Barlach-Dramen_Ueber.. - Peter Godzik
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Spiegel-Ich. – Seins-Ich verzehrt sich nach der absoluten, vollkommenen, nicht mehr anzweifelbaren Wirklichkeit, Schein-Ich verfÄhrt ununterbrochen zum GenuÉ der Spiegelwirklichkeit, zu jener Wirklichkeit (Unwirklichkeit), die nichts anderes ist, als der eitle Selbst- und GeltungsgenuÉ des Menschen in seiner Umwelt. Barlach hat das Unzureichende der dramatischen Form zur Darstellung dieses inneren Geschehens im Grunde deutlich gesehen. Er ÑuÅert zu seinem „Blauen Boll“, das „Geschehen“, das „Werden“ sei „als dunkle Gewalt schaltend und gestaltend im Hintergrund der VorgÑnge gedacht“. „Was so unfaÅbar ist, kann man nur als SelbstverstÑndlichkeit hinnehmen wie Sonnenauf- und -niedergang. DaÅ das Sollen zum Wollen wird, ist durch Motivierungen ebensowenig begreiflich zu machen, wie ohne sie. Man mag sie wahrnehmen gleichsam als Wegemarken des Geschehens, mehr sollen sie nicht vorstellen.“ Hinter dem Horizont der Szene also erst liegt der des wahren „Geschehens“. Diese beiden Ebenen – Szene und Jenseits-der-Szene, BÇhnenvorgÑnge und „Hintergrund“ – in Bezug zu bringen, ist das Grundproblem der Barlachschen Dramatik. Alle formalen PhÑnomene ergeben sich hieraus. Das „unfaÅbare“ Werden kann sich nicht in einer faÅbaren VerknÇpfung der VorgÑnge ausdrÇcken. Es bedarf des Kommentars, der es als stattfindend anzeigt. Im „Blauen Boll“ heiÅt es zum Beispiel direkt: „Es bereitet sich unmerklich im Dunkel des persÖnlichen Erlebens manches Geschehen vor.“ Vom Beginn der Wandlung Bolls wird als von einer „SelbstvergeÅlichkeit“ gesprochen, und sofort kommentiert der BÇrgermeister diesen Begriff: „Sollte man sich nicht vorsichtig der Frage nÑhern und meinen, daÅ der verlorene, sozusagen der bisherige Herr Boll der falsche, dagegen der jetzige und neue, neugefundene Herr Boll der wahre Boll wÑre?“ Boll selbst gibt von den Stationen seiner Wandlung, seines „Werdens“ in stÑndigen Kommentaren Nachricht: „Bin ich schon so ein anderer, daÅ ich meine eigene Frau nicht wiedererkenne?“ Oder: „Bolls Geburt und turmhohe VerÑnderung steht vor der TÇr.“ Den Vollzug der Verwandlung Bolls kommentiert zuletzt der „Herr“ (von dem es ebenfalls in einem Kommentar heiÅt, er sei „der Herrgott selbst, einfach als pilgernder Mensch“, „eine schwache, kaum wahrnehmbare Abschattung Gottes“): „Boll hat mit Boll gerungen und er, der andere, der neue, hat sich behauptet. ... Boll muÅ Boll gebÑren ... Boll wird durch Boll.“ Diesen Kommentaren Çber das Werden Bolls entsprechen in der „SÇndflut“ strukturell Calans Kommentare Çber seine Abstammung vom „grÖÅeren Gott“. Unmittelbar an den SchluÅkommentar der „SÇndflut“ erinnern im „Blauen Boll“ die Kommentare, die dem „Werden“ selbst gewidmet sind, etwa „Unser Sein ... ist nichts als eine Quelle, aber unser Leben ein Strom des Werdens, und kein Ziel als immer neues Werden ... ewiges Werden! Heute ist nur ein schÑbiges Morgen, morgen ist abgetan von ábermorgen.“ Unbezogen und isoliert stehen diese Kommentare innerhalb der szenisch-dialogischen ZusammenhÑnge, deren Folge sie beliebig aufheben, um eine wesentliche Wirklichkeit in den letzten Endes unwesentlichen Vordergrund des BÇhnenvorgangs zu rÇcken. Helmut Krapp hat diesen Tatbestand bÇndig so formuliert: „Die Sprache stanzt den Sinn in die Szene.“ Ein weiteres Mittel in dem Versuch, eine Beziehung zwischen Vordergrunds- und Hintergrundsebene, zwischen Spiel und Sinn herzustellen, ist die eigentÇmliche, skurrile Surrogat-Symbolik Barlachs. Man muÅ hier von Ersatzmitteln sprechen, weil diese „Symbole“ wiederum nur Elemente eines Kommentars sind, ohne den sie schlechterdings nichts bedeuten. In den „Echten Sedemunds“ beispielsweise ist stÑndig vom „LÖwen“ die Rede, und die Jagd nach einem angeblich entsprungenen ZirkuslÖwen ist auch das Vehikel der ÑuÅeren szenischen Bewegung. Ein SchlÇssel 28
zum VerstÑndnis des Surrogat-Symbols „LÖwe“ ist die Bemerkung, daÅ jeder ein „DoppelgÑnger“ sei. Gemeint sind, um die Begriffe Werfels zu gebrauchen, Schein- Ich und Seins-Ich. Diese Vorstellung, im Bild vom DoppelgÑnger schon gleichnishaft gefaÅt, wird durch den LÖwen nachtrÑglich weiter bebildert. „Wir haben alle einen unhÖrbar brÇllenden LÖwen hinterm RÇcken ... Wir sind eben immer zwei, der LÖwe hinter mir ist auch ein StÇck von mir, eine Art eigentliches Ich.“ Es ist ganz deutlich, daÅ das Surrogat-Symbol nur fÇr den Kommentar erfunden wurde und daÅ ihm, das zunÑchst ohne jede symbolische Aussagekraft ist, erst im Kommentar die gewollte Bedeutung zugesprochen wird. „LÖwe“ bedeutet hinfort im Dialog soviel wie eigentliches Ich, Gewissen, ja das GÖttliche selbst, das den Menschen, indem es ihn „friÅt“, „zum Teil seiner MajestÑt“ macht. Auch das Bild vom Fressen wird nun kommentiert: das „wahre Leben“ ist ein „FreÅprozeÅ, ein Verwandlungs- und Verdauungswunder“. Diese merkwÇrdige Surrogat-Symbolik gibt den Figuren Çberhaupt erst die MÖglichkeit, andeutungsweise von ihrer inneren Lage zu sprechen, Çber die Station ihrer Wandlung Auskunft zu geben: „Ich hÖre ihn schon brÇllen“, „Mich hat er im Rachen und beiÅt, und man weiÅ nicht, bin ich noch ich oder schon er?“ (Vgl. Boll: „Bin ich schon so ein anderer, daÅ ich meine eigene Frau nicht wiedererkenne?“) Ein anderes Beispiel fÇr das Surrogat-Symbol ist das „Satanshinterviertel“, das durch die GesprÑche im „Blauen Boll“ geistert, bis ihm endlich im vierten Bild im Kommentar seine Bedeutung ÇbergestÇlpt wird: „Da ist Çbrigens wieder mal ein Beispiel auf die Beine gebracht – das Wachsen und Werden sucht sich seltsame Wege ... Sehen Sie: was ist heute aus dem Bein geworden – bin ich nicht ein passabler Zeitgenosse, gewachsen aus einem Satanshinterviertel? Werden, das ist die Losung! ... alle sind auf gleichen Wegen des Werdens und laufen dem Besseren zu, selbst auf Teufelsbeinen.“ Der Kommentar ist vor dem Surrogat-Symbol da, aber er bedarf seiner, um die abstrakte Vorstellung „Werden“ in einem Bild zu konkretisieren. Charakteristisch fÇr das Barlachsche Surrogat-Symbol ist nun aber, daÅ es, obwohl deutlich nur fÇr den Bedeutungszusammenhang eines bestimmten Kommentars erfunden, ein phÑnomenales Eigenleben im szenischen Vorgang annimmt. So trÑgt der „Herr“ im „Blauen Boll“ das zu kurze Bein mit dem „Satanshinterviertel“, und Ñhnlich findet in den „Echten Sedemunds“ die groteske Jagd nach dem LÖwen statt, der, im Gegensatz zu dem „guten, wahren, einzigen“ LÖwen („eigentliches Ich“), die Angst des Philisters vor dem bÇrgerlichen Skandal allegorisiert. Wie das Surrogat-Symbol, so gibt es im Barlachschen Drama auch den surrogativsymbolischen Vorgang. Ein groteskes Beispiel hierfÇr findet sich im „Toten Tag“. Der Gnom SteiÅbart, dem die Aufgabe zugedacht ist, den Sohn auf seine Abkunft vom Geist-Vater hinzuweisen, behauptet, sein eigener Vater hÑtte auffahren kÖnnen, und fÑhrt zur Decke auf. In einem GesprÑch von abstruser UmstÑndlichkeit macht er dem Sohn deutlich, daÅ er „niemals so, aber vielleicht anders“ auffahren, d. h. zu seinem Geist-Vater, Gott, gelangen kÖnne: „Das Leibhaftige macht’s nicht, am Geist muÅ es haften.“ Die Struktur ist hier in dem frÇhen „Toten Tag“ schon die gleiche wie etwa beim „Satanshinterviertel“ im „Blauen Boll“ und wie letzten Endes noch im „Grafen von Ratzeburg“, wo das Gespenst Bendix aus Heinrichs Adern trinkt und nach der Anweisung „geblÑht und voller Leben, voll, feurig und stark“ wird. Das Surrogat- Symbol wird in die BÇhnenvorgÑnge verflochten, ein Verfahren, das man als pseudosymbolische Konkretion bezeichnen mÖchte. Sie fÇhrt mit zu der fÇr das Barlachsche Drama so charakteristischen Entwirklichung der szenischen RealitÑt. In gleicher Richtung wirkt, wie wir sahen, der Kommentar, der nicht als Teil eines dramatischen Dialogs in den szenischen Ablauf integriert ist und in einem funktionellen Zusammenhang damit steht, sondern der eine wesentliche Wirklichkeit in das 29
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Spiegel-Ich. – Seins-Ich verzehrt sich nach der absoluten, vollkommenen,<br />
nicht mehr anzweifelbaren Wirklichkeit, Schein-Ich verfÄhrt ununterbrochen<br />
zum GenuÉ der Spiegelwirklichkeit, zu jener Wirklichkeit (Unwirklichkeit), die<br />
nichts anderes ist, als der eitle Selbst- und GeltungsgenuÉ des Menschen in<br />
seiner Umwelt.<br />
<strong>Barlach</strong> hat das Unzureichende der dramatischen Form zur Darstellung dieses inneren<br />
Geschehens im Grunde deutlich gesehen. Er ÑuÅert zu seinem „Blauen Boll“,<br />
das „Geschehen“, das „Werden“ sei „als dunkle Gewalt schaltend und gestaltend im<br />
Hintergrund der VorgÑnge gedacht“. „Was so unfaÅbar ist, kann man nur als SelbstverstÑndlichkeit<br />
hinnehmen wie Sonnenauf- und -niedergang. DaÅ das Sollen zum<br />
Wollen wird, ist durch Motivierungen ebensowenig begreiflich zu machen, wie ohne<br />
sie. Man mag sie wahrnehmen gleichsam als Wegemarken des Geschehens, mehr<br />
sollen sie nicht vorstellen.“<br />
Hinter dem Horizont der Szene also erst liegt der des wahren „Geschehens“. Diese<br />
beiden Ebenen – Szene und Jenseits-der-Szene, BÇhnenvorgÑnge und „Hintergrund“<br />
– in Bezug zu bringen, ist das Grundproblem der <strong>Barlach</strong>schen Dramatik. Alle<br />
formalen PhÑnomene ergeben sich hieraus.<br />
Das „unfaÅbare“ Werden kann sich nicht in einer faÅbaren VerknÇpfung der VorgÑnge<br />
ausdrÇcken. Es bedarf des Kommentars, der es als stattfindend anzeigt. Im<br />
„Blauen Boll“ heiÅt es zum Beispiel direkt: „Es bereitet sich unmerklich im Dunkel des<br />
persÖnlichen Erlebens manches Geschehen vor.“ Vom Beginn der Wandlung Bolls<br />
wird als von einer „SelbstvergeÅlichkeit“ gesprochen, und sofort kommentiert der<br />
BÇrgermeister diesen Begriff: „Sollte man sich nicht vorsichtig der Frage nÑhern und<br />
meinen, daÅ der verlorene, sozusagen der bisherige Herr Boll der falsche, dagegen<br />
der jetzige und neue, neugefundene Herr Boll der wahre Boll wÑre?“ Boll selbst gibt<br />
von den Stationen seiner Wandlung, seines „Werdens“ in stÑndigen Kommentaren<br />
Nachricht: „Bin ich schon so ein anderer, daÅ ich meine eigene Frau nicht wiedererkenne?“<br />
Oder: „Bolls Geburt und turmhohe VerÑnderung steht vor der TÇr.“ Den Vollzug<br />
der Verwandlung Bolls kommentiert zuletzt der „Herr“ (von dem es ebenfalls in<br />
einem Kommentar heiÅt, er sei „der Herrgott selbst, einfach als pilgernder Mensch“,<br />
„eine schwache, kaum wahrnehmbare Abschattung Gottes“): „Boll hat mit Boll gerungen<br />
und er, der andere, der neue, hat sich behauptet. ... Boll muÅ Boll gebÑren ...<br />
Boll wird durch Boll.“ Diesen Kommentaren Çber das Werden Bolls entsprechen in<br />
der „SÇndflut“ strukturell Calans Kommentare Çber seine Abstammung vom „grÖÅeren<br />
Gott“.<br />
Unmittelbar an den SchluÅkommentar der „SÇndflut“ erinnern im „Blauen Boll“ die<br />
Kommentare, die dem „Werden“ selbst gewidmet sind, etwa „Unser Sein ... ist nichts<br />
als eine Quelle, aber unser Leben ein Strom des Werdens, und kein Ziel als immer<br />
neues Werden ... ewiges Werden! Heute ist nur ein schÑbiges Morgen, morgen ist<br />
abgetan von ábermorgen.“ Unbezogen und isoliert stehen diese Kommentare innerhalb<br />
der szenisch-dialogischen ZusammenhÑnge, deren Folge sie beliebig aufheben,<br />
um eine wesentliche Wirklichkeit in den letzten Endes unwesentlichen Vordergrund<br />
des BÇhnenvorgangs zu rÇcken. Helmut Krapp hat diesen Tatbestand bÇndig so formuliert:<br />
„Die Sprache stanzt den Sinn in die Szene.“<br />
Ein weiteres Mittel in dem Versuch, eine Beziehung zwischen Vordergrunds- und<br />
Hintergrundsebene, zwischen Spiel und Sinn herzustellen, ist die eigentÇmliche,<br />
skurrile Surrogat-Symbolik <strong>Barlach</strong>s. Man muÅ hier von Ersatzmitteln sprechen, weil<br />
diese „Symbole“ wiederum nur Elemente eines Kommentars sind, ohne den sie<br />
schlechterdings nichts bedeuten. In den „Echten Sedemunds“ beispielsweise ist<br />
stÑndig vom „LÖwen“ die Rede, und die Jagd nach einem angeblich entsprungenen<br />
ZirkuslÖwen ist auch das Vehikel der ÑuÅeren szenischen Bewegung. Ein SchlÇssel<br />
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