Wenn einem Dorf das Gas abgedreht wird - Andrássy Universität ...
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4 BUDAPESTER ZEITUNG POLITIK 28. FEBRUAR - 6. MÄRZ 2011 • NR. 9 28. FEBRUAR - 6. MÄRZ 2011 • NR. 9 POLITIK BUDAPESTER ZEITUNG 5<br />
DWC-Podiumsdiskussion zur Lage Ungarns<br />
„In Ungarn gibt es keine Demokratiekrise“<br />
Neben den vielen bekannten, eher wirtschaftlichen Problemen, wie die hohe<br />
Staatsverschuldung und die zu geringe Beschäftigungsrate, hat Ungarn auch<br />
schwerwiegende politische Probleme. Nicht zuletzt die Unfähigkeit und Unwilligkeit<br />
der Vertreter verschiedener politischer Lager, ihre Meinungsverschiedenheiten<br />
im offenen Wettbewerb der Argumente direkt und gesittet<br />
miteinander auszutragen. Letzten Mittwoch bot der Deutsche Wirtschaftclub<br />
(DWC) <strong>das</strong> Forum für einen solchen Wettbewerb.<br />
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion<br />
unter dem Titel „Quo Vadis Magyarország?“<br />
machten sich Vertreter von<br />
Regierung und Opposition in entspannter<br />
Atmosphäre Gedanken über<br />
die Lage und Aussichten ihrer Heimat.<br />
Die Regierung wurde dabei von<br />
Zoltán Kovács (Fidesz), Staatssekretär<br />
im Ministerium für öffentliche Verwaltung<br />
und Justiz, vertreten. Unterstützt<br />
wurde er vom Medienjuristen<br />
Márk Lengyel.<br />
Counterpart der beiden war ein weiterer<br />
Kovács, nämlich <strong>das</strong> MSZP-Urgestein<br />
László Kovács, derzeit Vize seiner<br />
Partei und vormals unter anderem<br />
Parteichef, Außenminister und EU-<br />
Kommissar, um nur die wichtigsten<br />
seiner zahlreichen ehemaligen Funktionen<br />
zu nennen. Die Moderation des<br />
Abends oblag Frau Ellen Bos, Leiterin<br />
der Doktorschule an der <strong>Andrássy</strong>-<br />
<strong>Universität</strong> Budapest. Flankiert wurde<br />
die Runde durch die DWC-Vorstandsmitglieder<br />
Arne Gobert (Rechtsanwalt<br />
bei der Anwaltskanzlei Gobert, Fest &<br />
Partners) sowie Jan Mainka (Herausgeber<br />
der Budapester Zeitung und Budapest<br />
Times).<br />
Eröffnet wurde der Abend vom<br />
DWC-Vorsitzenden Manfred Bey, der in<br />
seiner Begrüßungsansprache keinen<br />
Hehl aus seiner Freude darüber machte,<br />
<strong>das</strong>s dem Club die schöne Aufgabe zugefallen<br />
ist, einmal die Bühne für eine<br />
der seltenen, außerhalb des Parlaments<br />
stattfindenden Begegnungen von Regierung<br />
und Opposition abzugeben.<br />
Sodann hatten die Vertreter der Diskussionsrunde<br />
<strong>das</strong> Wort. Im Wesentlichen<br />
wurden in den folgenden gut<br />
zwei Stunden die Themen Krisenbewältigung,<br />
Strukturreformen, Demokratie<br />
und Mediengesetz systematisch<br />
abgehandelt.<br />
Lesen Sie im Folgenden einige Auszüge<br />
aus den Beiträgen, wobei natürlich die<br />
Meinungen der beiden Spitzenpolitiker<br />
den Vorrang genießen. Da Zoltán Kovács<br />
als Regierungsvertreter häufiger um seine<br />
Meinung gebeten wurde als László<br />
Kovács, ist der Staatssekretär auch unter<br />
den nachstehenden Auszügen überproportional<br />
vertreten. Zunächst die Eröffnungserklärungen:<br />
� Zoltán Kovács: Vor neun Monaten<br />
gab es ein – selbst mit Blick auf <strong>das</strong> ungarische<br />
Wahlsystem – ungewohntes<br />
Ergebnis: Eine Parteienallianz aus Fidesz<br />
und KDNP errang eine Zweidrittelmehrheit,<br />
mit der sie sich auf den<br />
Weg machen konnte, die Aufgaben abzuarbeiten,<br />
die teilweise schon seit<br />
langem bekannt waren beziehungsweise<br />
sich aus den Erfahrungen der letzten<br />
zwanzig Jahre ergaben. (…) Unsere<br />
Ziele sind außerordentlich ambitiös.<br />
Hinter ihnen steht vor allem die Erkenntnis,<br />
<strong>das</strong>s unser Land irgendwo<br />
vom Weg abgekommen ist, sich verirrt<br />
hat. Nach unserer Sicht ist unser Land<br />
an einen Scheideweg angelangt, an<br />
dem wir mit der auf Illusionen und<br />
bloßen Worten beruhenden Politik brechen<br />
müssen. Stattdessen müssen jetzt<br />
Taten und eine echte Umgestaltung die<br />
Hauptrolle spielen. Eine besondere<br />
Bedeutung hat die Forderung mit Blick<br />
auf die vergangenen acht Jahre, in denen<br />
Ungarn seine Führungsrolle in der<br />
Region eingebüßt hat und zu <strong>einem</strong><br />
der Schlusslichter Europas wurde. Es<br />
kam sogar zu so bedauerlichen Ereignissen<br />
wie 2006, als sich die Regierung<br />
gegen <strong>das</strong> eigene Volk wandte. (...)<br />
Wir haben mit der Entschlossenheit<br />
<strong>das</strong> Regierungsruder übernommen, die<br />
Neugestaltung des Landes mit voller<br />
Kraft voranzutreiben und die Aufgaben<br />
zu erledigen, denen sich in den<br />
letzten zwanzig Jahren keine Regierung<br />
stellen wollte oder konnte. Wir<br />
wollen die Bedingungen für eine nachhaltige<br />
Entwicklung Ungarns schaffen,<br />
eine Entwicklung, die in jeder Beziehung<br />
den Normen entspricht, zu denen<br />
sich Ungarn auch bisher schon bekannt<br />
hat beziehungsweise den Erwartungen,<br />
denen Ungarn als Mitglied<br />
der EU und zahlreicher weiterer internationaler<br />
Organisationen entsprechen<br />
möchte.<br />
� László Kovács: In einer Sache stimme<br />
ich mit dem Staatssekretär sicher<br />
überein, nämlich, <strong>das</strong>s solche Begegnungen<br />
sehr nützlich sind. (…) <strong>Wenn</strong><br />
mich damals zur Zeit der Beitrittsverhandlungen<br />
jemand gefragt hätte, wie<br />
weit Ungarn noch davon entfernt ist,<br />
ein sich völlig harmonisch in die Gemeinschaft<br />
einfügendes Mitgliedsland<br />
zu werden, dann hätte ich gesagt:<br />
„Nicht mehr so weit. Wir sind ja schon<br />
auf der Schwelle!“ <strong>Wenn</strong> ich heute<br />
gefragt würde, würde ich sagen, <strong>das</strong>s<br />
wir uns von diesem Zustand entfernt<br />
haben. (…) Über eine erst seit zehn<br />
Monaten im Amt befindliche Regierung<br />
kann man noch kein endgültiges<br />
Urteil sprechen. Unsere ernsten<br />
wirtschaftlichen Probleme sind weiterhin<br />
ungelöst und haben sich teilweise<br />
sogar noch weiter zugespitzt. Die<br />
sozialen Unterschiede haben sich bedeutend<br />
vergrößert. Die Schere zwischen<br />
den oberen zehn Prozent und<br />
dem Rest der Bevölkerung wurde<br />
größer. Für viele haben sich die Lebensbedingungen<br />
verschlechtert. Der<br />
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />
wurden ernsthafte Schäden zugefügt.<br />
Die internationale Position Ungarns<br />
wurde ein wenig erschüttert, was ich<br />
als ehemaliger Außenminister besonders<br />
schmerzhaft empfinde. Vertrauen<br />
wir darauf, <strong>das</strong>s Ungarn auf den richtigen<br />
Weg zurückfindet! Denn der<br />
derzeitige Weg ist gewiss nicht der<br />
Weg, der den Interessen der großen<br />
Mehrheit des ungarischen Volkes<br />
entspricht. Im Übrigen, was die<br />
vorherigen acht Jahre betrifft: Der<br />
Staatssekretär Zoltán Kovács: „Die neue Verfassung <strong>wird</strong> auf dem Boden der europäischen Werte stehen.“<br />
Fidesz hätte nicht so deutlich gewonnen,<br />
wenn in unseren acht Jahren alles<br />
einwandfrei gelaufen wäre. Zweifellos:<br />
Die Reformen, die die vorherigen<br />
Regierungen vorhatten, wurden nur<br />
verkündet, gelangten aber nicht zur<br />
Ausführung. Das hatte auch mit dem<br />
harten Wiederstand der damaligen<br />
Opposition zu tun. Der zweite Grund<br />
ist die internationale Finanz- und<br />
Wirtschaftskrise, die selbst die stärksten<br />
Länder in Mitleidenschaft gezogen hat.<br />
Zwischen Regierung und Opposition<br />
gab es einen Dissens bezüglich der Frage,<br />
wie dem Land<br />
zu helfen sei. Die<br />
damalige Oppositi-<br />
on behauptete nicht<br />
durch Sparen, sondern<br />
durch Steuersenkungen<br />
und<br />
Konjunkturprogramme.<br />
Meiner Meinung<br />
nach wäre<br />
dieser Weg ein selbstmörderischergeworden.<br />
Als späte<br />
Genugtuung sehe<br />
ich jetzt, <strong>das</strong>s auch<br />
die amtierende Regierung<br />
nicht umhin<br />
kommt, den<br />
von uns eingeschlagenen<br />
Weg des Sparens<br />
zu beschreiten.<br />
(…) Den Vorwurf,<br />
<strong>das</strong>s sich die Regierung 2006<br />
gegen <strong>das</strong> eigene Volk gewandt hat,<br />
kann ich nicht im Raum stehen lassen.<br />
Sie hat sich nicht gegen <strong>das</strong> eigene<br />
Volks gewandt, sondern gegen Demonstranten,<br />
die nicht mit friedlichen<br />
Absichten demonstrierten. In meiner<br />
Zeit in Brüssel habe ich viele derartige<br />
Zusammenstöße erlebt, zwischen der<br />
Polizei des demokratischen belgischen<br />
Staates und gewissen Demonstranten.<br />
� Arne Gobert: Das große Bild, <strong>das</strong><br />
Ungarn gegenüber vielen Investoren<br />
BZT / Aaron Taylor (3)<br />
„Wir brauchen wieder<br />
mehr Rechtssicherheit.<br />
Mit Blick auf die Praxis<br />
halte ich eine Revision<br />
des hiesigen Rechtssystems<br />
für unbedingt<br />
notwendig. In diesem<br />
Kontext finde ich auch<br />
die Erarbeitung einer<br />
neuen Verfassung<br />
erforderlich.“<br />
bietet, gibt Anlass für eine gewisse Verunsicherung.<br />
Diese ist teils so stark,<br />
<strong>das</strong>s sie sogar durchaus existierende<br />
gute Nachrichten verschluckt. <strong>Wenn</strong><br />
man heute im Ausland internationalen<br />
Investorenkonferenzen zu Ungarn beiwohnt,<br />
dann <strong>wird</strong> man nicht in erster<br />
Linie danach gefragt, wie hoch denn<br />
etwa der Körpersteuersatz sei oder<br />
welche Investitionsanreize man bekommen<br />
könne, sondern wie es mit<br />
der Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit<br />
aussehe. Ich denke, wenn bei<br />
<strong>einem</strong> Land, <strong>das</strong> Mitglied in der EU<br />
ist, solche Fragen ganz oben auf der<br />
Tagesordnung stehen, dann gibt es irgendwo<br />
ein kleines Problem. Entweder<br />
hinsichtlich der Außendarstellung oder<br />
der Realität. Da stellen sich mir zwei<br />
Fragen: Ist die Verunsicherung gerechtfertigt<br />
und was kann man dagegen<br />
tun? Ich denke, es ist für uns alle<br />
wichtig, <strong>das</strong>s Ungarn ein attraktiver Investitionsstandort<br />
bleibt, <strong>das</strong>s Investoren<br />
gerne hierherkommen, <strong>das</strong>s sie hier<br />
investieren und nicht in den Nachbarländern.<br />
Ich glaube, wir sind uns alle<br />
einig, <strong>das</strong>s etwas getan werden muss,<br />
wenn ein Staatshaushalt in Schieflage<br />
geraten ist. Die Frage ist aber, wie diese<br />
Maßnahmen angegangen werden.<br />
<strong>Wenn</strong> beispielsweise rückwirkend<br />
Steuern erlassen werden, kann dies Ungarns<br />
Image einen schweren Schaden<br />
zufügen und verhindern, <strong>das</strong>s mehr Investitionen<br />
nach Ungarn kommen.<br />
� Ellen Bos: Sind die Maßnahmen der<br />
Regierung gegen die Wirtschaftskrise<br />
effektiv?<br />
� Zoltán Kovács: Im Mai 2010 übernahm<br />
die neue Regierung unter<br />
scheinbar geordneten Verhältnissen die<br />
ungarische Wirtschaft. Schnell stellte<br />
sich aber heraus, <strong>das</strong>s der letztjährige<br />
Haushalt nicht zu halten war. Daher<br />
mussten wir zu drastischen Maßnahmen<br />
greifen. (…) Die Krise hat Ungarn<br />
2008 in <strong>einem</strong> sehr verwundbaren<br />
Zustand erwischt. Deswegen waren<br />
auch ihre Folgen viel schwerwiegender.<br />
Die Krise hat nicht bloß gezeigt,<br />
<strong>das</strong>s die ungarische Wirtschaft<br />
krank ist, sondern auch, <strong>das</strong>s es viele<br />
nicht nachhaltige Strukturen gibt. Sie<br />
hat aber auch gezeigt, <strong>das</strong>s nicht nur<br />
innerhalb der Wirtschaft ernste Probleme<br />
existieren, sondern auch die juristischen<br />
und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
verbesserungsbedürftig<br />
sind. Ein besonderes<br />
Problem sehe<br />
ich in der Institu-<br />
Zoltán Kovács<br />
tionalisierung der<br />
Korruption. Auf jeden<br />
Fall haben all<br />
die vorgefundenen<br />
Bedingungen, die<br />
von uns bisher<br />
unternommenen<br />
Schritte erfordert<br />
und gerechtfertigt.<br />
Die Maßnahmen<br />
der letzten neun<br />
Monate haben verhindert,<br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
Haushaltsdefizit<br />
auf über sieben<br />
Prozent empor klettert.<br />
Wir brauchen<br />
wieder mehr Rechtssicherheit.<br />
Mit Blick<br />
auf die Praxis halte ich eine Revision<br />
des hiesigen Rechtssystems für unbedingt<br />
notwendig. In diesem Kontext<br />
finde ich auch die Erarbeitung einer<br />
neuen Verfassung erforderlich. (…) Im<br />
Übrigen finde ich es durchaus nicht<br />
normal, wenn die Polizei auf friedliche<br />
Demonstranten schießt – wie auch unabhängige<br />
Experten bestätigt haben.<br />
So etwas darf es in <strong>einem</strong> demokratischen<br />
Land nicht geben!<br />
� László Kovács: Anfang September<br />
äußerten sich führende Vertreter der<br />
Regierung noch dahingehend, <strong>das</strong>s<br />
Ungarn eine der stabilsten Volkswirtschaften<br />
der Welt sei. Angeblich<br />
herrschten in der Wirtschaft geordnete<br />
Verhältnisse. Dann war plötzlich von<br />
<strong>einem</strong> über sieben Prozent ausufernden<br />
Defizit die Rede. (…) Wenige Wochen<br />
nach der Wahl hat sich Premier Orbán<br />
damit gebrüstet, <strong>das</strong>s Ungarn innerhalb<br />
der EU Rekordhalter bei der<br />
Defizitverminderung sei. Das unterschreibe<br />
ich gerne. Es ist aber ein Verdienst<br />
der Bajnai-Regierung. (…) Jetzt<br />
sieht es so aus, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Budget zwar<br />
kurzfristig durch Sondereinnahmen,<br />
wie dem Erlass der Sondersteuern und<br />
der Enteignung der privaten Rentengelder,<br />
gerettet werden konnte. Ich<br />
habe aber die Sorge, <strong>das</strong>s – wenn die<br />
ungarische Regierung in Kürze <strong>das</strong><br />
Konvergenzprogramm einreicht – die<br />
EU-Kommission Zweifel an dessen<br />
Nachhaltigkeit anmelden <strong>wird</strong>. <strong>Wenn</strong><br />
es keine Strukturreformen gibt, dann<br />
<strong>wird</strong> all den verabschiedeten Maßnahmen<br />
ein nur vorrübergehender Erfolg<br />
zuteil.<br />
� Zoltán Kovács: Die Rentenkassen,<br />
um die es geht, waren keine echten privaten<br />
Rentenkassen. Die echten privaten<br />
Rentenkassen werden in Ungarn<br />
von niemandem angerührt. Wir respektieren<br />
sie und unterstützen ihre<br />
Existenz. Das System der individuellen<br />
Ansparungen ist ein wichtiger Pfeiler<br />
des ungarischen Rentensystems. Das<br />
Problem sind aber die obligatorischen<br />
privaten Rentenkassen. Von diesem<br />
System hat sich in Ungarn herausgestellt,<br />
<strong>das</strong>s es nicht gut funktioniert. Es<br />
entzog der ersten, staatlichen Säule des<br />
Rentensystems, bedeutende finanzielle<br />
Mittel. Es geht also um einen Schritt,<br />
der schon längst hätte getan werden<br />
müssen. Die daraus stammenden Einnahmen<br />
werden wir nicht verspekulieren,<br />
sondern werden sie zur Senkung<br />
der Staatsverschuldung verwenden.<br />
� László Kovács: Es geht bei der kritisierten<br />
Säule um Eigenvorhersorge.<br />
Seinerzeit stimmte der Fidesz meiner<br />
Erinnerung nach mit der Schaffung<br />
dieser Säule des Rentensystems überein.<br />
Noch kürzlich hatte sogar Viktor<br />
Orbán festgestellt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Problem<br />
mit dem Rentensystem für die kommenden<br />
dreißig Jahre gelöst sei, es auf<br />
drei soliden Pfeilern ruhe und man<br />
nicht eingreifen müsse. Inzwischen<br />
hatte man es sich anders überlegt, <strong>das</strong><br />
Geld wurde eben benötigt. Es wäre eleganter<br />
gewesen und konsequenter,<br />
wenn die Mittel aus der halbstaatlichen<br />
nicht in die staatliche Rentenkasse umgruppiert<br />
worden wären, sondern in<br />
die freiwillige Rentenversicherung. Die<br />
Gelder wurden jetzt entnommen, man<br />
<strong>wird</strong> aber erst später sehen, wofür sie<br />
wirklich verwendet wurden. Im Moment<br />
sieht es so aus, als würden sie zur<br />
Deckung laufender Einnahmen benutzt<br />
und nur zu <strong>einem</strong> geringen Teil<br />
zur Senkung der Staatsverschuldung.<br />
� Ellen Bos: Wie sieht es mit den Strukturreformen<br />
aus?<br />
� Zoltán Kovács: Das Wort Reform<br />
mag ich nicht sehr, ich würde es lieber<br />
Paradigmenwechsel nennen. Wir haben<br />
diesbezüglich eine andere Herangehensweise<br />
als die vorherige Regierung.<br />
Es ist nicht ausschlaggebend<br />
wie viel im Einzelfall gespart werden<br />
kann, sondern, <strong>das</strong>s Systeme entstehen,<br />
die rationaler, sparsamer und effizienter<br />
funktionieren. Und wenn sich entlang<br />
dieser Schritte auch Spareffekte ergeben,<br />
dann umso besser. Die Erneuerung<br />
Ungarns bedeutet nach unserer<br />
Auffassung, <strong>das</strong>s alle Versorgungssysteme<br />
selbsterhaltend funktionieren und<br />
sparsam im Umgang mit Steuergeldern<br />
sein müssen. Außerdem sollten sie<br />
den Erwartungen zu Beginn des 21.<br />
Bei der Podiumsdiskussion des Deutschen Wirtschaftsclubs Budapest wurde gut zwei Stunden lang intensiv über die Frage „Quo Vadis Magyarország?“ nachgedacht.<br />
Jahrhunderts entsprechen. (…) <strong>Wenn</strong><br />
wir von Paradigmenwechsel sprechen,<br />
muss man auch sehen, <strong>das</strong>s es nicht nur<br />
um Ungarn geht. (…) 2008 war ein<br />
schweres Warnzeichen für EU. Das Leben<br />
so fortzusetzen wie gewohnt, geht<br />
mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht<br />
mehr. Es finden große Umschichtungen<br />
und Umorganisierungen in der<br />
Weltwirtschaft statt. Europa steht<br />
dabei nicht gut da. Die Schritte, die<br />
Ungarn, teils als Mitglied der EU und<br />
teils als ein in der<br />
Krise befindliches<br />
mitteleuropäisches<br />
Land unternimmt,<br />
sind also nicht nur<br />
im nationalen, sondern<br />
auch internationalen<br />
Kontext<br />
zu sehen. Für Ungarn<br />
gab es mit der<br />
Krise von 2008<br />
keine großen Möglichkeiten,<br />
einen anderen<br />
Weg zu beschreiten<br />
als den<br />
eingeschlagenen.<br />
Für ein Land, in<br />
dem die Verschuldung<br />
bei über 80<br />
Prozent liegt und<br />
<strong>das</strong>s nach Malta die<br />
geringste Beschäftigungsquoteaufweist,<br />
sind die klassischen Rezepte nicht<br />
anwendbar. Deshalb versucht die Regierung<br />
mit der Schaffung von Arbeitsplätzen<br />
und der Verminderung der<br />
Staatsverschuldung aus der gegenwärtigen<br />
prekären Lage auszubrechen. Die<br />
dabei im Einzelnen unternommenen<br />
Schritte kann man jetzt kritisieren, die<br />
letzten Jahre haben aber bewiesen, <strong>das</strong>s<br />
die klassischen Rezepte nicht funktionieren.<br />
� László Kovács: Was wir gegenwärtig<br />
erleben, ist keine Steuerreform. Das ist<br />
eine Steuerumverteilung. Es geht nicht<br />
einmal um größere Steuersenkungen,<br />
wie von der Regierung zuvor versprochen.<br />
In den Genuss von Steuersenkungen<br />
kommen nur Bürger mit<br />
<strong>einem</strong> Bruttoeinkommen von über etwa<br />
300.000 Forint. Wessen Einkommen<br />
darunter liegt, für den führen die<br />
Änderungen zu einer Verminderung<br />
des Nettolohns. Das ist gesellschaftlich<br />
gesehen nicht gerade gerecht. (…) Was<br />
die selbsterhaltenden Verteilungssysteme<br />
betrifft, so höre ich mit Freude von<br />
den Plänen der Regierung. Seinerzeit<br />
wollte die Gyurcsány-Regierung <strong>das</strong>selbe.<br />
Mit der Einführung der Praxisgebühr<br />
und Krankenhaustagegeldes<br />
sollte beispielsweise ein ganz bescheidener<br />
Schritt in Richtung eines selbsterhaltenden<br />
Gesundheitssystems gegangen<br />
werden. Der Fidesz machte<br />
diesem Ansinnen damals mit <strong>einem</strong><br />
Referendum einen Strich durch die<br />
Rechnung. Auch <strong>das</strong> Bildungssystem<br />
sollte durch die Einführung von Studiengebühren<br />
auf eine gesündere fi-<br />
„Es ist eine wirklich<br />
ungarische Frage, zu<br />
entscheiden, wie man<br />
zur Geschichte steht<br />
und was man mit einer<br />
neuen Verfassung ausdrücken<br />
möchte. Für<br />
<strong>das</strong> Selbstverständnis<br />
eines Landes kann es<br />
manchmal durchaus<br />
wichtig sein,<br />
eine neue Verfassung<br />
zu erlassen. “<br />
nanzielle Basis gestellt werden. Auch<br />
dies wurde durch <strong>das</strong> Referendum<br />
vereitelt. Ich würde mich freuen, wenn<br />
die Regierung jetzt etwas in diese<br />
Richtung unternehmen würde. Egal,<br />
ob wir es nun Reform oder Neuordnung<br />
nennen. (…) Die Veröffentlichung<br />
der Strukturreformen scheint sich immer<br />
weiter zu verzögern. Dass wir als<br />
Opposition den Tag der Veröffentlichung<br />
ungeduldig herbeisehnen, ist<br />
<strong>das</strong> geringste Problem, aber die Investoren<br />
und interna-<br />
Arne Gobert<br />
tionalen Geldkreise<br />
wiegen schwerer.<br />
Ich hoffe, <strong>das</strong>s ihre<br />
Geduld noch etwas<br />
anhält.<br />
� Zoltán Kovács:<br />
<strong>Wenn</strong> Herr Kovács<br />
davon spricht, <strong>das</strong>s<br />
es sich nicht um<br />
eine Steuerreform<br />
handelt, dann muss<br />
ich ihm wiedersprechen.<br />
Es handelt<br />
sich um den<br />
Beginn einer Steuerreform,<br />
ja sogar<br />
einer Steuerrevolution,<br />
in deren Ergebnis<br />
wir bereits<br />
mittelfristig ein<br />
Land sehen wollen,<br />
<strong>das</strong> sowohl in Hinblick auf die Steuerlasten<br />
als auch die administrativen<br />
Belastungen von Unternehmen zu den<br />
wettbewerbsfähigsten Mitteleuropas<br />
zählen <strong>wird</strong>. Oder besser: Wieder<br />
zählen <strong>wird</strong>. Denn zur Jahrtausendwende<br />
unter der ersten Orbán-Regierung<br />
waren wir schon einmal so weit.<br />
Die Folgen der vergangenen acht Jahre<br />
zu beseitigen, <strong>wird</strong> nicht leicht sein.<br />
Herr Kovács wies darauf hin, was seine<br />
Regierung einst wollte. Bei uns befinden<br />
sich die Absichten aber nicht nur<br />
auf der Ebene von bloßen Wünschen,<br />
wir haben bereits mit ihrer Umsetzung<br />
begonnen. In den vergangenen zehn<br />
Monaten haben wir mehr als 170<br />
Gesetzesnovellen durchs Parlament gebracht.<br />
Diese großen Veränderungen<br />
können aber freilich nicht ganz ohne<br />
die Verletzung von Interessen durchgeführt<br />
werden. (…) Eine Diskriminierung<br />
ausländischer Firmen kann ich<br />
nicht erkennen. Beim Erlass der Sondersteuern<br />
motivierte uns vor allem,<br />
<strong>das</strong>s sich auch die Segmente am Preis<br />
für die Erneuerung der Wirtschaft<br />
beteiligen sollen, die in den vergangenen<br />
Jahren sehr stark von den<br />
Vorzügen Ungarns profitiert haben.<br />
� Ellen Bos: Braucht Ungarn eine<br />
neue Verfassung?<br />
� Zoltán Kovács: In Ungarn gibt es<br />
keine Demokratiekrise. In den vergangenen<br />
zwei Monaten haben immense<br />
Kräfte daran gearbeitet, zu beweisen,<br />
wir hätten eine. Unsere Regierung muss<br />
sich aber in Sachen Demokratie nicht<br />
von solchen Ratgebern belehren lassen,<br />
die teilweise an der Leitung des alten<br />
Systems beteiligt waren. Die ungarische<br />
Wende war eine samtene. Sie ließ aber<br />
zahlreiche Probleme offen, die bis heute<br />
ihrer Lösung harren. Man kann lange<br />
Prozesse nicht überspringen. <strong>Wenn</strong> wir<br />
im Fall von Ungarn von <strong>einem</strong> Demokratiedefizit<br />
sprechen, dann hat <strong>das</strong><br />
weniger mit den aktuellen Maßnahmen<br />
zu tun, sondern mit der Struktur, in denen<br />
vierzig Jahre Kommunismus nachwirken.<br />
Ungarn muss aus eigener Kraft<br />
mit diesem Erbe fertigwerden. Deshalb<br />
brauchen wir auch eine neue Verfassung.<br />
� Arne Gobert: Ich beziehe nicht gern<br />
zur Verfassungsdiskussion Stellung.<br />
Das ist eine wirklich ungarische Frage,<br />
zu entscheiden, wie man zur Geschichte<br />
steht und was man mit einer neuen Verfassung<br />
ausdrücken möchte. Für <strong>das</strong><br />
Selbstverständnis eines Landes kann es<br />
manchmal durchaus wichtig sein, eine<br />
neue Verfassung zu erlassen. Entscheidend<br />
ist, was man mit dem Rahmen<br />
anfängt. (…) Ein Verfassungsgericht<br />
ist Teil einer Gewaltenteilung.<br />
Eine abstrakte und konkrete Normenkontrolle.<br />
Für mich ist es ein Ausdruck<br />
der Demokratie. Die Gerichte als Teil<br />
der Gewaltenteilung mit dem Verfassungsgericht<br />
oben drauf, sind <strong>das</strong><br />
wichtigste Element, um Rechtssicherheit<br />
dokumentieren zu können.<br />
� László Kovács: Als wir 1994 72 Prozent<br />
der Mandate erzielten, sprachen<br />
wir uns dafür aus, <strong>das</strong>s man mit zwei<br />
Drittel nicht die Verfassung ändern<br />
kann. Wir waren stattdessen für eine<br />
Grenze von mindestens Vier Fünfteln.<br />
Wir haben uns also selbst begrenzt.<br />
(…) Heute bewegt sich Ungarn de facto<br />
in Richtung Einparteiensystem.<br />
� Ellen Bos: Wird auf dem Weg zur<br />
neuen Verfassung auch nach <strong>einem</strong><br />
Konsens über <strong>das</strong> Fidesz-Lager hinaus<br />
gesucht?<br />
� Zoltán Kovács: Zuerst wollte die<br />
MSZP 1994 die Verfassung ändern.<br />
Nicht zuletzt deshalb, weil die zu dem<br />
Zeitpunkt und auch heute noch<br />
gültige, zur Wende modifizierte Verfassung<br />
nur als provisorische Verfassung<br />
gedacht war. Dieser Fakt <strong>wird</strong> von den<br />
Sozialisten heute geflissentlich übersehen.<br />
(…) Aber es handelt sich immer<br />
noch nur um eine veränderte Variante<br />
einer in ihrem Kern stalinistischen Verfassung.<br />
Schon allein aus symbolischen<br />
Gründen ist es deshalb höchste Zeit,<br />
sie zu ändern. (…) Meiner Erinnerung<br />
nach kam es 1994 nicht wegen der<br />
Selbstbeschränkung zu keiner Änderung<br />
der Verfassung, sondern wegen<br />
Problemen mit dem Koalitionspartner.<br />
Die Idee einer neuen Verfassung stand<br />
auch 2002, zu Beginn der Medgyessy-<br />
Regierung, auf der Tagesordnung. Es<br />
fehlte damals nur die notwendige<br />
Zweidrittelmehrheit. (…) Abgesehen<br />
von der symbolischen Komponente<br />
sprechen auch zahlreiche weitere Gründe,<br />
bei einer der Zukunft zugewandten<br />
Regierung, für eine Änderung der<br />
Verfassung. (…) Zur neuen Verfassung<br />
möchte ich drei wichtige Dinge hervorheben.<br />
Erstens: Die Verfassung<br />
<strong>wird</strong> auf dem Boden der europäischen<br />
Werte stehen und die Europäische<br />
Grundrechtecharta respektieren. Zweitens:<br />
Es <strong>wird</strong> durch sie zu keinerlei<br />
größeren institutionellen Veränderungen<br />
kommen. Die Institutionen, die im<br />
Rahmen des demokratischen Ungarns<br />
entstanden sind, werden in Ehren gehalten.<br />
Drittens: Ein Passus der neuen<br />
Verfassung <strong>wird</strong> verhindern, <strong>das</strong>s sich<br />
Ungarn noch einmal bis an den Rand<br />
des Zusammenbruchs verschuldet.<br />
� Ellen Bos: Wird es im Interesse einer<br />
größeren Legitimität der neuen<br />
Verfassung eventuell ein Referendum<br />
über sie geben?<br />
MSZP-Vize László Kovács und Moderatorin Ellen Bos, Dozentin an der <strong>Andrássy</strong>-<strong>Universität</strong>.<br />
� Zoltán Kovács: Wie der gesamte<br />
Verfassungsschöpfungsprozess ist<br />
auch die Frage eines Referendums<br />
noch offen. Die Regierung ist nur<br />
im technischen Sinne Teil des Prozesses.<br />
Wir werden jedweder politischer<br />
Kraft jedwede Hilfe angedeihen<br />
lassen, die von einer Regierung<br />
in einer solchen Situation zu erwarten<br />
wäre. Die Verfassungsänderung<br />
ist Sache der Parlamentarier.<br />
Meine private Meinung zur Frage<br />
eines Referendums – ich bin ja nicht<br />
Mitglied des Parlaments – ist folgende:<br />
Eine Verfassungsänderung<br />
ist für ein Referendum, bei dem es<br />
praktisch nur um ein „Ja“ oder<br />
„Nein“ geht, eine zu komplexe Materie.<br />
Ich würde die Entscheidung<br />
lieber dem Parlament überlassen.<br />
(…) Ich bin übrigens nicht der<br />
Meinung, <strong>das</strong>s Vierfünftel oder eine<br />
noch stärkere Unterstützung notwendig<br />
sein sollten, um eine Verfassung<br />
zu ändern. Die Kräfteverhältnisse,<br />
die heute im Parlament<br />
existieren, sind nicht zufällig entstanden.<br />
Sie sind Ausdruck des<br />
Wählerwillens. Sie sind aber übrigens<br />
auch nicht dergestalt, <strong>das</strong>s man<br />
eine Wiedergeburt des Einparteiensystems<br />
fürchten müsse. Die Wählergunst<br />
kann sich auch wieder ändern<br />
und bei den kommenden Parlamentswahlen<br />
zu einer komplett anderen<br />
Kräftekonstellation im Parlament<br />
führen. Die regierenden Parteien wissen,<br />
<strong>das</strong>s die momentane Zweidrittelmehrheit<br />
nicht nur eine Möglichkeit,<br />
sondern auch eine riesige<br />
Verantwortung ist. Bei ihrer ungenügenden<br />
Wahrnehmung müssen gegebenenfalls<br />
auch die negativen Konsequenzen<br />
akzeptiert werden.<br />
JAN MAINKA