Gender Lesen - Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur
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DER TEXT<br />
stellen gewesen. Das Hineintragen von Elementen<br />
der Oralität in die schriftlich geführte interpersonale<br />
Kommunikation dürfte <strong>für</strong> diese Sensibilisierung<br />
ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben.<br />
Schrift, Sprache <strong>und</strong> Bild haben als je spezifische<br />
Kommunikationsmodi unterschiedliche Potentiale<br />
<strong>und</strong> Anforderungen, die sich auf die Darstellung<br />
von Inhalten einerseits <strong>und</strong> die Rezeption andererseits<br />
beziehen. Was die Struktur von Aussagen<br />
betrifft, sind Sprache <strong>und</strong> Schrift z.B. sequenziell<br />
organisiert. Informationen werden der Reihe nach<br />
erzählt oder beschrieben. Um das Gesagte oder<br />
Geschriebene nachzuvollziehen, muss der Leser<br />
bzw. die Leserin diesen Sequenzen folgen. Auch<br />
wenn man, wie bei Hypertexten, von einem Textausschnitt<br />
zum nächsten „springt“, erfordert ein am<br />
Verstehen orientiertes <strong>Lesen</strong> von Texten zumeist,<br />
dass man sich an die vom Autor, von der Autorin<br />
vorgegebene Ordnung hält.<br />
Bilder sind hingegen im zweidimensionalen Raum<br />
strukturiert, die Inhalte sind – bei nicht-bewegten<br />
Bildern – alle gleichzeitig präsent. Visuelle Darstellungen<br />
zeigen ihre Inhalte. Der „Leser“, die<br />
„Leserin“ eines Bildes hat im Vergleich zu schriftlichen<br />
Texten wesentlich mehr Möglichkeiten, die<br />
eigene Ordnung des Betrachtens zu bestimmen.<br />
Die sequenzielle Anordnung des Schreibens führt<br />
dazu, dass Ereignisse in ihrem Verlauf wiedergegeben<br />
werden. Alles, was ein Text kommunziert, muss<br />
in Worten benannt werden, die in syntaktischen<br />
Strukturen angeordnet sind. Durch diese zeitlich-sequenzielle<br />
Anordnung eignen sich Texte eher zur<br />
Darstellung von Ereignissen <strong>und</strong> Erfahrungen in ihrem<br />
zeitlichen Ablauf. Visuelle Darstellungen eignen<br />
sich hingegen besonders <strong>für</strong> die Darstellung<br />
von Größenverhältnissen, von räumlichen Anordnungen<br />
<strong>und</strong> Strukturen. Anfang <strong>und</strong> Ende müssen<br />
z.B. „übersetzt“ werden durch eine bestimmte<br />
Strukturierung der Objekte, etwa durch Nummerieren<br />
oder durch ihre Anordnung von links nach<br />
rechts (in Gesellschaften, in denen von links nach<br />
rechts geschrieben wird – im arabischen Raum wäre<br />
diese Anordnung umgekehrt) bzw. von oben nach<br />
unten.<br />
Das „Offene“ an der Sprache <strong>und</strong> das<br />
„Konkrete“ an Bildern<br />
Durch die Räumlichkeit <strong>und</strong> den Charakter des<br />
Zeigens vermitteln Bilder auch eher konkrete Vorstellungen<br />
als sprachlich vermittelte Aussagen.<br />
Diese lassen mehr Raum <strong>für</strong> individuelle Rekonstruktionen<br />
bzw. erfordern sie das Einbringen eigener<br />
Erfahrungen <strong>und</strong> Vorstellungen. Ein kleiner<br />
H<strong>und</strong>, gemalt, gezeichnet oder fotografiert, ist ein<br />
bestimmter, konkret dargestellter kleiner H<strong>und</strong>.<br />
Wenn von einem kleinen H<strong>und</strong> die Rede ist, sind<br />
die ZuhörerInnen oder LeserInnen sehr frei darin<br />
sich vorzustellen, um welche Rasse es sich handelt,<br />
welche Farbe dieser H<strong>und</strong> hat, ob er fre<strong>und</strong>lich<br />
oder bedrohlich wirkt etc.<br />
Diese Freiheit bei der Konkretisierung von sprachlichen<br />
Begriffen ist ein wichtiges Spezifikum der<br />
Rezeption von geschriebenen Texten <strong>und</strong> vor allem<br />
<strong>für</strong> ungeübte LeserInnen, die Bild(schirm)medien<br />
in ihrem Kommunikationsalltag einen großen<br />
Stellenwert geben, auch eine Herausforderung.<br />
Anders als bei den ihnen geläufigen Visualisierungen<br />
müssen sie <strong>für</strong> sich selbst die vergleichsweise<br />
offenen Begriffe der Sprache mit ihren eigenen<br />
Vorstellungen füllen. Diese Offenheit impliziert<br />
nicht nur Freiheit, sondern auch Unsicherheiten<br />
– ein Aspekt, der bei der Arbeit mit ungeübten<br />
LeserInnen zu beachten ist.<br />
Unsicherheiten beim <strong>Lesen</strong> entstehen <strong>für</strong> ungeübte<br />
LeserInnen z.B. auch dann, wenn sie sprachliche<br />
Codes nicht verstehen, weil sie ihnen nicht vertraut<br />
sind, oder sie sich nicht in das Erzählte oder Beschriebene<br />
hineinversetzen können. So meint die<br />
11-jährige Stefanie, die Bücher nur gelegentlich<br />
liest, über die Unterschiede zwischen <strong>Lesen</strong> <strong>und</strong><br />
Fernsehen: „Na, beim <strong>Lesen</strong> ist man viel langsamer.<br />
Es gibt weniger Bilder. Beim Fernsehen hast<br />
alles voll Bild. Und siehst auch, wer das sagt. Das<br />
wird ja nicht erzählt. Es ist gleich dort, es wird<br />
nicht erzählt, dass zum Beispiel der dort das gesagt<br />
hat, sondern der sagt das selber. [Beim <strong>Lesen</strong>] da<br />
merkst das erst am Schluss manchmal, wer das gesagt<br />
hat.“ 22 Und der 11-jährige Dominik, der Co-<br />
22) Böck 2000, S. 92.