Wenn einem Dorf das Gas abgedreht wird - Andrássy Universität ...

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28. FEBRUAR - 6. MÄRZ 2011 • NR. 9 WIRTSCHAFT BUDAPESTER ZEITUNG 7 Zwei-Milliarden-Rahmen-Vertrag zwischen NFÜ und PD-Konsortium Große Summe sorgt für große Fantasien Nachdem die Nationale Entwicklungsagentur (NFÜ) dem PD-Konsortium bereits am 11. Februar den Zuschlag erteilt hatte, die Behörde in den kommenden vier Jahren „technisch-fachlich und juristisch“ zu unterstützen, wurde letzte Woche mehrfach Kritik an diesem Vorgang laut. rößter Stein des Anstoßes ist Gden Kritikern die Tatsache, dass die Tenderunterlagen zwar noch drei Käufer gefunden hatten, ein gültiges Angebot letztlich aber nur vom genannten Konsortium abgegeben wurde. Rechtsanwalt Attila Dezsõ, vom dem das „D“ im Namen des siegreichen Konsortiums stammt, kann daran nichts Anstößiges finden. „Die Zahl der Firmen, die all die vom NFÜ verlangten Anforderungen erfüllen, ist halt sehr begrenzt. Ich könnte eigentlich nur noch eine weitere Firma nennen, die außer unserem Konsortium dazu in der Lage wäre.“ Es geht nur um einen Rahmenvertrag Weiterhin war vielen Beobachtern die im Vertrag genannte, ungewöhnlich hohe Summe von zwei Milliarden Forint ein Grund für gewisse Spekulationen. Um die besondere Höhe der Vertragssumme noch besser veranschaulichen zu können, schaute sich die Internetzeitung Origo gleich einmal andere Beraterverträge der NFÜ an. Dabei fanden die Origo-Journalisten heraus, dass seit 2006 der höchstdotierte Beratervertrag ein vergleichsweise bescheidenes Volumen von 74 Millionen Forint hatte. Allerdings werde in den Medienberichten geflissentlich übergangen, dass es sich bei den fraglichen zwei Milliarden Forint jetzt lediglich um eine Rahmensumme handelt, bemerkt Dezsõ. „Auf Grund des Vertrags können wir praktisch nicht einen einzigen Forint von der NFÜ verlangen. Sollte es die Behörde etwa durch eine gute interne Arbeitsorganisation aus eigener Kraft schaffen, die Qualitätsprüfungen von Fördermittelanträgen und ähnliche Tätigkeiten alleine vorzunehmen, könnten wir sogar ganz leer ausgehen“, sagt der Rechtanwalt von der Kanzlei CHSH Dezsõ & Partners. Moderater Stundensatz von 16.000 Ft Der Auftrag beinhalte lediglich, dass sich die NFÜ-Mitarbeiter bei erschöpften eigenen Ressourcen oder fehlendem Knowhow zu einem für Branchenverhältnisse eher moderaten Stundensatz von 16.000 Ft an das Konsortium beziehungsweise die hinter ihm stehenden Kanzleien wenden können. Als Höchstgrenze des Gesamtvolumens wurde ausgehend von den bisherigen Erfahrungen ein Limit von zwei Milliarden Forint für den Vertragszeitraum von vier Jahren festgesetzt. Dass bei einem solchen Vertrag der maximale Rahmen des Auftragsvolumens beziffert werden müsse, sei lediglich einer rechtlichen Vorschrift geschuldet, erklärt Dezsõ, wobei er aus seinem Unbehagen über die provozierend hohe Zahl kein Hehl macht. „Hätten wir uns einfach auf einen festen Stundensatz geeinigt, dann hätte sich kein einziger Journalist für den Vertrag interessiert. Aber Vorschrift ist BZT / Jan Mainka Anwalt Attila Dezsõ: Arbeiten dieser Dimension sind auf dem Markt bekannt. nun einmal Vorschrift“, findet er sich mit dem Milliarden-Etikett des Vertrages ab, das ihm und seiner Kanzlei seit einigen Tagen eine ungewollte Medienpräsenz beschert. Zweifach falsche Datumsangabe Und schließlich ist da aber auch noch die Sache mit den Terminen. Laut teils übereinstimmender Presseberichte konnten pikanterweise angeblich nur zwischen dem 27. Dezember und 5. Januar Gebote abgegeben werden. Nach Aussage von Dezsõ sei jedoch keine der beiden Datumsangaben zutreffend. „Am 16. Dezember wurde die Ausschreibung bekanntgegeben. Abgabeschluss wäre nach der üblichen Vorgehensweise der 3. Januar gewesen. Da aber die Feiertage in das Intervall fielen, wurde die Abgabefrist von der Behörde auf den 13. Januar verschoben.“ Der grobe Inhalt der Ausschreibung sei aber ohnehin bereits seit einer mit dem 30. August 2010 datierten Vorabmitteilung der Behörde bekannt gewesen, so Dezsõ, während er auf das Datum des vor ihm liegenden Dokuments weist. „Seit diesem Zeitpunkt konnte sich also praktisch jede interessierte Kanzlei auf die Eröffnung des Tenders vorbereiten“, unterstreicht er. „Arbeiten dieser Dimension sind auf dem Markt ohnehin bekannt und werden von den Akteuren erwartet.“ Ergo: Nicht in jedem Paket, auf das Journalisten geflissen das Etikett „korruptionsverdächtig“ heften, muss zwangsläufig auch wirklich Korruption drinstecken. JAN MAINKA KOMPAKT � Neuer Geschäftsführer bei BMW Ungarn. Mit Wirkung vom 1. April wird der Franzose Paul de Courtois die Geschäftsführung der BMW Magyarország Kft. übernehmen. Der bislang im Vertriebsraum Afrika/Karibik zuständige Manager folgt Henning Putzke, der seine berufliche Laufbahn nach fünf Jahren in Ungarn in Deutschland fortsetzen wird. � Wienerberger häuft Verluste an. Der österreichische Ziegelhersteller musste 2010 Verluste von 35 Mio. Euro hinnehmen, die sich neben den durch eine Umstrukturierung bereits 2009 fabrizierten 260 Mio. Euro an Verlusten freilich bescheiden ausnehmen. Die Umsatzerlöse der Wienerberger-Gruppe sanken weiter um 4% auf 1,75 Mrd. Euro. Das lässt nichts Gutes für die ungarische Tochtergesellschaft erhoffen, die einst munter zahlreiche Konkurrenten schluckte und sogar ein neues Ziegelwerk in Ostungarn erbaute. � Anderthalb Millionen sehen digital fern. Bei den großen Anbietern nutzten am Jahresende bereits 870.000 Privathaushalte Sat-TV und 560.000 Haushalte digitales Kabel- oder IPTV, steht im neuesten Bericht der Medienbehörde NMHH. Im Fernsehsegment behauptet UPC die Position als Marktführer mit einem Marktanteil von 29% vor DIGI mit 26% und T-Home mit 25%. � Hundert Millionen für Genesis. Die fünf großen Investorengruppen bei der Genesis Energy Nyrt. versäumten, eine im geschlossenen Kreis vorgenommene Anhebung des Grundkapitals in Hinsicht auf die daraus abgeleitete Pflicht einer Offertstellung anzumelden. Die Investitionen im Energiegeschäft tätigenden Offshore-Firmen steigerten ihre Geschäftsanteile auf 82%, ohne den restlichen Aktionären ein Angebot zu unterbreiten. Deshalb wurde ihnen jetzt eine Aufsichtsstrafe von insgesamt 100 Mio. Forint aufgebrummt. � Baustoffhersteller trotzt Rezession. Die 1997 gegründete Masterplast Zrt. erzielte im abgelaufenen Jahr mit 85,2 Mio. Euro nur geringfügig weniger Umsatzerlöse als zuvor, das Vorsteuerergebnis sank derweil von 725.000 Euro auf ein Drittel ab. Der durch den um ein Zehntel schrumpfenden einheimischen Baustoffmarkt ausgelösten Konsolidierung fielen zwei ausländische Tochtergesellschaften im Kosovo und in Montenegro zum Opfer. Masterplast bereitet sich seit 2008 auf den Gang an die Budapester Wertpapierbörse vor.

8 BUDAPESTER ZEITUNG REPORTAGE 28. FEBRUAR - 6. MÄRZ 2011 • NR. 9 9 D er achtjährige Lacika stottert. Mit scheuem Stolz zeigt er das Bild, das er im Malunterricht gezeichnet hat. Es sei die Zeichentrickfigur „Son Goku“, stammelt er. Auf das Lob der Erwachsenen verzieht sich sein Mund zu einem breiten Lächeln. Lacika besucht die Grundschule im 2000-Seelen-Ort Tiszabõ. Dieser liegt rund 120 Kilometer südöstlich von Budapest. Gefragt danach, was er werden wolle, muss Lacika nicht lange überlegen: „Polizist“. Kriszta, die junge, engagierte Schulpsychologin, erklärt später, dass der kleine Junge ohne männliche Familienangehörige aufwachsen müsse. „Sie sind alle im Gefängnis“, sagt sie. Gáborné Domán, eine kleine, resolut wirkende Mittfünfzigerin, ist die Schuldirektorin in Tiszabõ. Sie erklärt, dass die rund 350 Kinder an der Schule ausnahmslos Roma seien. Sie kämen bereits mit großen Defiziten in die Schule. Mit sechs Jahren könnten sich viele sprach- Eine der Ruinen in Tiszabõ. József Túró mit einem seiner sieben Kinder. Der Bürgermeister von Tiszabura: László Farkas. lich noch nicht richtig ausdrücken. „Wie soll man ihnen da das Lesen und Schreiben beibringen?“ Viele der Schüler könnten dieses Handikap bis zum Schulabgang – im Idealfall im Alter von 14 Jahren – nicht ausmerzen, erklärt Schulpsychologin Kriszta. In einer weiterführenden Schule hätten es die meisten daher sehr schwer. „Viele geben schon nach ein bis zwei Monaten auf.“ Ihre spätere Arbeitslosigkeit sei also vorprogrammiert. Laut Kriszta gibt es auch immer wieder Schülerinnen, die mit vierzehn, fünfzehn Jahren schwanger werden. Um das Kindergeld beziehen zu können, sagt sie. Oder sie würden einfach nicht verhüten. Prostitution in diesem Alter sei auch keine Seltenheit. „Wir haben ein vierzehnjähriges Mädchen an der Schule, das schon mit zwölf Jahren auf den Strich ging“, erzählt sie. Das Mädchen sei jetzt schwanger. Schuldirektorin Domán ergreift wieder Wenn einem Dorf das Gas abgedreht wird das Wort. Sie meint, dass die Schüler keinerlei Respekt vor fremdem Eigentum hätten. Sie „zerschlagen Fenster, klauen Wasserhähne, zerstören neue Möbel und beschmieren die frisch gestrichenen weißen Wände“. Wenn man nach dem Grund frage, heißt es nur, „weil es cool ist“. Prügeleien stünden auch auf der Tagesordnung. Allein in den letzten drei Tagen habe es ein gebrochenes Jochbein und einen Armbruch gegeben, sagt die Direktorin. Psychologin Kriszta fügt erklärend hinzu, dass die Schlägereien vor allem der tiefen Unzufriedenheit der Schüler geschuldet seien. „Das triste Leben frustriert die Kinder, das entlädt sich oft in Gewalt.“ Kein Ausweg in Sicht Eine ältere Lehrerin gesellt sich hinzu. Von den vielen Lehrjahren sichtlich ermattet, erzählt sie, dass ihre Schüler oft im ordinären Tonfall mit ihr sprechen würden. „Ich ignoriere sie dann, und sage ihnen, dass das Klassenzimmer eine ‚Insel des Friedens’ ist, wo so nicht miteinander geredet wird“. Im Unterricht funktioniere das ganz gut. Doch in den Pausen würden sich die Schüler schlagartig wieder zu „wilden Tieren“ verwandeln. „An dieser Schule muss man als Lehrer jeden Tag neu anfangen, das ist unglaublich anstrengend“, sagt sie geknickt. Ob es denn einen Ausweg gebe? „Lernen, lernen, lernen. Es gibt kein besseres Rezept“, da sind sich die Lehrerin und die Schuldirektorin einig. Doch welche Berufswünsche haben die älteren Kinder eigentlich? Die elfjährige Ildikó will Frisörin werden, so wie viele andere Schülerinnen auch. Die vierzehnjährige Zsuzsanna möchte ebenfalls in einem Friseurgeschäft arbeiten. „Oder ich heirate Ernõ.“ „Ich werde nichts“, sagt der zehnjährige Béla. Demgegenüber hat der zwei Jahre ältere András bereits konkrete Vorstellungen: „Polizist wäre toll, dann sperre ich nämlich die Leute ein, die klauen.“ „Und was klauen sie?“, fragt die Lehrerin. „Na Holz im Wald“, lautet seine Antwort. „Und du klaust kein Holz im Wald, András?“ „Doch. Deshalb werde ich mich selbst einsperren.“ Seine Worte sorgen im Klassenzimmer für Gelächter. Auf die Frage, ob die Schüler Hunger leiden müssten, erzählt Schulpsychologin Kriszta von einem neunjährigen Mädchen, dass kürzlich „mit Bauchschmerzen“ zu ihr gekommen sei. Sie habe ihr Tee mit viel Zucker gegeben. „Das hat fürs erste die Magenschmerzen gelindert.“ Danach hätten sie zusammen mit Puppen gespielt. Das Mädchen sei dabei das „Hühnchen“ gewesen – das Hühnchen, das „keine Körner bekommt“. Der Geographieunterricht an der Schule findet mit Hilfe von Computern statt. Milde lächelnd erzählt der etwa fünfzigjährige Lehrer, dass der Großteil der Kinder weder gut lesen noch schreiben könne. Deshalb versuche er ihnen den Lehrstoff „visuell“ über das Internet zu vermitteln, etwa mit Google Maps. „Sie können sich dann zum Beispiel das Schachbrettmuster einer amerikanischen Stadt besser vorstellen. Würde ich ihnen dieses Phänomen erklären, würden sie Tiszabõ und Tiszabura gelten als die zwei ärmsten Gemeinden Ungarns. In beiden Ortschaften herrschen immense Arbeitslosigkeit und bittere Armut. Ein Reportageteam der BUDAPESTER ZEITUNG machte sich ein Bild von den Zuständen in den zwei Orten. es nicht verstehen.“ In jeder Unterrichtsstunde gebe er den Kindern auch nur eine Aufgabe. „Mehr kann ich ihnen nicht zumuten.“ Haben sie die Aufgabe gelöst, dürfen die Schüler im Internet surfen oder sich Computerspielen hingeben. Zwei Mädchen in reiferem Alter sehen sich gebannt Bilder von pubertären Buben an, die im Internet mit nacktem Oberkörper posieren. An einem anderen Gerät ist ein Schüler ganz darin vertieft, Autorennen zu fahren. Selbst einen Computer zu besitzen ist in Tiszabõ, wo viele Familien nicht einmal eine Toilette im Haus haben und den Strom von der Stromleitung abzapfen, fast undenkbar. Auf dem trostlosen Schulhof rutschen einige Schüler zum Spaß auf den zugefrorenen Pfützen umher. Kaum ein Kind ist der Jahreszeit entsprechend gekleidet. Die meisten tragen Turnschuhe und Jogginghosen. Handschuhe, Mützen oder Schals, geschweige denn warme Winterjacken sind nur wenige zu sehen. Früher gab es viele Bäume auf dem Schulhof. Heute zeigen Baumstümpfe gen Himmel. Auf den heruntergekommenen Zustand der Schule angesprochen, erzählt Direktorin Domán, dass das Gesundheitsamt (ÁNTSZ) sogar schon mit ihrer Schließung gedroht habe. „Sie ist unhygienisch und für die Kinder zum Teil lebensgefährlich“, so Domán. In der Schule werde nicht geputzt. Es sei einfach kein Geld dafür da. Die fehlende Reinigung springt vor allem in den Toiletten ins Auge: Die weißen Fliesen sind braun verschmiert. Vom Matsch des Schulhofs? Offenbar wird auch wenig gelüftet. Im ganzen Gebäude riecht es nach abgestandener Luft und Schweiß. In ihrer Hilflosigkeit ist Schuldirektorin Domán besonders auf die Regierenden wütend: „Statt den Mund vollzunehmen, sollten die Politiker vorbeikommen und endlich Taten sprechen lassen. Schulen wie diese hier, sind eine Schande für dieses Land.“ „Bis zum Hals in Schulden“ Auf der Fahrt von der Schule zum Bürgermeisteramt sind auf der Straße viele streunende Hunde zu sehen. Etliche Häuser sind unbewohnt. Durch Fensterhöhlen sieht man in ihr entkerntes Inneres. Aus den Hausruinen wurde sichtlich alles Verwertbare geplündert. Mauerreste deuten an, wo früher einmal ein Gartenzaun war. Das Bürgermeisteramt steht dem Ort an Tristesse in nichts nach. Kalter Zigarettenrauch erfüllt das gedrungene Gebäude. Rasch wird klar, warum es hier so stickig ist: Im Büro von Bürgermeister Barnabás Farkas hängt der Rauch in dik- VON PETER BOGNAR, KONSTANZE FAßBINDER, INES GRUBER UND LISA WEIL ken Schwaden. Ein paar verstaubte und vergilbte Plastikorchideen stehen auf den Schränken hinter dem Schreibtisch. Farkas sitzt in gebeugter Haltung da. Auf dem dunklen Anzug, den er trägt, sind seine Haarschuppen besonders gut sichtbar. Er nuschelt. „Tiszabõ steckt bis zum Hals in Schulden“. Der Stromversorger, sagt er, werde wegen unbeglichener Rechnungen den Strom im März voraussichtlich abdrehen. „Es ist nicht mein Fehler“, beeilt sich der Bürgermeister zu beteuern. Es gebe nichts mehr, woran in der Gemeinde noch gespart werden könne. Mangels Geld sei von ihm auch schon die Putzfrau entlassen worden. „Jetzt putzt der Notar das Bürgermeisteramt und auch ich helfe ab und zu mit.“ Er habe der Regierung bereits mehrere Briefe geschrieben und darum gebeten, dem Ort finanziell unter die Arme zu greifen. Doch sei sein Anliegen jedes Mal auf taube Ohren gestoßen, schildert er. Ob es in Tiszabõ Arbeit gebe? Farkas schüttelt den Kopf: „Hier sind alle arbeitslos.“ „Früher“, sagt er, „früher war Tiszabõ eine blühende Ortschaft. Jeder Haushalt hatte Kühe, Schweine und Hühner.“ Doch dann sei die große Flut gekommen. 2002 sei die Theiß, die am Dorf entlang fließt über die Ufer getreten. „Die Zerstörungen der Überschwemmung waren groß.“ Seither befinde sich Tiszabõ im Niedergang. „Viele Ungarn sind wegen der aussichtslosen Lage weg gegangen. Heute leben praktisch nur noch Zigeuner hier“, erklärt Farkas, der selbst Roma ist. Die Hiergebliebenen hätten nicht einmal mehr Geld zum Heizen. „Sie gehen in die umliegenden Wälder, um illegal Holz zu fällen.“ Farkas kommt auch auf die vielen leerstehenden Häuser zu sprechen, die in Tiszabõ oft bis auf die Grundmauern abgetragen wurden. „Um Eisen und andere Baumaterialien verkaufen zu können, vergreifen sich die mittellosen Einwohner einfach an den leeren Gebäuden.“ Die Situation im Ort sei bereits so dramatisch, dass die Einwohner in ihren eigenen Häusern Fliesen und sanitäre Anlagen abmontieren, um an Geld zu kommen. Was die Menschen ohne Arbeit den ganzen Tag so machen? „Sie vermehren sich“, antwortet der Bürgermeister trocken. Er erklärt: „Wenn jemand keine Arbeit hat und den ganzen Tag zu Hause ist, was soll er denn mit seiner Frau sonst tun? Er hat Zeit, und er ist vor allem ausgeruht.“ Illegale Rohdungen der Wälder Die Fahrt in die rund zwanzig Kilometer entfernte Ortschaft Tiszabura führt entlang der Theiß über einen Damm. Diese Strecke sei besser als die von Schlaglöchern übersäte Landstraße, heißt es in Tiszabõ. Auf dem schmalen Grat des Damms ist es rutschig. Alles andere als Schritttempo wäre waghalsig. Während der Fahrt heulen immer wieder Motorsägen auf und man hört das Brechen von Holz. Auf dem Damm verkehren trotz eisiger Temperaturen auch Radfahrer. Äxte und Sägen sind auf die Gepäckträger der Räder gezurrt. An einem Waldrand seitlich des Dammes packen Männer Baumstämme und Äste auf einen Autoanhänger. Sogar am helllichten Tag wird hier illegal abgeholzt. Von einem ehemaligen Baumbestand daneben sind nur noch Stümpfe übrig, die aus der silbrig glänzenden Eisfläche ragen. Der Bürgermeister von Tiszabura, László Farkas, ist leger gekleidet. Trotz des Wusts an Problemen strahlt er Unbekümmertheit aus. In seinem Büro fallen zwei Wandkarten besonders auf. Auf der einen ist „Großungarn“, auf der anderen das Land in seiner heutigen Größe abgebildet. Einige welke Zimmerpflanzen im Büro haben wohl lange kein Wasser mehr bekommen. Seit zehn Jahren steht Farkas an der Spitze von Tiszabura. Mit 23 Jahre wurde er zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt. „Was will dieser Rotzbub?“, hätten die Skeptiker damals gefragt. Heute sagt Farkas selbstbewusst, dass er außer sich niemand anderen im Ort kenne, der den Problemen gewachsen wäre. Auch Tiszabura steckt heillos in Schulden. Die Gründe für diese Malaise ortet Farkas in der verfehlten Politik der einstigen Regierung unter Péter Medgyessy (2002-2004). Medgyessy und seine linksliberale Regierung erhöhten nach ihrem Wahlsieg im Jahr 2002 die Löhne der öffentlich Bediensteten um 50 Prozent. „Schön und gut“, sagt Farkas, „nur dass es keine Deckung für diese Lohnerhöhungen gab.“ Der Bürgermeister erzählt, dass sich die Ortschaft gezwungen sah, Kredite aufzunehmen, um die abrupt gestiegenen Lohnkosten der Dorfbediensteten bezahlen zu können. Heute belaufen sich die Schulden von Tiszabura auf rund 100 Millionen Forint. „Alles unbezahlte Rechnungen“, erklärt Farkas. 15 Millionen allein machen die nicht beglichenen Gasrechnungen aus. Als Konsequenz habe der örtliche Energieversorger im Dezember kurzerhand den Gashahn zugedreht. Ohne Gas gibt es keine Heizung, und ohne Heizung kann unter anderem die Schule nicht betrieben werden. „Das war ein Schlag ins Gesicht.“ Der Schulunterricht findet derzeit notgedrungen im Sitzungssaal des Bürgermeisteramtes, im verwahrlosten Kulturhaus und einem gemeinnützigen Gebäude der Ortschaft statt – wegen des Platzmangels in Vormittags- und Nachmittagsschichten. Wann der Schulbetrieb im Schulgebäude wieder aufgenommen werden kann? „Wenn das Gas aufgedreht wird“, sagt der Bürgermeister lapidar. Und fügt mit einem schalkhaften Lächeln hinzu: „In Auschwitz haben wir uns darüber nicht so gefreut.“ In diesem Jahr, sei wegen Geldmangels auch ein Programm für die Vergabe von gemeinnütziger Arbeit eingestellt worden. Während im Vorjahr noch rund 600 Menschen in Tiszabura Arbeit und ein bescheidenes Einkommen gegeben wurde, verrichten heute nur noch drei Personen gemeinnützige Tätigkeiten. Das bedeutet auch, dass viele nicht einmal mehr die monatliche Sozialhilfe in Höhe von 28.500 Forint erhalten. Der Grund: Diese ist an Arbeit gekoppelt. Für den Erhalt muss man mindestens zwei Monate im Jahr gearbeitet haben. Und Arbeit gibt es weit und breit kaum. Vor der Wende habe es in der Umgebung noch eine Tabakfabrik, eine Zuckerfabrik, ein Geflügelverarbeitungsunternehmen und Bauindustrie gegeben. „Alle haben dicht gemacht“, so Farkas. Obendrein seien auch die funktionierenden Kolchosen zerschlagen worden, wodurch ebenfalls viele Menschen arbeitslos wurden. „Wenn bei vielen nun auch noch die Sozialhilfe wegfällt, habe ich die Sorge, dass in Tiszabura nicht nur die Kriminalität weiter ansteigt, sondern dass Menschen auch hungern müssen“, sagt Farkas. Der Bürgermeister erzählt, dass viele Bewohner des Ortes auf eigene Faust in die nahe gelegenen Wälder jagen gingen. „Vor kurzem ist jemand mit einem Wildschwein zurückgekehrt.“ Ob es Polizisten im Ort gebe? „Auf dem Papier gibt es drei, ich habe bisher aber nur einen getroffen“, sagt der Bürgermeister. Und der habe sich auch nur blicken lassen, weil er für seine Frau nach Arbeit gesucht habe. „Weil wir die Leute nicht mehr bezahlen können, gibt es im Ort auch keine Bürgerwehr mehr“, sagt Farkas. Und dann gebe es auch noch das Problem der streunenden Hunde. Die hungrigen Tiere rotten sich zu Rudeln zusammen und gehen in der Umgebung von Tiszabura auf Jagd, so der Bürgermeister. Er warnt davor, gewisse Gegenden in der Gemeinde bei Dunkelheit aufzusuchen. „Sie sind sehr angriffslustig.“ „Was kann man hier schon machen?“ Hinter dem geisterhaft leer stehenden Schulgebäude ist das Kulturhaus zu finden. Das Gebäude ist klein, die Fenstergitter sind verrostet. Im Inneren bröckelt der Putz. Drinnen ist es aber warm. Über der Bühne des kleinen Festsaals prangt noch die Weihnachtsdekoration. Außerdem hängen rosafarbene Luftballons und Papiergirlanden von der Decke. „Gleiche Chancen gegen Brustkrebs“ steht in großen Lettern an der Wand. In der Mitte des Raumes hängt eine kleine Diskokugel mit blinden Spiegeln. Hinter provisorischen Pappwänden wurde hier notdürftig ein Unterrichtsraum eingerichtet. In den restlichen „Klassenzimmern“, die in fensterlosen, muffigen Räumen beherbergt sind, stehen die Stühle schon auf den Tischen. Es ist später Nachmittag. Zwei Frauen mittleren Alters sind gerade dabei, das Gebäude zu reinigen. Eine der beiden ist eine Roma. Die Frauen gehören zu jenen drei Personen, die im Ort noch gemeinnützige Arbeit leisten. Für sechs Stunden pro Tag erhalten sie einen Lohn in Höhe von monatlich 45.000, für vier Stunden kriegt man 31.000 Forint. Die Roma klagt über ihren immergleichen Alltag: „Was kann man in diesem Kaff schon machen?“ Einmal im Jahr, sagt sie, gehe die ganze Familie in den Nachbarort Pizza essen. Das sei der einzige Lichtblick in ihrem eintönigen Leben. Die andere Frau erzählt, dass sie bisher nur einmal in Budapest gewesen sei – vor 28 Jahren zur Hochzeitsreise mit ihrem Mann. Budapest ist rund 100 Kilometer von Tiszabura entfernt. Wie das Zusammenleben von Ungarn und Roma in Tiszabura funktioniere? „Eigentlich gut“, meinen beide. „Konflikte gibt es nicht. Wenn, dann nur deshalb, weil die Zigeuner klauen. Die beklauen sich aber auch untereinander“, sagt die Roma. Die andere Frau ergänzt: „Deshalb finde ich, dass wir in Tiszabura kein ethnisches, sondern ein soziales Problem haben.“ Ihre Kollegin nickt zustimmend. 3000 Einwohner – 1 Arzt Allgemeinarzt Balázs Horváth ist jung und sportlich. Er trägt einen Dreitagebart. Sein schulterlanges Haar hat er zu einem Zopf gebunden. Horváth ist der einzige Arzt, der in Tiszabura geblieben ist. Der Kinder- und der Zahnarzt haben die Ortschaft wegen der misslichen Situation vor wenigen Monaten fluchtartig verlassen. Deshalb ist Horváth heute für rund 3.000 Einwohner zuständig, in denen die Mehrheit Roma sind. „Die gesundheitliche Situation hier im Dorf ist weitaus schlechter als die des nationalen Durchschnitts“, so Horváth. Die häufigsten Krankheiten seien Mangelerkrankungen, Rheuma, Asthma und Herz- Gefäß-Erkrankungen. Außerdem gebe es viele Fälle von Schwangerschaften bei Minderjährigen. „Dabei hält die Gemeindeschwester regelmäßig Vorträge – unaufgeklärt sind die Jugendlichen also nicht. Wir verteilen umsonst Kondome, und auch die Dreimonats-Verhütungs- spritze kostet wenig. Aber wenn Jugendliche verliebt sind, ist ihnen alles egal – und die Jungs mögen Kondome eben nicht so gern“, erklärt der Arzt. Trotz der bitteren Armut in Tiszabura sei im Winter noch niemand mit Erfrierungswunden oder Frostbeulen zu ihm gekommen. Probleme resultieren eher aus dem Gegenteil. Die meisten Familien heizen mit Holz aus den umliegenden Wäldern. „Um die Wärme in der Wohnung zu halten, lüften sie jedoch kaum. Dadurch werden ständig Schadstoffe eingeatmet, die sich in der Lunge absetzen“, erklärt Horváth. Das Ergebnis sei ein überdurchschnittlich hohes Vorkommen von chronischem Asthma, vor allem bei Kindern. Atemwegerkrankungen sind bei Kindern aber auch deshalb so häufig, weil viele Mütter ihre Säuglinge mit Kuhmilch füttern, so der Arzt. Ein anderes großes Problem seien Fehlernährung und der enorme Vitaminmangel. „Viele meiner Patienten essen kaum Obst oder Gemüse. Die Menschen hier verzehren vor allem Weißbrot und Schweinefleisch, das in Massen jedoch entzündungserregend wirken kann“, sagt Horváth. Viele würden sich auch mit Chips, Cola und Süßigkeiten vollstopfen, wenn sie ihre Löhne oder Sozialgelder bekämen, weiß der Arzt. Ihre Kinder seien den Roma „heilig“. Sei ein Roma-Kind ernsthaft krank, nähmen sie trotz Mittellosigkeit auch große Unkosten in Kauf. „Wenn es nicht anders geht, nehmen sie einen Kredit auf, um Medikamente oder die Fahrtkosten ins Krankenhaus bezahlen zu können.“ Horváth meint damit keine Bankkredite, sondern Kredite von Privatpersonen mit „Wucherzinsen“. In vielen Fällen könnten die horrenden Rückzahlungen von den Schuldnern aber nicht geleistet werden. „Im Ort wurden deshalb auch schon Häuser in Brand gesteckt“, weiß er zu berichten. „Kakerlaken hinter den Wänden“ József Turó wirkt auf den ersten Blick jungenhaft. Bei genauerem Hinsehen Eine Grundschulklasse in Tiszabõ. Familie Túró in ihrem Zuhause. Der Bürgermeister von Tiszabõ: Barnabás Farkas. sieht der Roma aber müde und abgearbeitet aus. Tiefe Falten umgeben seine grünen Augen. Mit seiner jetzigen Frau hat er sieben Kinder, vier von ihr, drei von ihm. Grinsend und bisweilen Grimassen schneidend, sehen die hübsch gekleideten Kinder ihrer Mutter dabei zu, wie sie in der Küche „sovány“ zubereitet. „Sovány“ bedeutet mager. Es ist ein billiger Ersatz für Brot, das für viele Familien in Tiszabura zu teuer ist. „Aus Wasser, Backpulver und Hefe knete ich einen Teig und frittiere ihn dann in heißem Öl“, erklärt sie. Seit fünf Jahren ist József arbeitslos. Zuvor habe er jahrelang als Maurer für ein Bauunternehmen gearbeitet. Bis zu 370 Stunden im Monat. József will unbedingt wieder arbeiten. „Um den Kindern eine ordentliche Ausbildung geben zu können“, sagt er. Derzeit betrage das Familienbudget rund 150.000 Forint im Monat. Es setze sich vor allem aus der Familienbeihilfe zusammen. „Viel zu wenig, um meiner Familie ein anständiges Leben bieten zu können“, sagt József. In ihrem Haus bewohnen József und seine Familie drei Zimmer. Weil es zu wenige Betten gibt, schlafen jeweils zwei Kinder auf einer Liegestatt. Im Wohnzimmer prangt eine Tapete mit Efeu-Muster, darunter verdeckt eine Holzvertäfelung die Wand. Immer wieder krabbeln hinter der Vertäfelung käferartige Getiere hervor. Etwa Spinnen? „Nein, nein, das sind Kakerlaken“, erklärt die älteste Tochter Ildikó. Auch die Küche ist nur beim ersten Hinsehen adrett. Nach einer Weile fällt auf, dass der Wasserhahn an der Küchenspüle aus einem großen grauen Loch in der Wand hervorragt. Hinter der großen Küchentheke wiederum hören die Bodenfliesen einfach auf und es schaut das nackte Erdreich hervor. Die vierzehnjährige Ildikó drückt sich selbstsicher und gewählt aus. Sie hat feste Pläne. So wolle sie eine Handelsschule besuchen, mit Englisch und Französisch als Wahlsprachen. József hofft: „Diese Schule wird für meine Tochter vielleicht ein Ausweg aus der Armutsfalle sein.“ Trotz des schlechten Zustands wird auch dieses Haus bewohnt.

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D er<br />

achtjährige Lacika stottert. Mit<br />

scheuem Stolz zeigt er <strong>das</strong> Bild,<br />

<strong>das</strong> er im Malunterricht gezeichnet<br />

hat. Es sei die Zeichentrickfigur „Son<br />

Goku“, stammelt er. Auf <strong>das</strong> Lob der Erwachsenen<br />

verzieht sich sein Mund zu<br />

<strong>einem</strong> breiten Lächeln.<br />

Lacika besucht die Grundschule im<br />

2000-Seelen-Ort Tiszabõ. Dieser liegt<br />

rund 120 Kilometer südöstlich von Budapest.<br />

Gefragt danach, was er werden<br />

wolle, muss Lacika nicht lange überlegen:<br />

„Polizist“. Kriszta, die junge, engagierte<br />

Schulpsychologin, erklärt später,<br />

<strong>das</strong>s der kleine Junge ohne männliche<br />

Familienangehörige aufwachsen müsse.<br />

„Sie sind alle im Gefängnis“, sagt sie.<br />

Gáborné Domán, eine kleine, resolut<br />

wirkende Mittfünfzigerin, ist die Schuldirektorin<br />

in Tiszabõ. Sie erklärt, <strong>das</strong>s die<br />

rund 350 Kinder an der Schule ausnahmslos<br />

Roma seien. Sie kämen bereits<br />

mit großen Defiziten in die Schule. Mit<br />

sechs Jahren könnten sich viele sprach-<br />

Eine der Ruinen in Tiszabõ.<br />

József Túró mit <strong>einem</strong> seiner sieben Kinder.<br />

Der Bürgermeister von Tiszabura: László Farkas.<br />

lich noch nicht richtig ausdrücken. „Wie<br />

soll man ihnen da <strong>das</strong> Lesen und Schreiben<br />

beibringen?“<br />

Viele der Schüler könnten dieses Handikap<br />

bis zum Schulabgang – im Idealfall<br />

im Alter von 14 Jahren – nicht ausmerzen,<br />

erklärt Schulpsychologin Kriszta. In<br />

einer weiterführenden Schule hätten es<br />

die meisten daher sehr schwer. „Viele geben<br />

schon nach ein bis zwei Monaten<br />

auf.“ Ihre spätere Arbeitslosigkeit sei also<br />

vorprogrammiert.<br />

Laut Kriszta gibt es auch immer wieder<br />

Schülerinnen, die mit vierzehn, fünfzehn<br />

Jahren schwanger werden. Um <strong>das</strong> Kindergeld<br />

beziehen zu können, sagt sie.<br />

Oder sie würden einfach nicht verhüten.<br />

Prostitution in diesem Alter sei auch keine<br />

Seltenheit. „Wir haben ein vierzehnjähriges<br />

Mädchen an der Schule, <strong>das</strong><br />

schon mit zwölf Jahren auf den Strich<br />

ging“, erzählt sie. Das Mädchen sei jetzt<br />

schwanger.<br />

Schuldirektorin Domán ergreift wieder<br />

<strong>Wenn</strong> <strong>einem</strong> <strong>Dorf</strong> <strong>das</strong> <strong>Gas</strong> <strong>abgedreht</strong> <strong>wird</strong><br />

<strong>das</strong> Wort. Sie meint, <strong>das</strong>s die Schüler keinerlei<br />

Respekt vor fremdem Eigentum<br />

hätten. Sie „zerschlagen Fenster, klauen<br />

Wasserhähne, zerstören neue Möbel und<br />

beschmieren die frisch gestrichenen weißen<br />

Wände“. <strong>Wenn</strong> man nach dem Grund<br />

frage, heißt es nur, „weil es cool ist“.<br />

Prügeleien stünden auch auf der Tagesordnung.<br />

Allein in den letzten drei Tagen<br />

habe es ein gebrochenes Jochbein<br />

und einen Armbruch gegeben, sagt die<br />

Direktorin. Psychologin Kriszta fügt erklärend<br />

hinzu, <strong>das</strong>s die Schlägereien vor<br />

allem der tiefen Unzufriedenheit der<br />

Schüler geschuldet seien. „Das triste Leben<br />

frustriert die Kinder, <strong>das</strong> entlädt sich<br />

oft in Gewalt.“<br />

Kein Ausweg<br />

in Sicht<br />

Eine ältere Lehrerin gesellt sich hinzu.<br />

Von den vielen Lehrjahren sichtlich ermattet,<br />

erzählt sie, <strong>das</strong>s ihre Schüler oft<br />

im ordinären Tonfall mit ihr sprechen<br />

würden. „Ich ignoriere sie dann, und sage<br />

ihnen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Klassenzimmer eine<br />

‚Insel des Friedens’ ist, wo so nicht miteinander<br />

geredet <strong>wird</strong>“. Im Unterricht<br />

funktioniere <strong>das</strong> ganz gut. Doch in den<br />

Pausen würden sich die Schüler schlagartig<br />

wieder zu „wilden Tieren“ verwandeln.<br />

„An dieser Schule muss man als<br />

Lehrer jeden Tag neu anfangen, <strong>das</strong> ist<br />

unglaublich anstrengend“, sagt sie geknickt.<br />

Ob es denn einen Ausweg gebe? „Lernen,<br />

lernen, lernen. Es gibt kein besseres<br />

Rezept“, da sind sich die Lehrerin und die<br />

Schuldirektorin einig. Doch welche<br />

Berufswünsche haben die älteren Kinder<br />

eigentlich? Die elfjährige Ildikó will Frisörin<br />

werden, so wie viele andere Schülerinnen<br />

auch. Die vierzehnjährige Zsuzsanna<br />

möchte ebenfalls in <strong>einem</strong> Friseurgeschäft<br />

arbeiten. „Oder ich heirate Ernõ.“<br />

„Ich werde nichts“, sagt der zehnjährige<br />

Béla. Demgegenüber hat der zwei<br />

Jahre ältere András bereits konkrete Vorstellungen:<br />

„Polizist wäre toll, dann sperre<br />

ich nämlich die Leute ein, die klauen.“<br />

„Und was klauen sie?“, fragt die Lehrerin.<br />

„Na Holz im Wald“, lautet seine Antwort.<br />

„Und du klaust kein Holz im Wald,<br />

András?“ „Doch. Deshalb werde ich mich<br />

selbst einsperren.“ Seine Worte sorgen im<br />

Klassenzimmer für Gelächter.<br />

Auf die Frage, ob die Schüler Hunger<br />

leiden müssten, erzählt Schulpsychologin<br />

Kriszta von <strong>einem</strong> neunjährigen<br />

Mädchen, <strong>das</strong>s kürzlich „mit Bauchschmerzen“<br />

zu ihr gekommen sei. Sie habe<br />

ihr Tee mit viel Zucker gegeben. „Das<br />

hat fürs erste die Magenschmerzen gelindert.“<br />

Danach hätten sie zusammen mit<br />

Puppen gespielt. Das Mädchen sei dabei<br />

<strong>das</strong> „Hühnchen“ gewesen – <strong>das</strong> Hühnchen,<br />

<strong>das</strong> „keine Körner bekommt“.<br />

Der Geographieunterricht an der<br />

Schule findet mit Hilfe von Computern<br />

statt. Milde lächelnd erzählt der etwa<br />

fünfzigjährige Lehrer, <strong>das</strong>s der Großteil<br />

der Kinder weder gut lesen noch schreiben<br />

könne. Deshalb versuche er ihnen<br />

den Lehrstoff „visuell“ über <strong>das</strong> Internet<br />

zu vermitteln, etwa mit Google Maps.<br />

„Sie können sich dann zum Beispiel <strong>das</strong><br />

Schachbrettmuster einer amerikanischen<br />

Stadt besser vorstellen. Würde ich ihnen<br />

dieses Phänomen erklären, würden sie<br />

Tiszabõ und Tiszabura gelten als die zwei ärmsten Gemeinden Ungarns.<br />

In beiden Ortschaften herrschen immense Arbeitslosigkeit und bittere<br />

Armut. Ein Reportageteam der BUDAPESTER ZEITUNG machte<br />

sich ein Bild von den Zuständen in den zwei Orten.<br />

es nicht verstehen.“ In jeder Unterrichtsstunde<br />

gebe er den Kindern auch nur eine<br />

Aufgabe. „Mehr kann ich ihnen nicht<br />

zumuten.“<br />

Haben sie die Aufgabe gelöst, dürfen<br />

die Schüler im Internet surfen oder sich<br />

Computerspielen hingeben. Zwei Mädchen<br />

in reiferem Alter sehen sich gebannt<br />

Bilder von pubertären Buben an, die im<br />

Internet mit nacktem Oberkörper posieren.<br />

An <strong>einem</strong> anderen Gerät ist ein<br />

Schüler ganz darin vertieft, Autorennen<br />

zu fahren. Selbst einen Computer zu besitzen<br />

ist in Tiszabõ, wo viele Familien<br />

nicht einmal eine Toilette im Haus haben<br />

und den Strom von der Stromleitung abzapfen,<br />

fast undenkbar.<br />

Auf dem trostlosen Schulhof rutschen<br />

einige Schüler zum Spaß auf den zugefrorenen<br />

Pfützen umher. Kaum ein Kind<br />

ist der Jahreszeit entsprechend gekleidet.<br />

Die meisten tragen Turnschuhe und Jogginghosen.<br />

Handschuhe, Mützen oder<br />

Schals, geschweige denn warme Winterjacken<br />

sind nur wenige zu sehen. Früher<br />

gab es viele Bäume auf dem Schulhof.<br />

Heute zeigen Baumstümpfe gen Himmel.<br />

Auf den heruntergekommenen Zustand<br />

der Schule angesprochen, erzählt<br />

Direktorin Domán, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Gesundheitsamt<br />

(ÁNTSZ) sogar schon mit ihrer<br />

Schließung gedroht habe. „Sie ist unhygienisch<br />

und für die Kinder zum Teil lebensgefährlich“,<br />

so Domán. In der Schule<br />

werde nicht geputzt. Es sei einfach<br />

kein Geld dafür da. Die fehlende Reinigung<br />

springt vor allem in den Toiletten<br />

ins Auge: Die weißen Fliesen sind braun<br />

verschmiert. Vom Matsch des Schulhofs?<br />

Offenbar <strong>wird</strong> auch wenig gelüftet. Im<br />

ganzen Gebäude riecht es nach abgestandener<br />

Luft und Schweiß.<br />

In ihrer Hilflosigkeit ist Schuldirektorin<br />

Domán besonders auf die Regierenden<br />

wütend: „Statt den Mund vollzunehmen,<br />

sollten die Politiker vorbeikommen und<br />

endlich Taten sprechen lassen. Schulen<br />

wie diese hier, sind eine Schande für dieses<br />

Land.“<br />

„Bis zum Hals<br />

in Schulden“<br />

Auf der Fahrt von der Schule zum Bürgermeisteramt<br />

sind auf der Straße viele<br />

streunende Hunde zu sehen. Etliche<br />

Häuser sind unbewohnt. Durch Fensterhöhlen<br />

sieht man in ihr entkerntes Inneres.<br />

Aus den Hausruinen wurde sichtlich<br />

alles Verwertbare geplündert. Mauerreste<br />

deuten an, wo früher einmal ein Gartenzaun<br />

war.<br />

Das Bürgermeisteramt steht dem Ort<br />

an Tristesse in nichts nach. Kalter Zigarettenrauch<br />

erfüllt <strong>das</strong> gedrungene Gebäude.<br />

Rasch <strong>wird</strong> klar, warum es hier so<br />

stickig ist: Im Büro von Bürgermeister<br />

Barnabás Farkas hängt der Rauch in dik-<br />

VON PETER BOGNAR, KONSTANZE FAßBINDER, INES GRUBER UND LISA WEIL<br />

ken Schwaden. Ein paar verstaubte und<br />

vergilbte Plastikorchideen stehen auf den<br />

Schränken hinter dem Schreibtisch. Farkas<br />

sitzt in gebeugter Haltung da. Auf<br />

dem dunklen Anzug, den er trägt, sind<br />

seine Haarschuppen besonders gut sichtbar.<br />

Er nuschelt.<br />

„Tiszabõ steckt bis zum Hals in Schulden“.<br />

Der Stromversorger, sagt er, werde<br />

wegen unbeglichener Rechnungen den<br />

Strom im März voraussichtlich abdrehen.<br />

„Es ist nicht mein Fehler“, beeilt sich der<br />

Bürgermeister zu beteuern. Es gebe<br />

nichts mehr, woran in der Gemeinde<br />

noch gespart werden könne. Mangels<br />

Geld sei von ihm auch schon die Putzfrau<br />

entlassen worden. „Jetzt putzt der<br />

Notar <strong>das</strong> Bürgermeisteramt und auch<br />

ich helfe ab und zu mit.“ Er habe der Regierung<br />

bereits mehrere Briefe geschrieben<br />

und darum gebeten, dem Ort finanziell<br />

unter die Arme zu greifen. Doch sei<br />

sein Anliegen jedes Mal auf taube Ohren<br />

gestoßen, schildert er.<br />

Ob es in Tiszabõ Arbeit gebe? Farkas<br />

schüttelt den Kopf: „Hier sind alle arbeitslos.“<br />

„Früher“, sagt er, „früher war<br />

Tiszabõ eine blühende Ortschaft. Jeder<br />

Haushalt hatte Kühe, Schweine und<br />

Hühner.“ Doch dann sei die große Flut<br />

gekommen. 2002 sei die Theiß, die am<br />

<strong>Dorf</strong> entlang fließt über die Ufer getreten.<br />

„Die Zerstörungen der Überschwemmung<br />

waren groß.“ Seither befinde sich<br />

Tiszabõ im Niedergang. „Viele Ungarn<br />

sind wegen der aussichtslosen Lage weg<br />

gegangen. Heute leben praktisch nur<br />

noch Zigeuner hier“, erklärt Farkas, der<br />

selbst Roma ist.<br />

Die Hiergebliebenen hätten nicht einmal<br />

mehr Geld zum Heizen. „Sie gehen<br />

in die umliegenden Wälder, um illegal<br />

Holz zu fällen.“ Farkas kommt auch auf<br />

die vielen leerstehenden Häuser zu sprechen,<br />

die in Tiszabõ oft bis auf die<br />

Grundmauern abgetragen wurden. „Um<br />

Eisen und andere Baumaterialien verkaufen<br />

zu können, vergreifen sich die<br />

mittellosen Einwohner einfach an den<br />

leeren Gebäuden.“ Die Situation im Ort<br />

sei bereits so dramatisch, <strong>das</strong>s die Einwohner<br />

in ihren eigenen Häusern Fliesen<br />

und sanitäre Anlagen abmontieren,<br />

um an Geld zu kommen.<br />

Was die Menschen ohne Arbeit den<br />

ganzen Tag so machen? „Sie vermehren<br />

sich“, antwortet der Bürgermeister trocken.<br />

Er erklärt: „<strong>Wenn</strong> jemand keine Arbeit<br />

hat und den ganzen Tag zu Hause<br />

ist, was soll er denn mit seiner Frau sonst<br />

tun? Er hat Zeit, und er ist vor allem ausgeruht.“<br />

Illegale Rohdungen<br />

der Wälder<br />

Die Fahrt in die rund zwanzig Kilometer<br />

entfernte Ortschaft Tiszabura führt<br />

entlang der Theiß über einen Damm.<br />

Diese Strecke sei besser als die von<br />

Schlaglöchern übersäte Landstraße, heißt<br />

es in Tiszabõ. Auf dem schmalen Grat<br />

des Damms ist es rutschig. Alles andere<br />

als Schritttempo wäre waghalsig.<br />

Während der Fahrt heulen immer wieder<br />

Motorsägen auf und man hört <strong>das</strong><br />

Brechen von Holz. Auf dem Damm verkehren<br />

trotz eisiger Temperaturen auch<br />

Radfahrer. Äxte und Sägen sind auf die<br />

Gepäckträger der Räder gezurrt. An <strong>einem</strong><br />

Waldrand seitlich des Dammes<br />

packen Männer Baumstämme und Äste<br />

auf einen Autoanhänger. Sogar am helllichten<br />

Tag <strong>wird</strong> hier illegal abgeholzt.<br />

Von <strong>einem</strong> ehemaligen Baumbestand daneben<br />

sind nur noch Stümpfe übrig, die<br />

aus der silbrig glänzenden Eisfläche ragen.<br />

Der Bürgermeister von Tiszabura,<br />

László Farkas, ist leger gekleidet. Trotz<br />

des Wusts an Problemen strahlt er Unbekümmertheit<br />

aus. In s<strong>einem</strong> Büro fallen<br />

zwei Wandkarten besonders auf. Auf der<br />

einen ist „Großungarn“, auf der anderen<br />

<strong>das</strong> Land in seiner heutigen Größe abgebildet.<br />

Einige welke Zimmerpflanzen im<br />

Büro haben wohl lange kein Wasser<br />

mehr bekommen.<br />

Seit zehn Jahren steht Farkas an der<br />

Spitze von Tiszabura. Mit 23 Jahre wurde<br />

er zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt.<br />

„Was will dieser Rotzbub?“, hätten<br />

die Skeptiker damals gefragt. Heute sagt<br />

Farkas selbstbewusst, <strong>das</strong>s er außer sich<br />

niemand anderen im Ort kenne, der den<br />

Problemen gewachsen wäre.<br />

Auch Tiszabura steckt heillos in Schulden.<br />

Die Gründe für diese Malaise ortet<br />

Farkas in der verfehlten Politik der einstigen<br />

Regierung unter Péter Medgyessy<br />

(2002-2004). Medgyessy und seine linksliberale<br />

Regierung erhöhten nach ihrem<br />

Wahlsieg im Jahr 2002 die Löhne der öffentlich<br />

Bediensteten um 50 Prozent.<br />

„Schön und gut“, sagt Farkas, „nur <strong>das</strong>s<br />

es keine Deckung für diese Lohnerhöhungen<br />

gab.“ Der Bürgermeister erzählt,<br />

<strong>das</strong>s sich die Ortschaft gezwungen sah,<br />

Kredite aufzunehmen, um die abrupt gestiegenen<br />

Lohnkosten der <strong>Dorf</strong>bediensteten<br />

bezahlen zu können.<br />

Heute belaufen sich die Schulden von<br />

Tiszabura auf rund 100 Millionen Forint.<br />

„Alles unbezahlte Rechnungen“, erklärt<br />

Farkas. 15 Millionen allein machen die nicht<br />

beglichenen <strong>Gas</strong>rechnungen aus. Als<br />

Konsequenz habe der örtliche Energieversorger<br />

im Dezember kurzerhand den<br />

<strong>Gas</strong>hahn zugedreht. Ohne <strong>Gas</strong> gibt es keine<br />

Heizung, und ohne Heizung kann unter<br />

anderem die Schule nicht betrieben<br />

werden. „Das war ein Schlag ins Gesicht.“<br />

Der Schulunterricht findet derzeit notgedrungen<br />

im Sitzungssaal des Bürgermeisteramtes,<br />

im verwahrlosten Kulturhaus<br />

und <strong>einem</strong> gemeinnützigen Gebäude<br />

der Ortschaft statt – wegen des Platzmangels<br />

in Vormittags- und Nachmittagsschichten.<br />

Wann der Schulbetrieb im<br />

Schulgebäude wieder aufgenommen<br />

werden kann? „<strong>Wenn</strong> <strong>das</strong> <strong>Gas</strong> aufgedreht<br />

<strong>wird</strong>“, sagt der Bürgermeister lapidar.<br />

Und fügt mit <strong>einem</strong> schalkhaften Lächeln<br />

hinzu: „In Auschwitz haben wir uns darüber<br />

nicht so gefreut.“<br />

In diesem Jahr, sei wegen Geldmangels<br />

auch ein Programm für die Vergabe<br />

von gemeinnütziger Arbeit eingestellt<br />

worden. Während im Vorjahr noch rund<br />

600 Menschen in Tiszabura Arbeit und<br />

ein bescheidenes Einkommen gegeben<br />

wurde, verrichten heute nur noch drei<br />

Personen gemeinnützige Tätigkeiten.<br />

Das bedeutet auch, <strong>das</strong>s viele nicht<br />

einmal mehr die monatliche Sozialhilfe<br />

in Höhe von 28.500 Forint erhalten. Der<br />

Grund: Diese ist an Arbeit gekoppelt. Für<br />

den Erhalt muss man mindestens zwei<br />

Monate im Jahr gearbeitet haben. Und<br />

Arbeit gibt es weit und breit kaum. Vor<br />

der Wende habe es in der Umgebung<br />

noch eine Tabakfabrik, eine Zuckerfabrik,<br />

ein Geflügelverarbeitungsunternehmen<br />

und Bauindustrie gegeben. „Alle haben<br />

dicht gemacht“, so Farkas. Obendrein<br />

seien auch die funktionierenden<br />

Kolchosen zerschlagen worden, wodurch<br />

ebenfalls viele Menschen arbeitslos<br />

wurden.<br />

„<strong>Wenn</strong> bei vielen nun auch noch die<br />

Sozialhilfe wegfällt, habe ich die Sorge,<br />

<strong>das</strong>s in Tiszabura nicht nur die Kriminalität<br />

weiter ansteigt, sondern <strong>das</strong>s Menschen<br />

auch hungern müssen“, sagt Farkas.<br />

Der Bürgermeister erzählt, <strong>das</strong>s viele<br />

Bewohner des Ortes auf eigene Faust in<br />

die nahe gelegenen Wälder jagen gingen.<br />

„Vor kurzem ist jemand mit <strong>einem</strong><br />

Wildschwein zurückgekehrt.“<br />

Ob es Polizisten im Ort gebe? „Auf<br />

dem Papier gibt es drei, ich habe bisher<br />

aber nur einen getroffen“, sagt der Bürgermeister.<br />

Und der habe sich auch nur<br />

blicken lassen, weil er für seine Frau<br />

nach Arbeit gesucht habe. „Weil wir die<br />

Leute nicht mehr bezahlen können, gibt<br />

es im Ort auch keine Bürgerwehr mehr“,<br />

sagt Farkas. Und dann gebe es auch noch<br />

<strong>das</strong> Problem der streunenden Hunde.<br />

Die hungrigen Tiere rotten sich zu Rudeln<br />

zusammen und gehen in der Umgebung<br />

von Tiszabura auf Jagd, so der Bürgermeister.<br />

Er warnt davor, gewisse Gegenden<br />

in der Gemeinde bei Dunkelheit<br />

aufzusuchen. „Sie sind sehr angriffslustig.“<br />

„Was kann man<br />

hier schon machen?“<br />

Hinter dem geisterhaft leer stehenden<br />

Schulgebäude ist <strong>das</strong> Kulturhaus zu finden.<br />

Das Gebäude ist klein, die Fenstergitter<br />

sind verrostet. Im Inneren bröckelt<br />

der Putz. Drinnen ist es aber warm. Über<br />

der Bühne des kleinen Festsaals prangt<br />

noch die Weihnachtsdekoration. Außerdem<br />

hängen rosafarbene Luftballons und<br />

Papiergirlanden von der Decke. „Gleiche<br />

Chancen gegen Brustkrebs“ steht in großen<br />

Lettern an der Wand. In der Mitte des<br />

Raumes hängt eine kleine Diskokugel<br />

mit blinden Spiegeln.<br />

Hinter provisorischen Pappwänden<br />

wurde hier notdürftig ein Unterrichtsraum<br />

eingerichtet. In den restlichen<br />

„Klassenzimmern“, die in fensterlosen,<br />

muffigen Räumen beherbergt sind, stehen<br />

die Stühle schon auf den Tischen. Es<br />

ist später Nachmittag. Zwei Frauen mittleren<br />

Alters sind gerade dabei, <strong>das</strong> Gebäude<br />

zu reinigen. Eine der beiden ist eine<br />

Roma.<br />

Die Frauen gehören zu jenen drei Personen,<br />

die im Ort noch gemeinnützige<br />

Arbeit leisten. Für sechs Stunden pro Tag<br />

erhalten sie einen Lohn in Höhe von monatlich<br />

45.000, für vier Stunden kriegt<br />

man 31.000 Forint. Die Roma klagt über<br />

ihren immergleichen Alltag: „Was kann<br />

man in diesem Kaff schon machen?“ Einmal<br />

im Jahr, sagt sie, gehe die ganze Familie<br />

in den Nachbarort Pizza essen. Das<br />

sei der einzige Lichtblick in ihrem eintönigen<br />

Leben. Die andere Frau erzählt,<br />

<strong>das</strong>s sie bisher nur einmal in Budapest<br />

gewesen sei – vor 28 Jahren zur Hochzeitsreise<br />

mit ihrem Mann. Budapest ist<br />

rund 100 Kilometer von Tiszabura entfernt.<br />

Wie <strong>das</strong> Zusammenleben von Ungarn<br />

und Roma in Tiszabura funktioniere?<br />

„Eigentlich gut“, meinen beide. „Konflikte<br />

gibt es nicht. <strong>Wenn</strong>, dann nur deshalb,<br />

weil die Zigeuner klauen. Die beklauen<br />

sich aber auch untereinander“, sagt die<br />

Roma. Die andere Frau ergänzt: „Deshalb<br />

finde ich, <strong>das</strong>s wir in Tiszabura kein ethnisches,<br />

sondern ein soziales Problem<br />

haben.“ Ihre Kollegin nickt zustimmend.<br />

3000 Einwohner –<br />

1 Arzt<br />

Allgemeinarzt Balázs Horváth ist jung<br />

und sportlich. Er trägt einen Dreitagebart.<br />

Sein schulterlanges Haar hat er zu <strong>einem</strong><br />

Zopf gebunden. Horváth ist der einzige<br />

Arzt, der in Tiszabura geblieben ist. Der<br />

Kinder- und der Zahnarzt haben die Ortschaft<br />

wegen der misslichen Situation vor<br />

wenigen Monaten fluchtartig verlassen.<br />

Deshalb ist Horváth heute für rund 3.000<br />

Einwohner zuständig, in denen die<br />

Mehrheit Roma sind.<br />

„Die gesundheitliche Situation hier im<br />

<strong>Dorf</strong> ist weitaus schlechter als die des nationalen<br />

Durchschnitts“, so Horváth. Die<br />

häufigsten Krankheiten seien Mangelerkrankungen,<br />

Rheuma, Asthma und Herz-<br />

Gefäß-Erkrankungen. Außerdem gebe es<br />

viele Fälle von Schwangerschaften bei<br />

Minderjährigen. „Dabei hält die Gemeindeschwester<br />

regelmäßig Vorträge – unaufgeklärt<br />

sind die Jugendlichen also<br />

nicht. Wir verteilen umsonst Kondome,<br />

und auch die Dreimonats-Verhütungs-<br />

spritze kostet wenig. Aber wenn Jugendliche<br />

verliebt sind, ist ihnen alles egal –<br />

und die Jungs mögen Kondome eben<br />

nicht so gern“, erklärt der Arzt.<br />

Trotz der bitteren Armut in Tiszabura<br />

sei im Winter noch niemand mit Erfrierungswunden<br />

oder Frostbeulen zu ihm<br />

gekommen. Probleme resultieren eher<br />

aus dem Gegenteil. Die meisten Familien<br />

heizen mit Holz aus den umliegenden<br />

Wäldern. „Um die Wärme in der Wohnung<br />

zu halten, lüften sie jedoch kaum.<br />

Dadurch werden ständig Schadstoffe eingeatmet,<br />

die sich in der Lunge absetzen“,<br />

erklärt Horváth. Das Ergebnis sei ein<br />

überdurchschnittlich hohes Vorkommen<br />

von chronischem Asthma, vor allem bei<br />

Kindern. Atemwegerkrankungen sind<br />

bei Kindern aber auch deshalb so häufig,<br />

weil viele Mütter ihre Säuglinge mit<br />

Kuhmilch füttern, so der Arzt.<br />

Ein anderes großes Problem seien<br />

Fehlernährung und der enorme Vitaminmangel.<br />

„Viele meiner Patienten essen<br />

kaum Obst oder Gemüse. Die Menschen<br />

hier verzehren vor allem Weißbrot<br />

und Schweinefleisch, <strong>das</strong> in Massen jedoch<br />

entzündungserregend wirken<br />

kann“, sagt Horváth. Viele würden sich<br />

auch mit Chips, Cola und Süßigkeiten<br />

vollstopfen, wenn sie ihre Löhne oder<br />

Sozialgelder bekämen, weiß der Arzt.<br />

Ihre Kinder seien den Roma „heilig“.<br />

Sei ein Roma-Kind ernsthaft krank,<br />

nähmen sie trotz Mittellosigkeit auch<br />

große Unkosten in Kauf. „<strong>Wenn</strong> es<br />

nicht anders geht, nehmen sie einen<br />

Kredit auf, um Medikamente oder die<br />

Fahrtkosten ins Krankenhaus bezahlen<br />

zu können.“ Horváth meint damit keine<br />

Bankkredite, sondern Kredite von<br />

Privatpersonen mit „Wucherzinsen“. In<br />

vielen Fällen könnten die horrenden<br />

Rückzahlungen von den Schuldnern<br />

aber nicht geleistet werden. „Im Ort<br />

wurden deshalb auch schon Häuser in<br />

Brand gesteckt“, weiß er zu berichten.<br />

„Kakerlaken hinter<br />

den Wänden“<br />

József Turó wirkt auf den ersten Blick<br />

jungenhaft. Bei genauerem Hinsehen<br />

Eine Grundschulklasse in Tiszabõ. Familie Túró in ihrem Zuhause. Der Bürgermeister von Tiszabõ: Barnabás Farkas.<br />

sieht der Roma aber müde und abgearbeitet<br />

aus. Tiefe Falten umgeben seine<br />

grünen Augen. Mit seiner jetzigen Frau<br />

hat er sieben Kinder, vier von ihr, drei<br />

von ihm.<br />

Grinsend und bisweilen Grimassen<br />

schneidend, sehen die hübsch gekleideten<br />

Kinder ihrer Mutter dabei zu, wie sie<br />

in der Küche „sovány“ zubereitet. „Sovány“<br />

bedeutet mager. Es ist ein billiger Ersatz<br />

für Brot, <strong>das</strong> für viele Familien in Tiszabura<br />

zu teuer ist. „Aus Wasser, Backpulver<br />

und Hefe knete ich einen Teig und frittiere<br />

ihn dann in heißem Öl“, erklärt sie.<br />

Seit fünf Jahren ist József arbeitslos.<br />

Zuvor habe er jahrelang als Maurer für<br />

ein Bauunternehmen gearbeitet. Bis zu<br />

370 Stunden im Monat. József will unbedingt<br />

wieder arbeiten. „Um den Kindern<br />

eine ordentliche Ausbildung geben<br />

zu können“, sagt er. Derzeit betrage<br />

<strong>das</strong> Familienbudget rund 150.000<br />

Forint im Monat. Es setze sich vor allem<br />

aus der Familienbeihilfe zusammen.<br />

„Viel zu wenig, um meiner Familie ein<br />

anständiges Leben bieten zu können“,<br />

sagt József.<br />

In ihrem Haus bewohnen József und<br />

seine Familie drei Zimmer. Weil es zu<br />

wenige Betten gibt, schlafen jeweils<br />

zwei Kinder auf einer Liegestatt. Im<br />

Wohnzimmer prangt eine Tapete mit<br />

Efeu-Muster, darunter verdeckt eine<br />

Holzvertäfelung die Wand. Immer wieder<br />

krabbeln hinter der Vertäfelung käferartige<br />

Getiere hervor. Etwa Spinnen?<br />

„Nein, nein, <strong>das</strong> sind Kakerlaken“, erklärt<br />

die älteste Tochter Ildikó.<br />

Auch die Küche ist nur beim ersten<br />

Hinsehen adrett. Nach einer Weile fällt<br />

auf, <strong>das</strong>s der Wasserhahn an der Küchenspüle<br />

aus <strong>einem</strong> großen grauen<br />

Loch in der Wand hervorragt. Hinter der<br />

großen Küchentheke wiederum hören<br />

die Bodenfliesen einfach auf und es<br />

schaut <strong>das</strong> nackte Erdreich hervor.<br />

Die vierzehnjährige Ildikó drückt sich<br />

selbstsicher und gewählt aus. Sie hat<br />

feste Pläne. So wolle sie eine Handelsschule<br />

besuchen, mit Englisch und Französisch<br />

als Wahlsprachen. József hofft:<br />

„Diese Schule <strong>wird</strong> für meine Tochter<br />

vielleicht ein Ausweg aus der Armutsfalle<br />

sein.“<br />

Trotz des schlechten Zustands <strong>wird</strong> auch dieses Haus bewohnt.

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