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mein schöner, schlimmer schulweg - chrismon plus rheinland

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MEIN<br />

SCHÖNER,<br />

SCHLIMMER<br />

SCHULWEG<br />

34 <strong>chrismon</strong> <strong>plus</strong> <strong>rheinland</strong> 08.2008<br />

✣<br />

Protokolle: Thomas Becker, Sabine Eisenhauer,<br />

Ute Stephanie Mansion Fotos: Andre Zelck<br />

Die Ferien sind vorbei und Tausende von<br />

Schülern machen sich wieder auf den Weg<br />

zur Schule. Zwischen Haustür und Schultor<br />

erleben sie vieles, das sich dauerhaft<br />

ins Gedächtnis einbrennt. Wie bei den Prominenten,<br />

die <strong>chrismon</strong> <strong>plus</strong> <strong>rheinland</strong><br />

nach ihren Schulwegen gefragt hat. Sechs<br />

Geschichten über den ersten Weg, der von<br />

zu Hause fortführt – hinein ins Leben


Mark Britton, Jahrgang<br />

1958, Comedian,<br />

Regisseur, Buchautor<br />

und Autor für Bühne und<br />

Fernsehen. Wuchs in<br />

Deutschland und<br />

England auf, lebt in Köln<br />

„DIE ERSTE FAHRT ZUM INTERNAT WAR FURCHTBAR“<br />

Für mich gab es viele Schulwege, denn<br />

<strong>mein</strong> Vater war Psychologe bei der britischen<br />

Armee und wurde oft versetzt. Immer<br />

wenn ich mich an eine Schule gewöhnt<br />

hatte, kam ich an eine andere. Mein<br />

erster Schulweg führte zu einer Grundschule<br />

des Militärs in Münster. Wir wurden mit<br />

einem grünen Militärbus abgeholt. Das<br />

war für mich ein Zeichen, dass wir anders<br />

waren und in einer Gesellschaft wohnten,<br />

zu der wir nicht gehörten. Die Schule selbst<br />

war eine Kaserne. Man war völlig isoliert.<br />

Nach einem Jahr zogen wir nach London.<br />

Dort war <strong>mein</strong> Weg zur Schule sehr<br />

lang: eine Dreiviertelstunde zu Fuß! Auf<br />

diese Schule gingen viele Arbeiterkinder.<br />

Zum ersten Mal sah ich Prügeleien auf<br />

dem Schulhof und Kinder, denen andere<br />

den Kopf in die Toilette steckten. Das war<br />

Alltag an dieser Schule. Angst hatte ich<br />

nicht, denn ich war sehr gut in Sport. Das<br />

ist immer ein guter Schutz.<br />

Als Kind musste ich mich verdammt<br />

schnell, verdammt gut an immer neue Muster<br />

anpassen. Ich konnte mir immer sehr<br />

gut ausrechnen: Wer spielt welche Rolle in<br />

einer Gruppe? Aha, er ist der Harte, der<br />

Prügler, er ist der Schüchterne – ich selbst<br />

stand immer am Rand einer Clique, nie<br />

drin, dafür war ich nie lang genug da.<br />

Wenn man oft umzieht, hat man keine lebenslangen<br />

Freunde. Ich fühlte mich deshalb<br />

oft einsam. Dabei war ich nie allein –<br />

so wie jemand, der auf dem Schulweg allein<br />

geht. Ich sah total sozial integriert aus.<br />

Das vorzutäuschen war <strong>mein</strong> Talent.<br />

Nach der Grundschule kam ich in ein<br />

Internat an der Südküste Englands. Die erste<br />

Fahrt dorthin war so furchtbar, dass ich<br />

mich kaum daran erinnere. Ich weiß nur<br />

noch, dass ich mich von <strong>mein</strong>en Eltern geliebt<br />

fühlte. Doch dann kam der Moment,<br />

als sie wegfuhren. Mein Gott, da stand ich<br />

mit <strong>mein</strong>em Zeug vor der Schule und sagte<br />

mir: „Oh, oh, oh, jetzt bin ich ganz alleine.“<br />

So schlimm war es bei späteren Fahrten<br />

zum Internat zum Glück nicht mehr, auch<br />

wenn mir jedes Mal vor der Rückkehr in<br />

die Schule graute. Dann aber saß ich mit<br />

<strong>mein</strong>em Vater im Auto. Er versuchte mich<br />

zu trösten. In einem warmen Auto zu sitzen,<br />

das durch die dunkle Nacht fährt – das<br />

hat irgendwie den Schlag, zurück zur Schule<br />

zu fahren, weicher gemacht.<br />

Nach vier Jahren im Internat besuchte<br />

ich ein College in Southampton. Es war für<br />

mich das Jahr des Durcheinanders. Plötzlich<br />

hatte ich Kontakt zu Mädels und Musik,<br />

hatte Sex, Drugs and Rock’n Roll. Der Schulweg<br />

führte durch einen kleinen Stadtwald.<br />

Auf diesem Weg habe ich alles probiert:<br />

Knutschen, Rauchen und anderes.<br />

Aber einsame Wege haben mich mehr<br />

geprägt. Wir sind die meiste Zeit im Leben<br />

mit anderen zusammen: zu Hause und in<br />

der Schule. Doch auf einsamen Wegen<br />

kann man die Ruhe genießen – auch die innere<br />

Ruhe –, nachdenken und ein bisschen<br />

Abstand von allem gewinnen. Das brauche<br />

ich, um mich zu orientieren, Kraft zu tanken<br />

und mich zu erholen.<br />

Bis heute bin ich als Künstler viel unterwegs.<br />

Aber mit <strong>mein</strong>er Familie wohne ich<br />

seit 15 Jahren in Köln, länger als an allen<br />

anderen Orten, an denen ich gelebt habe.<br />

Als <strong>mein</strong> Sohn noch zur Grundschule ging,<br />

habe ich ihn manchmal abgeholt. Einmal<br />

stand er an einer Bushaltestelle, angelehnt<br />

an eine Werbetafel und las die Reklame.<br />

Ich habe ihn beobachtet, nur ganz kurz,<br />

aber es hat mich tief bewegt, denn in ihm<br />

habe ich mich selbst wiedererkannt. Mein<br />

Weg ist sein Weg. Es gibt keinen perfekten<br />

Weg zur Schule. Eine andere Schule bedeutet<br />

einen anderen Weg. Aber einen besseren<br />

Weg? Das kann man nicht sagen. So ist<br />

es auch mit dem Weg durchs Leben.<br />

„MEIN PONY WAR SPANNENDER ALS JUNGS“<br />

Steffi Neu, Jahrgang<br />

1971, Journalistin und<br />

Radiomoderatorin bei<br />

WDR 2. Wuchs auf<br />

einem Bauernhof in<br />

Uedem im Kreis Kleve<br />

auf. Dort lebt sie<br />

heute immer noch<br />

Mit dem Bus bin ich damals zur Schule gefahren.<br />

Den konnte ich morgens schon von<br />

der Küche aus durchs Fenster sehen – um<br />

zehn nach sieben. Bis zur Haltestelle bin<br />

ich dann 500 Meter marschiert. Meine<br />

Mutter stand immer in der Tür und hat so<br />

lange geguckt, bis ich eingestiegen bin.<br />

Im Bus hatte ich immer <strong>mein</strong>en Stammplatz<br />

– zusammen mit <strong>mein</strong>en Freundinnen.<br />

Als diejenige, die zuerst einstieg, war<br />

ich dafür zuständig, Plätze zu reservieren.<br />

Zwischen uns kam niemand. Wir fuhren<br />

insgesamt acht Kilometer, von Kleve nach<br />

Kalkar, wo ich das Gymnasium besuchte –<br />

direkt am Schnellen Brüter, dem Kernreaktor,<br />

der nie in Betrieb genommen wurde.<br />

Im Bus haben wir Zauberwürfel gedreht,<br />

Schulaufgaben gemacht – und über<br />

Jungs gesprochen. Aber <strong>mein</strong> Pony fand<br />

ich eigentlich viel spannender als Jungs.<br />

Gut, es gab einen im Bus, der hieß Martin,<br />

der hatte unglaublich blaue Augen und saß<br />

vor mir auf der Viererbank. Er war sehr<br />

schüchtern und im Rahmen <strong>mein</strong>er Möglichkeiten<br />

habe ich ihm Zeichen gegeben,<br />

aber die waren eher plump – ich war ja erst<br />

13 Jahre alt.<br />

Manchmal bin ich auch mit dem Fahrrad<br />

zur Schule gefahren. Einmal fuhr ich auf<br />

dem Rückweg zu einer Freundin, weil der<br />

Feldweg zu nass zum Rad fahren war. Meinen<br />

Eltern habe ich nicht gesagt, dass ich<br />

länger wegbleibe. Da gab es nachher Ärger.<br />

Seitdem weiß ich: Von der Schule nach<br />

Hause kommen, keine Spiränzchen machen<br />

– die anderen machen sich sonst Sorgen.<br />

Wir sind diese „Aktenzeichen XY“­Generation:<br />

Es kann ja immer was passieren.<br />

Ich lebe immer noch auf dem Hof, auf<br />

dem ich aufgewachsen bin. Damals ging es<br />

mit dem Bus in die Schule, heute mit dem<br />

Auto nach Köln zur Arbeit – und immer<br />

wieder zurück auf den Hof. Um eine Piazza<br />

herum wohnen wir dort in drei Häusern:<br />

<strong>mein</strong>e Eltern, die Familie <strong>mein</strong>es Bruders,<br />

ich mit <strong>mein</strong>em Ehemann und <strong>mein</strong>en<br />

zwei Kindern. Das ist großartig – wie in<br />

Bullerbü.<br />

Der Bus, in den ich früher stieg, hält<br />

mittlerweile direkt an der Einfahrt. Wenn<br />

<strong>mein</strong> Sohn Fritz – er ist fünf – demnächst<br />

zur Schule geht, stelle ich ihn nur vors Gartentor<br />

und der Bus nimmt ihn mit. So wie<br />

ich mich kenne, werde ich ihn aber in der<br />

ersten Zeit mit dem Auto hinfahren. Mein<br />

Mann sieht das anders. Mal sehen ...<br />

36 <strong>chrismon</strong> <strong>plus</strong> <strong>rheinland</strong> 08.2008 08.2008 <strong>chrismon</strong> <strong>plus</strong> <strong>rheinland</strong> 37


„ICH WAR DER KLASSENCLOWN“ „WIR WAREN DIE AVANTGARDE AM BODENSEE“<br />

Uwe Lyko, Jahrgang 1954,<br />

Kabarettist und Komiker,<br />

Erfinder und Darsteller<br />

des Ruhrpott-Rentners<br />

Herbert Knebel. Wuchs in<br />

Duisburg und Moers auf,<br />

wohnt in Essen<br />

38 <strong>chrismon</strong> <strong>plus</strong> <strong>rheinland</strong> 08.2008<br />

Ich bin zu Fuß zur Schule gegangen, zur<br />

Volksschule in Duisburg­Neumühl, zusammen<br />

mit vielen anderen Kindern aus unserer<br />

Siedlung. Der Schulweg kam mir unglaublich<br />

lang vor. Aber als ich ihn vor ein<br />

paar Jahren noch einmal gegangen bin,<br />

war ich erstaunt, wie kurz er war. In fünf<br />

Minuten war ich da. Als Kind nimmt man<br />

die Welt anders wahr; es kommt einem alles<br />

größer vor.<br />

Auf dem Rückweg haben wir schon mal<br />

ein bisschen herumgetrödelt und ein paar<br />

Minuten Fußball gespielt. Wir haben auch<br />

Fußballbilder gesammelt und getauscht.<br />

Und geschabbelt. Das heißt: Wir haben<br />

uns vor einer Wand aufgestellt, und jeder<br />

hat die Fußballbilder, die er doppelt hatte,<br />

vor die Wand geworfen. Der, dessen Fußballbild<br />

am nächsten an der Wand lag,<br />

durfte alle anderen behalten. Die höchste<br />

Kunstform war „Steher“. Also, das Fußballbild<br />

so zu schmeißen, dass es an der Wand<br />

stehenblieb. Da konnte man an einem guten<br />

Tag bis zu 200 Fußballbilder gewinnen<br />

– und an einem schlechten Tag genauso<br />

viele verlieren.<br />

Da ich zwar gut im Schabbeln, aber ansonsten<br />

weder der Sportlichste noch der<br />

Hübscheste oder gar der Intelligenteste<br />

war, habe ich mich anderweitig in die Rangordnung<br />

<strong>mein</strong>er Mitschüler eingefügt: als<br />

Klassenclown. Ich konnte Leute schnell<br />

zum Lachen bringen. Ich habe früh ein<br />

Gespür dafür entwickelt, wann Menschen<br />

unfreiwillig komisch sind, und die habe ich<br />

dann nachgemacht. Mit sieben oder acht<br />

Jahren denkt man natürlich nicht: „Daraus<br />

machste mal irgendwann ein Bühnenprogramm.“<br />

Ich konnte die Typen auch sprachlich<br />

schnell nachahmen, und relativ früh<br />

Dialekte sprechen, ohne dass ich das geübt<br />

hätte.<br />

Später bin ich in Moers zur Hauptschule<br />

gegangen. Damals gingen aus jeder Grundschulklasse<br />

nur ein, zwei Kinder zum Gymnasium.<br />

Vielleicht wäre ich Schriftsteller<br />

geworden, wenn ich zur Höheren Schule<br />

gegangen wäre. Ich habe immer große<br />

Lust gehabt zu schreiben – und auch die<br />

Fähigkeit dazu, aber das ist irgendwann etwas<br />

verloren gegangen. Ich schreibe zwar<br />

jetzt noch immer viele Knebel­Geschichten<br />

mit <strong>mein</strong>en beiden Co­Autoren, aber das<br />

ist natürlich eine andere Baustelle als Erzählungen<br />

zu schreiben, geschweige denn<br />

Romane.<br />

Meinen Schulweg habe ich noch wie einen<br />

Film vor Augen: Morgens schwang ich<br />

mich auf <strong>mein</strong> Fahrrad. Als ich um die<br />

Ecke bog und ein paar Meter fuhr, schlossen<br />

sich immer mehr Schulkameraden an.<br />

Im Pulk bewegten wir uns vorwärts. Als<br />

ich nach zehn Minuten in der Schule ankam,<br />

waren wir ein richtiger Strom von pubertierenden<br />

Jungs.<br />

Musik hat mich auf <strong>mein</strong>em Schulweg<br />

ständig begleitet. Ich habe Schallplatten<br />

und Mixtapes getauscht, die ich aus dem<br />

Radio aufgenommen habe. Vielleicht habe<br />

ich da auch den seelsorglichen Anspruch<br />

entwickelt, den ich bis heute habe. Musik<br />

ist gut für Menschen. Man muss die Musik<br />

gut behandeln und aussuchen, damit sie<br />

ihre heilsame Wirkung entfaltet.<br />

Wir haben uns auf dem Schulweg auch<br />

bewundern lassen von den Jüngeren. Wir<br />

waren die Avantgarde in Friedrichshafen<br />

am Bodensee, wo ich das Gymnasium besuchte.<br />

Wir wussten zwar nicht viel, aber<br />

es war für mich leicht, über Musikzeitungen<br />

und Radio einen riesigen Wissensvorsprung<br />

zu bekommen. Deshalb galt ich in<br />

der Schule als Musikguru.<br />

In unseren Gesprächen spielten auch<br />

Weltanschauungen eine große Rolle. In<br />

der Oberstufe, um 1980, waren wir alle<br />

ziemlich politisch. Wir diskutierten vor<br />

allem über die Nutzung von Atomkraft,<br />

den Nato­Doppelbeschluss und öffentliche<br />

Rekrutenvereidigungen. Bei allen drei Themen<br />

waren wir massiv dagegen.<br />

Als ich 16 Jahre alt war, habe ich mir die<br />

langen Haare abgeschnitten, weil das für<br />

mich mit den neuen kulturellen Zeiten<br />

nichts mehr zu tun hatte. Das war für mich<br />

eine echte Glaubensentscheidung. Mädchen,<br />

die mich mochten, waren enttäuscht<br />

von mir, richtig verzagt, und fragten: „Bist<br />

du jetzt ein Punk?“ Mit dem Begriff „Punk“<br />

bin ich aber vorsichtig. „Punk“ war für<br />

mich ein kategorisches „Ja“ zur kreativen<br />

Tätigkeit, nicht zur Provokation und zum<br />

Biertrinken.<br />

Von manchen Klassenkameraden trennten<br />

mich allerdings Welten. Das waren<br />

zum Beispiel diese Junge­Union­Typen.<br />

Heute denke ich, dass es toll ist, dass an der<br />

Schule verschiedene Identitäten zusammenkommen,<br />

weil später im Leben alles<br />

viel sortierter ist. Wenn ich heute alte Schulkameraden<br />

wiedersehe – ganz egal, wen – ,<br />

freuen wir uns ein Loch in den Bauch.<br />

Hans Nieswandt, Jahrgang<br />

1964, DJ und Produzent<br />

elektronischer Musik, war<br />

von 1990 bis 1993<br />

Chefredakteur der<br />

Zeitschrift Spex, erfolgreich<br />

auch als Buchautor.<br />

Wuchs am Bodensee auf,<br />

wohnt in Köln<br />

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„BODO WOLLTE KEIN BESCHÜTZER SEIN“ „FRITTEN MIT MAJO KANNTE ICH NICHT“<br />

Barbara Sommer, Jahrgang<br />

1948, Ministerin für Schule<br />

und Weiterbildung des<br />

Landes Nordrhein-Westfalen<br />

(CDU). Sie wuchs in<br />

Bielefeld auf, wo sie heute<br />

noch mit ihrer Familie lebt<br />

Als ich mit sechs Jahren eingeschult wurde,<br />

führte mich <strong>mein</strong> Schulweg das erste Mal<br />

weg von <strong>mein</strong>er Mutter. Mit einer Gruppe<br />

von sieben Kindern bin ich morgens losgezogen.<br />

Erwachsene begleiteten uns nicht.<br />

Wir lebten in einem sehr ruhigen Ortsteil<br />

von Bielefeld. Der Schulweg war für uns<br />

Kinder auch kein Fremdland. Wir haben<br />

damals viel draußen gespielt, wir kannten<br />

die Gegend.<br />

Allerdings war es ein sehr weiter Schulweg.<br />

Vier Kilometer bin ich gelaufen, eine<br />

Dreiviertelstunde war ich unterwegs – bei<br />

Regen, Sonnenschein oder Schnee. Beklagt<br />

haben wir Kinder uns darüber nie, das war<br />

eben so. Ich erinnere mich an einen sehr<br />

kalten Wintertag, an dem <strong>mein</strong>e Hände<br />

fast einfroren. Ich habe geweint. Später im<br />

Klassenzimmer konnte ich mich wieder<br />

aufwärmen, und die Sache war erledigt.<br />

Ein Stück <strong>mein</strong>es Schulwegs führte<br />

durch einen Wald. Und wenn die Erwachsenen<br />

uns auch nicht begleiteten, so sorgten<br />

sie doch für unseren Schutz: Wir Mädchen<br />

bekamen jede einen „jungen Mann“ zugeteilt,<br />

der uns sicher leiten sollte. Meiner<br />

hieß Bodo, er war so alt wie ich und ging in<br />

<strong>mein</strong>e Klasse. Das Schlimme war, dass sich<br />

Bodo alles andere als für mich zuständig<br />

fühlte. Er fand es lästig, mich im Schlepptau<br />

zu haben. Darum ist er ein paar Mal<br />

einfach vorgerannt, und ich hetzte hinterher.<br />

Schließlich habe ich mich bei unserem<br />

Lehrer beschwert, der hat mit ihm noch<br />

mal geredet, aber genutzt hat das nichts.<br />

Als klar war, dass Bodo seine Aufgabe<br />

nicht erfüllte, gab mir <strong>mein</strong>e Mutter Verhaltensregeln<br />

an die Hand: Beim Überqueren<br />

der Straße musste ich eine Frau suchen<br />

und sie bitten, mich hinüber zu begleiten.<br />

Wenn ein Erwachsener, insbesondere<br />

ein unbekannter Mann, vor mir durch<br />

den Wald ging, hatte ich schon etwas<br />

Angst. Dann bin ich entweder schnell vorgelaufen<br />

oder ich wurde langsamer und<br />

habe mich zurückfallen lassen. Manchmal<br />

kam mir <strong>mein</strong>e Großmutter nach Schulschluss<br />

auf dem Waldstück entgegen. Das<br />

war mir aber auch nicht recht, denn ich<br />

kam mir vor wie ein Kleinkind.<br />

Wir sind damals schnell selbstständig<br />

geworden und ich habe mich frei, offen<br />

und unbelastet gefühlt. Wir wohnen heute<br />

noch in diesem Stadtteil. Meine Töchter<br />

würde ich heute diese Strecke nicht mehr<br />

allein laufen lassen.<br />

Mein Schulweg führte mich durch eine<br />

wunderschöne Allee. Im Herbst gab es riesige<br />

Laubberge. An einem Tag, ich war gerade<br />

erst neun Jahre alt, ging ich mit zwei<br />

Klassenkameradinnen nach Hause. Mit unseren<br />

Füßen wirbelten wir Blätter in die<br />

Luft – das machte richtig Spaß. Bis uns eine<br />

alte Dame entgegenkam: Sie bekam etwas<br />

Laub ab, wurde richtig böse und zitierte<br />

mich nach vorne: „Das wirst du mir büßen.<br />

Wo wohnen deine Eltern?“<br />

Wenn so etwas heute passierte, würde<br />

kein Hahn danach krähen. Kinder würden<br />

sagen: „Komm Oma, was ist denn schon<br />

passiert?“ Ich aber zitterte. Ich dachte, sie<br />

wird sich bei <strong>mein</strong>en Eltern beschweren<br />

und es gibt ein Donnerwetter. In jener<br />

Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen.<br />

Und noch tagelang auf die alte Dame gewartet.<br />

Aber sie schellte nie. Sie wollte mir<br />

wohl einfach einen Schrecken einjagen.<br />

Das passte ins Klima der damaligen<br />

Zeit. Anfang der Sechzigerjahre war die<br />

deutsche Gesellschaft autoritärer als heute.<br />

In der Schule gab es Züchtigungen, Ohrfeigen<br />

gehörten zum pädagogischen Handwerkszeug.<br />

Wenn man etwa beim Lesen<br />

der „Bravo“ erwischt wurde, war klar, dass<br />

man mit der Zeitschrift geschlagen wurde<br />

– meist auf den Kopf.<br />

Dennoch bin ich gerne zur Schule gegangen.<br />

Vielleicht lag das daran, dass ich<br />

eine Exotin war und aus dem fernen Istanbul<br />

nach Moers kam. In der Grundschule<br />

und auf dem Mädchengymnasium war ich<br />

die einzige Ausländerin. Man interessierte<br />

sich für mich, es gab Einladungen zu Kindergeburtstagen<br />

und Spielenachmittagen.<br />

Ich hatte eigentlich nur deutsche Freunde<br />

– es gab ja keine anderen. Integriert habe<br />

ich mich wie von selbst.<br />

Manchmal habe ich auf dem Rückweg<br />

Umwege eingeschlagen. Eine Eisdiele habe<br />

ich gut in Erinnerung. Und den Laden, wo<br />

Fritten mit Majo verkauft wurden. Die<br />

kannte ich aus Istanbul ja nicht.<br />

An <strong>mein</strong>en Schulweg habe ich später<br />

oft zurückgedacht – vor allem an die Allee.<br />

Es gibt ein Gedicht, „Vorfrühling“ von Hugo<br />

von Hofmannsthal, das mich sehr an<br />

die Stimmung im März erinnert: „Es läuft<br />

der Frühlingswind / durch kahle Alleen /<br />

seltsame Dinge / in seinem Wehn“, heißt es<br />

darin. Wenn ich das Gedicht höre, denke<br />

ich sofort an die schöne Allee. Eigentlich<br />

müsste ich da mal wieder hinfahren.<br />

Lale Akgün, Jahrgang 1953,<br />

Bundestagsabgeordnete<br />

und Mitglied im erweiterten<br />

Vorstand der SPD. In<br />

den Sechzigerjahren zogen<br />

ihre Eltern mit ihr von<br />

Istanbul nach Moers. Lebt<br />

in Köln und Berlin<br />

Buchtipps<br />

Axel Dornemann (Hg): Auf Schulwegen<br />

durch Deutschland. Ein literarischer<br />

Reiseführer, März 2007, Wiesenburg<br />

Verlag, 19,80 Euro.<br />

Einfach bestellen: im Internet unter<br />

www.shop.medienverband.de<br />

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