Schellings Denken der Freiheit - KOBRA - Universität Kassel
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Mythos und Geschichte 181<br />
Welt war also dieselbe Vernunft, die wir besitzen, die Führerin und Leiterin<br />
zur Erforschung höherer Dinge; und weil die ältesten Menschen alles auf das<br />
Gefühl bezogen und weil ihre Sprache und ganze Veranlagung eine dichterische<br />
und symbolische Gestalt des Überlieferten hervorbrachte, kleideten sie<br />
ihre Weisheit in ‚Mythen‘ und för<strong>der</strong>ten damit eine liebenswerte Einfalt<br />
menschlicher Kindheit und eine damit verbundene Wahrheit und oft ungeheure<br />
Größe zutage. War es denn nicht die gesamte Verfassung jener Zeit<br />
und <strong>der</strong> ältesten Sprache, die notwendigerweise diese Art zu philosophieren<br />
hervorbrachte? Wurden die ältesten Philosophen nicht von <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />
getrieben, ihre Aussagen in Mythen einzukleiden?“ (AA I/1, 107f.)<br />
Hatte Lessing noch, wie oben dargestellt, die biblischen Schriften des<br />
Alten und Neuen Testaments als Offenbarungen verstanden, die dem Entwicklungsstand<br />
<strong>der</strong> Empfänger <strong>der</strong> Offenbarung angepasst sind, so wird diese<br />
Voraussetzung von Schelling mit <strong>der</strong> zeitgenössischen Exegese fallengelassen.<br />
An die Stelle des Akkommodationsbegriffs tritt <strong>der</strong> methodische Leitbegriff<br />
<strong>der</strong> Urkunde aus <strong>der</strong> Kindheit des Menschengeschlechts. Der biblische<br />
Bericht aus Genesis 3 ist, wie seine sprachliche Form sowie religionsgeschichtliche<br />
Parallelen zeigen, ein Text aus einer fernen Vergangenheit. Solche<br />
Texte können, so die These, welche Schelling mit <strong>der</strong> mythischen Schule<br />
teilt, nicht als willkürliche und beliebige Einkleidung einer allgemeinen<br />
Wahrheit in ein zeitgeschichtliches Gewand verstanden werden. 37 Die Menschheit<br />
konnte sich auf dieser Entwicklungsstufe gar nicht an<strong>der</strong>s ausdrücken als<br />
in <strong>der</strong> sinnlich-symbolischen Form, welche Schelling Mythos nennt. Die<br />
sinnlich-symbolische Form ist die geradezu notwendige Ausdrucksweise dieser<br />
Entwicklungsstufe <strong>der</strong> Vernunft. Aus <strong>der</strong> mythischen Form <strong>der</strong> alten Ur-<br />
37 Vgl. auch F. W. J. Schelling, De malorum origine, AA I/1, 119f.: „Denn diese Überlieferung<br />
<strong>der</strong> Wahrheit durch Mythen war keine Sache <strong>der</strong> Kunst, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Notwendigkeit,<br />
und ich sehe nicht ein, wieso diese Art zu philosophieren selbst bei uns Abbruch<br />
tun könnte, sofern wir nur den unter dem Bild verborgenen Sinn vorsichtig hervorkehren.“<br />
David Friedrich Strauß hebt diesen Aspekt von <strong>Schellings</strong> Mythosverständnis,<br />
dass es sich bei ihm nicht um Kunst handelt, ausdrücklich hervor. „In Bezug auf<br />
sämmtliche Mythen macht beson<strong>der</strong>s die Schelling’sche Abhandlung auf das Kunstlose<br />
und Unbefangene in ihrer Entstehung aufmerksam, indem sie theils von den historischen<br />
Mythen bemerkt, daß das Ungeschichtliche in denselben nicht künstliches Produkt<br />
absichtlicher Erdichtung sei, son<strong>der</strong>n sich im Laufe <strong>der</strong> Zeit und Überlieferung<br />
von selbst eingeschlichen habe; theils in Bezug auf die philosophischen erinnert, daß<br />
nicht allein zum Behuf eines sinnlichen Volks, son<strong>der</strong>n auch zu ihrem eigenen Behuf<br />
die ältesten Weisen das Gewand <strong>der</strong> Geschichte für ihre Ideen gewählt haben, um in<br />
Ermanglung abstrakter Begriffe und Ausdrücke das Dunkel ihrer Vorstellung durch eine<br />
sinnliche Vorstellung aufzuhellen.“ (D. F. Strauß, Das Leben Jesu, S. 31)