Gender Lesen - Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur
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MÄDCHEN UND BUBEN LESEN – ABER NICHT DAS GLEICHE<br />
senen Leserinnen ist dies vor allem die Gattung des<br />
Liebesromans, bei jungen Mädchen Geschichten<br />
über Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaften, auch Tiergeschichten,<br />
bei denen soziale Beziehungen zentral<br />
<strong>und</strong> in der Gattung des „Mädchenbuches“ zusammengefasst<br />
sind (vgl. Tabelle 1).<br />
Die <strong>für</strong> diese Literatur typische Lesehaltung ist die<br />
der Identifikation mit den ProtagonistInnen, des<br />
Sich-in-die-Handelnden-Hineinversetzens. Dieses<br />
als „identifikatorische Beschäftigung“ mit „Innenwelten“<br />
zu beschreibende <strong>Lesen</strong> dürfte auch einer<br />
der Gründe da<strong>für</strong> sein, warum Frauen häufiger als<br />
Männer Biographien lesen <strong>und</strong> sich <strong>für</strong> die Persönlichkeitsentwicklung<br />
<strong>und</strong> Lebensbewältigung in<br />
bestimmten Kontexten interessieren. 53 Mädchen<br />
<strong>und</strong> Frauen lesen auch realistische Erzählungen<br />
deutlich häufiger als Buben <strong>und</strong> Männer, unabhängig<br />
davon, ob diese fiktional oder non-fiktional<br />
sind. Diese empathische Lesehaltung54 impliziert<br />
einen hohen Grad an vor allem emotionaler<br />
Involviertheit, die wiederum <strong>für</strong> die starke emotionale<br />
Beziehung verantwortlich sein dürfte, die<br />
viele Mädchen <strong>und</strong> Frauen zu ihrer Buchlektüre<br />
entwickeln.<br />
Auch Buben (<strong>und</strong> Männer) lesen erzählende Literatur.<br />
Das Genre Erzählung ist hier allerdings mit<br />
anderen Themen verknüpft, z.B. mit Abenteuern,<br />
Detektiven oder mit Horror-, Science Fiction- <strong>und</strong><br />
Fantasy-Welten. Die Handlungen in diesen normalerweise<br />
sehr unrealistischen Geschichten sind<br />
eher nach außen gerichtet. In der Identifikation mit<br />
den AkteurInnen steht das veräußerlichte Handeln,<br />
das Aktiv-Sein im Mittelpunkt. Die Involviertheit<br />
in diese Geschichten bezieht sich mehr auf<br />
53) Vgl. Köcher 1993.<br />
54) Psychoanalytische Erklärungsansätze da<strong>für</strong>, warum Frauen häufiger<br />
narrativ-literarische Texte lesen, in denen Beziehungsorientiertes<br />
im Vordergr<strong>und</strong> steht, beziehen sich auf unterschiedliche<br />
frühkindliche Objektbeziehungen zwischen Mutter<br />
<strong>und</strong> Tochter bzw. Sohn. Stehen in der männlichen Identitätsentwicklung<br />
Autonomie <strong>und</strong> Abtrennung gegenüber der Mutter im<br />
Vordergr<strong>und</strong>, sind das bei der weiblichen Identitätsentwicklung<br />
Bindung <strong>und</strong> Beziehungsorientierung. Mädchen <strong>und</strong> Frauen entwickeln<br />
deswegen eher Empathiefähigkeiten als Buben <strong>und</strong><br />
Männer. Diese spielen wiederum eine große Rolle <strong>für</strong> das<br />
Sich-in-Geschichten-Hineinversetzen-Können (vgl. Garbe 1993,<br />
2003). Diese Ansätze wurden allerdings zumindest meines Wissens<br />
in Bezug auf die Lesepräferenzen von Frauen <strong>und</strong> Männern<br />
bislang nicht weiter untersucht.<br />
das äußerliche als auf Wahrnehmungen <strong>und</strong> Interpretationen<br />
der AkteurInnen <strong>und</strong> deren Gefühle.<br />
Wenn Emotionen thematisiert werden, dann häufig<br />
in eher distanzierter Form <strong>und</strong> in wenig alltagsbezogenen<br />
Kontexten. Diese Art des <strong>Lesen</strong>s<br />
spiegelt viele Aspekte des „In-der-Welt-Seins“ von<br />
Buben <strong>und</strong> Männern wider, in denen die Handlungsorientierung,<br />
das Einflussnehmen auf die äußere<br />
Welt eine große Rolle spielt <strong>und</strong> das Ausdrücken<br />
von Gefühlen nach wie vor in vielen Kontexten<br />
wenig geschätzt <strong>und</strong> häufig als „verweichlicht/verweiblicht“<br />
abgewertet wird. In dieser<br />
Orientierung nach außen dürfte auch einer der<br />
Gründe da<strong>für</strong> liegen, warum Computerspiele <strong>für</strong><br />
Buben so attraktiv sind: Es geht dabei nicht nur um<br />
Wettkampf <strong>und</strong> Konkurrenz, sondern die Interaktivität<br />
des Computerspiels ermöglicht, dieses zu<br />
beeinflussen, zu handeln.<br />
„Im Bereich der Printlektüren zeigt sich ein geschlechtsspezifisch<br />
differenzielles Wahlverhalten<br />
sowohl bei den Comics, als auch bei der Serienliteratur:<br />
Beide Kategorien werden weit stärker<br />
von den Jungen genutzt. Allerdings ist diese<br />
Bevorzugung nicht ausschließlich auf die hier<br />
beobachtete Präsentationsweise von Comics<br />
<strong>und</strong> Serienbüchern zurückzuführen, sondern vor<br />
allem auch auf deren hauptsächliche thematische<br />
Fokussierung: Abenteuer-, Kampf- <strong>und</strong><br />
Krimigeschichten werden in bildaufgelockerten,<br />
schnellen Rhythmen erzählt, wobei repetitive<br />
Handlungselemente oft dominieren; Handlungsträger<br />
sind mehrheitlich männliche Helden.<br />
Dass Jungen von diesem – weitgehend auf<br />
„action“ ausgerichteten – Teil des Lektüreangebots<br />
eher Gebrauch machen als Mädchen,<br />
war durchaus zu erwarten.“<br />
Bertschi-Kaufmann 55<br />
Setzt man diese Überlegungen über Innen- <strong>und</strong><br />
Außenorientierung fort, stellt sich die gr<strong>und</strong>sätzliche<br />
Frage, inwieweit Buben <strong>Lesen</strong> als „tatsächli-<br />
55) Bertschi-Kaufmann 2000, S. 179.