Wenn einem Dorf das Gas abgedreht wird - Andrássy Universität ...

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09.02.2013 Aufrufe

16 BUDAPESTER ZEITUNG PANORAMA 28. FEBRUAR - 6. MÄRZ 2011 • NR. 9 KOMPAKT � 400 Kältetote. Das Ungarische Soziale Forum gab bekannt, dass während der kalten Jahreszeit von September 2010 bis vergangenen Dienstag 105 Menschen in ihren ungeheizten Wohnungen, 68 unter freiem Himmel und die restlichen 227 durch Unterkühlungen im Krankenhaus starben. Durch die angekündigte anhaltende Kältewelle kann mit noch mehr Opfern gerechnet werden. � Bistum hatte Schwarzgeld. Die Untersuchungen im Pécser Bischoffsbezirk weiten sich aus. Wie vergangenen Mittwoch bekannt wurde, hatte der ehemalige Finanzverwalter Gyula Wolf auch eine Schwarzgeldkasse, worüber jedoch keine Unterlagen existieren. Die Summe der Schulden wächst ständig: Inzwischen reden die Verantwortlichen von 200 Mrd. Ft., die nicht an die Kirchengemeinden ausgezahlt wurden. Sein Nachfolger hat die Geistlichen Anfang Februar gebeten, eine komplette Aufstellung der Ausstände zu erstellen, um einen Überblick zu bekommen. � Geburtenrate auf dem Tiefpunkt. Das Statistische Zentralamt gab am vergangenen Mittwoch bekannt, dass im Jahr 2010 90.350 Kinder auf die Welt gekommen sind. Damit wurde ein neuer Tiefpunkt in der Statistik erreicht, denn die Geburtenrate sank im Vergleich zum vorvergangenen Jahr um 6.3%. Die Sterberate ist dabei gleich geblieben. So ist die Einwohnerzahl Ungarns 2010 um 40.100 gesunken. Die Zahl der Einwanderer wirkt dem zwar ein wenig entgegen, trotzdem ist die Bevölkerungszahl damit um 28.000 Köpfe gesunken. � Verteidigungsministerium zufrieden. Am vergangen Freitag wurde bekannt, dass das Ungarische Verteidigungsministerium sehr zufrieden mit den Helmen der Bundeswehr ist. Diese hatte sie für die Missionen in Afghanistan zur Verfügung gestellt. Nach eingehender Prüfung hätte sich herausgestellt, dass die deutschen Helme die Besten seien und alle an sie gestellten Erwartungen erfüllen würden. Dazu komme noch die ausgezeichnete deutsche Qualität und Herstellergarantie, erklärte der Sprecher des Ministeriums. � Entlassung wegen Beschwerde. Eine Arbeiterin beschwerte sich vergangenen Donnerstag per SMS in der Radiosendung Class FM Morning Show über ihren Arbeitgeber, der sie und ihre Kollegen in einer Szigetvárer Schuhfabrik bei 6°C arbeiten ließ. Kurz darauf wurde sie deswegen fristlos gekündigt. Die Arbeitsschutz Hauptaufsichtsbehörde des Komitat Baranya hat sich inzwischen eingeschaltet und untersucht den Fall. Nach den Arbeitsgesetzen muss der Arbeitgeber für wenigsten 12-14°C am Arbeitsplatz sorgen. Auch der Bürgermeister von Szigetvár hat der Frau seine Unterstützung zugesichert. Der namhafte ungarische Regisseur Béla Tarr sorgte am Rande des 61. Berliner Filmfestivals „Berlinale“ für einen Eklat. Nachdem Tarr für seinen Film „The Turin Horse“ den Großen Preis der Jury und den FI- PRESCI-Preis erhalten hatte, machte er in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel seinem Unmut über die rechtskonservative Regierung von Viktor Orbán Luft. uf die Frage, wie sich das kultu- Arelle Klima in Ungarn verändert habe, sagte Tarr: „Bei uns passiert gerade, was man in Deutschland “Kulturkampf“ nennt. Staatliche Förderzusage „Klopapier“ Die Regierung hasst die Intellektuellen, weil sie liberal und oppositionell sind, sie beschimpft uns als Vaterlandsverräter.“ Gefragt danach, ob er als Filmemacher konkret behindert werde, antwortete der Regisseur: „Die Regierung hat jede Unterstützung für uns gestoppt. Die Hälfte der Produzenten ist schon pleite, Kinos schließen, auch drei meiner eigenen Produktionsprojekte liegen auf Eis. (…) Aber die von staatlicher Seite unterschriebene Förderzusage ist jetzt bloß noch Historiker Hans Mommsen referierte an der Andrássy Universität Kritik am Auswärtigen Amt erneuert Nahm bei seiner Rede kein Blatt vor den Mund: Hans Mommsen. Rund 150 Gäste versammelten sich im Spiegelsaal der Andrássy Universität, um einen Vortrag des Historikers Hans Mommsen zu hören. Mommsen besuchte die Universität zum ersten Mal, wobei er zum Thema „Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland. Last und Verpflichtung“ referierte. Die Veranstaltung, welche von Donau-Institut und Konrad- Adenauer-Stiftung organisiert wurde, sollte auch für die ungarische Bevölkerung eine Hilfe sein, die postkommunistische Vergangenheit aufzuarbeiten. ichtlich erfreut zeigte sich Ellen Bos, Leiterin Sder Professur für Politikwissenschaft an der Andrássy Universität, über den Besuch von Hans Mommsen: „Es ist ein schon lange geplantes Vorhaben gewesen, das nach Jahren nun endlich geklappt hat.“ Sie lobte die ehrliche und schonungslose Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland und wies zugleich auf die Bedeutung für Ungarn hin. „Im Rahmen der Donau- Ungarischer Filmemacher kritisiert die Regierung scharf Béla Tarr: „Die Regierung hasst die Intellektuellen“ Klopapier.“ Die Frage schließlich, ob er mit dem Gedanken spiele, ganz ins Ausland zu gehen, beantwortete Tarr folgendermaßen: „Ich bin Ungar. Diese Regierung ändert gerade die Verfassung und stellt sich auf 20 Jahre Amtszeit ein. Aber sie muss weg. Nicht ich.“ Schaden für Filmlandschaft In Ungarn sorgte das Tagesspiegel- Interview Tarrs für Empörungsstürme, zumal im Regierungslager. Der Chef des staatlichen Filmverleihs Mokép, Balász Gulyás, richtete sogar einen offenen Brief an den Regisseur. Er schreibt darin wie folgt: „Statt uns selbstvergessen über diesen Preis zu freuen und stolz darauf zu sein, sind wir dazu gezwungen, die leichtfertigen Äußerungen zu analysieren, die der Regisseur siegestrunken getätigt hat.“ Gulyás unterstellte Tarr, dass das Interview „schlicht und einfach Unwahrheiten“ beinhalte. Es schade deshalb nicht nur Tarr selbst, sondern der gesamten ungarischen Filmindustrie. Der ungarische Filmproduzentenverband wiederum rief Tarr dazu auf, er solle „auf allen internationalen Foren“ klarstellen, dass er „ausschließlich seine Privatmeinung gesagt“ habe. Dies sei umso bedauer- strategie steht eine Aufarbeitung der Geschichte hier noch aus.“ „Es ist eine Legende, dass die Bevölkerung damals neutral war“ Hans Mommsen stellte in seiner 60-minütigen Ansprache gleich zu Beginn fest, dass es für ihn selbst ein Wagnis sei, bloß eine Stunde über dieses Thema zu referieren. Doch die Anspannung hatte er nach einer kurzen Anlaufphase abgelegt. Beginnend bei der Orientierungsphase in der Nachkriegszeit, in der die Deutschen ein neues Nationalgefühl entwickelt hätten, erklärte Mommsen die verschiedenen Dimensionen der Aufarbeitung. Er wies darauf hin, dass die deutsche Bevölkerung sich eine Zeitlang als passives Mitglied der nationalsozialistischen Vergangenheit angesehen habe. Mommsen erläuterte, dass die Schuld auf die Repräsentanten der Nazi-Zeit projiziert worden sei. „Es ist eine Legende, dass die Bevölkerung damals neutral gewesen sei“, so der 80-jährige. Er verwies hierbei auf den Adolf licher, als Tarr vom ungarischen Staat „bedeutende Unterstützung zur Verwirklichung seiner Filme“ erhalten habe. „Erfolg des Films“ beschmutzt Als Reaktion auf die heftige Kritik, sagte Tarr gegenüber der Nachrichtenagentur MTI, er sehe sich gezwungen, sich von dem Interview zu distanzieren. Dessen Stil sei nicht sein Stil: „Ich pflege auf diese Art weder zu kämpfen noch zu diskutieren oder zu argumentieren. Ich halte es für sehr erniedrigend, dass dies alles die Aufnahme und den Erfolg des Films beschmutzt und ihn auf das Niveau der Tagespolitik heruntersetzt.“ Tagesspiegel-Journalist Jan Schulz-Ojala, der das Interview mit Tarr geführt hatte, sagte im Namen seines Blattes gegenüber der BUDAPESTER ZEITUNG, dass „wir keinen Anlass haben, uns von der Aufzeichnung zu distanzieren“. Tarr gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen ungarischen Regisseure. Filme wie Satanstango und Werckmeister Harmonien sind schon jetzt Klassiker. Die Drehbücher zu den meisten Tarr-Filmen schrieb der namhafte Schriftsteller László Krasznahorkai. PETER BOGNAR BZT / Aaron Taylor Eichmann-Prozess, der mit der Forderung einher ging, einen Schlussstrich zu ziehen. Ab jenem Zeitpunkt sollten keine Straftäter mehr verfolgt werden. Historikerstreit 1986 Als einen Meilenstein bei der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, definierte Mommsen den Historikerstreit 1986, als Ernst Nolte den Nationalsozialismus als Gegenreaktion zum Bolschewismus bezeichnet hatte. In Anbetracht dieser unmöglichen Gleichsetzung nahmen Institutionen das Thema auf und das Interesse war wieder geweckt. Was folgte, war eine umfangreiche Aufklärung an den Schulen. „Dabei ist es immer wichtig zu erklären, nicht zu verurteilen“, fügte der in Marburg geborene Mommsen hinzu. Kritik am Auswärtigen Amt Gegen Ende seines Vortrages hob Mommsen, dessen Urgroßvater Theodor 1902 der erste deutsche Literaturnobelpreisträger war, den Zeigefinger: „Die moralisierende Interpretation dieser Zeit durch die Medien ist ein Rückfall in die 50er Jahre.“ Dabei kritisierte er die Fokussierung auf Hitler. Auch erneuerte er seine Kritik am Auswärtigen Amt und an dessen in Auftrag gegebenem Buch „Das Amt und die Vergangenheit“: „Es ist ein Versuch, Geschichte auszulöschen. Ein Rückschlag in der Aufarbeitung der NS-Zeit“. Dabei verwies er auf die ausschließliche Untersuchung des Holocausts in der Zeit zwischen 1933 bis 1945 in dem Buch. Zudem sei Vorsicht geboten, dass sich die Regierung nicht zu sehr einmische. Dies betreffe vor allem auch den Drittmitteleinfluss. „Anscheinend hat die neue Generation der Historiker vergessen, was die Generation vor ihnen gemacht hat.“ Dieser Seitenhieb richtete sich gegen die Verfasser des Buches, die es unterließen, die vorangegangenen Studien in ihrer Arbeit zu erwähnen. Dass nun wieder bei null angefangen werde, erklärte sich Mommsen damit, dass die staatliche Finanzierung ja irgendwie gerechtfertigt werden müsse. Am Ende seines Vortrags hatte der Historiker noch einen Rat parat: „Regierungsnahe Institutionen beauftragen gezielt Historiker. Ich würde diese Initiative besser der freien Forschung überlassen“. DOMINIK KRANZER Distanziert sich von seinen Aussagen: Béla Tarr.

16 BUDAPESTER ZEITUNG PANORAMA 28. FEBRUAR - 6. MÄRZ 2011 • NR. 9<br />

KOMPAKT<br />

� 400 Kältetote. Das Ungarische Soziale<br />

Forum gab bekannt, <strong>das</strong>s während der kalten<br />

Jahreszeit von September 2010 bis vergangenen<br />

Dienstag 105 Menschen in ihren ungeheizten<br />

Wohnungen, 68 unter freiem Himmel<br />

und die restlichen 227 durch Unterkühlungen<br />

im Krankenhaus starben. Durch die angekündigte<br />

anhaltende Kältewelle kann mit noch<br />

mehr Opfern gerechnet werden.<br />

� Bistum hatte Schwarzgeld. Die Untersuchungen<br />

im Pécser Bischoffsbezirk weiten<br />

sich aus. Wie vergangenen Mittwoch bekannt<br />

wurde, hatte der ehemalige Finanzverwalter<br />

Gyula Wolf auch eine Schwarzgeldkasse,<br />

worüber jedoch keine Unterlagen existieren.<br />

Die Summe der Schulden wächst ständig:<br />

Inzwischen reden die Verantwortlichen von<br />

200 Mrd. Ft., die nicht an die Kirchengemeinden<br />

ausgezahlt wurden. Sein Nachfolger<br />

hat die Geistlichen Anfang Februar gebeten,<br />

eine komplette Aufstellung der Ausstände zu<br />

erstellen, um einen Überblick zu bekommen.<br />

� Geburtenrate auf dem Tiefpunkt. Das<br />

Statistische Zentralamt gab am vergangenen<br />

Mittwoch bekannt, <strong>das</strong>s im Jahr 2010 90.350<br />

Kinder auf die Welt gekommen sind. Damit<br />

wurde ein neuer Tiefpunkt in der Statistik erreicht,<br />

denn die Geburtenrate sank im Vergleich<br />

zum vorvergangenen Jahr um 6.3%. Die<br />

Sterberate ist dabei gleich geblieben. So ist die<br />

Einwohnerzahl Ungarns 2010 um 40.100 gesunken.<br />

Die Zahl der Einwanderer wirkt dem<br />

zwar ein wenig entgegen, trotzdem ist die<br />

Bevölkerungszahl damit um 28.000 Köpfe gesunken.<br />

� Verteidigungsministerium zufrieden.<br />

Am vergangen Freitag wurde bekannt, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> Ungarische Verteidigungsministerium sehr<br />

zufrieden mit den Helmen der Bundeswehr ist.<br />

Diese hatte sie für die Missionen in Afghanistan<br />

zur Verfügung gestellt. Nach eingehender<br />

Prüfung hätte sich herausgestellt, <strong>das</strong>s die<br />

deutschen Helme die Besten seien und alle an<br />

sie gestellten Erwartungen erfüllen würden.<br />

Dazu komme noch die ausgezeichnete<br />

deutsche Qualität und Herstellergarantie, erklärte<br />

der Sprecher des Ministeriums.<br />

� Entlassung wegen Beschwerde. Eine<br />

Arbeiterin beschwerte sich vergangenen Donnerstag<br />

per SMS in der Radiosendung Class<br />

FM Morning Show über ihren Arbeitgeber, der<br />

sie und ihre Kollegen in einer Szigetvárer<br />

Schuhfabrik bei 6°C arbeiten ließ. Kurz darauf<br />

wurde sie deswegen fristlos gekündigt. Die<br />

Arbeitsschutz Hauptaufsichtsbehörde des Komitat<br />

Baranya hat sich inzwischen eingeschaltet<br />

und untersucht den Fall. Nach den Arbeitsgesetzen<br />

muss der Arbeitgeber für wenigsten<br />

12-14°C am Arbeitsplatz sorgen. Auch der<br />

Bürgermeister von Szigetvár hat der Frau<br />

seine Unterstützung zugesichert.<br />

Der namhafte ungarische Regisseur<br />

Béla Tarr sorgte am Rande des 61.<br />

Berliner Filmfestivals „Berlinale“<br />

für einen Eklat. Nachdem Tarr für<br />

seinen Film „The Turin Horse“ den<br />

Großen Preis der Jury und den FI-<br />

PRESCI-Preis erhalten hatte,<br />

machte er in <strong>einem</strong> Interview mit<br />

dem Berliner Tagesspiegel s<strong>einem</strong><br />

Unmut über die rechtskonservative<br />

Regierung von Viktor Orbán Luft.<br />

uf die Frage, wie sich <strong>das</strong> kultu-<br />

Arelle Klima in Ungarn verändert<br />

habe, sagte Tarr: „Bei uns passiert<br />

gerade, was man in Deutschland<br />

“Kulturkampf“ nennt.<br />

Staatliche Förderzusage<br />

„Klopapier“<br />

Die Regierung hasst die Intellektuellen,<br />

weil sie liberal und oppositionell<br />

sind, sie beschimpft uns als<br />

Vaterlandsverräter.“ Gefragt danach,<br />

ob er als Filmemacher konkret behindert<br />

werde, antwortete der Regisseur:<br />

„Die Regierung hat jede Unterstützung<br />

für uns gestoppt. Die<br />

Hälfte der Produzenten ist schon<br />

pleite, Kinos schließen, auch drei<br />

meiner eigenen Produktionsprojekte<br />

liegen auf Eis. (…) Aber die von<br />

staatlicher Seite unterschriebene<br />

Förderzusage ist jetzt bloß noch<br />

Historiker Hans Mommsen referierte an der <strong>Andrássy</strong> <strong>Universität</strong><br />

Kritik am Auswärtigen Amt erneuert<br />

Nahm bei seiner Rede kein Blatt vor den Mund: Hans Mommsen.<br />

Rund 150 Gäste versammelten sich im Spiegelsaal<br />

der <strong>Andrássy</strong> <strong>Universität</strong>, um einen Vortrag<br />

des Historikers Hans Mommsen zu hören.<br />

Mommsen besuchte die <strong>Universität</strong> zum ersten<br />

Mal, wobei er zum Thema „Die Auseinandersetzung<br />

mit der nationalsozialistischen Vergangenheit<br />

in der Bundesrepublik Deutschland. Last<br />

und Verpflichtung“ referierte. Die Veranstaltung,<br />

welche von Donau-Institut und Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung organisiert wurde, sollte auch<br />

für die ungarische Bevölkerung eine Hilfe sein,<br />

die postkommunistische Vergangenheit aufzuarbeiten.<br />

ichtlich erfreut zeigte sich Ellen Bos, Leiterin<br />

Sder Professur für Politikwissenschaft an der<br />

<strong>Andrássy</strong> <strong>Universität</strong>, über den Besuch von Hans<br />

Mommsen: „Es ist ein schon lange geplantes<br />

Vorhaben gewesen, <strong>das</strong> nach Jahren nun endlich<br />

geklappt hat.“ Sie lobte die ehrliche und schonungslose<br />

Aufarbeitung der Vergangenheit in<br />

Deutschland und wies zugleich auf die Bedeutung<br />

für Ungarn hin. „Im Rahmen der Donau-<br />

Ungarischer Filmemacher kritisiert die Regierung scharf<br />

Béla Tarr: „Die Regierung hasst<br />

die Intellektuellen“<br />

Klopapier.“ Die Frage schließlich, ob<br />

er mit dem Gedanken spiele, ganz<br />

ins Ausland zu gehen, beantwortete<br />

Tarr folgendermaßen: „Ich bin Ungar.<br />

Diese Regierung ändert gerade<br />

die Verfassung und stellt sich auf 20<br />

Jahre Amtszeit ein. Aber sie muss<br />

weg. Nicht ich.“<br />

Schaden für<br />

Filmlandschaft<br />

In Ungarn sorgte <strong>das</strong> Tagesspiegel-<br />

Interview Tarrs für Empörungsstürme,<br />

zumal im Regierungslager. Der<br />

Chef des staatlichen Filmverleihs<br />

Mokép, Balász Gulyás, richtete sogar<br />

einen offenen Brief an den Regisseur.<br />

Er schreibt darin wie folgt: „Statt uns<br />

selbstvergessen über diesen Preis zu<br />

freuen und stolz darauf zu sein, sind<br />

wir dazu gezwungen, die leichtfertigen<br />

Äußerungen zu analysieren, die<br />

der Regisseur siegestrunken getätigt<br />

hat.“ Gulyás unterstellte Tarr, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> Interview „schlicht und einfach<br />

Unwahrheiten“ beinhalte. Es schade<br />

deshalb nicht nur Tarr selbst, sondern<br />

der gesamten ungarischen Filmindustrie.<br />

Der ungarische Filmproduzentenverband<br />

wiederum rief Tarr<br />

dazu auf, er solle „auf allen internationalen<br />

Foren“ klarstellen, <strong>das</strong>s er<br />

„ausschließlich seine Privatmeinung<br />

gesagt“ habe. Dies sei umso bedauer-<br />

strategie steht eine Aufarbeitung der Geschichte<br />

hier noch aus.“<br />

„Es ist eine Legende,<br />

<strong>das</strong>s die Bevölkerung damals neutral war“<br />

Hans Mommsen stellte in seiner 60-minütigen<br />

Ansprache gleich zu Beginn fest, <strong>das</strong>s es für ihn<br />

selbst ein Wagnis sei, bloß eine Stunde über dieses<br />

Thema zu referieren. Doch die Anspannung<br />

hatte er nach einer kurzen Anlaufphase abgelegt.<br />

Beginnend bei der Orientierungsphase in der<br />

Nachkriegszeit, in der die Deutschen ein neues<br />

Nationalgefühl entwickelt hätten, erklärte<br />

Mommsen die verschiedenen Dimensionen der<br />

Aufarbeitung. Er wies darauf hin, <strong>das</strong>s die deutsche<br />

Bevölkerung sich eine Zeitlang als passives<br />

Mitglied der nationalsozialistischen Vergangenheit<br />

angesehen habe. Mommsen erläuterte, <strong>das</strong>s<br />

die Schuld auf die Repräsentanten der Nazi-Zeit<br />

projiziert worden sei. „Es ist eine Legende, <strong>das</strong>s<br />

die Bevölkerung damals neutral gewesen sei“, so<br />

der 80-jährige. Er verwies hierbei auf den Adolf<br />

licher, als Tarr vom ungarischen Staat<br />

„bedeutende Unterstützung zur Verwirklichung<br />

seiner Filme“ erhalten habe.<br />

„Erfolg des Films“<br />

beschmutzt<br />

Als Reaktion auf die heftige Kritik,<br />

sagte Tarr gegenüber der Nachrichtenagentur<br />

MTI, er sehe sich<br />

gezwungen, sich von dem Interview<br />

zu distanzieren. Dessen Stil sei<br />

nicht sein Stil: „Ich pflege auf diese<br />

Art weder zu kämpfen noch zu diskutieren<br />

oder zu argumentieren. Ich<br />

halte es für sehr erniedrigend, <strong>das</strong>s<br />

dies alles die Aufnahme und den Erfolg<br />

des Films beschmutzt und ihn<br />

auf <strong>das</strong> Niveau der Tagespolitik heruntersetzt.“<br />

Tagesspiegel-Journalist<br />

Jan Schulz-Ojala, der <strong>das</strong> Interview<br />

mit Tarr geführt hatte, sagte im<br />

Namen seines Blattes gegenüber<br />

der BUDAPESTER ZEITUNG, <strong>das</strong>s<br />

„wir keinen Anlass haben, uns von<br />

der Aufzeichnung zu distanzieren“.<br />

Tarr gilt als einer der bedeutendsten<br />

zeitgenössischen ungarischen<br />

Regisseure. Filme wie Satanstango<br />

und Werckmeister Harmonien sind<br />

schon jetzt Klassiker. Die Drehbücher<br />

zu den meisten Tarr-Filmen<br />

schrieb der namhafte Schriftsteller<br />

László Krasznahorkai.<br />

PETER BOGNAR<br />

BZT / Aaron Taylor<br />

Eichmann-Prozess, der mit der Forderung einher<br />

ging, einen Schlussstrich zu ziehen. Ab jenem<br />

Zeitpunkt sollten keine Straftäter mehr verfolgt<br />

werden.<br />

Historikerstreit<br />

1986<br />

Als einen Meilenstein bei der Aufarbeitung der<br />

Nazi-Vergangenheit, definierte Mommsen den<br />

Historikerstreit 1986, als Ernst Nolte den Nationalsozialismus<br />

als Gegenreaktion zum Bolschewismus<br />

bezeichnet hatte. In Anbetracht dieser<br />

unmöglichen Gleichsetzung nahmen Institutionen<br />

<strong>das</strong> Thema auf und <strong>das</strong> Interesse war wieder<br />

geweckt. Was folgte, war eine umfangreiche Aufklärung<br />

an den Schulen. „Dabei ist es immer<br />

wichtig zu erklären, nicht zu verurteilen“, fügte<br />

der in Marburg geborene Mommsen hinzu.<br />

Kritik am<br />

Auswärtigen Amt<br />

Gegen Ende seines Vortrages hob Mommsen,<br />

dessen Urgroßvater Theodor 1902 der erste<br />

deutsche Literaturnobelpreisträger war, den<br />

Zeigefinger: „Die moralisierende Interpretation<br />

dieser Zeit durch die Medien ist ein Rückfall in<br />

die 50er Jahre.“ Dabei kritisierte er die Fokussierung<br />

auf Hitler. Auch erneuerte er seine Kritik<br />

am Auswärtigen Amt und an dessen in Auftrag<br />

gegebenem Buch „Das Amt und die Vergangenheit“:<br />

„Es ist ein Versuch, Geschichte auszulöschen.<br />

Ein Rückschlag in der Aufarbeitung der<br />

NS-Zeit“. Dabei verwies er auf die ausschließliche<br />

Untersuchung des Holocausts in der Zeit<br />

zwischen 1933 bis 1945 in dem Buch. Zudem sei<br />

Vorsicht geboten, <strong>das</strong>s sich die Regierung nicht<br />

zu sehr einmische. Dies betreffe vor allem auch<br />

den Drittmitteleinfluss. „Anscheinend hat die<br />

neue Generation der Historiker vergessen, was<br />

die Generation vor ihnen gemacht hat.“ Dieser<br />

Seitenhieb richtete sich gegen die Verfasser des<br />

Buches, die es unterließen, die vorangegangenen<br />

Studien in ihrer Arbeit zu erwähnen. Dass nun<br />

wieder bei null angefangen werde, erklärte sich<br />

Mommsen damit, <strong>das</strong>s die staatliche Finanzierung<br />

ja irgendwie gerechtfertigt werden müsse.<br />

Am Ende seines Vortrags hatte der Historiker<br />

noch einen Rat parat: „Regierungsnahe Institutionen<br />

beauftragen gezielt Historiker. Ich würde<br />

diese Initiative besser der freien Forschung überlassen“.<br />

DOMINIK KRANZER<br />

Distanziert sich von seinen Aussagen: Béla Tarr.

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