Krugmans New Economic Geography und Migration-KNORR
Krugmans New Economic Geography und Migration-KNORR
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<strong>Krugmans</strong> <strong>New</strong> <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong> <strong>und</strong> <strong>Migration</strong>:<br />
Zu Motiven <strong>und</strong> regionalen Wirkungen von <strong>Migration</strong> im<br />
Modul: Bachelorarbeit (A5, 10 CP)<br />
Erstprüfer: Prof. Dr. Javier Revilla Diez<br />
Zweitprüferin: Prof. Dr. Christiane Meyer<br />
Semester: SoSe 2010<br />
Zentrum-Peripherie-Modell<br />
Name: Marianna Knorr<br />
Studiengang: FüBa Geographie, Mathematik<br />
Fachsemester: 6<br />
Matrikelnr.: 2569200<br />
E-Mail: MariannaKnorr@aol.com
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Einleitung ................................................................................................................................ 3<br />
2 <strong>Krugmans</strong> <strong>New</strong> <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong> .................................................................................... 4<br />
2.1 Die <strong>New</strong> <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong> – eine Einführung .......................................................... 4<br />
2.2 Das Zentrum-Peripherie-Modell ...................................................................................... 5<br />
2.2.1 Die Annahmen des Zentrum-Peripherie-Modells ..................................................... 5<br />
2.2.2 Zentrale Prozesse <strong>und</strong> Aussagen des Zentrum-Peripherie-Modells .......................... 7<br />
3 <strong>Migration</strong> im Zentrum-Peripherie-Modell ............................................................................ 11<br />
3.1 Zu Motiven der <strong>Migration</strong> im Zentrum-Peripherie-Modell ........................................... 11<br />
3.2 Zu regionalen Wirkungen von <strong>Migration</strong> im Zentrum-Peripherie-Modell .................... 17<br />
4 Beispiel zur Umsetzung der migrationstheoretischen Erkenntnisse des Zentrum-Peripherie-<br />
Modells im Weltentwicklungsbericht 2009.......................................................................... 22<br />
5 Kritische Würdigung <strong>und</strong> alternative Ansätze ...................................................................... 24<br />
5.1 Die Grenzen des Modells ............................................................................................... 24<br />
5.2 Alternative migrationstheoretische Ansätze ................................................................... 26<br />
6 Fazit ....................................................................................................................................... 28<br />
Literaturverzeichnis .................................................................................................................. 29<br />
Internetquellenverzeichnis ....................................................................................................... 30<br />
Abbildungsverzeichnis<br />
Abbildung 1: Transportkosten <strong>und</strong> räumliche Gleichgewichte im Z-P-Modell, Quelle:<br />
LITZENBERGER, T. 2006: Cluster <strong>und</strong> die <strong>New</strong> <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong>. Theoretische<br />
Konzepte, empirische Tests <strong>und</strong> Konsequenzen für Regionalpolitik in Deutschland. In:<br />
Europäische Hochschulschriften, Reihe V Volks- <strong>und</strong> Betriebswirtschaft, 3228, S. 91.<br />
Abbildung 2: Bifurkationsdiagramm des Z-P-Modells. Quelle: ebd., S. 39.<br />
Abbildung 3: Die kumulativen Prozesse im Z-P-Modell. Quelle: STERNBERG, R. 2001:<br />
<strong>New</strong> <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong> <strong>und</strong> Neue regionale Wachstumstheorie aus<br />
wirtschaftsgeographischer Sicht. In: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 45(3-4), S. 163.<br />
2
1 Einleitung<br />
In den vergangenen Jahren hat die <strong>Migration</strong> von Menschen auf der ganzen Welt stetig<br />
zugenommen (vgl. HAN 2005: 1). Kleinräumliche Land-Stadt-Wanderungen oder auch die<br />
<strong>Migration</strong> von wirtschaftlich schwachen Regionen in die ökonomisch attraktivsten Räume<br />
sind häufige Phänomene, deren Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen jedoch oft umstritten sind. Die<br />
starke Zunahme der <strong>Migration</strong> nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. CASTLES/MILLER 1998:<br />
4) hat „in der Wissenschaft dazu geführt, dass die <strong>Migration</strong> Gegenstand interdisziplinärer<br />
Forschung“ (HAN 2006: 3) geworden ist. Ziel dieser Forschung ist es unter anderem, die<br />
komplexen Prozesse der <strong>Migration</strong> <strong>und</strong> ihre Folgen in Theorien zu erläutern, um so auch eine<br />
Gr<strong>und</strong>lage für eine persistente <strong>und</strong> effektive <strong>Migration</strong>spolitik liefern zu können.<br />
Auch der Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman hat mit seiner „<strong>New</strong> <strong>Economic</strong><br />
<strong>Geography</strong>“ 1 <strong>und</strong> insbesondere mit dem in ihr enthaltenen Zentrum-Peripherie-Modell 2 einen<br />
Ansatz geliefert, in dem indirekt <strong>Migration</strong>sströme beschrieben <strong>und</strong> ihre Wirkungen auf die<br />
Herkunfts- <strong>und</strong> Zielregion erklärt werden. Doch das Modell von Krugman, das in erster Linie<br />
die Herausbildung <strong>und</strong> Dauerhaftigkeit von Zentrum-Peripherie-Strukturen, also regionalen<br />
Ungleichverteilungen von wirtschaftlichen Aktivitäten, erklären will, hat bislang kaum<br />
Aufmerksamkeit von <strong>Migration</strong>stheoretikern bekommen.<br />
Das Ziel dieser Arbeit ist es daher, zu untersuchen, welchen Beitrag das Z-P-Modell von<br />
Krugman zur Erklärung von <strong>Migration</strong>sströmen bzw. den Motiven von <strong>Migration</strong> <strong>und</strong> ihren<br />
regionalen Wirkungen leisten kann. Welche Schlüsse lassen sich aus seinen modellhaften<br />
Darstellungen für die realen Motive <strong>und</strong> regionalen Wirkungen von <strong>Migration</strong> ziehen?<br />
Allerdings sollen auch die Grenzen des Modells von Krugman aufgezeigt werden <strong>und</strong><br />
alternative theoretische Erklärungsansätze zur <strong>Migration</strong> vorgestellt werden.<br />
Dabei wird wie folgt vorgegangen: Zunächst wird sich die Arbeit der NEG widmen, wobei<br />
insbesondere das Z-P-Modell ausführlich erläutert wird (Kap. 2). Dabei werden sowohl die<br />
Prämissen, als auch zentrale Mechanismen des Modells dargestellt. Dies bildet die Gr<strong>und</strong>lage<br />
für das dritte Kapitel, in dem die Bedeutung von <strong>Krugmans</strong> Modell für die <strong>Migration</strong><br />
herausgearbeitet werden soll. Dabei wird es in erster Linie darum gehen herauszufinden,<br />
womit Krugman die Wanderung von Arbeitskräften begründet. In einem weiteren Schritt wird<br />
sein Modell in Bezug zu den regionalen Wirkungen von <strong>Migration</strong> gedeutet. Im vierten<br />
Kapitel wird auf Gr<strong>und</strong>lage des Weltentwicklungsberichts von 2009 hinterfragt, inwieweit die<br />
herausgearbeiteten Aussagen des Z-P-Modells zu <strong>Migration</strong> auch in der Realität anzuwenden<br />
1 Im Folgenden wird für den Begriff der <strong>New</strong> <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong> die Abkürzung NEG verwendet.<br />
2 Im Folgenden wird für den Begriff des Zentrum-Peripherie-Modells die Abkürzung Z-P-Modell verwendet.<br />
3
sind bzw. ob sie der Realität Stand halten. Eine ausführliche kritische Diskussion der<br />
Aussagekraft <strong>und</strong> Erklärungsleistung des Modells in Bezug auf <strong>Migration</strong>sprozesse erfolgt<br />
anschließend in Kapitel 5.1. Da es zudem in der wissenschaftlichen Debatte viele sehr<br />
unterschiedliche Ansätze zur Erklärung von <strong>Migration</strong>smotiven <strong>und</strong> den regionalen<br />
Wirkungen der <strong>Migration</strong> gibt, sollen in einem weiteren Unterkapitel kurz weitere Ansätze<br />
aufgezeigt werden. Abschließend wird überprüft, ob die Fragestellung <strong>und</strong> Zielsetzung der<br />
Arbeit beantwortet wurde <strong>und</strong> wie die gewonnenen Erkenntnisse bewertet werden können.<br />
2 <strong>Krugmans</strong> <strong>New</strong> <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong><br />
2.1 Die <strong>New</strong> <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong> – eine Einführung<br />
Das vom heutigen Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman entwickelte Z-P-Modell bildet<br />
den Ursprung der NEG 3 , die oft als die „Wiederentdeckung des Raumes in den<br />
Wirtschaftswissenschaften“ (SCHÄTZL 2003: 201 <strong>und</strong> vgl. dazu KRUGMAN 2000: 59)<br />
bezeichnet wird. Ziel dieses Modells ist es räumliche Agglomerationsprozesse zu erklären.<br />
Wie der Wirtschaftswissenschaftler Litzenberger schreibt, ermöglicht es das Z-P-Modell<br />
„erstmals, zirkuläre, sich selbst verstärkende räumliche Entwicklungen wirtschaftlicher<br />
Aktivitäten mathematisch formalisiert <strong>und</strong> mikroökonomisch vollständig f<strong>und</strong>iert abzubilden“<br />
(LITZENBERGER 2006: 1). Durch diese Formalisierung konnten bereits bestehende<br />
Erkenntnisse beispielsweise aus der Polarisationstheorie von HIRSCHMAN (1967) (vgl.<br />
STERNBERG 2001: 160) den Mainstream in der Ökonomie erreichen (vgl. OSMANOVIC<br />
2000: 241f. <strong>und</strong> DYMSKI 1996: 445f.), wodurch die NEG zu ihrem großen Bekanntheitsgrad<br />
kommen konnte.<br />
Das gr<strong>und</strong>legende Z-P-Modell von Krugman war dann auch Ausgangspunkt zahlreicher<br />
Erweiterungen. 4 Diese sind trotz teils großer Unterschiede alle der Auffassung, dass die<br />
regionale oder lokale Ballung ökonomischer Aktivitäten nur durch steigende Skalenerträge,<br />
positive Externalitäten (Lokalisations-, Urbanisations- <strong>und</strong> Verflechtungsvorteile) <strong>und</strong><br />
3<br />
In der Forschungsliteratur ist der Begriff der NEG jedoch auch umstritten. So kritisieren vor allen Dingen<br />
renommierte Wirtschaftsgeographen, wie R. Martin (vgl. dazu ausführlich MARTIN 1999: 65-91) oder auch die<br />
deutschen Wirtschaftsgeographen H. Bathelt oder E. Kulke (vgl. dazu BATHELT 2001 <strong>und</strong> KULKE 2004: 1-<br />
16), dass die von Krugman begründete neue Schule keinesfalls eine „neue“ Wirtschaftsgeographie ist, da sie „im<br />
wesentlichen bekannte Ideengebäude der Regional Science <strong>und</strong> der Raumwirtschaftslehre“ (BATHELT 2001:<br />
108) aufgreift. Bathelt <strong>und</strong> Martin schlagen als alternative Bezeichnung der NEG, die ihrer Meinung nach sehr<br />
viel mehr Ökonomie, <strong>und</strong> weniger Geographie ist, den Begriff „geographical economics“ vor. Im Folgenden<br />
wird aber der im Allgemeinen anerkannte Begriff der NEG für <strong>Krugmans</strong> Schule verwendet.<br />
4<br />
Beispiele hierfür sind die Theorie zur Lokalisation, bzw. der kleinräumigen Industriespezialisierung, von<br />
Krugman, die Mehrregionen-Modelle von Fujita, Venables <strong>und</strong> Krugman, oder Modelle, in denen alternative<br />
Zentripetal- oder Zentrifugalkräfte eingeführt wurden, beispielsweise durch Puga oder Helpman. Eine<br />
Überblicksdarstellung der verschiedenen Ansätze bietet LITZENBERGER 2006: 62-79.<br />
4
unvollständigen Wettbewerb als entscheidende Determinanten zu erklären sei (vgl.<br />
STERNBERG 2001: 160).<br />
Die Fokussierung auf diese Determinanten <strong>und</strong> die gleichzeitige mathematisch exakte<br />
Formalisierung durch sogenannte „modelling tricks“ (vgl. KRUGMAN 1998: 164f. <strong>und</strong><br />
KRUGMAN 2008: 198ff) sind gr<strong>und</strong>legende Kennzeichen der NEG, die sie von anderen<br />
Disziplinen der Wirtschaftswissenschaft <strong>und</strong> der Wirtschaftsgeographie abgrenzen.<br />
2.2 Das Zentrum-Peripherie-Modell<br />
Das Z-P-Modell wurde von Paul Krugman in der formalisierten Version des „Core-Periphery-<br />
Model“ erstmals im Jahr 1991 eingeführt. 5 Es zeigt, wie das Zusammenwirken von steigenden<br />
Skalenerträgen (auf Firmenlevel), Transportkosten <strong>und</strong> Faktormobilität (oder Nachfrage) eine<br />
räumliche Wirtschaftsstruktur heraus formen <strong>und</strong> verändern kann (vgl.<br />
FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 61). Im Folgenden werden zuerst die Annahmen<br />
<strong>und</strong> Prämissen <strong>und</strong> anschließend die Prozesse im Modell erläutert.<br />
2.2.1 Die Annahmen des Zentrum-Peripherie-Modells<br />
Dem Z-P-Modell von Krugman liegen vereinfachende Annahmen zu Gr<strong>und</strong>e, die es<br />
ermöglichen sollen ein in sich schlüssiges Gleichgewichtsmodell zu formulieren. Die<br />
wichtigsten Prämissen sind dabei Folgende:<br />
(1) Es wird eine Wirtschaft betrachtet, in der es nur zwei Regionen, R1 <strong>und</strong> R2, gibt. Dabei<br />
handelt es sich um sogenannte Ein-Punkt-Ökonomien, also ohne intraregionale<br />
Differenzierung. Außerdem existieren lediglich zwei Sektoren, Landwirtschaft <strong>und</strong><br />
Industrie. 6 Jeder dieser Sektoren setzt nur eine einzige Ressource ein, Bauern <strong>und</strong><br />
Arbeiter 7 , die insgesamt in der Wirtschaft in einem unveränderlichen Angebot zur<br />
Verfügung stehen (vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES: 61f.). Die Bauern <strong>und</strong><br />
Arbeiter, also die Arbeitnehmer, sind zugleich auch die Konsumenten <strong>und</strong> die gesamte<br />
Bevölkerung. Sie konsumieren nur an dem Ort, an dem sie arbeiten <strong>und</strong> wohnen. Ein Staat<br />
existiert nicht (vgl. LITZENBERGER 2006: 25).<br />
5 Erstmals stellte Krugman sein Modell in seinem Beitrag „Increasing Returns and <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong>“ in der<br />
Zeitschrift „The Journal of Political Economy“ vor (vgl. dazu ausführlich KRUGMAN 1991b). In seinem Buch<br />
„<strong>Geography</strong> and Trade“, das noch im selben Jahr erschien, gibt er sein Z-P-Modell sowohl argumentativ wieder<br />
(vgl. KRUGMAN 1991a: 14-25), als auch in der formalisierten Version des vollständigen mathematischen<br />
Gleichgewichtsmodells (vgl. KRUGMAN 1991a: 101-113).<br />
6 Natürlich muss der Begriff „Landwirtschaft“ nicht immer wörtlich genommen werden; die den Sektor<br />
definierende Charakteristik ist, dass es der „residuale“, durch vollständigen Wettbewerb geprägte Sektor ist, der<br />
den Gegenpart zum verarbeitenden Sektor darstellt, in dem steigende Skalenerträge <strong>und</strong> unvollständiger<br />
Wettbewerb stattfinden (vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 45).<br />
7 Es besteht keine intersektorale Mobilität, d.h. Bauern können nur in der Landwirtschaft eingesetzt werden,<br />
Arbeiter nur in dem industriellen Sektor.<br />
5
(2) Die landwirtschaftliche Produktion findet unter vollständigem Wettbewerb <strong>und</strong><br />
konstanten Skalenerträgen statt, d.h. der Output steigt proportional zum Input. Die in der<br />
Landwirtschaft Tätigen sind immobil <strong>und</strong> exogen zu gleichen Teilen auf die beiden<br />
Regionen verteilt (vgl. KRUGMAN 1991: 15). Es wird ein einziges homogenes Gut<br />
produziert. Für Agrargüter fallen keine Transportkosten an <strong>und</strong> die Löhne der Bauern sind<br />
in R1 <strong>und</strong> R2 gleich (vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES: 63).<br />
(3) Die Industrieunternehmen stellen heterogene Produkte her. Ihre Produktion erfolgt unter<br />
monopolistischer Konkurrenz 8 (vgl. SCHÄTZL 2003: 207). Sie ist geprägt durch<br />
steigende Skalenerträge auf Firmenebene. 9 Diese resultieren aus einem<br />
mengenunabhängigen Fixkostenblock bei linearen variablen Kosten<br />
(Fixkostendegression) (vgl. SCHÄTZL 2003: 207). Die industriellen Arbeitskräfte sowie<br />
die Unternehmen sind räumlich mobil. Die Arbeitskräfte wandern in Richtung der<br />
höheren Reallöhne. Es wird den Arbeitern Rationalität <strong>und</strong> Nutzenmaximierung<br />
unterstellt, den Unternehmen Gewinnmaximierung (wobei jedoch das gesamte<br />
erwirtschaftete Einkommen an die Bauern <strong>und</strong> Arbeiter weitergegeben wird). Als<br />
Ausgangssituation wird die Gleichverteilung der Arbeitskräfte <strong>und</strong> Unternehmen auf die<br />
beiden Regionen angenommen. Die Anzahl der industriellen Arbeitskräfte ist proportional<br />
zu der Anzahl der Unternehmen am Standort (vgl. KRUGMAN 1991: 16).<br />
(4) Im Industriesektor herrscht Produktvielfalt, d.h. jedes Unternehmen produziert genau eine<br />
Produktvariante, die auch nur von diesem einen Unternehmen produziert wird. Jedes<br />
Unternehmen hat zudem die gleiche Kosten- <strong>und</strong> Produktionsfunktion (vgl.<br />
LITZENBERGER 2006: 28).<br />
(5) Für den interregionalen Transport werden Transportkosten angenommen. Wird ein<br />
Industriegut nur an einem Standort produziert, müssen diese zur Belieferung der jeweils<br />
anderen Region eingerechnet werden. Findet ein Standortsplitting statt, müssen hingegen<br />
die Fixkosten zweimal angerechnet werden. (vgl. BATHELT/GLÜCKLER 2002: 80)<br />
(6) Die Nachfrage für jedes Industriegut ist streng proportional zur Bevölkerungszahl (vgl.<br />
KRUGMAN 1991: 16). Den Konsumenten werden identische Konsumpräferenzen der<br />
8 Die mathematische Formalisierung der monopolistischen Konkurrenz <strong>und</strong> der steigenden Skalenerträge erfolgt<br />
auf Gr<strong>und</strong>lage des Dixit-Stiglitz-Modells der monopolistischen Konkurrenz. Vgl. dazu ausführlich<br />
FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 45-59 sowie DIXIT/STIGLITZ 1977.<br />
9 Einen guten Überblick zu monopolistischer Konkurrenz <strong>und</strong> steigenden Skalenerträgen bieten<br />
KRUGMAN/OBSTFELD (2006: 160-173).<br />
6
Produktvarianten unterstellt (vgl. SCHÄTZL 2003: 207). Die Produktvarianten haben eine<br />
konstante Substitutionselastizität 10 (größer als eins).<br />
Aus diesen gr<strong>und</strong>legenden Annahmen ergeben sich die im folgenden Kapitel beschriebenen<br />
Prozesse des Z-P-Modells.<br />
2.2.2 Zentrale Prozesse <strong>und</strong> Aussagen des Zentrum-Peripherie-Modells<br />
Die zentrale Fragestellung des Zwei-Regionen-Modells von Krugman ist, ob <strong>und</strong> unter<br />
welchen Umständen es in einer wie oben konstruierten Wirtschaft zu einem asymmetrischen<br />
Gleichgewicht mit Divergenz, also zu räumlicher Agglomeration, kommt <strong>und</strong> wann zu einem<br />
symmetrischen Gleichgewicht mit Konvergenz, also Dispersion der wirtschaftlichen<br />
Aktivitäten (vgl. STERNBERG 2001: 163). Nach Krugman hängt dies von der Ausprägung<br />
der zentripetalen, also der Agglomeration stärkenden Kräfte, <strong>und</strong> der zentrifugalen, die<br />
Peripherie stärkenden Kräfte, ab (KRUGMAN 1991a: 105). 11 Überwiegen die zentrifugalen<br />
Kräfte, wird es zu einer Gleichverteilung der Industrie auf die beiden Regionen kommen bzw.<br />
wird diese beibehalten. Überwiegen aber die zentripetalen Kräfte, „wird ein zirkulär<br />
verursachter kumulativer Entwicklungsprozess in Gang gesetzt, der zum Entstehen <strong>und</strong> der<br />
sukzessiven Verstärkung interregionaler Ungleichgewichte bis hin zur regionalen Polarisation<br />
führt“ (STERNBERG 2001: 163). In welcher der beiden Regionen <strong>und</strong> zu welchem Zeitpunkt<br />
ein solcher kumulativer Prozess einsetzt, hängt bei Krugman von sogenannten historischen<br />
Zufällen ab (vgl. KRUGMAN 1991: 9ff). Wenn solch ein Zufall den Reallohn in einer Region<br />
auch nur minimal ansteigen lässt, wird es zu der Wanderung mindestens eines Arbeiters<br />
dorthin kommen, wodurch bereits der selbstverstärkende Prozess der industriellen Ballung<br />
eingeleitet wird. Denn es genügt ein „infinitesimaler Anfangsvorteil“, um zu bestimmen,<br />
„welche Region sich zum industriellen Zentrum <strong>und</strong> welche sich zur Peripherie entwickelt.<br />
Das langfristige Gleichgewicht ist damit pfadabhängig“ (LITZENBERGER 2006: 15). Der<br />
kumulative, zirkuläre Wirkungsmechanismus, der durch die Wanderung eines Arbeiters<br />
ausgelöst wird, führt dann in der Zielregion zu einer größeren Anzahl an<br />
Industrieunternehmen, einem Wachstum der Lohnhöhe, der Zuwanderung von weiteren<br />
Arbeitskräften <strong>und</strong> der Erhöhung der Zahl der Konsumenten (vgl. STERNBERG 2001:<br />
163f.). Es entwickelt sich also eine räumliche Z-P-Struktur.<br />
In <strong>Krugmans</strong> Modell kommt es jedoch nur dann zu einem langfristigen Gleichgewicht mit Z-<br />
P-Struktur, wenn der Reallohn in der Region größer ist, in der auch mehr Arbeiter <strong>und</strong><br />
10<br />
Die Substitutionselastizität gibt an, um wie viel Prozent die Nachfrage nach einer Produktvariante zu Gunsten<br />
der anderen Varianten sinkt, wenn der Preis dieser Produktvariante um ein Prozent steigt.<br />
11<br />
Dabei bezieht sich Krugman bei der Betrachtung von Agglomerationsvorteilen auf Aussagen von Alfred<br />
Marshall aus dem Jahr 1920. Vgl. dazu FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 4ff.<br />
7
Unternehmen vorhanden sind (vgl. STERNBERG 2001: 163). Die Reallohnhöhe wiederum<br />
hängt von mehreren Wirkungszusammenhängen ab, die die gr<strong>und</strong>legenden Effekte des Z-P-<br />
Modells darstellen. Dies sind der Heimmarkteffekt 12 (Nominallöhne sind umso höher, je<br />
größer der lokale Markt ist), der Preisindexeffekt 13 (Reallöhne steigen mit der Größe des<br />
lokalen Marktes, weil der Anteil der preiswerteren lokal produzierten Güter größer ist) sowie<br />
der Wettbewerbseffekt, der aber zentrifugal wirkt, da wegen geringerer Wettbewerbsintensität<br />
in der Peripherie höhere Preise gefordert <strong>und</strong> höhere Löhne gezahlt werden können (vgl.<br />
STERNBERG 2001: 163). 14 Der Heimmarkt- <strong>und</strong> Preisindexeffekt wirken hingegen<br />
zentripetal, da sie dazu führen, dass mit zunehmender Größe des lokalen Marktes die<br />
Reallöhne steigen <strong>und</strong> es so zu den kumulativen Prozessen kommt, die die Konzentration der<br />
industriellen Arbeitskräfte <strong>und</strong> Unternehmen in einer Region zur Folge haben.<br />
Das Ausmaß der drei genannten Effekte hängt proportional von den Transportkosten ab. Ob<br />
die zentripetalen oder die zentrifugalen Kräfte überwiegen, wird ebenfalls durch die Höhe der<br />
Transportkosten bestimmt, aber auch durch die Substituierbarkeit der Gütervarianten, den<br />
Anteil der Industriegüter am Preisindex <strong>und</strong> durch die Mobilität der Arbeitskräfte (vgl.<br />
STERNBERG 2001: 164). Die Ausprägung dieser exogenen Modellvariablen entscheidet<br />
demnach darüber, ob es zur Herausbildung einer Z-P-Struktur oder zur Gleichverteilung der<br />
industriellen Produktion im Raum kommt. So nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine<br />
Z-P-Struktur entwickelt, mit der räumlichen Mobilität der Arbeitskräfte <strong>und</strong> dem Anteil der<br />
Industriegüter am Preisindex zu <strong>und</strong> sinkt mit einer höheren Substituierbarkeit der<br />
Produktvarianten <strong>und</strong> mit der Höhe der Transportkosten. 15 Eine genauere Betrachtung des<br />
Einflusses der Transportkosten auf die Modellprozesse zeigt, dass es weitere entscheidende<br />
Implikationen gibt <strong>und</strong> die Transportkosten im Modell eine zentrale Position einnehmen (vgl.<br />
MAIER/TÖDTLING 2002: 119f.). Ihr Niveau entscheidet nämlich über die verschiedenen<br />
Möglichkeiten von kurz- <strong>und</strong> langfristigen Gleichgewichten, die wiederum die Herausbildung<br />
einer Z-P-Struktur oder einer dispersen Verteilung bestimmen. Unter kurzfristigen<br />
Gleichgewichten versteht Krugman die Situationen, in denen der regionale Arbeits- <strong>und</strong><br />
Gütermarkt geräumt ist, d.h. dass Nachfrage <strong>und</strong> Angebot gleich sind. Nur bei kurzfristigen<br />
12 Dies wird von Krugman auch als backward linkage (Rückwärtskopplungsverknüpfung) bezeichnet (vgl.<br />
FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 64).<br />
13 Dies wird auch als forward linkage (Vorwärtskopplungsverknüpfung) bezeichnet (vgl.<br />
FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 63).<br />
14 Die Prozesse, die zur Herausbildung des Heimmarkt-, Preisindex- <strong>und</strong> Wettbewerbseffekts führen, werden in<br />
Kap. 3 ausführlich erläutert.<br />
15 Weitere Aspekte, die Agglomerationsprozesse verstärken, sind z.B. eine große Bedeutung von steigenden<br />
Skalenerträgen oder ein größerer Anteil an footloose industries, also Industrien ohne Bindung an Rohstofforte<br />
(vgl. dazu BATHELT/GLÜCKLER 2002: 80f.).<br />
8
Gleichgewichten entscheiden Haushalte bzw. Unternehmen ad hoc, welche Region ihnen den<br />
größeren Nutzen bzw. die höheren Gewinne bietet (vgl. LITZENBERGER 2006: 26). Hier<br />
entscheidet sich also, ob <strong>und</strong> in welche Richtung eine Wanderung stattfindet. „Ist die<br />
Wanderungsrichtung einmal eingeschlagen, kommt die Bewegung erst im langfristigen<br />
Gleichgewicht zum Erliegen, in dem sich die Industrie entweder symmetrisch auf beide<br />
Regionen verteilt oder in einer der beiden Regionen konzentriert“ (LITZENBERGER 2006:<br />
26). Sobald die Wanderung dauerhaft zum Erliegen kommt, wird von einem langfristigen<br />
stabilen Gleichgewicht gesprochen.<br />
Die Abbildung 1 zeigt drei Graphen, die<br />
jeweils für hohe, mittlere <strong>und</strong> niedrige<br />
Transportkosten T die Reallohndifferenzen<br />
ωR1 – ωR2 als Funktion von λ, dem Anteil der<br />
Industrie(-Arbeiter) in R1, darstellen. 16 In allen<br />
drei Fällen ist das Reallohndifferential für λ =<br />
0.5 Null. 17 Ein Vergleich der drei Graphen<br />
zeigt, dass sich für verschiedene Werte der<br />
Transportkosten die Kurvenverläufe der<br />
kurzfristigen Gleichgewichte verändern <strong>und</strong><br />
drei Arten langfristiger Gleichgewichte<br />
entstehen (in der Abb. repräsentiert jeder<br />
Punkt der Kurven eine Situation, in der ein<br />
kurzfristiges Gleichgewicht herrscht <strong>und</strong> λ<br />
kurzfristig konstant ist; aber nur so lange bis<br />
der erste Arbeiter zu wandern beginnt (vgl.<br />
LITZENBERGER 2006: 90)). Das<br />
Gleichgewicht GP1 tritt ein, wenn die<br />
Reallöhne in beiden Regionen gleich sind <strong>und</strong><br />
Abb. 1: Transportkosten <strong>und</strong> räumliche<br />
Gleichgewichte im Z-P-Modell.<br />
Quelle: LITZENBERGER 2006: 91.<br />
eine Zunahme (Abnahme) der Anzahl der Wirtschaftssubjekte in R1 den Lohn dort sinken<br />
(steigen) lässt. Die räumliche Implikation ist eine disperse Gleichverteilung der Industrie. GP2<br />
ist ein asymmetrisches Gleichgewicht mit der gesamten Konzentration von Industrie in R2,<br />
also λ = 0. Der Reallohn ist in R1 geringer als in R2. Genau das Gegenteil davon bildet dann<br />
das dritte langfristige Gleichgewicht GP3 (vgl. LITZENBERGER 2006: 92).<br />
16<br />
Analog könnte dies auch ausgehend von R2 erfolgen.<br />
17<br />
Dies lässt sich dadurch erklären, dass bei „unterstellter Identität der beiden Regionen […] bei gleichverteilten<br />
Firmen identische Reallöhne resultieren“ (PFLÜGER 2007: 3) müssen.<br />
9
Wird nun noch einmal der Einfluss der Transportkosten auf die Stabilität der Gleichgewichte<br />
untersucht, ergeben sich folgende Schlüsse: Bei hohen Transportkosten ist nur eine<br />
Dispersion der wirtschaftlichen Aktivität ein stabiles Gleichgewicht, denn würde ausgehend<br />
von λ = 0.5 als Anfangssituation eine Arbeitskraft nach R1 wandern, würde das<br />
Reallohndifferential negativ werden (Transportkosten der nach R2 zu transportierenden Güter<br />
überwiegen die Vorteile der größeren Nachfrage in R1), <strong>und</strong> die Arbeitskraft würde in R1<br />
einen geringeren Reallohn erhalten als in R2, was ein sofortiger Anreiz für Rückwanderung<br />
wäre (vgl. PFLÜGER 2007: 3f.). Somit ist in diesem Fall die Gleichverteilung im Raum<br />
stabil.<br />
Bei niedrigen Transportkosten „verläuft das Differential in λ = 0,5 steigend, das<br />
Gleichgewicht bei Dispersion ist hier instabil, allerdings sind die Randgleichgewichte nun<br />
stabil: bei λ =1 ist das Nutzendifferential positiv, eine Abwanderung ins Ausland also nicht<br />
nutzensteigernd, eine weitere Zuwanderung andererseits aber nicht möglich; bei λ = 0 ergibt<br />
sich genau die gegenteilige Situation“ (PFLÜGER 2007: 4).<br />
Ein komplexeres Bild ergibt sich bei den mittleren Transportkosten, da der Graph sowohl<br />
steigend als auch fallend verläuft <strong>und</strong> sich drei stabile Gleichgewichte GP1, GP2 <strong>und</strong> GP3<br />
ergeben. Die Argumentation verläuft analog zu den eben beschriebenen Fällen.<br />
Die Zusammenfassung der Aussagen der drei Graphen bildet das Bifurkationsdiagramm, das<br />
in Abbildung 2 dargestellt ist <strong>und</strong><br />
die räumlichen Implikationen des<br />
Modells abbildet. Auf der Abzisse<br />
sind die Transportkostenniveaus T<br />
abgetragen <strong>und</strong> auf der Ordinate<br />
die räumlichen Gleichgewichte,<br />
ausgedrückt durch den Anteil der<br />
industriellen Arbeitskräfte λ.<br />
Durchgezogene Linien<br />
Abb. 2: Bifurkationsdiagramm des Z-P-Modells.<br />
Quelle: LITZENBERGER 2006: 39.<br />
symbolisieren stabile Gleichgewichte, gestrichelte repräsentieren instabile. Das<br />
Bifurkationsdiagramm zeigt, dass bei genügend hohen Transportkosten das einzige stabile<br />
Gleichgewicht ein symmetrisches, disperses Gleichgewicht ist, in dem die Industrie<br />
gleichmäßig auf beide Regionen verteilt ist (FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 68).<br />
Wenn die Transportkosten unter ein bestimmtes kritisches Niveau, den sogenannten sustain<br />
point S (Erhalte-Punkt), sinken, kommen zwei stabile Gleichgewichte hinzu, <strong>und</strong> zwar jeweils<br />
die Konzentration der gesamten Industrie in einer der beiden Regionen. T(S) ist also die Höhe<br />
10
der Transportkosten, unterhalb der eine Z-P-Struktur erhalten bleiben kann, wenn sie einmal<br />
entstanden ist. Solange die Transportkosten noch über dem sogenannten break point B<br />
(Bruch-Punkt) liegen, gibt es drei stabile Gleichgewichte, ein symmetrisches <strong>und</strong> zwei<br />
asymmetrische. Zudem gibt es multiple instabile Gleichgewichte (durch die gestrichelten<br />
Linien zwischen T(S) <strong>und</strong> T(B) symbolisiert). Bei T(B) > T > T(S) können „temporäre<br />
Schocks eine dauerhafte Veränderung bewirken“ (EHRENFELD 2004: 13). Wird der Bruch-<br />
Punkt erreicht, wird die Symmetrie endgültig gebrochen, d.h. das symmetrische<br />
Gleichgewicht wird abrupt destabilisiert (vgl. PFLÜGER 2007: 4). Bei Transportkosten<br />
niedriger als T(B) ist Dispersion also nur noch ein instabiles Gleichgewicht <strong>und</strong> es entsteht<br />
„auf 'katastrophische Weise' […] vollständige Agglomeration in einer Region“ (PFLÜGER<br />
2007: 4).<br />
Das Bifurkationsdiagramm beantwortet demzufolge die anfangs des Kapitels aufgeworfene<br />
zentrale Fragestellung, wann es zu symmetrischen <strong>und</strong> wann es zu asymmetrischen<br />
räumlichen Gleichgewichten kommt.<br />
3 <strong>Migration</strong> im Zentrum-Peripherie-Modell<br />
Zentrales Ziel der vorliegenden Arbeit ist es herauszufinden, welcher Nutzen sich aus dem Z-<br />
P-Modell für die <strong>Migration</strong>sforschung ziehen lässt. Dabei wird in Anlehnung an die von<br />
SCHÄTZL (2003: 104) formulierte Aufgabe einer Theorie interregionaler<br />
Arbeitskräftemobilität untersucht, welche Ansätze für die Erklärung von <strong>Migration</strong>smotiven<br />
<strong>und</strong> der Intensität, Richtung <strong>und</strong> Reichweite von Mobilitätsvorgängen, sowie von regionalen<br />
Wirkungen von <strong>Migration</strong> dem Modell <strong>Krugmans</strong> zu entnehmen sind.<br />
<strong>Migration</strong> kann im Folgenden nach SCHÄTZL (2003: 104) als „jede Veränderung des<br />
Produktionsfaktors Arbeit von einem Raumpunkt (Region) zu einem anderen Raumpunkt<br />
(Region) verstanden werden“. Die durch äußere Zwänge hervorgerufene <strong>Migration</strong>, also z.B.<br />
die Wanderung von Flüchtlingen, findet in <strong>Krugmans</strong> Modell keine Berücksichtigung.<br />
3.1 Zu Motiven der <strong>Migration</strong> im Zentrum-Peripherie-Modell<br />
Schon in seinen Annahmen (vgl. Kap. 2.2.1) führt Krugman das in seinem Modell zentrale<br />
Motiv für eine Wanderungsentscheidung von industriellen Arbeitskräften ein: Er nimmt an,<br />
dass Arbeiter in Richtung der höheren Reallöhne wandern, <strong>und</strong> zwar umso schneller je größer<br />
die derzeitige Reallohndifferenz ist (vgl. SCHMUTZLER 1999: 361). Die Reallohndifferenz<br />
zwischen Herkunfts- <strong>und</strong> Zielregion ist also für Krugman das entscheidende Motiv zur<br />
<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> gibt gleichzeitig die Richtung der Mobilitätsvorgänge an.<br />
11
Zunächst ist festzustellen, dass das Modell von Krugman lediglich Aussagen zu den Motiven<br />
von industriellen Arbeitskräften zulässt, da von vornherein eine <strong>Migration</strong> von<br />
landwirtschaftlich Tätigen ausgeschlossen wird. Hierbei wird davon ausgegangen, dass die<br />
Bauern an die Ressource Boden geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> daher immobil sind. Ebenfalls ausgeklammert<br />
werden Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor, da dieser im Modell nicht existiert (vgl.<br />
STERNBERG 2001: 175). Außerdem wird der potenzielle Migrant als homo oeconomicus<br />
angesehen, der den möglichen Nutzen in der Zielregion mit dem derzeitigen Nutzen in der<br />
Herkunftsregion ad hoc rational abwägt <strong>und</strong> darauf basierend eine <strong>Migration</strong>sentscheidung<br />
trifft.<br />
Die Abwägung einer möglichen Wanderung wird im Modell nur unter bestimmten<br />
Voraussetzungen getroffen. Die Entscheidung, ob eine <strong>Migration</strong> pekuniäre Vorteile, bzw.<br />
größeren Nutzen als der Verbleib in der derzeitigen Region, bringt oder nicht, also die<br />
Entscheidung darüber ob eine Wanderung erfolgt oder nicht, wird nämlich nur dann<br />
überhaupt getroffen, wenn zuvor der Arbeits- <strong>und</strong> Gütermarkt geräumt ist, wenn also ein<br />
kurzfristiges Gleichgewicht herrscht. Nur dann treffen Arbeiter ad hoc, aus der momentanen<br />
Situation heraus <strong>und</strong> demnach ausschließlich mit dem Wissen über die derzeitigen<br />
wirtschaftlichen Verhältnisse, eine Wanderungsentscheidung. 18<br />
Nach diesen Vorbemerkungen kann das Wanderungsmotiv der Reallohndifferenz im Detail<br />
beleuchtet werden. Dabei stellt sich die Frage, welche Faktoren die Reallöhne <strong>und</strong> damit auch<br />
die Wanderungsentscheidung der Arbeiter beeinflussen <strong>und</strong> welche Faktoren also indirekt<br />
ebenfalls ein Motiv bzw. ein Anreiz zur <strong>Migration</strong> sind.<br />
Der Reallohn resultiert im Modell aus den Nominallöhnen, die um die Lebenshaltungskosten<br />
bereinigt werden. Er wird üblicherweise als die Kaufkraft eines St<strong>und</strong>enlohns, bzw. als der<br />
Nominallohn dividiert durch die Lebenshaltungskosten definiert (vgl. SAMUELSON 2007:<br />
351). Die Nominallöhne wiederum ergeben sich, vereinfacht gesagt, aus den Gewinnen, die<br />
die Unternehmen in der jeweiligen Region erzielen können, da diese direkt <strong>und</strong> vollständig an<br />
die Arbeiter weitergegeben werden (vgl. Annahme (4) in Kap. 2.2.1). Sie sind umso höher, je<br />
höher die Einkommen an den Märkten der Unternehmen sind, je besser der Zugang des<br />
Unternehmens zu den Märkten ist <strong>und</strong> je weniger Wettbewerb am Markt herrscht<br />
(FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 52f.). Der Preisindex, der die<br />
Lebenshaltungskosten darstellt, sinkt mit zunehmender Anzahl an lokal produzierten Gütern,<br />
sodass insgesamt die Reallöhne zunehmen, wenn die Anzahl der in einer Region vorhandenen<br />
18 Die ad-hoc-Dynamik, die viele Schwächen hat, ist der mathematischen Formalisierung, bzw. Modellierung<br />
geschuldet (vgl. LITZENBERGER 1999: 28).<br />
12
Unternehmen zunimmt, bzw. je größer der lokale Markt ist. Dies wird als Preisindexeffekt<br />
bezeichnet. Wegen dieses Effektes wird die Region mit einem größeren Industrieanteil<br />
attraktiver <strong>und</strong> zieht somit Arbeiter an (vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 63). Im<br />
Zusammenhang mit dem Heimmarkteffekt (Nominallöhne steigen mit der Größe des lokalen<br />
Marktes) stellt dies einen Pull-Faktor dar, der Arbeiter dazu bewegt, in diese Region zu<br />
immigrieren. Jedoch kann eine große Anzahl von Unternehmen in einer Region auch zu<br />
höherer Konkurrenz, steigenden Preisen <strong>und</strong> negativen externen Effekten führen<br />
(Wettbewerbseffekt), die wiederum als Push-Faktoren in Richtung der Peripherie wirken, da<br />
der Nutzen bzw. der Reallohn durch diese negativen Effekte unter bestimmten Umständen in<br />
der peripheren Region höher ist <strong>und</strong> somit ebenfalls ein Motiv zur <strong>Migration</strong> darstellen kann.<br />
Anhand von <strong>Krugmans</strong> mathematischer Formulierung lassen sich die Einflussfaktoren auf die<br />
Bildung der Reallöhne, also indirekte <strong>Migration</strong>smotive, genauer erkennen. Dazu müssen<br />
zunächst die gr<strong>und</strong>legenden mathematischen Modellannahmen eingeführt werden (zu den<br />
folgenden Ausführungen zur mathematischen Formulierung <strong>und</strong> den aufgeführten Formeln<br />
vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 61-68): Im Modell wird der verarbeitende<br />
Sektor mit M bezeichnet, der Landwirtschaftssektor mit A. Zur Konstruktion der allgemeinen<br />
Lohngleichungen wird zunächst davon ausgegangen, dass es R Regionen gibt (dies wird<br />
später auf R = 2 reduziert). Die gesamte Wirtschaft zusammen hat L A Bauern <strong>und</strong> jede Region<br />
ist mit einem exogen gegebenen Teil dieser landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, bezeichnet mit<br />
ϕ, ausgestattet. Die industriellen Arbeitskräfte hingegen sind mobil. Der Anteil der Region r<br />
an dem gesamten Angebot an industriellen Arbeitern L M zu jedem beliebigen Zeitpunkt wird<br />
mit λr bezeichnet. Laut FUJITA/KRUGMAN/VENABLES (1999: 62) ist es zweckmäßig<br />
Einheiten zu wählen, sodass L M = µ <strong>und</strong> L A = 1 – µ (Symmetrie-Annahme). Die<br />
Transportkosten für Industriegüter werden gemäß der „iceberg“-Transportkosten nach<br />
SAMUELSON (1952) modelliert: Wenn eine Einheit von Gütern von Region r nach Region s<br />
transportiert wird, kommen nur 1/Trs Einheiten an, wobei Trs die Menge der versandten Güter<br />
pro angekommene Güter angibt (vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 49). 19 Beim<br />
Transport von Agrargütern fallen keine Kosten an. 20 Der Nominallohn der industriellen<br />
19<br />
Ein Zahlenbeispiel soll dies verdeutlichen: Angenommen, es werden 5 Einheiten eines Guts X in Region r<br />
abgesendet <strong>und</strong> nur 4 Einheiten kommen in der Zielregion s an. Dann ist Trs = 5/4. Damit ist aber 1/Trs = 1/(5/4)<br />
= 4/5. Es kommen also nur vier Fünftel der ursprünglich abgesendeten Menge an. Dadurch entstehen natürlich<br />
Kosten, weil weniger Produkte verkauft werden können als produziert wurden. Diese Kosten sollen die<br />
Transportkosten im Modell darstellen.<br />
20<br />
„Weil Agrargüter frei transportiert werden können <strong>und</strong> weil diese Güter mit konstanten Skalenerträgen<br />
produziert werden, haben die in der Landwirtschaft Tätigen überall die gleichen Löhne“ (eigene Übersetzung,<br />
vgl. im Original FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 62). Daher nutzen FUJITA et al. (1999) diese Löhne<br />
als Bezugsgröße <strong>und</strong> setzen den mit wr A bezeichneten Lohnsatz der Bauern in Region r gleich Eins.<br />
13
Arbeiter in Region r wird mit wr bezeichnet, die Reallöhne analog dazu mit ωr. Weiterhin<br />
wird der Mittelwert der Reallöhne als<br />
ῶ = Σr (λr · ωr) (3.1.1)<br />
definiert <strong>und</strong> es wird angenommen, dass die Wanderung der Arbeiter λr` (Veränderung des<br />
Anteils industrieller Arbeiter in Region r mit der Zeit) durch die folgende ad-hoc-Dynamik<br />
bestimmt wird:<br />
λr` = γ · (ωr – ῶ) · λr. (3.1.2)<br />
Die Wanderung der Arbeiter in die Region r hängt demzufolge direkt von der Differenz<br />
zwischen dem durchschnittlichen Reallohn in allen Regionen <strong>und</strong> dem Reallohn in der<br />
betrachteten Region ab <strong>und</strong> ist umso stärker, je deutlicher der dortige Reallohn über dem<br />
Mittelwert der Reallöhne liegt. Im Zwei-Regionen-Modell wird an Stelle der Differenz zum<br />
Mittelwert die Differenz zwischen den Reallöhnen der beiden Regionen gebildet. Die<br />
regionalen Reallöhne wiederum hängen von der Verteilung der Industrie ab.<br />
In seinem mathematischen Modell stellt Krugman ein kurzfristiges Gleichgewicht (welches<br />
die Voraussetzung für das Treffen einer Wanderungsentscheidung ist) durch die gleichzeitige<br />
Lösung von je vier regionalen Gleichungen, die das Einkommen, den Preisindex der<br />
Industriegüter, die Nominallöhne <strong>und</strong> die Reallöhne der industriellen Arbeiter von jeder<br />
Region angeben, dar (vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 63). Die<br />
Einkommensgleichung für eine Region r sieht wie folgt aus:<br />
Yr = µ · λr · wr + (1 – µ) · ϕr mit (3.1.3)<br />
µ = Anzahl Industriearbeiter insgesamt<br />
λr = Anteil der Industriearbeiter, die in der Region r arbeiten<br />
wr = Nominallohn der Industriearbeiter in Region r<br />
(1 – µ) = Anzahl der Bauern insgesamt<br />
ϕ = Anteil der Bauern, die in der Region r arbeiten<br />
Im speziellen Fall des Zwei-Regionen-Modells wird das Einkommen der beiden Regionen mit<br />
einigen Vereinfachungen 21 folgendermaßen definiert:<br />
Y1 = µ · λ · w1 + (1 – µ)/2 (3.1.4)<br />
<strong>und</strong> Y2 = µ · (1 – λ) · w2 + (1 – µ)/2 (3.1.5)<br />
Das Einkommen steigt also mit zunehmendem Anteil an Industriearbeitern <strong>und</strong> mit höheren<br />
Löhnen sowie mit einer größeren Anzahl an Industriearbeitern insgesamt in der Wirtschaft.<br />
21<br />
Da die Landwirtschaft gleich verteilt ist (exogen gegeben), muss der Anteil der Landwirtschaft nicht explizit<br />
angegeben werden, da beide Anteile ½ sind. Es gilt folgende Schreibweise: T = Transportkosten zwischen den<br />
Regionen; λ = Anteil der Region 1 an den industriellen Arbeitern insgesamt; (1 – λ) = Anteil der Region 2 an den<br />
industriellen Arbeitern insgesamt; µ = Anzahl der industriellen Arbeiter insgesamt; (1 – µ)/2 = Anzahl der<br />
landwirtschaftlichen Arbeiter in Region 1 oder Region 2.<br />
14
Der Preisindex für Industrieerzeugnisse an jedem Standort, den<br />
FUJITA/KRUGMAN/VENABLES (1999: 46-55) in zahlreichen Schritten herleiten, sieht in<br />
der vereinfachten Form wie folgt aus:<br />
Gr = [ Σs (λs · (ws · Tsr) 1-σ ] (1/1-σ) mit (3.1.6)<br />
λs = Anteil der Industriearbeiter, die in Region s arbeiten<br />
ws = Nominallohn der industriellen Arbeiter in Region s<br />
Tsr = Transportkosten zwischen Region s <strong>und</strong> r<br />
σ = Elastizität der Substitution zwischen den Produktvarianten 22<br />
Für den Zwei-Regionen-Fall ergibt sich folgende Gleichung:<br />
G1 = [λ · w1 1-σ + (1 – λ) · (w2· T) 1-σ ] 1/1-σ (3.1.7)<br />
<strong>und</strong> G2 = [λ · (w1 · T) 1-σ + (1 – λ) · w2 1-σ ] 1/1-σ (3.1.8)<br />
Anhand der Formel (3.1.6) ist zu erkennen, dass der Preisindex in r dazu neigt, niedriger zu<br />
sein, je höher der Anteil an Industrie in Regionen mit geringen Transportkosten zu r ist. Wird<br />
dies auf das Zwei-Regionen-Modell bezogen (vgl. Gleichungen (3.1.7) <strong>und</strong> (3.1.8)), ergibt<br />
sich folgende Beobachtung: „…gäbe es nur zwei Regionen, würde eine Verlagerung von<br />
Industrie in einer der beiden Regionen dazu neigen, vorausgesetzt alle anderen Bedingungen<br />
bleiben gleich, den Preisindex in dieser Region zu senken – <strong>und</strong> folglich würde dies die<br />
Region zu einem attraktiveren Ort für Industriearbeiter machen“ (eigene Übersetzung, im<br />
Original vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 63).<br />
Die Gleichung der Nominallöhne wird nun gegeben durch<br />
wr = [ Σs (Ys · Trs) 1-σ · Gs σ-1 ] (1/σ) (3.1.9)<br />
mit den schon bekannten Variablen <strong>und</strong> Indizes.<br />
Auch hier kann die Formel für den Fall der zwei Regionen umgeschrieben werden:<br />
w1 = [Y1 · G1 σ-1 + Y2 · G2 σ-1 · T 1-σ ] 1/σ (3.1.10)<br />
<strong>und</strong> w2 = [Y1 · G1 σ-1 · T 1-σ + Y2 · G2 σ-1 ] 1/σ (3.1.11)<br />
Die Gleichung (3.1.9) sagt aus, dass die Nominallöhne in Region r umso höher sind, je höher<br />
die Einkommen in anderen Regionen mit niedrigen Transportkosten zu r sind. In diesem Fall<br />
können Unternehmen es sich leisten, höhere Löhne zu zahlen, da sie guten Zugang zu einem<br />
großen Absatzmarkt haben. Auf den Zwei-Regionen-Fall bezogen sind die Nominallöhne in<br />
einer Region umso höher, je höher das Einkommen der Region ist, also je größer der lokale<br />
Absatzmarkt ist. Nominallöhne <strong>und</strong> Einkommen bedingen sich demnach gegenseitig.<br />
22<br />
Je niedriger σ ist, also je schlechter die Produktvarianten untereinander austauschbar sind, desto größer ist die<br />
Reduktion des Preisindexes bei einem Anstieg der lokal produzierten Arten. Denn, wenn die Arten leichter<br />
substituierbar sind, ist die Konkurrenz (also der Wettbewerbseffekt) stärker ausgeprägt, da eine steigende Anzahl<br />
von Produktvarianten dann die Nachfragekurve deutlicher nach unten verschiebt <strong>und</strong> der Verkauf jeder einzelnen<br />
Art sinkt. Vgl. zum Einfluss <strong>und</strong> der Modellierung der Substitution ausführlich:<br />
FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 46-49.<br />
15
Schließlich werden die Reallöhne, die das entscheidende Wanderungsmotiv für die<br />
industriellen Arbeiter darstellen, durch die Gleichung<br />
ωr = wr · Gr -µ 23 (3.1.12)<br />
definiert. Analog ergibt sich für den Zwei-Regionen-Fall<br />
ω1 = w1 · G1 -µ (3.1.13)<br />
<strong>und</strong> ω2 = w2 · G2 -µ . (3.1.14)<br />
Die Reallöhne entstehen also dadurch, dass die Nominallöhne durch den<br />
Lebenshaltungskosten-Index (bzw. Preisindex) gebremst werden.<br />
Die oben angeführten Gleichungen zeigen, dass die Reallöhne sich direkt aus dem<br />
Einkommen der Region, den daraus folgenden Nominallöhnen <strong>und</strong> dem Preisindex ergeben.<br />
Es ist anhand der Gleichungen (3.1.3)-(3.1.5) zu erkennen, dass indirekt auch der bereits in<br />
der Region vorhandene Teil an Industriearbeitern <strong>und</strong> Unternehmen ein Wanderungsmotiv<br />
darstellen kann, da dieser das regionale Einkommen erhöht, sowie den Preisindex reduziert<br />
(vgl. Gleichung (3.1.7) <strong>und</strong> (3.1.8)) (Preisindexeffekt). Zudem lässt dieser Anteil die<br />
Nominallöhne (vgl. Gleichungen (3.1.9)-(3.1.11)) <strong>und</strong> schließlich die Reallöhne (vgl.<br />
Gleichungen (3.1.12)-(3.1.13)) steigen. Ein zusätzliches <strong>Migration</strong>smotiv ergibt sich durch<br />
den Eintritt weiterer Industrieunternehmen in die betrachtete Region. Dies erhöht dort die<br />
Nachfrage nach Arbeitskräften, was die Löhne ansteigen lässt (Heimmarkteffekt) <strong>und</strong> damit<br />
Arbeitskräfte aus der anderen Region anzieht (vgl. NEARY 2001: 542). Preisindex- <strong>und</strong><br />
Heimmarkteffekt sind also weitere indirekte <strong>Migration</strong>smotive, da sie auf das Hauptmotiv der<br />
Reallohndifferenz einwirken. Nach Krugman kann die Reallohndifferenz auch ein Motiv für<br />
Rückwanderung sein, wenn die Wanderung in einer Situation erfolgt, in der die Raumstruktur<br />
durch ein stabiles Gleichgewicht (Z-P-Struktur oder Gleichverteilung) geprägt ist (vgl. Kap.<br />
2.2.2). In diesem Fall führt die Wanderung eines Arbeiters dazu, dass die Reallöhne in der<br />
Zielregion sinken bzw. in der Ursprungsregion steigen <strong>und</strong> sich dadurch ein Motiv zur<br />
Rückwanderung ergibt (vgl. PFLÜGER 2007: 4). Somit wandern ebenso viele Arbeiter in<br />
eine Region ein wie aus <strong>und</strong> die Raumstruktur bleibt im Gleichgewicht.<br />
Zudem hat die Gleichgewichtssituation Einfluss auf die Intensität von Wanderungen. 24 Wenn<br />
ein instabiles Gleichgewicht gegeben ist, ist die Intensität durch die kumulativen Prozesse<br />
nach der Wanderung bereits eines einzigen Arbeiters besonders stark (vgl. Kap. 2.2.2). Liegt<br />
aber ein stabiles Gleichgewicht vor, wird es nicht zu einem kumulativen Prozess kommen,<br />
sodass nur vereinzelt (durch historische Zufälle) Arbeiter migrieren, die dann jedoch sofort<br />
23 Wobei sich dies zum besseren Verständnis auch umschreiben lässt als: ωr = wr · 1/Gr µ .<br />
24 Indirekt werden dadurch auch die Transportkosten zu einem wichtigen Faktor für <strong>Migration</strong> (insbes.<br />
Intensität), da sie die Gleichgewichtssituationen maßgeblich bestimmen (siehe Abb. 1 <strong>und</strong> 2).<br />
16
wieder remigrieren (siehe oben). In diesem Fall ist die Intensität des <strong>Migration</strong>sstroms sehr<br />
gering, andernfalls sehr hoch, bis dieser im langfristigen Gleichgewicht vollständig (bis auf<br />
die Arbeiter, die durch Zufälle vereinzelt wandern) zum Erliegen kommt.<br />
Auch über die Richtung der <strong>Migration</strong> trifft Krugman indirekt Aussagen. Denn die Richtung<br />
der <strong>Migration</strong> ist durch das Reallohndifferential bestimmt, erfolgt also in Richtung der<br />
höheren Reallöhne. Ob die Wanderung in Richtung des Zentrums oder der Peripherie erfolgt,<br />
hängt wiederum von der Gleichgewichtssituation <strong>und</strong> den gegebenen exogenen Variablen ab.<br />
Je nach dem ob die zentripetalen oder die zentrifugalen Kräfte überwiegen, wird die<br />
Wanderung in Richtung des Zentrums oder der Peripherie erfolgen. Die Richtung wird<br />
außerdem durch den ersten Standortwechsel bestimmt, der durch einen historischen Zufall<br />
bedingt ist. Wegen der Pfadabhängigkeit werden die nachfolgenden Arbeiter dieselbe<br />
Richtung einschlagen, vorausgesetzt die Raumstruktur befindet sich nicht im langfristigen<br />
Gleichgewicht (vgl. LITZENBERGER 2006: 82).<br />
Zusammenfassend lässt sich über die Motive der <strong>Migration</strong> sowie über die Intensität <strong>und</strong><br />
Richtung von Mobilitätsvorgängen, folgendes festhalten: Nach Krugman treffen industrielle<br />
Arbeiter die Entscheidung in eine andere Region zu migrieren danach, ob sie in der Zielregion<br />
höhere Reallöhne realisieren können als in der Ursprungsregion. Sie entscheiden dabei aus<br />
der momentanen Situation heraus, ohne dass Erwartungen über die weiteren wirtschaftlichen<br />
Prozesse mit in die Entscheidung einfließen. Die Wanderung erfolgt in die Richtung des<br />
höheren Reallohns <strong>und</strong> die Intensität hängt von der Gleichgewichtssituation zu Beginn der<br />
Wanderung <strong>und</strong> der Höhe des Reallohndifferentials ab.<br />
3.2 Zu regionalen Wirkungen von <strong>Migration</strong> im Zentrum-Peripherie-Modell<br />
Die interregionale Arbeitskräftewanderung ist in <strong>Krugmans</strong> Modell eine zentrale Kraft für die<br />
kumulativen Prozesse <strong>und</strong> die sich daraus ergebenen räumlichen Strukturen. Diese regionalen<br />
Wirkungen von <strong>Migration</strong> sollen im Folgenden herausgearbeitet werden.<br />
Die <strong>Migration</strong> spielt im Z-P-Modell eine große Rolle, weil die industriellen Arbeitskräfte,<br />
also die potenziellen Migranten zwei wichtige Funktionen einnehmen. Zum Einen sind sie als<br />
Arbeitnehmer die Produktionsfaktoren <strong>und</strong> bilden dementsprechend die Gr<strong>und</strong>lage der<br />
Produktion von Industriegütern. Zum Anderen nehmen sie die Funktion der Konsumenten in<br />
der Zwei-Regionen-Wirtschaft ein. Aus dieser doppelten Funktion der Migranten leitet sich<br />
auch die große regionale Wirkung ihrer Wanderungsbewegungen im Modell ab.<br />
Wie in Kapitel 2.2.2 angesprochen, sind Preisindex-, Heimmarkt- <strong>und</strong> Wettbewerbseffekt die<br />
entscheidenden Prozesse, deren Ausprägung über die regionalen Veränderungen in der<br />
Wirtschaftsstruktur <strong>und</strong> -entwicklung entscheiden. Sie beeinflussen, wie sich das Einkommen<br />
17
einer Region verändert, wie viele Unternehmen am Standort tätig sind <strong>und</strong> wie attraktiv die<br />
Region für weitere Unternehmen <strong>und</strong> Arbeiter ist, also darüber wie erfolgreich eine Region<br />
langfristig sein wird.<br />
Die drei genannten Effekte wiederum hängen direkt von der Wanderung industrieller<br />
Arbeitskräfte zwischen den Regionen ab (vgl. LITZENBERGER 2006: 34). Jede Wanderung<br />
eines Arbeiters beeinflusst die Ausprägung <strong>und</strong> Wirkung der Effekte, die darüber entscheiden,<br />
ob sich eine Region zu einem Zentrum oder zur Peripherie entwickelt.<br />
Im Folgenden sollen diese regionalen Wirkungen der Wanderung von Arbeitskräften im<br />
Detail aus dem Modell <strong>Krugmans</strong> herausgearbeitet werden.<br />
Abb. 3: Die kumulativen Prozesse im Z-P-Modell. Quelle: STERNBERG 2001: 163, erarbeitet auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage von KRUGMAN 1991a <strong>und</strong> FUJITA 1996.<br />
In Abbildung 3, die der Wirtschaftsgeograph R. STERNBERG (2001: 163) erarbeitet hat, ist<br />
zunächst die Ausgangssituation dargestellt, von der Krugman in seinem Modell ausgeht. Es<br />
herrscht Gleichverteilung der Industrie- <strong>und</strong> Landarbeiter <strong>und</strong> durch einen historischen Zufall<br />
kommt es nun in R1 zu einem höheren Reallohn ω1, der einen Arbeiter aus R2 dazu veranlasst,<br />
nach R1 zu wandern. 25 Durch diese Wanderung ist in R1, die in der nachfolgenden<br />
Betrachtung die Zielregion der Wanderung ist, ein Arbeiter mehr vorhanden, der als<br />
Produktionsfaktor eingesetzt werden kann. Zudem erhöht er dort die Nachfrage nach<br />
Industriegütern, da er auch als Konsument agiert. Zusätzlich wird ein beliebiges Unternehmen<br />
betrachtet, das in den Markt eintreten will. Es ist offensichtlich, dass auf Gr<strong>und</strong> der Existenz<br />
von steigenden Skalenerträgen jeder industrielle Produzent es bevorzugen wird, seine<br />
Produktion an einem einzigen Standort durchzuführen, also in R1 oder in R2. Da für die<br />
25 Diese Argumentation kann für die umgekehrte Richtung analog erfolgen.<br />
18
Industriegüter Transportkosten anfallen, wird der Standort zudem so gewählt werden, dass<br />
damit eine besonders große Nachfrage lokal abgedeckt werden kann (vgl.<br />
BATHELT/GLÜCKLER 2002: 79). Durch die vom Migranten ausgelöste größere Nachfrage<br />
in R1 ist es für das Unternehmen nun attraktiver in dieser Region in den Markt einzutreten, da<br />
es dort einen größeren lokalen Absatzmarkt vorfindet als in R2, also der Ursprungsregion des<br />
Migranten, <strong>und</strong> somit besser steigende Skalenerträge erzielen kann (wegen<br />
Symmetrieannahmen tritt gleichzeitig ein anderes Unternehmen in R2 aus dem Markt aus).<br />
Denn durch die größere Nachfrage sind überproportional steigende Produktionsmengen<br />
möglich, wodurch höhere Gewinne erzielt werden können. Bei unvollständiger Elastizität des<br />
Arbeitsangebots, wie es im Modell der Fall ist, da die Arbeitskräfte zwar vollkommen mobil<br />
zwischen den Regionen sind, aber ihre Gesamtanzahl exogen begrenzt ist, führt dieser Effekt<br />
dazu, dass die größere Produktion <strong>und</strong> die steigenden Gewinne nicht nur in größeren Export<br />
münden, sondern inbesondere die Nominallöhne w1 (vgl. Gleichung (3.1.10)) <strong>und</strong> damit auch<br />
die regionalen Einkommen insgesamt (vgl. Gleichung (3.1.4)) ansteigen lassen. Dies ist der<br />
oben erwähnte Heimmarkteffekt, der direkt durch die Wanderung von Arbeitskräften zu<br />
Stande kommt. Er wirkt als starke zentripetale Kraft, wie auch in Abbildung 3 zu erkennen<br />
ist.<br />
Durch den Markteintritt des Unternehmens in R1 steigen die Nominallöhne <strong>und</strong> es kommt zu<br />
einer größeren Nachfrage nach Arbeitskräften, sodass weitere Arbeiter aus R2 nach R1<br />
wandern. Diese zusätzlichen Arbeiter, die gleichzeitig Konsumenten sind, erhöhen wiederum<br />
die Nachfrage nach Gütern in R1 <strong>und</strong> es folgen weitere Unternehmen <strong>und</strong> Arbeiter in diese<br />
Region. Es können folglich durch das vergrößerte Arbeitskräfteangebot, das anfangs schon<br />
durch die Wanderung eines Arbeiters entstanden ist, mehr Produkte lokal hergestellt werden.<br />
Somit müssen zur Deckung der lokalen Nachfrage weniger Produkte teuer importiert werden.<br />
Durch diese erhöhte Anzahl lokal produzierter Güter wird die Summe der Preise für Konsum-<br />
<strong>und</strong> Zwischenprodukte (also der Preisindex) reduziert, was ein Sinken der<br />
Lebenshaltungskosten in R1 bedeutet (vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 56).<br />
Somit steigen die Reallöhne. Dies ist der Preisindexeffekt, der demzufolge auch eine<br />
regionale Wirkung von Arbeitskräftemigration ist <strong>und</strong> ebenfalls zentripetal, also<br />
agglomerationsfördernd wirkt. Die höheren Reallöhne lösen dann die weitere Wanderung von<br />
Arbeitskräften aus.<br />
Dieser kumulative, zirkuläre Prozess, der als regionale Wirkung der <strong>Migration</strong> zu verstehen<br />
ist, da er direkt durch diese ausgelöst wird, kann dazu führen, dass es zur Ausprägung einer Z-<br />
P-Struktur kommt, sofern nicht der Wettbewerbseffekt die beiden zuvor beschriebenen<br />
19
positiven regionalen Wirkungen in der Zielregion überwiegt. Denn bei zunehmender Anzahl<br />
an Unternehmen in R1, die durch die Wanderung von Arbeitskräften veranlasst wird, kommt<br />
es dort zu steigender Konkurrenz <strong>und</strong> der Absatz jedes einzelnen Unternehmens sinkt.<br />
Außerdem wird die Belieferung der Region R2 mit Gütern wegen der Transportkosten teurer<br />
(immer mehr Produkte werden nur in R1 produziert <strong>und</strong> müssen daher teuer nach R2 geliefert<br />
werden, da die dortige Bevölkerung diese ebenfalls nachfragt). Hierbei führt also eine<br />
steigende Anzahl an lokal produzierenden Unternehmen zu einem niedrigeren Preisindex, der<br />
die Nachfrage an jede einzelne Firma verringert (vgl. NEARY 2001: 542). Zudem steigen die<br />
Preise der regional vorhandenen Produktionsfaktoren. Beides führt zu niedrigeren Gewinnen,<br />
damit zu sinkenden Nominallöhnen <strong>und</strong> insgesamt steigenden Preisen der Güter in der<br />
Zielregion. Zusätzlich können noch „negative externe Effekte, wie zum Beispiel<br />
Stauungskosten“ entstehen, die „ebenfalls die Profite der Unternehmen […] oder den Nutzen<br />
der Haushalte […] mindern“ (LITZENBERGER 2006: 34). Die Folge ist, dass Unternehmen<br />
den Markt verlassen, wodurch wiederum die Arbeitsnachfrage verringert wird <strong>und</strong> die Löhne<br />
sinken, sodass es zu einer Wanderungsbewegung kommt, die der Agglomeration entgegen<br />
wirkt (vgl. EHRENFELD 2004: 11f.). Der Wettbewerbseffekt wirkt demnach als zentrifugale<br />
Kraft. Er ist besonders bei leichter Substituierbarkeit der Gütervarianten stärker ausgeprägt<br />
(vgl. Abb. 3). Denn dann ist die Konkurrenz am lokalen Markt des Zentrums größer, sodass<br />
es attraktiver wird, den Markteintritt in der peripheren Region durchzuführen. Dies fördert<br />
eine ausgeglichene Raumstruktur. Auch hohe Transportkosten führen zu einem stärkeren<br />
Wettbewerbseffekt, da es für die Unternehmen dadurch umso teurer wird, die andere Region<br />
mit ihren Gütern zu beliefern. Wie anhand von Abbildung 1 <strong>und</strong> 2 erläutert, kommt es bei<br />
hohen Transportkosten eher zu einem symmetrischen Gleichgewicht mit Konvergenz als bei<br />
niedrigen Transportkosten (vgl. Kap. 2.2.2). Der Wettbewerbseffekt wirkt der regionalen<br />
Entwicklung der vorigen Zielregion der <strong>Migration</strong> zum Zentrum der wirtschaftlichen<br />
Aktivitäten entgegen, indem es zu Push-Faktoren im Zentrum <strong>und</strong> damit zur Wanderung in<br />
die Peripherie kommt. Dadurch wird eine symmetrische Raumstruktur mit Gleichverteilung<br />
der Industrie gefördert.<br />
Es kommt also nicht nur zu regionalen Wirkungen in der Zielregion der <strong>Migration</strong>, sondern<br />
ebenso im Herkunftsgebiet. Der eben erläuterte Mechanismus führt dazu, dass die <strong>Migration</strong><br />
ins Zentrum bei bestimmten Ausprägungen der exogenen Variablen auch zu einer<br />
Attraktivitätssteigerung der Peripherie führen kann, bzw. zu einem Abwanderungsanreiz in<br />
der Zielregion, sodass die ursprüngliche Herkunftsregion dann wieder Ziel von<br />
Rückwanderung sein kann <strong>und</strong> es zu einer Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung<br />
20
kommt. Ist der Wettbewerbseffekt weniger stark ausgeprägt als die beiden anderen Effekte,<br />
führt die <strong>Migration</strong> von Arbeitskräften in die Zielregion zu negativen regionalen Wirkungen<br />
in der Abwanderungsregion. Durch die Abwanderung kommt es zu einem Verlust an<br />
Arbeitern <strong>und</strong> Konsumenten. Dementsprechend treten Unternehmen aus dem Markt aus, da<br />
die lokale Nachfrage geringer wird <strong>und</strong> ihr Produktionsfaktor nicht in genügend großer<br />
Menge vorhanden ist. Daher werden weniger Güter lokal produziert, sodass der Preisindex<br />
steigt, da mehr Güter teuer importiert werden müssen. Daraus ergibt sich ein geringerer<br />
Reallohn, also geringerer Wohlstand, was weiteren Anreiz zur Abwanderung gibt, sodass sich<br />
die eben beschriebenen regionalen Wirkungen weiter verstärken, bis es zur vollständigen<br />
Abwanderung der industriellen Arbeitskräfte <strong>und</strong> der Industrieunternehmen in der Region<br />
kommt. In R2 verbleiben lediglich die landwirtschaftlichen Betriebe <strong>und</strong> die Bauern, die ihren<br />
Konsum von Industriegütern nur über den teuren Import decken können. Die Region R2 ist<br />
also durch die <strong>Migration</strong> von Arbeitskräften zur wirtschaftlichen Peripherie geworden, die<br />
auch langfristig keine positive Entwicklungschance hat, da die entstandene Z-P-Struktur in<br />
<strong>Krugmans</strong> Modell in diesem Fall stabil ist.<br />
Eine weitere regionale Implikation der <strong>Migration</strong> im Z-P-Modell kann mit Hilfe der<br />
Abbildung 1 <strong>und</strong> 2 erläutert werden. Anhand des Bifurkationsdiagramms ist zu sehen, dass<br />
die regionalen Wirkungen von Arbeitskräftewanderung von den exogen gegebenen<br />
Transportkosten abhängen. Denn bei hohen Transportkosten hat die Wanderung (bei der<br />
Ausgangssituation der Gleichverteilung) fast keine Auswirkungen auf die regionale<br />
Wirtschaft, da die Wanderung eines Arbeiters immer wieder zur Rückwanderung desselben<br />
oder eines anderen Arbeiters führt. In diesem Fall ist die Gleichverteilung der Industrie ein<br />
stabiles langfristiges Gleichgewicht. Bei niedrigen Transportkosten hingegen spielt die<br />
<strong>Migration</strong> eine besonders große Rolle, da hier die anfängliche Gleichverteilung ein instabiles<br />
Gleichgewicht ist <strong>und</strong> die Wanderung eines Arbeiters die beschriebenen kumulativen<br />
Prozesse in Gang setzt. Es kommt zu starken <strong>Migration</strong>sströmen, die zur Entwicklung eines<br />
industriellen Zentrums <strong>und</strong> einer agrarisch geprägten Peripherie führen. Bei mittleren<br />
Transportkosten hat die <strong>Migration</strong> ebenfalls sehr große regionale Wirkungen. Je nach<br />
Ausgangssituation kommt es zu verschiedenen langfristigen Gleichgewichten <strong>und</strong> vielen<br />
instabilen Gleichgewichten, in denen die Wanderung eines einzelnen Arbeiters jeweils zur<br />
„katastrophischen“ Veränderung der Raumstruktur führt.<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die interregionale Arbeitskräftemobilität – abhängig<br />
von den exogen gegebenen Faktoren – über die Verteilung der Industrie in der betrachteten<br />
Wirtschaft <strong>und</strong> dementsprechend über die Raumstruktur entscheidet.<br />
21
4 Beispiel zur Umsetzung der migrationstheoretischen Erkenntnisse des Zentrum-<br />
Peripherie-Modells im Weltentwicklungsbericht 2009<br />
Der Weltentwicklungsbericht 2009 (WEB) trägt den Titel „Wirtschaftsgeografie neu<br />
gestalten“ <strong>und</strong> hat sich genau dies zum Ziel gesetzt. Dabei geht es den Autoren des WEB<br />
darum, ein „neues Rahmenwerk für die politische Diskussion über Urbanisierung,<br />
Gebietsentwicklung <strong>und</strong> regionale Integration“ (WELTBANK 2009: xiii) zu erarbeiten.<br />
„Wirtschaftswachstum findet immer unausgewogen statt, aber der wirtschaftliche<br />
Entwicklungsprozess kann dennoch integrativ erfolgen“ (WELTBANK 2009: 1). Dies ist die<br />
zentrale Botschaft des WEB 2009, die auf Basis einer Analyse der Erfahrungen heutiger<br />
Industriestaaten in ihren früheren Entwicklungsphasen getroffen wird.<br />
Genau solche unausgewogenen räumlichen Entwicklungen, bei denen es zur Herausbildung<br />
von Zentrum-Peripherie-Strukturen (z.B. städtische Zentren <strong>und</strong> von Armut betroffene<br />
Dörfer) kommt, untersucht auch Paul Krugman in der in dieser Arbeit vorgestellten Theorie.<br />
Wie in Kapitel 3 erläutert, spielt bei den Prozessen, die zu derartigen Strukturen führen, die<br />
<strong>Migration</strong> von Arbeitskräften eine große Rolle. Auch der WEB kommt zu dem Schluss, dass<br />
<strong>Migration</strong> einer der drei für die wirtschaftsgeographischen Veränderungen entscheidenden<br />
Marktfaktoren 26 ist. Hierbei muss aber festgehalten werden, dass die<br />
wirtschaftsgeographischen Veränderungen, die im WEB analysiert werden, nicht nur die<br />
Entstehung von Konzentrationen wirtschaftlicher Aktivitäten, also Divergenz, meinen,<br />
sondern auch die im höheren Entwicklungsstand folgende Konvergenz der Lebensstandards.<br />
Gerade für das Erreichen dieser Angleichung der Lebensstandards zwischen Zentrum <strong>und</strong><br />
Peripherie (egal auf welcher räumlichen Ebene) bei trotzdem weiterbestehenden ungleich<br />
verteilten Wirtschaftsaktivitäten, schreibt der WEB der Arbeitskräftemobilität eine wichtige<br />
Rolle zu. In <strong>Krugmans</strong> Modell hingegen gibt es keine Hinweise darauf, dass es bei einer<br />
stabilen Z-P-Struktur gleichzeitig zur Angleichung der Reallöhne, die ja den Wohlstand einer<br />
Region, bzw. auch den Lebensstandard der Menschen in der Region indirekt repräsentieren,<br />
kommen kann. Denn folgt man der Logik des Z-P-Modells <strong>Krugmans</strong>, so würde<br />
beispielsweise ein durch politische Maßnahmen 27 erfolgter Angleich der Reallöhne bzw. der<br />
Lebensstandards zur Rückwanderung der Arbeiter <strong>und</strong> der Unternehmen in die Peripherie<br />
führen – so lange bis eine vollkommene Gleichverteilung der Industrie <strong>und</strong> der industriellen<br />
Arbeitskräfte erfolgt. Der WEB kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis. Denn er zeigt,<br />
26<br />
Die anderen sind Agglomeration sowie Produktspezialisierung <strong>und</strong> Handel. Vgl. WELTBANK 2009: 151-238.<br />
27<br />
Solche politischen Maßnahmen existieren in <strong>Krugmans</strong> Modell nicht, es handelt sich hierbei nur um ein<br />
Gedankenexperiment der Autorin zur Verdeutlichung der Modelllogik.<br />
22
dass die Integration der Peripherie in das Zentrum dazu führt, dass sich die<br />
Lebensbedingungen angleichen <strong>und</strong> trotzdem die Konzentration der wirtschaftlichen<br />
Aktivitäten bestehen bleibt (vgl. WELTBANK 2009: 12f.). Die freiwillige <strong>Migration</strong> von<br />
Arbeitskräften ins Zentrum (auf nationaler Ebene) kann zu einer Angleichung der<br />
Lebensstandards, bzw. der Reallöhne führen. So kommen die Autoren auf Basis empirischer<br />
Untersuchungen zu dem Schluss, dass „die interne <strong>Migration</strong> den Gesellschaften die<br />
Möglichkeit für Wirtschaftswachstum <strong>und</strong> Wohlstandkonvergenz“ (WELTBANK 2009: 194)<br />
eröffnet. Zum Beispiel führen in Ländern mit mittlerem oder niedrigem Einkommen<br />
Abwanderungen in die Zentren zur Entlastung der Arbeitsmärkte in den ländlichen Regionen<br />
oder es kommt durch Rücküberweisungen von Familienangehörigen, die in das Zentrum<br />
gewandert sind, zu einer Hebung der Einkommen in der Peripherie 28 <strong>und</strong> dadurch zu einem<br />
erhöhten Konsum, bzw. besseren Lebensstandards (vgl. WELTBANK 2009: 200f.). Dieser<br />
Effekt widerspricht den Aussagen <strong>Krugmans</strong> zur regionalen Wirkung von <strong>Migration</strong>, da er<br />
davon ausgeht, dass eine Konzentration der Arbeitskräfte im Zentrum immer zu niedrigeren<br />
Einkommen in der Ursprungsregion führen wird.<br />
Doch der WEB zeigt auch, dass einige der aus dem Z-P-Modell herausgearbeiteten Aussagen<br />
zu Motiven <strong>und</strong> regionalen Wirkungen von <strong>Migration</strong> in der Realität wiederzufinden sind. So<br />
kommt der WEB zu der Erkenntnis: „Ein führendes Gebiet mit dichter Wirtschaftsaktivität<br />
zieht aufgr<strong>und</strong> seines Marktpotenzials Firmen <strong>und</strong> Arbeitskräfte an. Diese Firmen <strong>und</strong><br />
Arbeitskräfte tragen nun ihrerseits zur Verbesserung der in dem dichten Gebiet vorhandenen<br />
Marktmöglichkeiten bei. Das Ergebnis ist ein zirkulärer <strong>und</strong> kumulativer Prozess, bei dem<br />
dichte Gebiete kontinuierlich Arbeitskräfte <strong>und</strong> Firmen aus weniger dichten Gebieten<br />
abziehen“ (WELTBANK 2009: 95). Genau diese Wirkungsketten von <strong>Migration</strong> industrieller<br />
Arbeitskräfte beschreibt auch Krugman (siehe Kap. 3). Doch beschreibt der WEB neben<br />
höheren Reallöhnen auch eine Vielzahl anderer Motive für Wanderung: Zum Beispiel die<br />
zwanghafte Abwanderung aufgr<strong>und</strong> von verschlechterten Lebensbedingungen <strong>und</strong> Konflikten<br />
oder speziell bei Hochqualifizierten die Nähe zu anderen Hochqualifizierten. Anhand eines<br />
Beispiels ist zu sehen, dass <strong>Migration</strong>sentscheidungen nicht immer in Richtung der höheren<br />
Verdienstmöglichkeiten erfolgen: Empirische Bef<strong>und</strong>e aus Brasilien zeigen, dass Männer im<br />
erwerbsfähigen Alter nicht nur deshalb in den prosperierenden Südosten des Landes<br />
abwanderten, „um einen besseren Job zu finden, sondern auch, um einen besseren Zugang zu<br />
öffentlichen Gr<strong>und</strong>dienstleistungen wie Leitungswasser, Strom oder Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge zu<br />
28 In Afrika südlich der Sahara machen Rücküberweisungen 15 % des Einkommens in ländlichen Gebieten aus<br />
(vgl. WELTBANK 2009: 200f.)<br />
23
erhalten“ (WELTBANK 2009: 202). Neben der Lohndifferenz zwischen Herkunfts- <strong>und</strong><br />
Zielgebiet sind besonders für die Armen „die Unterschiede im Zugang zu einer staatlichen<br />
Gr<strong>und</strong>versorgung durchaus von Belang“ (WELTBANK 2009: 202). So kommen die<br />
empirischen Analysen sogar zu dem Bef<strong>und</strong>: „Arme Migranten nehmen sogar niedrigere<br />
Löhne in Kauf, wenn sie Zugang zu besseren Dienstleistungen erhalten“ (WELTBANK 2009:<br />
202). Dies widerspricht klar den in <strong>Krugmans</strong> Modell angenommenen <strong>Migration</strong>smotiven.<br />
Dies liegt in erster Linie daran, dass in seinem Modell ein Staat von vorne herein<br />
ausgeschlossen wird, was eine Übertragbarkeit auf die Realität erschwert.<br />
Die Aufführung von Beispielen aus dem WEB zu realen <strong>Migration</strong>sströmen, den zu Gr<strong>und</strong>e<br />
liegenden Motiven <strong>und</strong> ihren regionalen Wirkungen insbesondere im Rahmen einer Z-P-<br />
Struktur, die einige Aussagen <strong>Krugmans</strong> stärken, andere widerlegen, könnte hier beliebig<br />
fortgeführt werden. Doch ist an dieser Stelle bereits erkennbar, dass die Übertragung von<br />
<strong>Krugmans</strong> Theorie auf die Realität nur begrenzt möglich ist. Dies soll im Folgenden näher<br />
untersucht werden.<br />
5 Kritische Würdigung <strong>und</strong> alternative Ansätze<br />
5.1 Die Grenzen des Modells<br />
Das Hauptproblem der Übertragbarkeit der migrationstheoretischen Aussagen in <strong>Krugmans</strong><br />
Modell auf die Realität liegt in den zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Prämissen. Zwar folgen die Prozesse<br />
innerhalb des Modells logisch aufeinander <strong>und</strong> auch die Motive <strong>und</strong> regionalen Wirkungen<br />
sind schlüssig eingeb<strong>und</strong>en, doch muss der Wert dieser Aussagen für die Realität wegen der<br />
vereinfachenden Annahmen, die „die realen komplexen sozialen, institutionellen <strong>und</strong><br />
kulturellen Faktoren vernachlässigen, da sie nicht mathematisch formulierbar sind“<br />
(OSMANOVIC 2000: 245), stark angezweifelt werden. Die Annahmen sind also alles andere<br />
als realistisch (vgl. NEARY 2001: 548ff). Sie ermöglichen aber – <strong>und</strong> dies ist nach eigener<br />
Aussage auch <strong>Krugmans</strong> Ziel (vgl. FUJITA/KRUGMAN/VENABLES 1999: 61) – eine<br />
einfache <strong>und</strong> mathematisch formalisierte Modellierung der Herausbildung räumlicher<br />
Strukturen durch steigende Skalenerträge, Transportkosten <strong>und</strong> Faktormobilität.<br />
Im Folgenden sollen exemplarisch wichtige Aspekte erläutert werden, die zum Einen die<br />
Grenzen des Modells in Bezug auf die migrationstheoretische Aussagekraft darlegen, <strong>und</strong><br />
zum anderen aber auch die Stärken seines Modells aufzeigen.<br />
Die <strong>Migration</strong>, ihre Wirkungen <strong>und</strong> Motive, haben in den letzten Jahrzehnten eine deutliche<br />
Diversifizierung <strong>und</strong> Ausdifferenzierung erfahren (vgl. NUSCHELER 2004: 221). Dies<br />
erschwert die Modellierung mit Hilfe vereinfachender <strong>und</strong> generalisierender Annahmen. So<br />
24
kann beispielsweise die Unterstellung, eine <strong>Migration</strong>sentscheidung würde nur ad hoc auf<br />
Gr<strong>und</strong> einer Reallohndifferenz gefällt, in der Realität nicht aufrecht erhalten werden, denn<br />
Migranten wägen oft auch erwartete zukünftige Entwicklungen in der Ziel- <strong>und</strong> der<br />
Ursprungsregion gegen die Kosten der <strong>Migration</strong> ab (vgl. LITZENBERGER 2006: 27).<br />
In seinem Modell gibt es für Krugman außer der Nutzenmaximierung zudem kein weiteres<br />
Motiv zu migrieren. Doch die empirische Erfassung der realen <strong>Migration</strong>sströme, sowie die<br />
qualitative <strong>Migration</strong>sforschung zeigen, dass auch weiche Standortfaktoren, persönliche<br />
Standortpräferenzen, die natürliche Umwelt, Zwänge, das soziale Umfeld (z.B. Anbindung an<br />
Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e) <strong>und</strong> vieles mehr wichtige Motive für die <strong>Migration</strong> sind (vgl.<br />
BÄHR/JENTSCH/KULS 1992: 558ff). Wie schon in Kapitel 4 beschrieben kommt es in<br />
besonderen Fällen sogar zur Wanderung entgegen der Reallohndifferenz <strong>und</strong> damit würde<br />
hier der zentrale Mechanismus vom Z-P-Modell nicht mehr funktionieren.<br />
Des Weiteren kann auch die Prämisse der Immobilität von Bauern zu Verzerrungen der<br />
wirklichen Wanderungsprozesse <strong>und</strong> -motive führen, da mit dieser Annahme jegliche<br />
Wanderung von Saisonarbeitern, die aber besonders in der Landwirtschaft eine große Rolle<br />
spielen, außen vorgelassen wird. Andererseits ist auch die Annahme von vollständiger<br />
Mobilität der Arbeitskräfte im industriellen Sektor nicht realistisch. Tatsächlich spielen<br />
insbesondere bei internationaler <strong>Migration</strong> Mobilitätshemmnisse eine große Rolle. Damit sind<br />
zum Beispiel Barrieren in Form von Einwanderungsbeschränkungen durch den Staat, oder<br />
auch Raumüberwindungskosten, die eine <strong>Migration</strong> mit sich bringt, gemeint. 29 Da Krugman<br />
sein Modell nicht in Bezug zu realen Räumen setzt, also standortspezifische Gegebenheiten<br />
oder die Entfernung zwischen Regionen ignoriert werden, kann seine Theorie nur in<br />
begrenztem Umfang reale <strong>Migration</strong>sströme <strong>und</strong> deren Wirkungen vorhersagen.<br />
Beispielsweise kann dadurch auch keine Aussage über die Reichweite von <strong>Migration</strong> getätigt<br />
werden, was aber nach SCHÄTZL (2003: 104) ein zentrales Ziel von <strong>Migration</strong>stheorien sein<br />
sollte. Auch die in <strong>Krugmans</strong> Modell beschriebenen regionalen Wirkungen werden den<br />
komplexen Zusammenhängen in der Realität nicht gerecht. So führt <strong>Migration</strong> nicht nur zu<br />
dem in Kapitel 3.2 erläuterten kumulativen Prozess, sondern kann beispielsweise auch über<br />
Rücküberweisungen oder Netzwerkstrukturen positive Impulse für die Herkunftsregion<br />
bieten. Solche positiven Effekte werden in <strong>Krugmans</strong> Theorie nicht beachtet. Dies mag auch<br />
daran liegen, dass er nicht zwischen verschiedene Gruppen von Migranten unterscheidet. So<br />
29<br />
Krugman bezieht zwar die Transportkosten von industriellen Gütern mit ein, doch nicht die<br />
Raumüberwindungskosten bei der <strong>Migration</strong> von Arbeitern. Dies ist selbst innerhalb seines Modells eigentlich<br />
widersprüchlich.<br />
25
spielen in seinem Modell Qualifikation, Lebenssituation, Alter etc. keine Rolle. All diese<br />
Punkte haben aber großen Einfluss auf Wanderungsbewegungen <strong>und</strong> ihre Wirkungen.<br />
Doch darf bei aller Kritik nicht außer Acht gelassen werden, dass <strong>Krugmans</strong> Modell trotz der<br />
vereinfachenden Annahmen Aussagen zu wichtigen Motiven <strong>und</strong> Wirkungen von freiwilliger<br />
<strong>Migration</strong> zulässt. Denn die Empirie zeigt auch, dass ein Großteil der <strong>Migration</strong> in Richtung<br />
der höheren Reallöhne stattfindet (vgl. WELTBANK 2009: 202) <strong>und</strong> dass die <strong>Migration</strong> bei<br />
der Herausbildung von Zentrum-Peripherie-Strukturen eine wichtige Rolle spielen kann (vgl.<br />
WELTBANK 2009: 19), wie im Z-P-Modell beschrieben. Doch muss ein solcher empirischer<br />
Bef<strong>und</strong> noch lange nicht heißen, dass die zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Mechanismen des Modells<br />
tatsächlich die entscheidenden Mechanismen in der Realität sind. 30<br />
Die Kritik an den realitätsfernen Annahmen <strong>und</strong> dem Modell im Allgemeinen könnte an<br />
dieser Stelle noch fortgeführt werden. Doch zeigen bereits die erwähnten Kritikpunkte, dass<br />
der Wert der Theorie für die praktische <strong>Migration</strong>sforschung insgesamt als gering<br />
eingeschätzt werden muss. Im Folgenden sollen nun exemplarisch einige alternative<br />
migrationstheoretische Ansätze umrissen werden, die die Grenzen von <strong>Krugmans</strong> Modell für<br />
die Anwendung in der <strong>Migration</strong>sforschung verdeutlichen sollen.<br />
5.2 Alternative migrationstheoretische Ansätze<br />
<strong>Krugmans</strong> Annahme der besonderen Bedeutung von ökonomischen Gründen für <strong>Migration</strong>,<br />
findet sich schon in den frühesten Ansätzen der <strong>Migration</strong>sforschung. Dies formulierte bereits<br />
Ravenstein in seinen „<strong>Migration</strong>sgesetzen“ von 1885, die Ablauf <strong>und</strong> Stärke von Mobilität im<br />
Allgemeinen erklären sollten (vgl. BÄHR 2004: 259). 31 Anders als Krugman haben aber<br />
weder Ravenstein noch die auf ihn nachfolgenden <strong>Migration</strong>sforscher ausschließlich die<br />
Reallohndifferenz als einziges <strong>Migration</strong>smotiv ausgemacht. Vielmehr geht die Forschung<br />
von einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren aus, deren Fokus sich je nach<br />
wissenschaftlicher Disziplin 32 oder Schule unterscheidet.<br />
So gehen zum Beispiel die Gravitations- oder Distanzmodelle davon aus, dass die Entfernung<br />
zwischen Herkunfts- <strong>und</strong> Zielgebiet besonders wichtig zur Erklärung von <strong>Migration</strong>sströmen<br />
ist (dass also, vereinfacht gesagt, die <strong>Migration</strong>sströme mit zunehmender Distanz<br />
30<br />
So schreibt auch Fingleton: „[…] just because we can fit a model does not mean that the theory <strong>und</strong>erpinning<br />
the model is true, or indeed it does not mean that the fitted model is superior to another (untested) model with a<br />
different theoretical basis, which may outperform the model in question.“ (FINGLETON 2007: 3).<br />
31<br />
Vgl. zur Zusammenfassung der „<strong>Migration</strong>sgesetze“: BÄHR; JENTSCH; KULS 1992: 571f. oder BÄHR<br />
2004: 259f. Zur Typisierung von Migranten durch Ravenstein vgl. HOFFMANN-NOWOTNY 1970: 55f.<br />
32<br />
Einen Überblick zu verschiedenen Richtungen der <strong>Migration</strong>sforschung gibt HAN (2006). Zu soziologischen<br />
<strong>Migration</strong>stheorien vgl. zudem ausführlich HAN 2005: 1-121. Ein Überblicksdarstellung zu Theorien<br />
insbesondere der internationalen <strong>Migration</strong> findet sich bei MASSEY et al. (1993).<br />
26
abnehmen). 33 Dies stellt einen deutlichen Vorteil gegenüber <strong>Krugmans</strong> Z-P-Modell dar, der<br />
die Distanz gänzlich vernachlässigt. Die Regressionsanalytischen Modelle stellen eine<br />
Weiterentwicklung gravitationstheoretischer Ansätze dar <strong>und</strong> beziehen neben den<br />
Bevölkerungszahlen <strong>und</strong> der Entfernung eine Reihe weiterer Faktoren mit ein (vgl. BÄHR<br />
2004: 264). Zu dieser Modellschule zählen die push-pull-Modelle, insbesondere das Modell<br />
von E. S. LEE (1966), die die „sozioökonomische Situation im Herkunfts- <strong>und</strong> Zielgebiet“<br />
analysieren <strong>und</strong> diese „zu den beobachteten Wanderungsströmen in Beziehung“<br />
(HEINEBERG 2003: 87) setzen. Nach Lee werden dabei Wanderungen durch abstoßende<br />
Kräfte in der Herkunftsregion (push-Faktoren) <strong>und</strong> anziehende Kräfte in der Zielregion (pull-<br />
Faktoren), sowie durch intervenierende Hindernisse (wie z.B. Transportkosten) <strong>und</strong><br />
persönliche Faktoren bestimmt (vgl. LEE 1966: 50). Auch <strong>Krugmans</strong> Z-P-Modell trägt<br />
Merkmale eines push-pull-Modells, wobei hier ausschließlich harte ökonomische Faktoren,<br />
bzw. letzten Endes ausschließlich die Einkommensunterschiede, einbezogen werden.<br />
Eine weitere Modellschule sind die verhaltensorientierten Modelle, bei denen die<br />
Wanderungsanalyse auf der Beobachtung von Verhaltensweisen <strong>und</strong> Einstellungen Einzelner<br />
beruht (vgl. BÄHR 2004: 261). Diese Modelle stehen im Gegensatz zu Krugman, der keine<br />
„subjektive Interpretation“ (BÄHR 2004: 261) der Standortfaktoren zulässt.<br />
Neben diesen ganzheitlichen Theorien gibt es in der modernen <strong>Migration</strong>sforschung<br />
zahlreiche Ansätze, die einzelne <strong>Migration</strong>sphänomene <strong>und</strong> die regionalen Wirkungen von<br />
bestimmten <strong>Migration</strong>sströmen beschreiben <strong>und</strong> zu erklären versuchen. Diese<br />
„Spezialisierung“ auf einzelne Phänomene <strong>und</strong> räumliche Einheiten oder Gruppen von<br />
Migranten ist in erster Linie der Ausdifferenzierung <strong>und</strong> Diversifizierung der <strong>Migration</strong> im<br />
Zuge der Globalisierung (vgl. NUSCHELER 2004: 221) geschuldet. Beispielhaft zu nennen<br />
sind hier die Ansätze zur Erklärung des Transnationalismus (vgl. HAN 2005: 69ff), Borjas<br />
Theorie über die Auswirkungen der Einwanderung von Arbeitskräften (differenziert nach<br />
niedrig-, mittel- <strong>und</strong> hochqualifiziert) auf die Wirtschaft der USA 34 (vgl. HAN 2006: 195-<br />
209) oder die Theorie zu Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen von return migration (vgl. CASSARINO<br />
2004). Ein besonderer Ansatz ist auch die Untersuchung des Wanderungsverhaltens der<br />
Creative Class nach R. FLORIDA (2005) <strong>und</strong> der regionalen Wirkungen der <strong>Migration</strong> dieser<br />
Gruppe. Im Gegensatz zu anderen Migrantengruppen wandert die Creative Class nicht auf<br />
33<br />
Wobei der Distanzbegriff z.T. über die räumliche Entfernung hinausgeht <strong>und</strong> auch die soziale <strong>und</strong><br />
psychologische Distanz oder auch die „Informationsdistanz“ mit einbezogen wird (vgl. BÄHR 2004: 260).<br />
34<br />
Besonders entscheidend ist in Borjas Theorie die Rolle des Wohlfahrtsstaats als Pull-Faktor: „Insbesondere<br />
würden die Sicherheiten, die ein Wohlfahrtsstaat bietet, die Risiken der <strong>Migration</strong> herabsetzen, weil nicht mehr<br />
der Einzelne selbst, sondern die aufnehmende Gesellschaft die Migranten gegen solche Risiken absichert.“<br />
(DÜVELL 2006: 88). Solche Einflüsse finden bei Krugman keine Berücksichtigung, da ein Staat nicht existiert.<br />
27
Gr<strong>und</strong> der klassischen <strong>Migration</strong>smotive (wie oben), sondern dorthin, wo sie ein kreatives<br />
Umfeld (Toleranz; kulturelle <strong>und</strong> soziale Vielfalt etc.) vorfindet (vgl. STORPER/SCOTT<br />
2009: 149). Zu solchen speziellen <strong>Migration</strong>sphänomenen <strong>und</strong> ihren regionalen Wirkungen<br />
oder zu besonderen Motiven von verschiedenen Migrantengruppen liefert <strong>Krugmans</strong> Modell<br />
keine Erklärungsansätze, da durch die vereinfachenden Annahmen keine Differenzierungen<br />
möglich sind. Andererseits kann die Ausdifferenzierung der modernen <strong>Migration</strong>sforschung<br />
auch einen Vorteil für <strong>Krugmans</strong> Theorie bieten, da sein Z-P-Modell so selbst als spezieller<br />
Ansatz zur Erklärung der Motive <strong>und</strong> regionalen Wirkungen einer besonders definierten<br />
Gruppe von Migranten <strong>und</strong> einer speziellen räumlichen <strong>und</strong> standörtlichen Situation<br />
verstanden werden kann. Denn die Theorie könnte beispielsweise zur Erklärung der<br />
Wanderung von Industriearbeitern gleicher Qualifikation zwischen sehr ähnlichen Regionen,<br />
die sich nur durch einen anfänglichen minimalen Reallohnunterschied unterscheiden,<br />
herangezogen werden. So könnte Krugman als eine spezielle Theorie unter vielen Ansätzen<br />
durchaus wichtige Schlüsse zur <strong>Migration</strong> zulassen. Sein Modell bietet aber keine<br />
umfassende, integrative <strong>Migration</strong>stheorie.<br />
6 Fazit<br />
Die Wanderung von Arbeitskräften spielt im Z-P-Modell <strong>Krugmans</strong> eine zentrale Rolle. Sie<br />
führt unter bestimmten Bedingungen zu dem kumulativen Prozess, der im Endeffekt über die<br />
Struktur eines betrachteten geographischen Raumes, in dem zwei Regionen abgegrenzt<br />
werden, entscheidet. Diese zentrale Bedeutung der <strong>Migration</strong> in seinem ursächlich als<br />
Gleichgewichtsmodell zur Erklärung von ökonomischen Ballungsprozessen gedachten Ansatz<br />
rechtfertigt eine hier betriebene Untersuchung der migrationstheoretischen Implikationen.<br />
Im Rahmen der Arbeit ist deutlich geworden, dass der Ansatz <strong>Krugmans</strong>, der rein<br />
ökonomischer Art ist, durchaus seine Berechtigung als Beitrag zu <strong>Migration</strong>stheorien hat (vgl.<br />
WELTBANK 2009: 95). Allerdings sollten die herausgearbeiteten Erklärungen für<br />
<strong>Migration</strong>sentscheidungen <strong>und</strong> für die Wirkungen von <strong>Migration</strong> nicht aus dem Kontext des<br />
ursprünglichen Modells gelöst werden <strong>und</strong> immer im Zusammenhang mit den dort getätigten<br />
Annahmen beurteilt werden.<br />
Für eine weitergehende Bewertung der migrationstheoretischen Aussagen des Z-P-Modells<br />
wäre es von Vorteil die hier herausgearbeiteten Aussagen zur <strong>Migration</strong> mathematisch<br />
formalisiert in das Modell einzuarbeiten. Dies könnte ein Ansatz für weitergehende<br />
Forschungen sein, der auch eine empirische Überprüfung der migrationstheoretischen<br />
Implikationen des Z-P-Modells ermöglichen würde. Ein empirischer Test könnte Aufschluss<br />
28
darüber geben, ob das Modell wirklich ermöglicht <strong>Migration</strong>sströme <strong>und</strong> deren Wirkungen<br />
für die regionale Wirtschaft in Herkunfts- <strong>und</strong> Zielgebiet zu erklären <strong>und</strong> vorherzusagen. Hier<br />
sollte der Fokus der Untersuchung insbesondere auf jene Kritikpunkte gelegt werden, die in<br />
Kapitel 4 <strong>und</strong> 5.1 beschrieben wurden.<br />
Dennoch kann auch ohne eine solche Überprüfung der Erklärungswert der Theorie anhand<br />
von Vergleichen zu anderen Ansätzen (Kap. 5.2) oder durch die Erläuterung der<br />
Modellprozesse anhand von realen Beispielen (Kap. 4) abgeschätzt werden. Dabei wurde<br />
herausgearbeitet, dass zwar die Formalisierung <strong>und</strong> die einleuchtende Modelllogik von<br />
<strong>Krugmans</strong> Modell eine Chance bietet, <strong>Migration</strong>sströme zu erklären <strong>und</strong> zu beschreiben,<br />
sofern man Räume <strong>und</strong> Migrantengruppen untersucht, die den Annahmen des Z-P-Modells zu<br />
einem Großteil entsprechen, dass aber gerade durch diese sehr einschränkenden <strong>und</strong><br />
unrealistischen Annahmen die meisten <strong>Migration</strong>sprozesse <strong>und</strong> -motive mit dem Z-P-Modell<br />
anscheinend nicht erklärt werden können. Denn gerade durch die zunehmende<br />
Ausdifferenzierung der <strong>Migration</strong> <strong>und</strong> die Unterschiedlichkeit verschiedener<br />
<strong>Migration</strong>sphänomene scheinen die Vereinfachungen von Krugman besonders problematisch.<br />
Es muss an dieser Stelle zum wiederholten Male darauf hingewiesen werden, dass viele<br />
Einflussfaktoren, die in der modernen Forschung als besonders wichtig angesehen werden<br />
(weiche Standortfaktoren, Qualifikation der Migranten, kulturelle Unterschiede,<br />
Altersstruktur, Mobilitätshemmnisse, etc.), bei Krugman keine Berücksichtigung finden. Ob<br />
das von ihm besonders betonte Motiv der Reallohndifferenz all diese Faktoren überwiegt,<br />
wäre empirisch zu testen, ist aber anzuzweifeln (vgl. WELTBANK 2009: 202).<br />
Insgesamt bleibt dennoch bestehen, dass das Z-P-Modell von Krugman gerade im Bereich der<br />
regionalen Wirkungen von <strong>Migration</strong> zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie (auf allen räumlichen<br />
Ebenen) zentrale Aspekte aufzeigt, die zu einem zirkulären Prozess der Ballung industrieller<br />
Unternehmen <strong>und</strong> Arbeitskräfte führen kann, <strong>und</strong> die Bedeutung von <strong>Migration</strong> im Rahmen<br />
der Erklärung von solchen Dynamiken <strong>und</strong> asymmetrischen, divergenten Raumstrukturen<br />
betont.<br />
Literaturverzeichnis<br />
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30
Name, Vorname: Knorr, Marianna<br />
Matrikelnummer: 2569200<br />
Eidesstattliche Erklärung<br />
Thema der Bachelorarbeit: <strong>Krugmans</strong> <strong>New</strong> <strong>Economic</strong> <strong>Geography</strong> <strong>und</strong> <strong>Migration</strong>: Zu Motiven<br />
<strong>und</strong> regionalen Wirkungen von <strong>Migration</strong> im Zentrum-Peripherie-Modell<br />
Hiermit erkläre ich an Eides Statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbst angefertigt habe; die<br />
aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken sind als solche kenntlich<br />
gemacht.<br />
Die Arbeit wurde bisher keiner Prüfungsbehörde vorgelegt <strong>und</strong> auch noch nicht<br />
veröffentlicht.<br />
Ort, Datum Unterschrift<br />
31