Schellings Denken der Freiheit - KOBRA - Universität Kassel
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Mythos und Geschichte 187<br />
als immergeltendes Surrogat für alle Opfer darstellte.“ 49 Freilich hat Paulus<br />
seine Idee <strong>der</strong> reineren Religion nicht willkürlich in die sinnliche Darstellung<br />
einer übernatürlichen Erscheinung des auferstandenen Christus eingekleidet,<br />
son<strong>der</strong>n seine eigene Selbsterfassung des sittlichen Selbstverhältnisses konnte<br />
er „sich freilich höchstwahrscheinlich [...] [selbst] nicht hinlänglich erklären“.<br />
50 „Aber überhaupt ist diß Geist des Orients, in Wirkungen höherer<br />
Kräfte höheren Ruhm zu finden, als in eignen Wirkungen des Geistes, die<br />
dem schwärmenden, nur im Stillen und nur durch schnelle Sprünge <strong>der</strong><br />
Einbildungskraft denkenden Orientalen fremd sind.“ 51<br />
Schelling versteht die reinere Religion <strong>der</strong> Vernunft, die Paulus aus sich<br />
selbst geschöpft hat, als identisch mit <strong>der</strong> Religion, die in Jesus von Nazareth<br />
in die Geschichte eingetreten ist. 52 Dies ist freilich nur unter <strong>der</strong> Voraussetzung<br />
möglich, dass sowohl in Jesus als auch in Paulus das sittliche Selbstverhältnis<br />
sich in seiner inneren Reflexivität erfasst hat. In Jesus und in<br />
Paulus durchbricht gleichsam die Vernunft den sinnlich bestimmten Willen,<br />
so dass in beiden das Vernunftgesetz zum alleinigen Bestimmungsgrund des<br />
Willens wird. 53 Diese Hauptidee beschreibt Paulus in seinen Briefen freilich<br />
nicht in <strong>der</strong> begrifflichen Weise <strong>der</strong> späten Aufklärung, son<strong>der</strong>n im Medium<br />
<strong>der</strong> sinnlichen Darstellung als Tod Christi, Aufhebung des mosaischen Gesetzes<br />
etc.<br />
Diese Hinweise zu <strong>Schellings</strong> Deutung <strong>der</strong> paulinischen Briefe mögen<br />
genügen. Sie führen deutlich das bereits in <strong>der</strong> Magisterdissertation und in<br />
dem Mythenaufsatz skizzierte Programm anhand neutestamentlicher Texte<br />
weiter. Allerdings hat Schelling spätestens in dem Brief an Hegel vom Januar<br />
1795 eine moralphilosophische Deutung <strong>der</strong> Religion ausdrücklich <strong>der</strong> Kritik<br />
unterworfen und zurückgewiesen. Dies mag nicht zuletzt seinen Grund auch<br />
in <strong>der</strong> Rezeption <strong>der</strong> Philosophie Kants und dessen moralphilosophischer<br />
Religionsbegründung durch Storr in dessen Schrift Annotationes quaedam<br />
theologicae ad philosophicam Kantii de religione doctrinam vom September<br />
49 F. W. J. Schelling, Kommentar zum Brief an die Galater (1793), NL 32, I v .<br />
50 F. W. J. Schelling, Kommentar zum Brief an die Galater (1793), NL 32, IV r .<br />
51 F. W. J. Schelling, Kommentar zum Brief an die Galater (1793), NL 32, IV r f.<br />
52 Vgl. F. W. J. Schelling, Kommentar zum Brief an die Galater (1793), NL 32, IV r : „Er<br />
[sc. Paulus] war ein durch sich selbst vollendeter Apostel Jesu, gleichsam <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Erfin<strong>der</strong> jener reineren Religion, die Jesus schon vorher verkündet hatte.“<br />
53 Auch Lessing versteht in <strong>der</strong> Erziehungsschrift den religionsgeschichtlichen Fortschritt<br />
als ein geschichtliches Reflexivwerden <strong>der</strong> Vernunft. „Die Offenbarung hatte seine Vernunft<br />
geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung.“ (G. E.<br />
Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts § 36)