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Barlach-Dramen_Ueber.. - Peter Godzik

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abends dem Tagebuch einverleibt. Das alles sind lÑngst keine schriftstellerischen<br />

FingerÇbungen mehr. <strong>Barlach</strong> versteht sich jetzt darauf, mit dem Teil zugleich das<br />

Ganze zu geben, im Besonderen das Allgemeine zur Anschauung zu bringen. Die<br />

von ihm festgehaltenen „Lebenswinzigkeiten“ fÇgen sich allmÑhlich zu dem Bild einer<br />

vom Krieg angefochtenen KÇnstlerexistenz zusammen. Und dieses private Krisenprotokoll<br />

wird zum Spiegel weltgeschichtlicher Konflikte.<br />

Im Juni 1917 skizziert <strong>Barlach</strong> einen neuen <strong>Dramen</strong>plan. Der Stoff wird virulent. <strong>Barlach</strong><br />

legt das Tagebuch beiseite und macht sich an die Ausarbeitung des Entwurfs,<br />

die sich wiederum Çber mehrere Jahre hinzieht. 1920 kann Cassirer das dritte Drama<br />

seines SchÇtzlings - Die echten Sedemunds - herausbringen. Dieses Werk steht am<br />

Anfang einer neuen Phase von <strong>Barlach</strong>s dichterischer Produktion.<br />

Im AnschluÅ an die dramatische Artikulation seines Vaterschaftserlebnisses im Toten<br />

Tag hatte <strong>Barlach</strong> versucht, dem Sinn der Passion seiner Lehrjahre auf die Spur zu<br />

kommen. Sowohl der Arme Vetter als auch der Seespeck stellen sich zunÑchst als<br />

Konfigurationen eines zwischen Hoffart und Verzweiflung schwankenden experimentum<br />

medietatis dar; als Variationen Çber das Thema der Selbstbehauptung des Einzelnen<br />

im Kreis der Vielen, der ihm feindlich gesonnenen Gesellschaft. Hans Iver,<br />

der von einem „gÖttlichen Funken“ gebrannte „arme Vetter“ eines „hohen Herrn“, und<br />

Seespeck, der „DoppelgÑnger, der sein wahres Selbst nicht finden konnte“, gehÖren<br />

zur Nachkommenschaft des Tonio KrÖger. Im Gegensatz zu Thomas Mann wird <strong>Barlach</strong><br />

der Konflikt zwischen KÇnstlertum und BÇrgertum jedoch zum AnlaÅ fÇr die Er-<br />

Örterung eines metaphysischen Problems, das er in der Gestalt „erledigt“. „Ich habe<br />

das alles tÖdlich und schwer erlitten und habe mich durch die Arbeit befreit“, bemerkt<br />

<strong>Barlach</strong> 1919 in einem Kommentar zum Armen Vetter. Wie der Dichter des Werther<br />

hat auch <strong>Barlach</strong> zur Feder gegriffen, um Çberleben zu kÖnnen. Hans Iver, sein DoppelgÑnger,<br />

scheitert dagegen. Er fÇhlt sich in der „EinÖde“ Welt „ins Loch gebracht“<br />

und wie ein „Bastard“ zu den „Leuten“ ausgetan. Das Leben wird ihm zur „Krankheit“,<br />

er leidet unter dem Fluch der Individuatlon und schÑmt sich seines Menschseins.<br />

Deshalb beschlieÅt er, „lieber ordentlich nichts als zweimal halb“ zu sein. Sein Tod ist<br />

indessen nichts anderes als ein Akt der SelbsterlÖsung. Das Motiv, das Iver zum<br />

Selbstmord treibt, ist zwar nicht rein egoistischer Natur. Allein von dem GefÇhl der<br />

Verantwortung fÇr das „Ganze“, das der Gestalt des blinden Kule ihre WÇrde verleiht,<br />

besitzt der arme Vetter nichts.<br />

Im Seespeck wird sein ProzeÅ gegen Gott und die Welt in zweiter Instanz verhandelt.<br />

Auch Seespeck ist, wie Hans Iver, eine monologische Existenz, die ihre Freude auf<br />

den „kahlen Feldern der AusgestoÅenheit“ erntet. Sein Fall scheint indessen nicht<br />

hoffnungslos. „Vielleicht“, gibt Seespeck vor <strong>Barlach</strong>, dem Gerichtshalter Çber seine<br />

Vergangenheit, zu Protokoll, „bin ich nur mir selbst, ist mir nur mein Ich beschieden,<br />

aber dann wÑre es doch vonnÖten, daÅ ich jemand anderm zu HÑnden kÑme, sonst<br />

kÖnnte ich es auf die Dauer nicht vertragen.“ Das Verfahren wird einstweilen ausgesetzt<br />

und Seespeck zur BewÑhrung in die Welt entlassen. Als Grude begegnet er uns<br />

in <strong>Barlach</strong>s nÑchstem Drama wieder.<br />

Inzwischen scheint das Seespeck-Ich jemand anderm in die HÑnde gefallen zu sein.<br />

Grude, der eulenspiegelhafte Held der Echten Sedemunds, will der Welt beweisen,<br />

daÅ jeder Mensch ein „DoppelgÑnger“ ist; niemand sei „mit sich allein“. „Wir haben<br />

alle“, behauptet er, „einen unhÖrbar brÇllenden LÖwen im RÇcken.“ Um sich bei seinen<br />

verstockten MitbÇrgern (denen „guter Schein“ mehr gilt als „gutes Sein“) GehÖr<br />

zu verschaffen, streut er das GerÇcht aus, daÅ aus einem in der Stadt gastierenden<br />

Zirkus ein LÖwe ausgebrochen sei. In der dadurch ausgelÖsten Panik wird die Wahrheit<br />

seiner in einer grotesken Gleichnisrede verschlÇsselten áberzeugung offenkundig.<br />

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