Das Bürgertum der Stadt Ofen im 19. Jahrhundert

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enthält ausschließlich deutsche Briefkonzepte. Obwohl Marie gut ungarisch sprechen konnte, korrespondierte sie nicht nur mit ihren Töchtern, Söhnen, Geschwistern und Tanten in deutscher Sprache, sondern auch mit auf ihre ungarische Identität so stolzen Adeligen, wie Aladár Szilassy und Béla Kenessey, einem reformierten Superintendenten, beide emblematische Figuren der Protestanten in Ungarn. Natürlich bekam sie auch einige ungarische Briefe. 12 In der Regel waren die Haushaltsangestellten und die Ammen bei der Familie ungarischsprachige Frauen, dieses bilinguale Milieu hatte auf die Kinder eine bedeutende Wirkung. Es ist sehr interessant zu verfolgen, wie sich der Sprachgebrauch der Kinder in der Familie von den Älteren bis zu den Jüngeren über mehrere Jahrzehnte hinweg veränderte. Der Familienvater wunderte sich noch im Jahr 1866 darüber, dass sein Sohn – der kleine Theodor (1865-1872), der „[…] sehr klug, mit dem Sprachen es allerdings noch nicht geht” – schwer Sprachen lernt, und überwiegend nur die ungarische Sprache gebraucht, er versteht sogar fast alles davon. 13 Der dreijährige Junge reiste mit seiner Mutter 1868 nach Bartfeld, aus dieser Zeit blieben einige Briefe von Marie erhalten. Wenn die Mutter eine Aussage ihres Sohnes zitierte, waren diese Wörter immer ungarische Einschuben, zum Beispiel: „A Theodor nagyon szereti a Bácsit”, „hónap [holnap]”, „többé nem vízbe”). 14 Sogar schrieb der Junge eigenhändig ein paar Zeilen in den Brief seiner Mutter: „Édes Ganz néni, a Theodor most neked ir, és aba a kis levélbe, sok csókokat küld neked, a nagymamának, Fani és Finneneninek és az Ánnának és Irmának is. So szerelemmel maradok a Te hü Theodor.” 15 Die älteren Töchter des Ehepaares schickten hauptsächlich deutsche Briefe an ihre Eltern, ungarische Briefe kamen bis Ende des Jahrhundertes nur gelegentlich vor. Aufgrund der privaten Dokumente scheint Theodor Biberauer auf den Gebrauch der ungarischen Sprache innerhalb der Familie gewechselt zu sein, wahrscheinlich 12 BFL XIII.42. Korrespondenz: Theodor Biberauer an Marie 1890., 1894., Marie Biberauer an ihre Töchter 1886., Marie Biberauer an Richard Biberauer 1888. Ein interessantes Beispiel ist der ungarische Brief, den ihr Sohn Richard den 12. August 1885 schickte, weil ein ungarischer Bekannter Richards Frau Biberauer auf demselben Briefpapir mit deutschsprachigen Sätzen begrüßte. BFL XIII.42. Richard Biberauer an Marie Biberauer 12. August 1885., Anna Pospesch an Marie Biberauer 1913.; Korrespondenzbüchlein von Marie 1912−1923. 13 BFL XIII.42. Theodor Biberauer an Hermine Biberauer 14. December 1866. 14 BFL XIII.42. Marie Biberauer an Theodor Biberauer 29. Juli 1868., 5. August 1868. 15 Eine worttreue Transkription mit den originalen Fehlern. BFL XIII.42. Marie Biberauer an Josephine Ganz 5. August 1868. 8

aus praktischen Gründen. 16 Damals wurde die Anforderung an die Vertreter der freien Berufe und angestellten Intellektuellen gestellt, gute ungarische Sprachkentnisse zu haben. Wenn die Kinder an die Eltern ungarische Briefe schrieben, dann war der Adressat überwiegend ihr Vater. Irma Biberauer (geb. 1867) begründete die Sprachwahl in einem Brief an ihren Vater im Jahr 1880 mit den folgenden Worten: „Minden esetre németben joban kifejezhetném magamat, de mert te kivántad hát magyarul irok.” 17 Hieraus ist ersichtlich, dass sie lieber das Deutsche gewählt hätte und ihre ungarische Sprachbeherrschung noch nicht einwandfrei war. Die kleine Olga (geb. 1875) ließ im Jahr 1881 die Tante Ganz im deutschsprachigen Brief ihrer Mutter die folgenden ungarischen Wörter wissen: „csókot, sok csókot, és Gánz néni nem jön?” 18 Die Briefe von Richard Biberauer (geb. 1879) zeugen davon, dass er wirklich ein zweisprachiger Mensch war. Er war unter den Geschwistern derjenige, der am liebsten ungarische Briefe an die Eltern schrieb. Am Ende der 1890er Jahre gebrauchte er die beiden Sprachen je nach Lust und Laune abwechselnd auch innerhalb eines Briefes. Er konnte sich nicht nur deutsch, sondern auch ungarisch gewählt ausdrücken und in flüssigem Stil schreiben, sondern er beherrschte auch die Regeln der Rechtschreibung sehr gut19 16 Gegen Jahrhundertwende wurden Theodor Biberauer und Richard wegen Magyarisierung von den Feinden in der Deutschsprachigen Reformierten Filialgemeinde angeklagt. Eleonóra Géra: A Bethesda Kórház és a Filadelfia-diakonisszák [Das Krankenhaus Bethesda und die Filadelfia-Diakonissinnen] In: Reformátusok Budapesten. Tanulmányok a magyar főváros reformátusságáról. [Reformierte in Budapest. Studien über die Reformierten der ungarischen Hauptstadt] Hg. László, Budapest 2006, S. 952−957. 17 [Allerdings könnte ich mich in Deutsch besser ausdrücken, aber da du es von mir verlangtest, schreibe ich jetzt auf Ungarisch.] BFL XIII.42. Irma Biberauer an Theodor Biberauer 7. November 1880. (Paris) 18 [Kuss, viele Küsse, und kommt Tante Ganz nicht?] BFL XIII.42. Marie Biberauer an Josephine Ganz 17. 07.1881. 19 BFL XIII.42. Briefe von Richard Biberauer an seine Eltern aus Schottland (November 1897− April 1898) 9

enthält ausschließlich deutsche Briefkonzepte. Obwohl Marie gut ungarisch sprechen<br />

konnte, korrespondierte sie nicht nur mit ihren Töchtern, Söhnen, Geschwistern und<br />

Tanten in deutscher Sprache, son<strong>der</strong>n auch mit auf ihre ungarische Identität so<br />

stolzen Adeligen, wie Aladár Szilassy und Béla Kenessey, einem reformierten<br />

Superintendenten, beide emblematische Figuren <strong>der</strong> Protestanten in Ungarn.<br />

Natürlich bekam sie auch einige ungarische Briefe. 12 In <strong>der</strong> Regel waren die<br />

Haushaltsangestellten und die Ammen bei <strong>der</strong> Familie ungarischsprachige Frauen,<br />

dieses bilinguale Milieu hatte auf die Kin<strong>der</strong> eine bedeutende Wirkung.<br />

Es ist sehr interessant zu verfolgen, wie sich <strong>der</strong> Sprachgebrauch <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in<br />

<strong>der</strong> Familie von den Älteren bis zu den Jüngeren über mehrere Jahrzehnte hinweg<br />

verän<strong>der</strong>te. Der Familienvater wun<strong>der</strong>te sich noch <strong>im</strong> Jahr 1866 darüber, dass sein<br />

Sohn – <strong>der</strong> kleine Theodor (1865-1872), <strong>der</strong> „[…] sehr klug, mit dem Sprachen es<br />

allerdings noch nicht geht” – schwer Sprachen lernt, und überwiegend nur die<br />

ungarische Sprache gebraucht, er versteht sogar fast alles davon. 13 Der dreijährige<br />

Junge reiste mit seiner Mutter 1868 nach Bartfeld, aus dieser Zeit blieben einige<br />

Briefe von Marie erhalten. Wenn die Mutter eine Aussage ihres Sohnes zitierte, waren<br />

diese Wörter <strong>im</strong>mer ungarische Einschuben, zum Beispiel: „A Theodor nagyon szereti<br />

a Bácsit”, „hónap [holnap]”, „többé nem vízbe”). 14 Sogar schrieb <strong>der</strong> Junge<br />

eigenhändig ein paar Zeilen in den Brief seiner Mutter: „Édes Ganz néni, a Theodor<br />

most neked ir, és aba a kis levélbe, sok csókokat küld neked, a nagymamának, Fani és<br />

Finneneninek és az Ánnának és Irmának is. So szerelemmel maradok a Te hü<br />

Theodor.” 15<br />

Die älteren Töchter des Ehepaares schickten hauptsächlich deutsche Briefe an<br />

ihre Eltern, ungarische Briefe kamen bis Ende des Jahrhun<strong>der</strong>tes nur gelegentlich<br />

vor. Aufgrund <strong>der</strong> privaten Dokumente scheint Theodor Biberauer auf den Gebrauch<br />

<strong>der</strong> ungarischen Sprache innerhalb <strong>der</strong> Familie gewechselt zu sein, wahrscheinlich<br />

12 BFL XIII.42. Korrespondenz: Theodor Biberauer an Marie 1890., 1894., Marie Biberauer an ihre<br />

Töchter 1886., Marie Biberauer an Richard Biberauer 1888. Ein interessantes Beispiel ist <strong>der</strong><br />

ungarische Brief, den ihr Sohn Richard den 12. August 1885 schickte, weil ein ungarischer Bekannter<br />

Richards Frau Biberauer auf demselben Briefpapir mit deutschsprachigen Sätzen begrüßte. BFL<br />

XIII.42. Richard Biberauer an Marie Biberauer 12. August 1885., Anna Pospesch an Marie Biberauer<br />

1913.; Korrespondenzbüchlein von Marie 1912−1923.<br />

13 BFL XIII.42. Theodor Biberauer an Hermine Biberauer 14. December 1866.<br />

14 BFL XIII.42. Marie Biberauer an Theodor Biberauer 29. Juli 1868., 5. August 1868.<br />

15 Eine worttreue Transkription mit den originalen Fehlern. BFL XIII.42. Marie Biberauer an<br />

Josephine Ganz 5. August 1868.<br />

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