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Landtag von Baden-Württemberg - Arbeitsstelle Kinder- und ...

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<strong>Landtag</strong> <strong>von</strong> <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> Drucksache 13 / 3435<br />

136<br />

Kapitel 5 – Prävention<br />

findlichkeitsstörungen hat in Familien nicht selten Tradition (Mütter, Schwestern<br />

nehmen bereits Medikamente), sie ist also ein anerkanntes Mittel des Umgangs<br />

mit Befindlichkeitsstörungen <strong>von</strong> Frauen.<br />

Erfahrungen aus der Praxis der <strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendhilfe belegen, dass sich<br />

Mädchen Anforderungen oder Überforderungen eher über körperliche Symptome<br />

entziehen, denn über offenes Rebellieren. Krankheit erscheint als legitimer, gesellschaftlich<br />

anerkannter Ausweg aus einer belastenden Situation. Krankheit ist<br />

als ein Problemlösungsversuch anzusehen, der allerdings eine aktive Übernahme<br />

<strong>von</strong> Verantwortung zunächst nicht impliziert. Denn die Mädchen setzen sich in<br />

der Regel weder mit der Frage auseinander, was sie krank macht (also z. B. spezifische<br />

Verhaltensmuster) noch damit, welche <strong>von</strong> außen an sie gestellten Anforderungen<br />

sie als belastend oder gar unzumutbar empfinden. Die Jugendhilfe muss<br />

den Sinngehalt eines solchen Verhaltens entschlüsseln, bevor sie wirksame Konzepte<br />

erarbeiten kann (s.u. Projektbeschreibung „Fit for school“).<br />

Bis zum Pubertätsalter sind Jungen häufiger krank als Mädchen, in allen Altersstufen<br />

ist die Mortalität der Jungen höher. Bei den unter 16-Jährigen sterben 1,5-mal<br />

mehr Jungen durch Verletzungen, Vergiftungen <strong>und</strong> Verkehrsunfälle, doppelt so<br />

viele Jungen sterben durch Unfälle wie Stürze <strong>und</strong> Ertrinken. Im Vorschul- <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>schulalter stottern Jungen vier mal häufiger als Mädchen <strong>und</strong> leiden acht mal<br />

häufiger an ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom). Jungen leiden viermal häufiger<br />

unter Tics, Zwangsvorstellungen <strong>und</strong> Zwangshandlungen. Bei den meisten<br />

psychischen <strong>und</strong> psychosomatischen Störungen, bei Psychosen <strong>und</strong> Neurosen sind<br />

Jungen überrepräsentiert. Von Adipositas sind 1,5-mal mehr Jungen betroffen, bei<br />

Magen- <strong>und</strong> Darmgeschwüren kommt auf sechs erkrankte Jungen ein Mädchen,<br />

bei Asthma ist das Verhältnis zwei zu eins, bei Allergien sieben zu fünf. 1,7-mal<br />

mehr Jungen sterben an Krebs, Alkoholmissbrauch im Jugendalter ist zu 70 bis<br />

80 % ein Jungenphänomen <strong>und</strong> Jungen zwischen 10 <strong>und</strong> 20 Jahren vollenden<br />

3-mal häufiger den Suizid als Mädchen (die allerdings viermal häufiger einen Versuch<br />

unternehmen).<br />

Die ges<strong>und</strong>heitlichen Beeinträchtigungen <strong>und</strong> Erkrankungen <strong>von</strong> Jungen sind<br />

überwiegend psychosomatische oder verhaltensbedingte Störungen. Damit liegt<br />

nahe, dass die Gründe für jungenspezifische Ges<strong>und</strong>heitsrisiken weniger in biologisch-genetischen<br />

Dispositionen als im Bereich der Sozialisationsbedingungen<br />

<strong>von</strong> Jungen <strong>und</strong> jungen Männern liegen. Dazu gehören kulturelle Traditionen,<br />

Leitbilder für Männlichkeit, Erziehungshaltungen usw. Sie spiegeln sich in der<br />

durchschnittlichen Körperaufmerksamkeit oder Körperhärte <strong>von</strong> Jungen, im Ges<strong>und</strong>heits-<br />

<strong>und</strong> Risikoverhalten oder in der Vermeidung <strong>von</strong> Arztbesuchen. Insgesamt<br />

lässt sich sagen, dass Mädchen eher an internalisierenden Störungen, Jungen<br />

hingegen eher an externalisierenden Störungen leiden (vgl. Kolip 1997).<br />

Diese Bef<strong>und</strong>e sollten allerdings nicht zu einer Dramatisierung führen, sondern auf<br />

Ambivalenzen aufmerksam machen. Viele Jungen leben ges<strong>und</strong>, sie können gut<br />

über körperbezogene Themen reden <strong>und</strong> reflektieren, wie Ergebnisse der BZgA-<br />

Jungenstudie (Winter/Neubauer 1999) belegen. Für die meisten Jungen ist es selbstverständlich,<br />

etwas für den Körper zu tun (vor allem Ernährung, Sport <strong>und</strong> Körperpflege,<br />

aber auch das Vermeiden <strong>von</strong> typischen Risiken wie Rauchen oder Alkoholkonsum).<br />

Diese Beurteilung trifft sich mit der Selbsteinschätzung vieler Jungen:<br />

Relativ ges<strong>und</strong> zu leben heißt, eine Balance herzustellen zwischen Körperbedürfnissen,<br />

Ansprüchen <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsmoral. Insgesamt ergibt sich also ein differenziertes<br />

Bild: Ges<strong>und</strong>heit gilt als wichtig, aber „normal“. Und es bestehen Erwartung<br />

<strong>und</strong> der Druck, sich ges<strong>und</strong> zu präsentieren; ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> fit zu sein ist ein Muss.<br />

Insgesamt muss also im Kontext <strong>von</strong> Jungenges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />

bei Jungen mehr auf die gelebte Körperlichkeit Bezug genommen werden.<br />

Sport, Körperpflege, Körperkulturen sind wichtige Zugänge, weil Jungen bereit<br />

sind, „etwas für den Körper zu tun“. Sorgen um die Ges<strong>und</strong>heit korrespondieren<br />

mit dem Leitbild, „etwas für die eigene Ges<strong>und</strong>heit zu tun“ zum Beispiel durch<br />

Bewegung, Sport <strong>und</strong> Ernährung. Im ges<strong>und</strong>heitlichen Normalbereich wie auch<br />

bei deutlichen ges<strong>und</strong>heitlichen Beeinträchtigungen verweisen Relativierungen<br />

(„eigentlich relativ ges<strong>und</strong>“) auf die Kompetenz des Balancehaltens zwischen ges<strong>und</strong>heitsbezogenen<br />

Ansprüchen „<strong>von</strong> außen“ <strong>und</strong> der eigenen Körpererfahrung<br />

(s. u. Projektbeschreibung „Jungenges<strong>und</strong>heitsprojekt“ Stuttgart).

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