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ROMANE_PORTRÄT Vor zwei Jahren wurde bei Wolfgang Herrndorf ein bösartiger Hirntumor festgestellt. In seinem Blog schreibt der Autor von „Tschick“ und „Sand“ über seine Krankheit zum Tode. Zwischen Angst und Weltliebe TEXT: WOLFGANG SCHNEIDER E s beginnt im Februar 2010 mit extremen Kopfschmerzen und neurologischen Ausfällen: Tasse Tee über die Tastatur gekippt, neben den Stuhl gesetzt. Kurz darauf wird bei Wolfgang Herrndorf ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert – „zu 100 Prozent tödlich“. Es ist das Ende der Bohème. Panikattacken, Weinkrämpfe, Zusammenbrüche, dann wieder merkwürdige Euphorien und Arbeitsschübe, nächtelang ohne Schlaf. Die deutsche Literatur hat wieder eine große Passionsgeschichte: dass da erstens ein Autor nach der Krebsoperation wie entfesselt im Wettlauf mit dem Tod schreibt und dass dabei zweitens solche gefeierten, ein breites Publikum berührenden Werke wie „Tschick“ und „Sand“ entstehen, die drittens in ihrer literarischen Leichthändigkeit erstaunlich unberührt vom Krankheits- und Todesdruck wirken. Die Neugier auf das Leben und Sterben der Schriftsteller ist ein altes Phänomen. Bei literarischen Märtyrern wie Kleist oder Kafka ist die Biografie längst Teil des Gesamtwerks geworden. Bei Herrndorf findet die biografisch-auratische Aufladung noch zu Lebzeiten statt, unter der Eigenregie des © Isolde Ohlbaum 1965 geborenen Autors, der die Krankheit in seinem Blog öffentlich macht. „Arbeit und Struktur“ lautet der Titel. Es geht um die Stabilisierung des Alltags im Ausnahmezustand, um die Abfuhr von Verzweiflung und Todesangst, um Raum für Reflexionen, Erinnerungen und das Lob der fürsorglichen Freunde. Es ist ein Tagebuch, das durch diese Publikationsform bereits Werkcharakter hat. Zur „Haltung“ gehört der schwarze Humor, mit dem die Vorteile des radikal verkürzten Lebens aufgeführt werden: „Nie wieder Steuer erklärung.“ Schon beim letzten Interviewtermin vor vier Jahren – gerade war der Erzählband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ erschienen – war Herrndorf angeschlagen: beim Fußball gefoult, Fuß gebrochen. Er hum- Zur Person 24 Geht regelmäßig zum Schwimmen an den Plötzensee: Autor Wolfgang Herrndorf Wolfgang Herrndorf, 1965 geboren, studierte Malerei in Nürnberg und lebt in Berlin. Er arbeitete als Illustrator und Zeichner ( für „Titanic“), bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Nach dem Roman „In Plüschgewittern“ und einem Erzählband wurde er mit „Tschick“ zum Erfolgsautor. Sein Thriller „Sand“ erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse 2012. Sein Blog „Arbeit und Struktur“ findet sich unter www.wolfgang-herrndorf.de. pelte auf Krücken durch seine kleine Seitenflügel-Wohnung in Berlin-Mitte, ein etwas runtergerocktes Berliner Zimmer voller Bälle, Sportschuhe, Hockey- und Federballschläger. Wenn man diese Woh- buchjournal 3_2012
Lesezeichen j Wolfgang Herrndorf: Sand. Rowohlt Berlin, 480 S., 19,95 € (D) • 20,60 € (A) • 28,50 sFr. Wolfgang Herrndorf: Sand. Gelesen von Stefan Kaminski. Argon, 11 CDs, 29,95 € (D) • 30,20 € (A) • 42,50 sFr. nung vor Augen hat, mag man sich kaum vorstellen, dass er jetzt dort noch haust, wo ihn die „Bumsmusik“ des Nachbarn quält, dem er sogar schon die „luxuriösesten Kopfhörer“ spendieren wollte. „Aber er will gar keine Kopfhörer. Die störten auf dem Kopf, und er wolle einfach nur seine Bumsmusik hören.“ Im Blog formuliert Herrndorf auch seine literarischen Leitlinien: „Ich halte den Roman für den Aufbewahrungsort des Falschen. Richtige Theorien gehören in die Wissenschaft, im Roman ist Wahrheit lächerlich.“ Zum Roman gehören: „das Unglück, die neurotische Persönlichkeit, das falsche Weltbild, das falsche Leben“. Im postmodern-burlesken Thriller „Sand“ – im Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet – hat er sich denn auch bemüht, eine gewaltige Ladung Verschwörungstheorie aufzufahren und viele falsche Fährten auszulegen. Wie alle seine Werke hat dieser Roman lange Wurzeln. Schon vor vier Jahren hatte Herrndorf Die Preisträger 2012 in den drei Kategorien buchjournal 3_2012 25 den hochkomplexen Schaltplan von „Sand“ mit Stichwörtern zu den Figuren auf seine zweckentfremdete Staffelei geheftet – einst hat er ja Malerei studiert und als Zeichner für das Satiremagazin „Titanic“ gearbeitet. Im Blog preist Herrndorf Lieblingsbücher und gibt Abneigungen kund. Jeffrey Eugenides kann er immer noch nicht leiden. Unvergessen, wie wuchtig er damals seine Krücke schwenkte, um damit auf „Middlesex“ im Bücherregal zu zielen: Das sei einer der überschätztesten Romane der vergangenen Jahre. Auch in Christian Krachts „Imperium“ fi ndet er „Stilblüten“ und ein „Syntaxmassaker“ – „zu 95 Prozent die zweitklassige Parodie eines viertklassigen Autors der vorletzten Jahrhundertwende … Das Erstaunlichste an alledem vielleicht, was das Feuilleton sich offenbar noch immer für einen Begriff von Thomas Mann macht.“ Treffender kann man es nicht sagen. Zwischen Gelassenheit und Angst, Aggression und Weltliebe wechselt seine Stimmung mehrmals täglich. Aber auch wenn ihm Wortfi ndungsstörungen, Sichtfeldausfälle und epileptische Anfälle zu schaffen machen, auch wenn bereits Rezidive aufgetreten sind und er zu allem Übel Anfang des Jahres einen Fahrradunfall hatte (von einer Autofahrerin übersehen), bei dem er sich eine „Schultereckgelenksprengung“ zuzog – bis auf weiteres erfüllt Herrndorf nicht die Vorstellung eines Moribunden. Regelmäßig geht er zum Schwimmen an den Plötzensee. Der kleine Strand dort ist zu seinem Lieblingsort geworden: „Dieser rätselhafte See. Mitten in Berlin, herrlich baumumstanden, Graureiher, Haubentaucher, Blessen und ihre Jungen, klares, erfrischendes Wasser. Und nie ein Mensch.“ Der letzte Eintrag im Blog stammt vom 19. April, Gespräch mit dem Arzt über Befund und Aussicht: „Erst mal drei Monate? Ja, das wohl.“ � Belletristik • Wolfgang Herrndorf für „Sand“ (Rowohlt Berlin) Sachbuch • Jörg Baberowski für „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ (C.H. Beck) Übersetzung • Christine Viragh für Péter Nádas’ „Parallelgeschichten“ (Rowohlt) Verlag sucht neue Texte! Pinboard Der AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG nimmt Texte an: Gedichte, Erzählungen, Romane, Krimis, Lebenserinnerungen, Biographien, Kinder- und Jugendbücher, Theaterstücke, Drehbücher, Sachbücher usw. Senden Sie Ihr Manuskript an den AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG Lektorat 4.0, Großer Hirschgraben 15 D-60311 Frankfurt/M. www.frankfurter-literaturverlag.de Tel. 069-408940, Fax 069-40894-169 DEUTSCHES LITERATURFERNSEHEN Autoren gesucht für Fernsehauftritt (Interview/Lesung) Tel. 069 13308669 redaktion@deutsches-literaturfernsehen.de www.deutsches-literaturfernsehen.de Autoren komplettieren ihr Handwerkzeug im staatlich zugelassenen Fernstudium Literarisches Schreiben Wenn Sie Freude am Schreiben haben, wenn Sie Ihre Fähigkeiten verbessern und erweitern wollen, wenn Sie Leser (und Lektoren) mit Ihren Texten fesseln oder ein Romanwerk zur Durch führung bringen wollen, fordern Sie die kostenfreien Studien informationen an. Keine Zulassungsvoraussetzungen, Persönliche Betreuung durch einen einzeln abgestellten Lektor. Von Verlagsleitern u. Lektoren empfohlen! Ihre Leseprobe bitte an die CORNELIA GOETHE AKADEMIE vormals Deutsche Autorenakademie DAA Großer Hirschgraben 15, D-60311 Frankfurt/M. Tel. 069-13377-177, Fax-175, www.cornelia-goethe-akademie.de Gedichtwettbewerb der BRENTANO-GESELLSCHAFT FRANKFURT/M. MBH Die Themen lauten: Frei wählbares Thema (Klasse A), Das Licht (Klasse B) und Das Währende (Klasse C). Ausgewählte Gedichte erscheinen im Standardwerk deutschsprachiger Lyrik, der Frank- furter Bibliothek. Einsendeschluß: 1. Oktober 2012. Sie können ein Gedicht über das Internet oder per Post einreichen. Das eingesandte Gedicht darf 20 Zeilen nicht überschreiten; es muss maschinenschriftlich und mit Rückporto (3x EUR 0,55) eingereicht werden (dem Autor entstehen außer dem Porto keine Kosten). Bitte geben Sie bei Ihrer Einsendung Ihr Geburtsjahr an. Dieses wird ggf. mitveröffentlicht. Es darf nur ein einziges Gedicht eingereicht werden. Redaktion der Frankfurter Bibliothek Brentano-Gesellschaft Frankfurt/M. mbH Großer Hirschgraben 15, D-60311 Frankfurt/M. Tel. 069-13377-177, Fax-175, www.brentano-gesellschaft.de
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Vor zwei Jahren wurde bei<br />
Wolfgang Herrndorf ein<br />
bösartiger Hirntumor festgestellt.<br />
In seinem Blog schreibt der Autor<br />
von „Tschick“ und „Sand“ über<br />
seine Krankheit zum Tode.<br />
Zwischen<br />
Angst und<br />
Weltliebe<br />
TEXT: WOLFGANG SCHNEIDER<br />
E s<br />
beginnt im Februar 2010 mit extremen<br />
Kopfschmerzen und neurologischen<br />
Ausfällen: Tasse Tee über die Tastatur<br />
gekippt, neben den Stuhl gesetzt.<br />
Kurz darauf wird bei Wolfgang Herrndorf<br />
ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert –<br />
„zu 100 Prozent tödlich“. Es ist das Ende<br />
der Bohème. Panikattacken, Weinkrämpfe,<br />
Zusammenbrüche, dann wieder merkwürdige<br />
Euphorien und Arbeitsschübe, nächtelang<br />
ohne Schlaf.<br />
Die deutsche Literatur hat wieder eine<br />
große Passionsgeschichte: dass da erstens<br />
ein Autor nach der Krebsoperation wie entfesselt<br />
im Wettlauf mit dem Tod schreibt<br />
und dass dabei zweitens solche gefeierten,<br />
ein breites Publikum berührenden Werke<br />
wie „Tschick“ und „Sand“ entstehen, die<br />
drittens in ihrer literarischen Leichthändigkeit<br />
erstaunlich unberührt vom Krankheits-<br />
und To<strong>des</strong>druck wirken.<br />
Die Neugier auf das Leben und Sterben<br />
der Schriftsteller ist ein altes Phänomen.<br />
Bei literarischen Märtyrern wie Kleist oder<br />
Kafka ist die Biografie längst Teil <strong>des</strong> Gesamtwerks<br />
geworden. Bei Herrndorf findet<br />
die biografisch-auratische Aufladung noch<br />
zu Lebzeiten statt, unter der Eigenregie <strong>des</strong><br />
© Isolde Ohlbaum<br />
1965 geborenen Autors, der die Krankheit<br />
in seinem Blog öffentlich macht. „Arbeit<br />
und Struktur“ lautet der Titel.<br />
Es geht um die Stabilisierung <strong>des</strong> Alltags<br />
im Ausnahmezustand, um die Abfuhr von<br />
Verzweiflung und To<strong>des</strong>angst, um Raum<br />
für Reflexionen, Erinnerungen und das<br />
Lob der fürsorglichen Freunde. Es ist ein<br />
Tagebuch, das durch diese Publikationsform<br />
bereits Werkcharakter hat. Zur „Haltung“<br />
gehört der schwarze Humor, mit<br />
dem die Vorteile <strong>des</strong> radikal verkürzten<br />
Lebens aufgeführt werden: „Nie wieder<br />
Steuer erklärung.“<br />
Schon beim letzten Interviewtermin vor<br />
vier Jahren – gerade war der Erzählband<br />
„Diesseits <strong>des</strong> Van-Allen-Gürtels“ erschienen<br />
– war Herrndorf angeschlagen: beim<br />
Fußball gefoult, Fuß gebrochen. Er hum-<br />
Zur Person<br />
24<br />
Geht regelmäßig<br />
zum Schwimmen<br />
an den Plötzensee:<br />
Autor Wolfgang<br />
Herrndorf<br />
Wolfgang Herrndorf, 1965 geboren, studierte Malerei<br />
in Nürnberg und lebt in Berlin. Er arbeitete <strong>als</strong><br />
Illustrator und Zeichner ( für „Titanic“), bevor er<br />
sich dem Schreiben zuwandte. Nach dem Roman<br />
„In Plüschgewittern“ und einem Erzählband wurde<br />
er mit „Tschick“ zum Erfolgsautor. Sein Thriller<br />
„Sand“ erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse<br />
2012. Sein Blog „Arbeit und Struktur“ findet sich<br />
unter www.wolfgang-herrndorf.de.<br />
pelte auf Krücken durch seine kleine Seitenflügel-Wohnung<br />
in Berlin-Mitte, ein etwas<br />
runtergerocktes Berliner Zimmer voller<br />
Bälle, Sportschuhe, Hockey- und<br />
Federballschläger. Wenn man diese Woh-<br />
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