriffen,<br />
und auch als ‚Episo<strong>de</strong>’ bezeichnet. Kompliziertere<br />
Strukturen entstehen durch Variation und Verkettung<br />
von Episo<strong>de</strong>n. Ein Beispiel, das im europäischen<br />
Volksmärchen häufig zu fin<strong>de</strong>n ist, wäre die variierte<br />
dreimalige Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>r gleichen Aufgabe, die<br />
erst beim dritten Mal gelöst wird wie in <strong>de</strong>n verbreiteten<br />
Märchen von <strong>de</strong>n drei Brü<strong>de</strong>rn. Für <strong>de</strong>n Erzähler<br />
sind diese Grundstrukturen <strong>de</strong>shalb von Be<strong>de</strong>utung,<br />
weil sie <strong>de</strong>n Grundrhythmus seiner Erzählung darstellen,<br />
und es lohnt sich, sich diese Grundmo<strong>de</strong>lle klar zu<br />
machen, sie sind nicht ganz so formal und beliebig,<br />
wie es auf <strong>de</strong>n ersten Blick erscheint.<br />
Wie aber bin ich in <strong>de</strong>r Lage, die Handlungen meiner<br />
Geschichte in allen ihren Verästelungen im Gedächtnis<br />
zu speichern und wie<strong>de</strong>rzugeben? Diese Handlungsfolge<br />
prägen wir uns vor allem in Form von Bil<strong>de</strong>rn ein,<br />
d.h. wir lassen im Akt <strong>de</strong>s Erzählens eine Art inneren<br />
Film vor uns ablaufen und gestalten ihn in Worten und<br />
Gesten. Für die Abfolge <strong>de</strong>r Handlungen (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
Übergangs von einer Bildsequenz zur nächsten) benutze<br />
ich eine stichwortartige Zusammenfassung <strong>de</strong>r<br />
Episo<strong>de</strong>. Bei je<strong>de</strong>m einzelnen Stichwort taucht eine<br />
Serie von Bil<strong>de</strong>rn auf, die ich dann wie<strong>de</strong>rum erzählend<br />
in sprachliche Formulierungen umwandle.<br />
Gute Geschichten haben so etwas wie eine eigene<br />
Handlungslogik, die beim Erzählen zu beachten ist und<br />
Faustregeln für das Memorieren <strong>de</strong>r Erzählung<br />
� Den Text drei Mal (laut) lesen bzw. einan<strong>de</strong>r vorlesen, dann weglegen,<br />
� sich die Ereignisse wie einen inneren Film vergegenwärtigen,<br />
� <strong>de</strong>n Ablauf unter Umstän<strong>de</strong>n neu glie<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r umgestalten.<br />
die sich von unserer Alltagslogik beträchtlich unterschei<strong>de</strong>t.<br />
Habe ich <strong>de</strong>n Däumling einmal in die Welt<br />
gesetzt, brauche ich mir um die „realistische“ Wahrscheinlichkeit<br />
seiner Abenteuer keine Gedanken mehr<br />
zu machen, solange sie für ein daumenlanges<br />
Menschlein durchführbar scheinen. Ich muss ihn aber<br />
auch über die Eigenschaften eines daumengroßen<br />
Winzlings wie<strong>de</strong>r nach Hause zurückkehren lassen, da<br />
sonst die innere Logik durchbrochen wür<strong>de</strong>. Der<br />
Schluss hat also auf <strong>de</strong>r Linie dieser inneren Konsequenz<br />
zu liegen. Erzählungen lassen sich <strong>de</strong>shalb<br />
auch verstehen als ein Set von Regeln, die <strong>de</strong>r Erzähler<br />
mit <strong>de</strong>m Einstieg setzt und dann in seiner Erzählung<br />
bis zum En<strong>de</strong> zu berücksichtigen hat.<br />
Die Handlungsfolge <strong>de</strong>r Vorlage kann unter Beachtung<br />
<strong>de</strong>s Strukturschemas, <strong>de</strong>r inneren Logik <strong>de</strong>r Handlung<br />
und eines ein<strong>de</strong>utigen Schlusses nach Bedarf abgewan<strong>de</strong>lt<br />
wer<strong>de</strong>n. Das sollte vor allem dann geschehen,<br />
wenn <strong>de</strong>r Handlung die nötige Konsequenz fehlt o<strong>de</strong>r<br />
uns bestimmte Teile <strong>de</strong>r Erzählung gegen <strong>de</strong>n Strich<br />
gehen. Das haben auch die traditionellen Erzähler<br />
nicht an<strong>de</strong>rs gehalten: Diesem kreativen Umgang mit<br />
Erzählstoffen und Motiven verdanken wir die zahlreichen<br />
„Varianten“ überlieferter Märchen.<br />
Die Handlungsfolge muss dann genau vorgestellt und<br />
eingeprägt wer<strong>de</strong>n.<br />
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