Gender Lesen - Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur
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kommen, weswegen Kritik <strong>und</strong> Anderssein häufig<br />
als Irritation erlebt werden. Offenheit oder Geschlossenheit<br />
von Lebenswelten gegenüber Neuem<br />
<strong>und</strong> Anderem wirken sich auf die Gestaltungsmöglichkeiten<br />
sowohl von Geschlechterrollen<br />
als auch von kommunikativer Praxis aus.<br />
Für das Ergebnis der sich wechselseitig beeinflussenden<br />
Sozialisationsprozesse, dass einerseits die<br />
gegebenen Verhältnisse das Denken <strong>und</strong> Erfahren<br />
gr<strong>und</strong>legend bestimmen <strong>und</strong> dass andererseits das<br />
Sich-Einbringen in die Umwelten diese verändert,<br />
hat Pierre Bourdieu den Begriff des Habitus geprägt.<br />
15 Habitus steht <strong>für</strong> Anlage, Haltung, Gehabe,<br />
Erscheinungsbild, Lebensweise. Der Habitus<br />
einer Person (oder von sozialen Gruppen) ist zu<br />
verstehen als eine Synthese einerseits der Einflüsse<br />
der objektiv gegebenen sozialen, materiellen,<br />
räumlichen, geographischen etc. Außenwelten auf<br />
ihr Sein <strong>und</strong> andererseits der Einflüsse ihrer subjektiven<br />
„Innenwelten“, von persönlichen Eigenschaften,<br />
Bedürfnissen <strong>und</strong> Interessen, die ihr Denken<br />
<strong>und</strong> Tun <strong>und</strong> damit auch ihre Außenwelten beeinflussen.<br />
Sowohl unsere Geschlechteridentität als<br />
auch unsere Einstellungen zum <strong>und</strong> Gewohnheiten<br />
des <strong>Lesen</strong>s sind Teil unseres Habitus.<br />
Der Habitus umfasst Schemata der Wahrnehmung,<br />
des Denkens <strong>und</strong> des Handelns:<br />
■ Wahrnehmungsschemata strukturieren, wie wir<br />
unsere soziale Welt wahrnehmen, was wir „sehen“<br />
<strong>und</strong> was nicht. Ein Beispiel wäre hier, dass<br />
Personen, die gerne lesen, eher registrieren, dass<br />
in einer Umgebung Lesestoffe vorhanden sind<br />
<strong>und</strong> sie sich <strong>für</strong> die Art dieser Texte interessieren<br />
als Personen, die dem <strong>Lesen</strong> sehr distanziert<br />
gegenüberstehen.<br />
■ Bei den Denkschemata handelt es sich um so genannte<br />
Alltagstheorien, mit denen wir das, was<br />
wir wahrnehmen, interpretieren <strong>und</strong> ihm subjektive<br />
Bedeutung zuschreiben. Zu den Denkschemata<br />
gehören auch ethische Normen sowie<br />
ästhetische Maßstäbe. Mit Letzteren beurteilen<br />
wir Objekte oder Aktivitäten. Bourdieu spricht<br />
hier vom „Geschmack“, in dem sich die ver-<br />
15) Vgl. Bourdieu 1982; 1993.<br />
schiedenen sozialen Gruppen zum Teil sehr deutlich<br />
voneinander unterscheiden. Diese Alltagstheorien<br />
sind die Basis unserer Bedeutungszuweisungen<br />
an das von uns Wahrgenommene <strong>und</strong><br />
erklären unser jeweiliges Verhalten in spezifischen<br />
Situationen: Unser Handeln orientiert sich<br />
nicht an den an sich objektiv gegebenen Merkmalen<br />
unserer Umwelt, sondern an den Bedeutungen,<br />
die wir diesen jeweils zuweisen.<br />
■ Die Handlungsschemata beschreiben individuelle<br />
<strong>und</strong> kollektive Praktiken, die typisch <strong>für</strong><br />
spezifische Lebenswelten sind. Unsere Alltagspraxis<br />
ist die Äußerung dieser Wahrnehmungs-,<br />
Denk- <strong>und</strong> Handlungsschemata, die untrennbar<br />
miteinander verb<strong>und</strong>en sind.<br />
Das Habituskonzept hilft zu verstehen, warum sich<br />
verschiedene Menschen in vergleichbaren Situationen<br />
unterschiedlich verhalten. Klassiker der<br />
Weltliteratur in Prachtausgaben können z.B. als<br />
Symbol <strong>für</strong> Bildungsorientierung im Wohnzimmer<br />
einen besonderen Platz bekommen, ohne dass jemals<br />
jemand von den BesitzerInnen einen der Bände<br />
zur Hand nimmt. Bei LiebhaberInnen klassischer<br />
Literatur können sie im Wohnzimmer genau<br />
denselben Platz zugewiesen bekommen, allerdings<br />
regelmäßig gelesen werden. Andere Personen<br />
wiederum haben dieselben Ausgaben als gut<br />
gemeintes Weihnachtsgeschenk bekommen, bewahren<br />
sie allerdings in einer Schachtel auf dem<br />
DIE LESERIN, DER LESER<br />
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