Reportage: Zwischen Tradition und Aufbruch - CARITAS - Schweiz
Reportage: Zwischen Tradition und Aufbruch - CARITAS - Schweiz
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Nr.1/März 2010<br />
Menschen<br />
Wir helfen<br />
«Heiraten kommt nicht zuerst.»<br />
Senada (16) will sich im Kosovo als Anwältin für Roma einsetzen.
ZWISCHEN TRADITION<br />
UND AUFBRUCH<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong> setzt sich im Kosovo gezielt für die Integration<br />
der Roma in die Gesellschaft ein. Die Resultate dieser Arbeit sind<br />
erstaunlich: Die junge Generation von heute erhält Chancen,<br />
die ihren Eltern noch versagt blieben, wie die Begegnung mit<br />
der 16-jährigen Senada <strong>und</strong> ihrer Familie zeigt.
Der «grüne Garten» Malis ist<br />
wegen Übernutzung bedroht.
<strong>Reportage</strong>: Roma im Kosovo<br />
Text: Stefan Gribi<br />
Bilder: Andreas Schwaiger<br />
«Was ist das?», fragt der Biologielehrer <strong>und</strong><br />
hält ein Plastikteil in die Höhe, das er soeben<br />
aus einer Kiste hervorgekramt hat.<br />
Gelächter in der Klasse. Die Hände der<br />
Mädchen in den vorderen Reihen schnellen<br />
in die Höhe, während sich die Jungs in den<br />
hinteren Reihen zurückhalten. «Senada?»,<br />
sagt der Lehrer. Das Mädchen mit den langen<br />
dunkeln Haaren steht auf <strong>und</strong> gibt die<br />
richtige Antwort: eine Lunge.<br />
Senada ist die älteste Tochter einer<br />
Roma-Familie, die im Quartier «Jeta e Re»<br />
in Prizren, der zweitgrössten Stadt des Kosovo,<br />
zuhause ist. Alles sieht an diesem<br />
Herbstmorgen nach Normalität aus in dieser<br />
Schulstube. Doch diese Normalität ist<br />
Ausdruck einer grossen Umwälzung. Senada<br />
sagt, dass sie gerne Anwältin werden<br />
möchte, weil sie sich für die Anliegen benachteiligter<br />
Menschen einsetzen will. Dieser<br />
Berufswunsch eines Roma-Mädchens<br />
wäre vor wenigen Jahren noch völlig utopisch<br />
gewesen. Zwar ist auch heute damit<br />
zu rechnen, dass Senada aufgr<strong>und</strong> ihrer Zugehörigkeit<br />
zu einer Minderheit Hindernisse<br />
überwinden muss. Sie wird mit Misstrauen,<br />
Vorurteilen bis hin zu Ressentiments konfrontiert<br />
sein. Dass ihr Berufswunsch dennoch<br />
eine reale Option ist, macht eine tiefgreifende<br />
gesellschaftliche Veränderung<br />
erkennbar.<br />
Volk ohne Land<br />
Um mehr darüber zu erfahren, sprechen wir<br />
mit Osman Osmani. Er sitzt an einem der<br />
vier Arbeitsplätze in einem fünf auf fünf<br />
Meter grossen Büro mitten in Prizren.<br />
Durch die Glastür, die bei jedem Öffnen aus<br />
den Fassungen zu brechen droht, ist der Gemüsemarkt<br />
zu sehen. Das bescheidene Büro<br />
ist der Hauptsitz der Roma-NGO Initiative<br />
6, die Osman Osmani leitet. Er zitiert aus<br />
Ergebnissen von Erhebungen, die er gemacht<br />
hat: «Im Jahr 2003 schlossen erst ein<br />
Viertel aller Kinder aus unserer Gemeinschaft<br />
die Gr<strong>und</strong>schule ab. Heute sind es<br />
über 80 Prozent.» Mit «unsere Gemein-<br />
8 Caritas «Menschen» 1/10<br />
Bild: Nach der 9. Klasse will Senada die<br />
Mittelschule besuchen.<br />
schaft» meint er die sogenannten RAE. Die<br />
drei Buchstaben stehen für Roma, Ashkali<br />
<strong>und</strong> Egyptians, drei Gruppen mit unterschiedlichem<br />
Selbstverständnis <strong>und</strong> kultu-<br />
Prizren war einer der ersten Orte, wo sich die aus Indien<br />
kommenden Roma in Europa niederliessen.<br />
rellen Eigenheiten, die aber alle der Volksgruppe<br />
der Roma angehören, zu der in<br />
Europa 8 bis 12 Millionen Menschen zählen<br />
(siehe Kasten Seite 11). Prizren war einer<br />
der ersten Orte, wo sich die aus Indien<br />
kommenden Roma in Europa niederliessen.<br />
Das belegt eine urk<strong>und</strong>liche Erwähnung aus<br />
dem Jahr 1348. Sie sind bis heute ein Volk<br />
ohne Land. «Über Jahrh<strong>und</strong>erte wurden<br />
Roma in minimale Lebensstandards gedrängt<br />
<strong>und</strong> diskriminiert», sagt Osman Osmani.<br />
Das sozialistische Jugoslawien hat<br />
dies vorübergehend überdeckt, weil viele<br />
Arbeitsplätze in staatlichen Industriebetrieben<br />
bestanden. Die politische Transition<br />
legte aber den nach wie vor prekären Bildungsstand<br />
der RAE wieder offen. Mehr<br />
noch: «Unsere Leute hatten keinerlei Wissen<br />
darüber, wie sie im freien Markt bestehen<br />
können», sagt Osman Osmani. Der<br />
Rückgriff auf <strong>Tradition</strong>en lag nahe. Eine<br />
davon sieht vor, dass Mädchen nur solange<br />
zu Schule gehen, bis die Pubertät beginnt.<br />
Dann bleiben sie bis zur Hochzeit zuhause.<br />
Doch nicht nur die Roma-Familien selbst<br />
waren für Schulabbrüche verantwortlich.<br />
Immer wieder wurden Kinder aus der Schule<br />
nach Hause geschickt, weil sie schmutzige<br />
Schuhe <strong>und</strong> Kleider trugen. Dass der<br />
Schmutz vor allem auf desolate Wohnverhältnisse<br />
<strong>und</strong> sumpfige Quartierstrassen<br />
zurückzuführen war, sei oft gar nicht zur<br />
Kenntnis genommen worden, erzählt Osmani.<br />
Zwei Zimmer für sechs Personen<br />
Senada <strong>und</strong> ihre Geschwister Hamide (15),<br />
Eroll (13) <strong>und</strong> Benjamin (10) können ihren<br />
Schulweg heute mit sauberen Schuhen<br />
zurücklegen, seit im Quartier die Strassen<br />
in einem Infrastrukturprojekt der Caritas<br />
Kosovo<br />
Montenegro<br />
Albanien<br />
Gjakova<br />
Mitrovica<br />
Prizren<br />
Priština<br />
Serbien<br />
Mazedonien
Bild: Die vier Geschwister unterwegs auf<br />
dem Schulweg.<br />
<strong>Schweiz</strong> mit einer festen Pflästerung versehen<br />
wurden. Es ist Mittag, die Kinder bereiten<br />
das Mittagessen vor, während die Mutter<br />
noch unterwegs ist von der Arbeit. Im<br />
Wohnzimmer stellen sie einen r<strong>und</strong>en Tisch<br />
auf, um den sich die Familie für die Mahlzeit<br />
auf den Boden setzt. Der gleiche Raum<br />
ist zudem das Schlafzimmer für vier der<br />
sechs Familienmitglieder, zwei weitere<br />
schlafen in der Küche, mehr Zimmer gibt es<br />
nicht. Es sind enge Platzverhältnisse, aber<br />
die Wohnung wirkt dennoch behaglich <strong>und</strong><br />
ordentlich. Vom prominent platzierten<br />
Computer mit Flachbildschirm werden emsig<br />
E-Mails verschickt, unter anderem an<br />
Verwandte in Albanien, Frankreich <strong>und</strong> Dänemark.<br />
Der relative Wohlstand ist der Tatsache<br />
zu verdanken, dass beide Eltern Arbeit<br />
haben. Die Mutter arbeitet in der<br />
«Für mich ist es wichtig, dass wir unseren Töchtern so viel<br />
Unterstützung wie möglich geben.»<br />
Schule, welche die Kinder besuchen. Die<br />
Frage, ob sie Lehrerin sei, klingt in den Ohren<br />
der Kinder lustig. Nein, ihre Mutter<br />
Bild: Die Eltern beschränken den Wirkungskreis<br />
ihrer Töchter nicht auf Haus <strong>und</strong> Küche.<br />
«Menschen» 1/10 Caritas 9
<strong>Reportage</strong>: Roma im Kosovo<br />
hatte noch nicht die Chancen, die sie selbst<br />
bekommen. Sie ist Raumpflegerin <strong>und</strong> daneben<br />
zuständig für die Betätigung der<br />
Schulklingel.<br />
Vater Talat kommt heute nicht nach<br />
Hause. Der 38-Jährige betreibt einen Holzhandel<br />
auf einem kleinen Gr<strong>und</strong>stück am<br />
alten Trassee der still gelegten Eisenbahnlinie,<br />
die Prizren früher mit der jugoslawischen<br />
Hauptstadt Belgrad verband. Das<br />
Holz wird aus den Bergen geliefert. Talat<br />
zerkleinert es auf einer gefährlich wirkenden,<br />
benzinbetriebenen Kreissäge <strong>und</strong> liefert<br />
es dann an die K<strong>und</strong>en aus. 40 Euro, offizielle<br />
Währung des noch jungen Staates, kann<br />
er für den Ster verlangen, in kalten Zeiten<br />
bis zu 50. Es ist ein unsicheres Geschäft.<br />
Während er im Herbst bis tief in die Nacht<br />
arbeitet, steht im Frühjahr <strong>und</strong> Sommer die<br />
Sägescheibe meistens still. «Für mich ist es<br />
wichtig, dass wir unseren Töchtern so viel<br />
Unterstützung wie möglich geben. Ich will<br />
nicht, dass meine Kinder einmal so schlecht<br />
leben müssen wie wir jetzt», sagt er, während<br />
er ein neues Holzstück auf der Säge<br />
bereitlegt.<br />
Im Quartierzentrum spielt sich das<br />
Leben ab<br />
Die Kinder erwartet der schulfreie Nachmittag<br />
mit einem gedrängten Programm.<br />
Wohin sie denn gehen? «Ins Quartierzentrum»,<br />
sagen die beiden Mädchen aus einem<br />
SEE THE WORLD THROUGH MY EYES<br />
Wie sehen junge<br />
Roma ihre Welt? Um<br />
das zu zeigen, rüstete<br />
die Roma-NGO<br />
Durmish Aslano 20<br />
Jugendliche mit Fotoapparaten<br />
aus <strong>und</strong><br />
schickte sie los, zu<br />
fotografieren, was<br />
für ihre Lebenswelt wichtig <strong>und</strong> typisch ist.<br />
Das Projekt war ein voller Erfolg: «Wir<br />
konnten sehen, wie glücklich <strong>und</strong> stolz die Jugendlichen<br />
waren, als sie von ihrer <strong>Reportage</strong>-<br />
Arbeit zurückkamen», erzählt Bayram Galush<br />
von Durmish Aslano. 250 der entstandenen<br />
Bilder wurden im Quartierzentrum in «Jeta e<br />
Re» ausgestellt. Sehr bewährt hat sich auch,<br />
dass neben Roma auch albanische Jugend-<br />
10 Caritas «Menschen» 1/10<br />
liche die Gelegenheit erhielten, mitzumachen.<br />
Es entstanden fre<strong>und</strong>schaftliche Banden, die<br />
bis heute anhalten.<br />
Die Idee zu diesem Projekt hatte ein Jugendlicher<br />
selbst. Der 20-jährige Edis Galushi<br />
hat soeben ein Englischstudium an der Universität<br />
angefangen <strong>und</strong> nimmt regelmässig<br />
an internationalen Treffen junger Roma teil. Er<br />
setzt sich neben dem Fotoprojekt auch mit anderen<br />
Projekten für die Integration von jugendlichen<br />
Roma ein <strong>und</strong> zeigt ihnen zum Beispiel,<br />
wie bei der öffentlichen Verwaltung eine Geburtsurk<strong>und</strong>e<br />
für ein Kind ausgestellt wird.<br />
Bilder aus dem Fotoprojekt «See the world<br />
through my eyes» sind zu sehen auf:<br />
www.caritas.ch/roma-fotoprojekt<br />
Bild: Vater Talat verkauft Brennholz. Seinen<br />
Kindern wünscht er eine bessere Zukunft.<br />
M<strong>und</strong>e <strong>und</strong> die Jungs nicken bestätigend.<br />
Nachhilfeunterricht in Mathematik klingt<br />
nicht gerade nach dem Wunschtraum von<br />
Jugendlichen, dennoch sind Tatendrang <strong>und</strong><br />
Vorfreude unübersehbar. Das Quartierzentrum<br />
ist im Quartier «Jeta e Re» der Gravitationspunkt,<br />
seit es vor einem Jahr durch<br />
die Initiative 6 mit Unterstützung der Caritas<br />
<strong>Schweiz</strong> eröffnet worden ist. Denn es<br />
bietet eine ganze Palette von Chancen (siehe<br />
dazu Kasten links).<br />
Das Quartierzentrum ist ein freistehendes<br />
Einfamilienhaus. Der Besitzer, der im<br />
Ausland lebt, hat es der Gemeinschaft für<br />
zehn Jahre kostenlos zur Verfügung gestellt.<br />
Arbeiter sind daran, der Fassade den letzten<br />
Anstrich zu geben. Im Eingang liegen Dut-
zende von Schuhen, von drinnen ist Stimmengewirr<br />
<strong>und</strong> Gelächter zu hören. Senada<br />
<strong>und</strong> ihre Schwester werden von Kolleginnen<br />
<strong>und</strong> Kollegen freudig begrüsst. Auf ihren<br />
Gesichtern, aus der selbstverständlichen<br />
Art, wie sich die jungen Menschen hier bewegen,<br />
ist klar abzulesen: Dieses Haus ge-<br />
hört ihnen. Sie haben es sich zu Eigen gemacht.<br />
Es gibt kaum etwas, das sie davon<br />
abhalten könnte, jeden Nachmittag hierhin<br />
zu kommen. Hier spielt sich ihr Leben ab<br />
<strong>und</strong> eröffnet sich ihre Zukunft. Und man<br />
fragt sich, wo diese Energie hinströmte, als<br />
es dieses Haus noch nicht gab.<br />
Senada <strong>und</strong> Hamide antworten plötzlich<br />
nur noch kurz angeb<strong>und</strong>en auf Fragen. Das<br />
Treffen der jungen Frauengruppe beginnt,<br />
Bild: Beim traditionellen Tanz ist Senada in<br />
ihrem Element.<br />
<strong>und</strong> sie möchten es nicht verpassen. Organisiert<br />
werden diese Kurse durch «Foleja»,<br />
eine auf diesem Gebiet spezialisierte Roma-<br />
«Wir Roma wollen nicht nur Unterstützung bekommen, sondern<br />
unseren Beitrag zur Entwicklung dieses Landes leisten.»<br />
NGO. Es gibt viel zu erfahren, über Rechte<br />
<strong>und</strong> die Rolle der Frau in der Familie. «Ja,<br />
ich habe sehr viel gelernt in dieser Gruppe<br />
<strong>und</strong> verhalte mich heute anders», sagt Senada<br />
später in einer ruhigen Minute. Als Beispiel<br />
erzählt sie, dass sie Konflikte seltener<br />
mit lauter Stimme austrage <strong>und</strong> ihren Stimmungen<br />
nicht mehr einfach freien Lauf<br />
lasse. Respekt gegenüber den Eltern <strong>und</strong><br />
den Geschwistern sei ihr wichtig. Sie nimmt<br />
Roma<br />
In Europa leben schätzungsweise 8 bis 12<br />
Millionen Roma. «Die genaue Anzahl ist<br />
schwer bestimmbar, da viele Roma integriert<br />
sind <strong>und</strong> ungern sagen, sie seien Roma»,<br />
schreibt die Rroma Fo<strong>und</strong>ation. Die grössten<br />
Minderheitengruppen leben in Rumänien,<br />
Bulgarien, Ungarn <strong>und</strong> der Slowakei. Fast alle<br />
Roma sind sesshaft. Nur gerade ein bis drei<br />
Prozent sind zeitweise unterwegs.<br />
Im Kosovo leben r<strong>und</strong> 40 000 Roma. R<strong>und</strong><br />
150 000 sind im Krieg ins Ausland geflüchtet.<br />
In der <strong>Schweiz</strong> leben r<strong>und</strong> 50 000 bis<br />
60 000 Roma. Viele von ihnen kamen als<br />
Gastarbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg <strong>und</strong><br />
verfügen über die schweizerische Staatsbürgerschaft.<br />
Nicht zu den Roma zählen die 35 000 Jenischen<br />
in der <strong>Schweiz</strong>. Sie verfügen über<br />
eine eigene Geschichte, Sprache <strong>und</strong> Kultur.<br />
Quelle: Rroma Fo<strong>und</strong>ation, www.rroma.org<br />
«Menschen» 1/10 Caritas 11
<strong>Reportage</strong>: Roma im Kosovo<br />
aber auch ihre Umgebung mit anderen Augen<br />
wahr: Eine Fre<strong>und</strong>in von ihr habe die<br />
Schule mit 15 beenden wollen. Sie habe<br />
aber rechtzeitig gemerkt, dass sie einen Fehler<br />
mache, <strong>und</strong> kehrte wieder zurück. «Das<br />
Leben wäre langweilig ohne Schule», stellt<br />
Senada nüchtern fest. Entsprechend zählt<br />
Heiraten auch nicht zu ihren vordinglichen<br />
Zielen.<br />
Integration fördern<br />
«Wir versuchen ganz gezielt, die Mädchen<br />
zu stärken», sagt Besnik Avdosoji, der im<br />
Auftrag der Initiative 6 das Quartierzentrum<br />
leitet. «Wir haben sehr viele Elterngespräche<br />
geführt. Häufig ist es uns gelungen,<br />
«DIE SITUATION IST UNHALTBAR»<br />
Viele der 40 000 Angehörigen der<br />
RAE-Gemeinschaft im Kosovo (Roma,<br />
Ashkali <strong>und</strong> Egyptians) leben in prekärsten<br />
Verhältnissen. Dies zeigt ein<br />
Besuch in der illegalen Siedlung Ali Ibra<br />
in Gjakova.<br />
Sie sind arbeitslos, leben vom Abfallsam-<br />
meln <strong>und</strong> wohnen in notdürftigsten Behausungen<br />
ohne sanitäre Anlagen. «Die Situation der<br />
Menschen hier ist unhaltbar», sagt Kapllan Hasan,<br />
der Vorsteher der Siedlung. Die praktisch<br />
einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, bietet<br />
die nahegelegene Mülldeponie. Mit Handkar-<br />
12 Caritas «Menschen» 1/10<br />
die Eltern davon zu überzeugen, wie wichtig<br />
eine gute Ausbildung für ihre Töchter ist»,<br />
erzählt er <strong>und</strong> weist aber gleichzeitig darauf<br />
hin, dass noch vieles im Argen liege. «Der<br />
Ausbildungsstand in der RAE-Gemeinschaft<br />
ist noch immer sehr tief.» Das drückt sich<br />
«Das Leben wäre langweilig ohne Schule.»<br />
zum Beispiel darin aus, dass 90 Prozent der<br />
Menschen hier keine geregelte Arbeit haben.<br />
Viele seien von der Sozialhilfe abhängig,<br />
<strong>und</strong> dass diese nur an Familien ausbezahlt<br />
werde, die ein Kind unter fünf Jahren<br />
haben, sei ein komplett falscher Anreiz.<br />
«Wir Roma wollen nicht nur Unterstützung<br />
ren schleppen Erwachsene <strong>und</strong> Kinder Abfall<br />
<strong>und</strong> sortieren diesen in ihren Höfen. Was noch<br />
Materialwert hat, wird verkauft. «Sieben unserer<br />
Kinder sind an Infektionen oder Vergiftungen<br />
gestorben», erzählt Kapllan Hasan. Er setzt<br />
sich vehement dafür ein, dass die Deponie geschlossen<br />
wird. «Sie zerstört unsere Ges<strong>und</strong>heit.»<br />
Das Ende der Tabakindustrie<br />
Zu jugoslawischen Zeiten bot die Tabakproduktion<br />
in Gjakova <strong>und</strong> Umgebung tausend<br />
Menschen eine Arbeit. Die hier wohnenden<br />
Egyptians hatten einen Job in der Fabrik ne-<br />
bekommen, wir wollen auch Steuern zahlen<br />
<strong>und</strong> unseren Beitrag zur Entwicklung dieses<br />
Landes leisten», sagt Besnik Avdosoji mit<br />
Nachdruck.<br />
Das Gemeinschaftszentrum ist Kernstück<br />
eines umfassenden Engagements der<br />
Caritas zur Integration von Minderheiten<br />
im Kosovo. «Unser wichtigstes Anliegen ist<br />
es, dass wir die Gemeinschaft nachhaltig<br />
<strong>und</strong> verlässlich dort unterstützen, wo sie<br />
selbst den grössten Bedarf sieht», sagt Gerhard<br />
Meili, Projektleiter der Caritas<br />
<strong>Schweiz</strong>. Daher arbeitet Caritas auch eng<br />
benan. Aber wie bei vielen staatlichen Unternehmen<br />
ging es nach dem Ende Jugoslawiens<br />
ungebremst bergab. Mit der Schliessung der<br />
Fabrik im Jahr 1998 verloren alle ihre Existenzgr<strong>und</strong>lage.<br />
Und dann kam der Krieg. Die Menschen<br />
in der Siedlung fielen durch alle Netze.<br />
Es kam auch zu gewaltsamen Übergriffen. Die<br />
Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren<br />
wieder verbessert, auch dank dem wachsamen<br />
Auge der Polizei, sagt Kapllan Hasan.<br />
Heute leben r<strong>und</strong> 700 Personen in dieser illegalen<br />
Siedlung.<br />
Caritas unterstützt die Gemeinschaft seit<br />
mehreren Jahren mit humanitärer Hilfe <strong>und</strong> gemeinschaftsfördernden<br />
Aktivitäten. 2007 hat<br />
sich Caritas an der Einrichtung eines Kindergartens<br />
beteiligt. Seither werden deutlich mehr<br />
Kinder in die Primarschulen der Gemeinde<br />
Gjakova eingeschult.<br />
Caritas baut neue Häuser<br />
Im letzten Herbst gab es einen grossen Durchbruch:<br />
Nach intensiven Verhandlungen konnte<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong> mit den örtlichen Behörden<br />
<strong>und</strong> der RAE-Gemeinschaft eine Vereinbarung<br />
über ein vollständige Umsiedlung abschliessen.<br />
Die Stadt stellt ganz in der Nähe Land zur<br />
Verfügung, auf dem Caritas noch dieses Jahr<br />
h<strong>und</strong>ert Wohneinheiten bauen wird. «Wir wissen,<br />
dass sich nicht alles über Nacht ändern<br />
kann. Aber die Menschen hier sind glücklich<br />
über diese Entwicklung <strong>und</strong> haben wieder Vertrauen<br />
in die Zukunft geschöpft», sagt Kapllan<br />
Hasan.
mit lokalen NGOs zusammen. Es ist dies<br />
die Fortsetzung eines umfassenden Wiederaufbauprogramms<br />
nach dem Krieg, in dessen<br />
Rahmen Caritas <strong>Schweiz</strong> in den letzten<br />
zehn Jahren im Kosovo 2500 Häuser wieder<br />
aufgebaut hat.<br />
Eine gute Ausbildung zählt<br />
Auf die Frage, ob Roma diskriminiert seien,<br />
sagt Senada ohne zu zögern: «Ja, manchmal<br />
geben die Lehrer den Roma-Kindern<br />
schlechtere Noten.» Am eigenen Leib hätten<br />
sie so etwas aber noch nie erlebt, finden<br />
die vier Geschwister aber dennoch einhellig.<br />
Das verdanken sie nicht zuletzt ihrem<br />
Wohnort Prizren. Die Stadt blickt auf eine<br />
jahrh<strong>und</strong>ertealte <strong>Tradition</strong> des Zusammenlebens<br />
von Albanern, Bosniaken, Türken<br />
<strong>und</strong> Roma zurück, die auch den Krieg überdauerte.<br />
Serben leben hier allerdings nur<br />
noch sehr wenige seither. In anderen Regionen<br />
des Kosovo sind Diskriminierungen<br />
gegenüber Roma offensichtlicher (siehe<br />
dazu Kasten Seite 12). Die <strong>Schweiz</strong>erische<br />
Flüchtlingshilfe <strong>und</strong> andere Organisationen<br />
kritisieren aus diesem Gr<strong>und</strong>, dass das kürzlich<br />
unterzeichnete Rücknahmeabkommen<br />
der <strong>Schweiz</strong> mit Kosovo die für Minderheiten<br />
labile Sicherheitssituation verkenne. In<br />
Mitrovica sind die Roma zwischen die verhärteten<br />
Fronten des Konflikts zwischen<br />
Albaner <strong>und</strong> Serben geraten. Die erreichten<br />
Erfolge in Prizren scheinen daher alles andere<br />
als gesichert. «Die wirtschaftlichen<br />
Aussichten für unser Land sind nicht sehr<br />
vielversprechend. Das Wichtigste, was wir<br />
tun können ist, unserer jungen Generation<br />
eine gute Ausbildung zu geben. Das ist ein<br />
Prozess, der bei jedem Kind 16 Jahre dauert»,<br />
sagt Osman Osmani. Senadas Mutter<br />
vertraut auf diesen Prozess: «Mit einer guten<br />
Ausbildung haben unsere vier Kinder<br />
mehr Sicherheit für die Zukunft. Welcher<br />
Beruf der richtige für sein wird, wollen nicht<br />
wir bestimmen. Das können sie am besten<br />
selbst entscheiden.» <<br />
Bild: Was bringt die Zukunft?<br />
Senadas Schwester Hamide möchte<br />
Schauspielerin werden.<br />
«Menschen» 1/10 Caritas 13