Insider analysieren, Initiativen berichten. - Internationales Bildungs
Insider analysieren, Initiativen berichten. - Internationales Bildungs Insider analysieren, Initiativen berichten. - Internationales Bildungs
02 / 10 Frühling 2010 ISSN 1616-7619 4,- € K 46699 Insider analysieren, Initiativen berichten. 48
- Seite 3 und 4: Liebe Leserinnen und Leser, Am 26.
- Seite 5 und 6: 26 25 Jahre nach Tschernobyl Wege z
- Seite 7 und 8: Außenpolitik Finnlandisierung ja,
- Seite 9 und 10: Außenpolitik Auf das Gleichgewicht
- Seite 11 und 12: Innenpolitik Keine Wahl? Zu Anfang
- Seite 13 und 14: achten den ruhigen Physiker zurück
- Seite 15 und 16: Verband beruhigen, würde sich dies
- Seite 17 und 18: Innenpolitik Die Belaja Rus‘ - Re
- Seite 19 und 20: Belarus eröffnet in Zürich ein Eh
- Seite 21 und 22: und die Liberalisierung der Preise.
- Seite 23 und 24: endlich auch Arbeitsplätze in Bela
- Seite 25 und 26: Sackgassen Die Ziele beider Regieru
- Seite 27 und 28: in dessen Rahmen 60 Jugendliche aus
- Seite 29 und 30: und mehr treten die offeneren Forme
- Seite 31 und 32: Kultur & Wissenschaft Good as you?
- Seite 33 und 34: Musik konzentrieren können, bin ab
- Seite 35: IMPRESSUM HERAUSGEBER Peter Junge-W
02 / 10 Frühling 2010 ISSN 1616-7619 4,- € K 46699<br />
<strong>Insider</strong> <strong>analysieren</strong>, <strong>Initiativen</strong> <strong>berichten</strong>.<br />
48
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
Am 26. April 2011 wird sich die Reaktorexplosion<br />
im Atomkraftwerk Tschernobyl zum 25. Mal<br />
jähren. Bis zum 25. Jahrestag der Katastrophe<br />
erwarten Sie vier Ausgaben der Belarus Perspektiven,<br />
die verschiedene Themenkomplexe rund um<br />
Tschernobyl und seine grenzüberschreitenden Folgen<br />
für Europa aufgreifen. Diese Ausgabe, die kurz<br />
nach dem 24. Jahrestag erscheint, steht unter dem<br />
Motto „Am Vorabend des Gedenkens“. Wir möchten<br />
Ihnen besonders die vom IBB initiierten Projekte<br />
„25 Jahre nach Tschernobyl – Wege zu einer transnationalen<br />
Erinnerungskultur“ und „Zukunftswerkstatt<br />
– Energieeffizienz und erneuerbare<br />
Energien nach der Katastrophe von Tschernobyl“<br />
vorstellen (Seite 26 und 27). Aber auch andere<br />
europäische <strong>Initiativen</strong> planen vielfältige Aktionen<br />
und Projekte für den April 2011, die einige von<br />
ihnen kürzlich bei einem Vernetzungstreffen in Dortmund<br />
vorstellen konnten (Seite 27). Weil wir Ihnen<br />
neben diesen Projekten auch von den belarussischen<br />
Lokalwahlen <strong>berichten</strong> wollten, erscheint diese<br />
Frühlingsausgabe einige Wochen später als gewöhnlich.<br />
Belarus indes scheint sich in einer außen- und<br />
innenpolitischen Sackgasse zu befinden. Die<br />
Lokalwahlen vom 25. April hielten viele Menschen-<br />
Autorenvorstellung<br />
Foto: Julia Daraškevič (Naša Niva)<br />
rechtsschützer und Oppositionelle für eine Farce<br />
(Seite 11). Der Europarat hat inzwischen auf die vielerorts<br />
kritisierte innenpolitische Situation reagiert,<br />
indem die PACE die Beziehungen zum offiziellen<br />
Minsk aussetzte (Seite 6). Auch die Beziehungen<br />
zu Russland scheinen zu stagnieren (Seiten 24 und<br />
25), wobei die innige Freundschaft zu Venezuela wenig<br />
von der außenpolitischen Flaute ablenken kann<br />
(Seite 8).<br />
Trotz politischer Querelen, scheint sich kulturell<br />
viel in Belarus zu bewegen. Das zeigen nicht nur<br />
das Interview mit Lavon Volski, dem Dinosaurier<br />
des belarussischen Rocks (Seite 32 und 33), sondern<br />
auch Projekte wie Belarus Inside Out (Seite<br />
34). Auch die Einstellung zu sexuellen Minderheiten<br />
dürfte sich in den letzten Jahren ein wenig<br />
entspannt haben, wie Jeanna Krömer auf Seite 31<br />
beschreibt. Politisch mag vieles stagnieren, aber die<br />
kulturellen Freiräume lassen Belarus-Freunde nicht<br />
ganz hoffnungslos zurück. Grün ist die Hoffnung<br />
und grün ist auch diese Frühlingsausgabe der Bela-<br />
rus Perspektiven. Die nächste Ausgabe erscheint<br />
Mitte Juli.<br />
Herzlich Ihr<br />
Peter Junge-Wentrup<br />
Editorial<br />
Immer im Zentrum des Geschehens?<br />
So nah an Präsident Lukašenko kommen nicht viele belarussische<br />
Journalisten heran – unserer Autorin Marina Rachlej ist es diesmal<br />
gelungen.<br />
Marina Rachlej arbeitet als politische Analystin für die älteste belarussische<br />
unabhängige Nachrichtenagentur BelaPAN. Für die Belarus<br />
Perspektiven schreibt sie regelmäßig Hintergrundberichte zur belarussischen<br />
Innenpolitik. Nebenbei interessiert sie sich für Menschen,<br />
Kultur, klassischen indischen Tanz und sammelt verloren gegangene<br />
Knöpfe. Mehr Artikel von Marina Rachlej finden Sie unter<br />
http://blogs.euobserver.com/rakhlei.
Inhalt<br />
4 Belarus Perspektiven<br />
6<br />
Mit dem Latein am Ende<br />
PACE friert die Beziehungen zu<br />
Belarus ein<br />
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates<br />
hat beschlossen, den Kontakt zum belarussischen<br />
Parlament und hohen Regierungsvertretern<br />
einzufrieren. Der Dialog wird mit Vertretern der<br />
Zivilgesellschaft und der Opposition fortgesetzt.<br />
Wie wird die Entscheidung in Belarus bewertet?<br />
Außenpolitik<br />
Beschluss der PACE 6<br />
Milinkevich in Berlin 7<br />
Ölkrieg mit Russland 8<br />
Neuer Leiter des OSZE-Büros, Minsk 9<br />
MP Platzeck in Minsk 10<br />
NGO/Gesellschaft<br />
Städtepartnerschaften 28<br />
Eisenach – Mogilev 29<br />
ewoca³ 30<br />
Ausstellung von Leonid Levin 30<br />
Neues Lehrbuch erschienen 30<br />
11<br />
Foto: Xavier Häpe Foto: bymedia.net<br />
Keine Wahl?<br />
Keine Überraschungen bei den<br />
Lokalwahlen in Belarus<br />
Zu Anfang des Jahres reformierte das belarussische<br />
Parlament die Wahlgesetzgebung. Die Lokalwahlen<br />
vom 25. April galten als Prüfstein für die<br />
Reformen. Weit gefehlt: unter den 21.288<br />
gewählten Abgeordneten befanden sich nach<br />
Aussagen der Opposition nur neun Vertreter<br />
regimekritischer Parteien. Ins Minsker Stadtparlament<br />
schaffte es kein einziger Vertreter der<br />
Opposition. Waren die Wahlen eine Farce?<br />
Innenpolitik<br />
Lokalwahlen in Belarus 11<br />
Kommentar Opposition 12<br />
Wehrdienstverweigerer 14<br />
Polenverband 15<br />
Interview P. Severenec 16<br />
Belaja Rus‘ 17<br />
Chronologie 18<br />
Kultur/Wissenschaft<br />
Homosexualität in Belarus 31<br />
Interview mit L. Volski 32<br />
Rammstein in Minsk 34<br />
Belarus Inside Out 34<br />
Nr. 48 02 / 10
26<br />
25 Jahre nach Tschernobyl<br />
Wege zu einer transnationalen Erinnerungskultur<br />
„Chernobyl“ is a word we would all like to erase<br />
from our memory... Yet there are two compelling<br />
reasons why this tragedy must not be forgotten.<br />
First, if we forget Chernobyl we increase the risk<br />
of more such technological and environmental<br />
disasters in the future... Secondly, more than seven<br />
million of our fellow human beings do not<br />
have the luxury of forgetting. They are still suffering...<br />
Indeed, the legacy of Chernobyl will be<br />
with us, and with our descendants, for generations<br />
to come.“ (Kofi Annan, New York 2000)<br />
Wirtschaft & Umwelt<br />
Analyse 2010 20<br />
Interview Leiter Citybank 22<br />
Beziehungen BY-RUS 24<br />
Editorial 3<br />
Inhalt 4<br />
Chronologie 18<br />
Impressum 35<br />
32<br />
Ob das gelingt?<br />
Ingo Petz trifft Lavon Volski<br />
Der bekannteste belarussische Rockmusiker<br />
Lavon Volski über das Regime Lukašenko, die<br />
belarussische Musikszene und die zögerliche<br />
Liberalisierung in Belarus.<br />
25 Jahre nach Tschernobyl<br />
Foto: Ingo Petz<br />
Zukunftswerkstatt 26<br />
IBB Projekte 26<br />
Am Vorabend des Gedenkens 27<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 5<br />
Inhalt
Außenpolitik<br />
Mit dem Latein am Ende<br />
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat beschlossen den Kontakt zum offiziellen Minsk auf höchster Ebene<br />
(hohe Regierungsvertreter und Parlament) einzufrieren. Der Dialog wird mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der<br />
Opposition fortgesetzt. Wie wird die Entscheidung in Belarus bewertet? Dieser Artikel ist am 30. April in voller Länge auf<br />
www.dw-world.de/belarus erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung der Russischen Redaktion der Deutschen<br />
Welle abgedruckt.<br />
Natal‘ ja Grigor‘eva, Bonn<br />
Da hing der<br />
Haussegen noch nicht<br />
schief: Eröffnung des<br />
Europarat-Infopunktes<br />
an der Staatlichen<br />
Universität<br />
in Minsk im<br />
Juni 2009.<br />
Foto: bymedia.net<br />
6 Belarus Perspektiven<br />
Am 29. April fand in Straßburg eine außerordentliche<br />
Debatte zur Lage in Belarus statt. Im Ergebnis<br />
beschloss die Parlamentarische Versammlung des<br />
Europarates (PACE) mit Mehrheit ihrer Stimmen,<br />
den Kontakt zum offiziellen Minsk auf höchster<br />
Ebene einzufrieren. Grund dafür, heißt es in der<br />
verabschiedeten Resolution, sei der „mangelnde<br />
Fortschritt“ im Hinblick auf die Normen des Europarates<br />
gewesen. Zu der Resolution hatten vor<br />
allem die Hinrichtungen der verurteilten Kriminellen<br />
Andrej Šuk und Vasil Jazepčuk, die Lage<br />
der polnischen Minderheit und das Fehlen von<br />
internationalen Beobachtern bei den Lokalwahlen<br />
geführt.<br />
Außenministerium reagiert<br />
Das belarussische Außenministerium bezeichnete<br />
die Resolution als „impulsiv und inkonsequent“.<br />
Der Pressesprecher des Ministeriums, Andrej Savinych,<br />
kritisierte, dass die PACE zwar einerseits<br />
behaupte, Anhänger des Dialogs zu sein, aber andererseits<br />
nun die Kontakte einfriere. „In dieser<br />
Situation ist die Position der belarussischen Seite<br />
konsequenter“, findet Savinych. Minsk betrachte<br />
den Dialog als Mittel zum gegenseitigen Verständnis<br />
und hoffe darauf, dass die europäischen Partner<br />
auch zu diesem Ergebnis gelangen werden, so<br />
der Pressesprecher.<br />
Enttäuscht vom Dialog<br />
Nach Aussagen von Menschenrechtlern hat sich<br />
trotz der Besuche hochgestellter europäischer Politiker<br />
im vergangenen Jahr nichts im Hinblick auf<br />
bürgerliche Rechte und demokratische Freiheiten<br />
in Belarus verändert. Der Jurist Vladimir Labkovič<br />
vom Menschenrechtszentrum Ves‘na hält die<br />
PACE-Resolution deshalb für die konsequente<br />
Reaktion eines enttäuschten Europas. Trotz vieler<br />
Eingeständnisse und eines Vertrauensvorschusses,<br />
habe die belarussische Seite keine Schritte<br />
in Richtung Demokratie unternommen. Ganz im<br />
Gegenteil, so Labkovič: Der Druck von Seiten der<br />
Staatsführung nehme ein Jahr vor dem Präsidentschaftswahlen<br />
eher zu. Das verlange nach einer<br />
Reaktion.<br />
Wirtschaft ist die beste Politik<br />
Die Resolution werde allerdings kaum Einfluss auf<br />
die Situation in Belarus haben, vermutet der Politologe<br />
Denis Mel‘jancov. Da Belarus als einziges<br />
europäisches Land nicht Mitglied im Europarat<br />
ist, seien die Resolutionen des Gremiums praktisch<br />
bedeutungslos für das Land. Heute gelte für<br />
Belarus vor allem, mit der Europäischen Union<br />
und dem Internationalen Währungsfonds zu kommunizieren,<br />
mit denen Belarus „technische Beziehungen“<br />
unterhalte.<br />
Die Ukraine wird´s schon richten<br />
Die Einführung demokratischer Standards hänge<br />
indes nur von dem politischen Willen der Staatsführung<br />
ab, meint Mel‘jancov. Gleichzeitig setze<br />
Minsk auf Schützenhilfe aus dem Ausland. Erst<br />
kürzlich verkündete der ukrainische Präsident Viktor<br />
Janukovič, er werde Belarus auf den richtigen<br />
Weg bringen und dafür sorgen, dass Belarus „schon<br />
sehr bald Mitglied im Europarat“ werde. Ein interessantes<br />
Angebot, zumal die Ukraine nächstes Jahr<br />
den Vorsitz von PACE inne hat.<br />
Nr. 48 02 / 10
Außenpolitik<br />
Finnlandisierung ja,<br />
Aserbaidschanisierung – nein danke!<br />
Auftritte auf westeuropäischem Boden sind für Aleksandr Milinkevič das, was im Fußball als „Heimspiel” bezeichnet wird.<br />
Europa liebt diesen oppositionellen Gentleman für sein europäisches Auftreten und seinen gemäßigten Konservatismus. Kein<br />
Wunder, dass Milinkevič am zweiten Februar in der Berliner DGAP vor über 130 Besuchern sprechen konnte.<br />
Vladimir Dorochov, Bonn & Martin Schön, Dortmund<br />
Milinkevič skizzierte in seinem Vortrag strategische<br />
Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Belarus<br />
und der EU. Demnach muss ein EU-Beitritt das<br />
zentrale langfristige Ziel des Landes sein, allerdings<br />
solle sich Belarus, so Milinkevič, seine Neutralität<br />
bewahren. Milinkevič wies auf erste bescheidene Erfolge<br />
des Dialogs hin und betonte dabei, dass viele<br />
Belarussen in den letzten Jahren endlich verstanden<br />
hätten, dass sie Europäer seien. Sogar die derzeitigen<br />
Machthaber hätten inzwischen einsehen müssen,<br />
dass der größte Feind des Landes nicht der Westen,<br />
sondern die marode Wirtschaft sei. Bester Partner in<br />
diesem Kampf sei gerade die EU. Allerdings, mahnte<br />
Milinkevič, müsse der Dialog mit der EU in Abhängigkeit<br />
von der politischen Liberalisierung verlaufen,<br />
ansonsten drohe Belarus die „Aserbaidschanisierung”:<br />
Auch wenn der Westen die Wahlergebnisse in<br />
Aserbaidschan anerkannt habe, in Wirklichkeit sei<br />
keine kritische Meinungsäußerung möglich, die loyale<br />
Opposition „wiederholt bloß die Worte der Machthaber.”<br />
So weit dürfe es in Belarus auf keinen Fall<br />
kommen.<br />
Russland – Partner auf ewig<br />
Auch die Beziehungen zu Moskau standen auf<br />
Milinkevičs Agenda. Russland sei der strategische<br />
Partner Nummer eins seines Landes, allerdings hätten<br />
gute Beziehungen ihre Grenzen: „Ich bin absolut<br />
für die Unabhängigkeit und Souveränität unseres<br />
Landes”, meinte Milinkevič. Die „Finnlandisierung”<br />
sei da der richtige Weg für Belarus: als kleiner Nachbar<br />
müsse man mit einer klugen Politik demokratische<br />
Strukturen und einen guten Lebensstandard<br />
aufbauen, ohne dass sich dadurch die Beziehungen<br />
zum großen Nachbarn verschlechterten. Auf diese<br />
freie Begriffsjonglage reagierte das Publikum ein<br />
wenig irritiert: In der EU habe der Begriff eine sehr<br />
uneindeutige Reputation, meinte ein deutscher Politologe.<br />
Auch der ehemalige OSZE-Botschafter<br />
Hans-Georg Wieck warnte Milinkevič davor, fremde<br />
historische Konzepte mechanisch auf die Situation in<br />
Belarus anwenden zu wollen.<br />
Wie zur Demokratie finden?<br />
Dann fiel die Gretchenfrage: Wie, fragte ein Zuhörer,<br />
könnten denn nun die demokratischen Veränderungen<br />
in Belarus eingeläutet werden? Milinkevič blieb<br />
vorsichtig mit eindeutigen Aussagen, betonte jedoch,<br />
dass er für einen Strategiewechsel bei der Opposition<br />
eintrete. Man müsse sich vom Konzept einer Farbrevolution<br />
verabschieden, die unter dem autoritären Regime<br />
in Minsk unmöglich sei; stattdessen müsse die<br />
„belarussische Frage” durch Dialog und eine schrittweise<br />
Liberalisierung gelöst werden. Der europäische<br />
Weg sei ohne eine Intensivierung der Zusammenarbeit<br />
mit der EU undenkbar, so Milinkevič. Allerdings<br />
stünden dieser Annäherung praktische Hindernisse<br />
im Weg, allem voran die Schengen-Visa, für die Bela-<br />
russen momentan doppelt so viel zahlen müssen wie<br />
Russen oder Ukrainer. Milinkevič sprach sich für<br />
eine schnelle Lösung dieser Frage aus. Insgesamt<br />
hinterließ Milinkevič einen guten Eindruck beim<br />
Berliner Publikum. Während der eloquente Oppositionelle<br />
sein außenpolitisches Renommee erfolgreich<br />
pflegte, wartete in Belarus wohl bereits der graue<br />
politische Alltag auf ihn: Um sich bei den belarussischen<br />
Arbeitern und Angestellten beliebt zu machen,<br />
wird Milinkevič das intellektuelle Image eher<br />
hinderlich sein. Schließlich ist sein Widersacher,<br />
Amtsinhaber Aleksandr Lukašenko, nicht nur berühmt-berüchtigt<br />
für seine politische Kaltblütigkeit,<br />
sondern auch für seine rhetorische Stärke. Mit dieser<br />
und seinem hemdsärmligen Macher-Image kommt<br />
Lukašenko in Umfragen nach wie vor auf stabile 40<br />
Prozent, ein Wert, von dem Milinkevič meilenweit<br />
entfernt ist. Vermutlich wird die Demokratisierung<br />
à la Milinkevič also noch einige Jahre auf sich warten<br />
lassen.<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 7
Außenpolitik<br />
Am Öle hängt,<br />
zum Öle drängt doch alles<br />
Staatliche und nichtstaatliche Experten sind sich ausnahmsweise einig: für Belarus macht die Zollunion mit Russland und<br />
Kasachstan ohne günstige Erdöl- und Gaspreise wenig Sinn. Ist das gemeinsame Projekt noch zu retten?<br />
Alternative zu<br />
Russland? Lukašenko<br />
bei seiner Visite in<br />
Venezuela.<br />
Foto: president.gov.by<br />
8 Belarus Perspektiven<br />
Bereits bei der Unterzeichnung der Dokumente für<br />
die Zollunion im November 2009 kam es zwischen<br />
Russland und Belarus wegen der Gas- und Erdölpreise<br />
zu Streitigkeiten. Kein Wunder, denn es geht<br />
um sehr viel Geld. 6,3 Millionen Tonnen für den<br />
Eigenbedarf bot Moskau zum Freundschaftspreis,<br />
weitere 20 Millionen Tonnen für die Erdölverarbeitung<br />
und den Re-Export sollten verzollt werden.<br />
Das Angebot schmeckte Minsk nicht, und so zogen<br />
sich die Verhandlungen mehr als einen Monat<br />
hin. Am 13. Februar willigte Präsident Lukašenko<br />
ein. Da das Dokument bis 15. Februar ratifiziert<br />
werden musste, blieb schlichtweg keine Zeit mehr<br />
für weiteren Zwist. Sonst hätte Belarus womöglich<br />
auch ohne die 6,3 Millionen Tonnen günstigen<br />
Erdöls dagestanden. Aber Vereinbarung hin oder<br />
her, kurze Zeit später brachte die belarussische<br />
Seite die Diskussion erneut ins Rollen. Zunächst<br />
äußerte Anton Kudasov, stellvertretender Direktor<br />
der Wirtschaftsabteilung des Außenministeriums,<br />
seine Unzufriedenheit. Die Vereinbarung, so Kudasov,<br />
entspräche nicht den Prinzipien einer gemeinsamen<br />
Zollunion. Vor allem im Hinblick auf<br />
die vergleichsweise hohen wirtschaftlichen Verluste,<br />
die sich aus der neuen Vereinbarung ergeben, ist<br />
Kudasovs Position nachvollziehbar. In den letzten<br />
Jahren hatte Belarus an dem Re-Export von Erdölprodukten<br />
nämlich fürstlich verdient und darüber<br />
das Gros seiner Deviseneinnahmen erwirtschaftet.<br />
Zudem muss die erdölverarbeitende Industrie<br />
durch die neue Vereinbarung mit wesentlich weni-<br />
Andrej Aleksandrovič, Minsk<br />
ger Rohstoffen auskommen, so dass die Effizienz<br />
des Wirtschaftszweiges zunehmend gefährdet ist.<br />
Am 26. Februar fanden weitere Verhandlungen in<br />
Moskau statt. Doch auch dieses Mal bissen sich die<br />
Beamten in den Verhandlungen fest. Kurze Zeit<br />
später schimpfte Präsident Lukašenko: Wenn die<br />
Russen „jetzt mit Ausreden kommen und beginnen,<br />
Öl, Ölprodukte, Gas, Zucker, Milch, Butter,<br />
Fleisch, Weizen und so weiter rauszunehmen [aus<br />
der Zollunion] – dann brauchen wahrscheinlich<br />
weder Russland, noch Kasachstan, noch Belarus<br />
so eine Zollunion.“ Den belarussischen Kommissionsbeamten<br />
trichterte der Präsident ein, sie sollen<br />
ja „nicht von den eigenen Interessen abweichen“.<br />
Auch dürfe Belarus das Problem nicht aufschieben,<br />
denn Russland mache sonst Nägel mit Köpfen.<br />
Zur Sicherheit signalisierte Lukašenko seinen<br />
Verhandlungspartnern aus Moskau, dass es auch<br />
Alternativen zum russischen Öl gibt. Mitte März<br />
besuchte er seinen Busenfreund und Kollegen<br />
Hugo Chavez in Venezuela. Man habe sich mit<br />
Caracas auf eine verstärkte Zusammenarbeit bei<br />
der Erdölverarbeitung geeingt, meinte Lukašenko<br />
hinterher zufrieden. Venezuela werde täglich 80<br />
Tausend Barrel Öl an die belarussische Industrie<br />
liefern, gemeinsam wolle man das Endprodukt auf<br />
dem europäischen Markt vertreiben. Ambitionierte<br />
Pläne, wenn man bedenkt, dass Belarus und<br />
Venezuela nicht gerade Nachbarn sind, die Rentabilität<br />
eines solchen transkontinentalen Unterfangens<br />
weckt also begründete Zweifel. Selbst wenn<br />
es Belarus gelingen sollte, das südamerikanische<br />
Öl günstig quer über den Globus zu pumpen: Die<br />
Zollunion mit Russland macht unter diesen Bedingungen<br />
– ohne günstige Rohstoffe – für Belarus<br />
keinen Sinn. Solange die Frage nach den Rohstoffen<br />
aber nicht ausgestanden ist, bleibt das Projekt<br />
in der Schwebe.<br />
Nr. 48 02 / 10
Außenpolitik<br />
Auf das Gleichgewicht achten<br />
Seit dem 15. Januar ist Benedikt Haller neuer Leiter des OSZE-Büros in Minsk. Im Gespräch mit der Deutschen Welle berichtet<br />
Botschafter Haller über die Pläne und Schwerpunkt der OSZE-Arbeit in Belarus und über mögliche Wege einer Annäherung<br />
an die EU. Das Interview wurde am 3. Februar 2010 in voller Länge auf www.dw-world.de/belarus veröffentlicht und<br />
wird mit freundlicher Genehmigung der Russischen Redaktion der Deutschen Welle abgedruckt.<br />
Das Interview führte Gennadij Kesner.<br />
Herr Botschafter was ist ihre Aufgabe in Belarus?<br />
Die Schwerpunkte meiner Tätigkeit beinhalten sowohl<br />
wirtschaftliche, als auch zwischenmenschliche<br />
Bereiche. Wir hoffen, in beiden Dimensionen<br />
gleichwertig tätig zu sein.<br />
Und woran wollen Sie den Erfolg ihrer Arbeit in<br />
Minsk messen?<br />
Ich denke, wir können hier in erster Linie eine<br />
ganze Reihe sinnvoller Projekte in den genannten<br />
Bereichen realisieren, an denen alle interessierten<br />
Partner aus Belarus teilnehmen können. Zudem<br />
hoffen wir, dazu beizutragen, dass die anderen<br />
OSZE-Staaten vielseitig und objektiv über unsere<br />
hiesige Tätigkeit, über die Situation im Lande und<br />
über alles, was ihr Interesse an Belarus verstärken<br />
könnte, informiert werden.<br />
Ihr Vorgänger wurde von einem Teil der belarussischen<br />
Opposition wiederholt kritisiert, er hätte zu<br />
sehr auf die Meinung der Staatsmacht gehört. Wie<br />
planen Sie, das Verhältnis zwischen der belarussischen<br />
Regierung und ihren Gegnern zu gestalten?<br />
Es wird eine unserer Aufgaben sein, in dieser Hinsicht<br />
auf ein Gleichgewicht zu achten. Wir müssen<br />
unter anderem die Regierung in ihrem Dialog mit<br />
zivilgesellschaftlichen Strukturen unterstützen,<br />
dafür müssen wir mit beiden Seiten gleichwertig<br />
sprechen.<br />
Sind Sie bereit, sich der Kritik zu stellen, die sich<br />
aus der Situation ergeben könnte?<br />
Ich bin offen für jegliche Kritik und durchaus bereit,<br />
sie anzunehmen. Allerdings bitte ich darum,<br />
mir Zeit zu geben, bis ich Konkretes verwirklicht<br />
und mich mit den anderen Playern in Belarus vertraut<br />
gemacht habe. Ich bin erst seit zwei Wochen<br />
hier, das ist noch nicht besonders lange.<br />
Die Minsker OSZE-Gruppe wird vor allem von<br />
deutschen Repräsentanten geleitet. Ist dies Zufall<br />
oder steckt mehr dahinter?<br />
Mit Oke Peterson gab es einen schwedischen Leiter.<br />
Aber vermutlich liegt es daran, dass Deutschland<br />
aufgrund seiner Geschichte und geographischen<br />
Lage ein großes Interesse an Osteuropa<br />
hat. Gleichzeitig bemühte sich Deutschland, in<br />
bestimmten Situationen zwischen Belarus und anderen<br />
Partnern zu vermitteln.<br />
Wie kann man Belarus bei einer Annäherung an<br />
Europa helfen?<br />
Belarus befindet sich im Zentrum Europas. Bei<br />
Gesprächen, die ich bereits hier im Land geführt<br />
habe, habe ich ein großes Interesse an Europa und<br />
den europäischen Werten festgestellt. Ich möchte<br />
dieses Interesse nutzen, um Kontakte zu schaffen,<br />
um Reisen und Seminare zu ermöglichen, die dieses<br />
Interesse noch stärken können. Den Kontakt<br />
zwischen den Menschen herzustellen, erscheint<br />
mir dabei besonders wichtig.<br />
Herr Botschafter Haller, wir danken Ihnen für<br />
dieses Gespäch.<br />
Botschafter Haller<br />
Foto: bymedia.net<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 9
Außenpolitik<br />
Platzeck unterstützt Projekte<br />
erneuerbarer Energien in Belarus<br />
Matthias Platzeck besuchte vom 26. bis 28. April die belarussische Hauptstadt Minsk. Auf dem Programm des brandenburgischen<br />
Ministerpräsidenten standen sowohl Treffen mit hochrangigen Regierungsvertretern wie auch mit der Zivilgesellschaft.<br />
Begleitet wurde Platzeck von einer Delegation brandenburgischer Unternehmer. Wie ein roter Faden zog sich das Thema<br />
„erneuerbare Energien“ durch Platzecks Reise, die rund um den 24. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl stattfand.<br />
Ministerpräsident<br />
Platzeck bei der<br />
Konferenz<br />
„Zukunftswerkstatt<br />
Minsk – eine Brücke<br />
für Energieeffizienz<br />
und erneuerbare<br />
Energien“ am<br />
27. April in der IBB<br />
Minsk<br />
Foto: IBB<br />
10 Belarus Perspektiven<br />
Während seiner dreitätigen Visite traf sich der Ministerpräsident<br />
mit Vertretern aus der Regierung<br />
und sprach auf einer Veranstaltung der Friedrich-<br />
Ebert-Stiftung über Brandenburgs Erfahrungen<br />
beim Aufbau einer modernen Verwaltung. Auch<br />
gedachte Platzeck gemeinsam mit ehemaligen<br />
Zwangsarbeitern, Lager- und Ghettoinsassen an<br />
der „Jama“ („Grube“) und auf dem ehemaligen jüdischen<br />
Friedhof der getöteten Insassen des Minsker<br />
Ghettos und der aus Deutschland deportierten Juden.<br />
Platzeck besuchte weiter die Geschichtswerkstatt,<br />
die ein Ort des Lernens aus der Geschichte<br />
zur Gestaltung von Zukunft geworden ist. Eine<br />
besonders wichtige Rolle spielten bei dem Besuch<br />
Platzecks Ideen und Projekte rund um das Thema<br />
„Energie“.<br />
Vorbild Brandenburg<br />
Auf der Konferenz „Zukunftswerkstatt Minsk –<br />
eine Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare<br />
Energien“, die am 27. April in der Internationalen<br />
<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“<br />
Minsk stattfand, sprach der Ministerpräsident zu<br />
Dorothea Wolf, Minsk<br />
dem Thema, „das die Menschheit im nächsten Jahrzehnt<br />
überall auf der Welt gleichermaßen beschäftigen<br />
wird: Wie können wir Strom aus der Steckdose<br />
beziehen, ohne dabei unsere Umwelt zu zerstören?“<br />
Am Beispiel des Landes Brandenburg erzählte er<br />
den Konferenzteilnehmern, wie der schwierige<br />
Übergang von fossilen Energieträgern hin zu einer<br />
Energieversorgung aus erneuerbaren Energien bewältigt<br />
werden kann. Brandenburg gilt schon heute<br />
als Vorreiter der Bundesländer bei der Nutzung erneuerbarer<br />
Energien. Bis 2020 strebt das Bundesland<br />
sogar eine hundertprozentige Deckung seines<br />
Strombedarfs aus erneuerbaren Energien an.<br />
Zukunftsperspektiven<br />
Der Ministerpräsident sieht für erneuerbare Energiequellen<br />
in Belarus eine große Chance und begrüßte<br />
dementsprechend zwei deutsch-belarussische<br />
Projekte zum Thema. Zum einen unterstützte<br />
Platzeck, der seit gut einem Jahr Schirmherr der<br />
IBB Minsk ist, ganz ausdrücklich das gemeinsame<br />
Projekt von IBB Dortmund und Minsk für eine<br />
„Zukunftswerkstatt Minsk“, die als Ausstellungs-<br />
und Dokumentationszentrum zu den Folgen von<br />
Tschernobyl wie auch als Beratungs- und Lernort<br />
zum Thema erneuerbare Energien ab 2011 auf<br />
dem Gelände der IBB gebaut wird. Zum anderen<br />
verkündete er den Journalisten und Gästen der<br />
Konferenz, dass bis 2012 mit brandenburgischen<br />
Know-how in Belarus ein Windpark entstehen soll.<br />
Im Hinblick auf das geplante belarussische Atomkraftwerk<br />
betonte Ministerpräsident Platzeck, dass<br />
es heute nicht mehr einfach sei, die Finanzierung<br />
eines solchen Projekts sicherzustellen. Was die Natur<br />
dagegen bereitstelle – Wind, Sonne, Biomasse<br />
– das gäbe es erst eimal umsonst. Und nach einer<br />
gewissen Betriebszeit habe sich auch der Bau der<br />
Sonnenkollektoren und Windräder refinanziert.<br />
Nr. 48 02 / 10
Innenpolitik<br />
Keine Wahl?<br />
Zu Anfang des Jahres reformierte das belarussische Parlament die Wahlgesetzgebung. Bei den Lokalwahlen vom 25. April<br />
sollten sich die neuen Paragrafen bewähren. Weit gefehlt: unter den 21.288 gewählten Abgeordneten befanden sich nach<br />
Aussagen der Opposition nur neun Vertreter regimekritischer Parteien. Ins Minsker Stadtparlament schaffte es kein einziger<br />
Vertreter der Opposition. Waren die Wahlen eine Farce?<br />
Marina Rachlej, Minsk<br />
79,5 Prozent der Wahlberechtigten hatten angeblich<br />
ihre Stimme abgegeben, rekordverdächtige 29<br />
Prozent sogar schon bei den Vorwahlen. Unregelmäßigkeiten,<br />
so die Zentrale Wahlkommission,<br />
habe es nur vereinzelt gegeben. Das sehen Regimekritiker<br />
anders. Oppositionelle Politiker kritisierten<br />
nicht nur das Ergebnis, sondern vor allem den<br />
Verlauf des Wahlkampfs. Mit nur 0,3 Prozent war<br />
die Opposition in den Wahlkommissionen vertreten,<br />
bei den Wahlen selbst nur mit 2 Prozent der<br />
registrierten Kandidaten. „Bei solch einer homöopathischen<br />
Dosierung, kann man auch nur mit<br />
einer homöopathischen Wirkung der Opposition<br />
rechnen“ – so Stefanie Schiffer, Geschäftsführerin<br />
des Europäischen Austauschs, der die Initiative<br />
„Menschenrechtler für freie Wahlen“ bei der Wahlbeobachtung<br />
unterstützte. Ein Teil der Opposition<br />
entschied sich sogar für einen Boykott der Wahlen,<br />
so unter anderem die Vereinte Bürgerpartei. Aber<br />
selbst jene Parteien, die hart um ihre Parlamentssitze<br />
kämpften, mussten sich mit mageren Ergebnissen<br />
zufrieden geben: die kommunistische Gerechte<br />
Welt erlangte vier Sitze, die Belarussische<br />
Christliche Demokratie drei, die sozialdemokratische<br />
Narodnaja Gramada zwei und die sozialdemokratische<br />
Gramada einen. Volksfront und Für die<br />
Freiheit gingen ganz leer aus.<br />
„In Wirklichkeit gab es doch gar keine Wahlen“ –<br />
so Pavel Severenec, Co-Vorsitzender der Belarussischen<br />
Christlichen Demokratie (siehe Interview<br />
auf Seite 16). Die Wahlkampagne sei sehr repressiv<br />
gewesen: der Staat habe auf die oppositionellen<br />
Kandidaten großen Druck ausgeübt, ihm selber sei<br />
völlig grundlos die Registrierung verwehrt worden,<br />
und auch innerhalb der Wahlkommissionen sei die<br />
Beteiligung der Opposition verschwindend gering<br />
gewesen. Alles sei also schon von vornherein klar<br />
gewesen, findet Severenec. Die Regierung wolle sich<br />
mit hohen Zahlen vor allem absichern, bestätigt der<br />
Menschenrechtsschützer Ales‘ Beljackij: ,.Allein die<br />
unvergleichlich hohe Wahlbeteiligung und der rekordverdächtige<br />
Anteil bei den Vorwahlen, deuten<br />
darauf hin, dass administrative Ressourcen mobilisiert<br />
wurden, um den ganzen Prozess sehr genau<br />
zu kontrollieren.“ Die belarussische Staatsführung<br />
dürfte sich indes ins Fäustchen lachen. Schließlich<br />
betrachtet sie, nach Meinung des Politologen Valerij<br />
Karbalevič, alle Wahlen als Teil ihrer Legitimation.<br />
„In der offiziellen belarussischen Ideologie<br />
wird die Staatsführung vom gesamten Volk unterstützt.<br />
Hier hat sie erneut gezeigt, dass sie tatsächlich<br />
vom gesamten Volk gewählt wurde.“<br />
Vermutlich liegt der Staatsführung das Ergebnis der<br />
realpolitisch unbedeutenden Wahlen zu sehr am<br />
Herzen, als dass sie hätte die Zügel locker lassen<br />
können. Die Situation wird sich aller Voraussicht<br />
schon bei den kommenden Präsidentschaftswahlen<br />
wiederholen, die eventuell auf Ende des Jahres vorverlegt<br />
werden könnten, um tatsächlich alle Überraschungen<br />
auszuschließen. Was die Europäische<br />
Union von solchen Fortschritten auf dem Papier<br />
hält, bleibt abzuwarten. Aleksandr Lukašenko hat<br />
zumindest nicht vor, seine Wiederwahl auf die<br />
leichte Schulter zu nehmen: „Das wird eine sehr<br />
schwierige Wahlkampagne“ versicherte der Präsident<br />
belarussischen Journalisten.<br />
Die Belarussen<br />
nehmen ihre Bürgerpflichten<br />
sehr ernst.<br />
Vielleicht erklärt das<br />
die unschlagbaren<br />
79,5 Prozent<br />
Wahlbeteiligung?<br />
Fotos: bymedia.net<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 11
Innenpolitik<br />
Bellum omnium contra omnes<br />
Die belarussische Opposition am Vorabend der Präsidentschaftswahlen<br />
In Belarus ist nur ein Wahltermin von realpolitischer Bedeutung – die Präsidentschaftswahlen. Wie rüsten sich Lukašenkos<br />
Gegner für die große Schlacht im Frühjahr 2011? Völlig anders als noch fünf Jahre zuvor, findet Jurij Drakochrust, Analyst und<br />
Moderator beim regimekritischen Sender Radio Svaboda.<br />
Jurij Drakochrust, Prag<br />
Jurij Drakochrust<br />
Foto: svaboda.org<br />
12 Belarus Perspektiven<br />
„Nur gemeinsam sind wir stark!“ - das war die<br />
Lehre, die die belarussische Opposition vor zehn<br />
Jahren aus ihrer politischen Bedeutungslosigkeit<br />
zog. Deshalb versuchten sich die großen Oppositionsparteien<br />
bei beiden Wahlen auf einen gemeinsamen<br />
Kandidaten zu einigen. 2001 gelang<br />
das verhandlungstechnische Kunststück – unter<br />
tätiger Mithilfe des damaligen OSZE-Botschafters<br />
Hans-Georg Wieck – und der erste Einheitskandidat<br />
Vladimir Gončarik war geboren. Auch 2005<br />
siegte der Pragmatismus über persönliche Ambitionen,<br />
und die Vertreter der Vielparteienkoalition<br />
Vereinte Demokratische Kräfte aus Kommunisten,<br />
Bürgerpartei und Volksfront einigten sich auf den<br />
NGO-Aktivisten Aleksandr Milinkevič.<br />
Zwar machte Ex-Apparatschik Aleksandr Kozulin<br />
ihm Konkurrenz, die Mehrheit der Opposition<br />
akzeptierte allerdings die Entscheidung ihres<br />
Delegiertenkongresses und konsolidierte sich sogar<br />
für kurze Zeit um Milinkevič. Dann kam die<br />
Wahl 2006, die bittere Niederlage, die Massenproteste,<br />
der gescheiterter Versuch einer Farbrevolution.<br />
Und die belarussische Opposition stürzte<br />
in ihre schwerste Krise seit Jahren, angeheizt<br />
von den streitsüchtigen Leitwölfen der VDK, dem<br />
Vorsitzenden der Vereinten Bürgerpartei Anatolij<br />
Lebedko, dem Chef der Kommunistischen Partei<br />
(heute „Gerechte Welt“), Sergej Kaljakin, und<br />
dem damaligen Vorsitzenden der Volksfront, Vincuk<br />
Večërko. Allen dreien schien es unerträglich,<br />
Milinkevič weiterhin den Posten als VDK-Vorsitzender<br />
zu überlassen. Besonders wurmte sie, dass<br />
Milinkevič die Opposition im Ausland repräsentierte.<br />
Im darauf folgenden Machtkampf wurde<br />
Milinkevič seine Unabhängigkeit zum Verhängnis,<br />
die ihn zuvor zum idealen Kompromisskandidaten<br />
gemacht hatte. Denn der Präsidentschaftskandidat<br />
hatte keinerlei politische Struktur hinter sich, die<br />
es ihm ermöglicht hätte, im Kampf mit den mächtigen<br />
Parteibossen zu bestehen.<br />
Milinkevičs Versuche, sich mit der neu gegründeten<br />
Bewegung Für die Freiheit gegen die alten, etablierten<br />
Oppositionsparteien durchzusetzen, blieben<br />
erfolglos – das VDK-Triumvirat aus Kaljakin,<br />
Lebedko und Večërko blieb tonangebend. Zumindest<br />
die belarussische Regierung konnte aus der<br />
Bewegung politisches Kapital schlagen, indem sie<br />
Für die Freiheit offiziell registrierte und dies der<br />
EU als großen Liberalisierungserfolg verkaufte.<br />
Im Jahr 2007 machten dann die Männer der Parteiopposition<br />
Nägel mit Köpfen und entledigten sich<br />
ihres ehemaligen Mitstreiters beim VDK-Kongess.<br />
Milinkevičs Posten wurde abgeschafft, stattdessen<br />
einigten sich die oppositionellen Delegierten auf<br />
ein Rotationsprinzip, nach dem die Vorsitzenden<br />
der Koalitionsparteien seither abwechselnd das<br />
Bündnis leiten. Aleksandr Milinkevič drohte, in<br />
der politischen Bedeutungslosigkeit zu versinken,<br />
denn seine Bewegung war zu diesem Zeitpunkt weder<br />
registriert noch populär. Doch 2009 schlug der<br />
gechasste Ex-Hoffnungsträger zurück. Seine guten<br />
Beziehungen zur EU, wo man ihn für sein Ja zum<br />
Dialog zwischen Belarus und der EU schätzt, und<br />
die Palastrevolte bei der Belarussischen Volksfront,<br />
wo Milinkevičs Anhänger die Macht übernahmen,<br />
Nr. 48 02 / 10
achten den ruhigen Physiker zurück ins Spiel.<br />
Milinkevič schaltete schnell und initiierte den Belarussischen<br />
Block der Unabhängigkeit (BNB), in<br />
den sofort die Volksfront, Für die Freiheit, die Belarussische<br />
Christliche Demokratie und die Junge<br />
Front eintraten. Die neu gegründete Koalition hatte<br />
es nicht nötig, den Kontakt zur schwächelnden<br />
VDK aufrechtzuerhalten. Diese verhedderte sich in<br />
den komplizierten Vorbereitungen für Primeries,<br />
bei denen die Bürger im ganzen Land den oppositionellen<br />
Kandidaten bestimmen sollten. Vermutlich<br />
nur ein aufwendiger PR-Gag, sieht es doch ganz<br />
danach aus, dass Lebedko und Kaljakin die VDK<br />
als Sprungbrett für ihre eigene Kandidatur nutzen<br />
wollen. Kein Wunder, dass ein Mitglied nach dem<br />
anderen die Koalition verlässt, zuletzt die christlich-nationale<br />
Jugendorganisation Junge Front.<br />
Indessen hat bereits eine Reihe oppositioneller Politiker<br />
angekündigt, kandidieren zu wollen: Vom<br />
kürzlich gestürzten Volksfront-Vorsitzenden Ljavon<br />
Borščevskij, über den parteilosen Ales‘ Michalevič<br />
und den Koordinator des oppositionellen Internetportals<br />
charter97.org, Vjačeslav Sivčik. Allerdings<br />
bleibt abzuwarten, wer es überhaupt schafft, die erforderlichen<br />
hunderttausend Unterschriften für die<br />
Zulassung zur Wahl zu bekommen. Einen gemeinsamen<br />
Kandidaten zumindest hat das Gros der Opposition<br />
bereits abgeschrieben – ein solcher hätte<br />
sowieso keine Chancen auf einen Sieg, mögen sich<br />
die oppositionellen Strategen gedacht haben. Denn<br />
Lukašenko sitzt fester denn je im Sattel. Trotz<br />
Finanzkrise, die nicht etwa die von der Opposition<br />
erhofften sozialen Unruhen unter den Belarussen<br />
hervorrief, sondern die Masse der revolutionsresistenten<br />
Bevölkerung noch tiefer in ihre politische<br />
Apathie und die völlige Konzentration auf Alltagsprobleme<br />
zog. 2001 und 2006 ließen sich die<br />
oppositionelle Elite und ein wesentlicher Teil der<br />
belarussischen Politologen vom Schwung und der<br />
Euphorie der Farbenrevolutionen mitreißen und<br />
rechneten – teils hoffnungsvoll, teils angsterfüllt,<br />
je nach politischer Couleur – mit ähnlichen Prozessen<br />
in Belarus. Heute hat sich Ernüchterung breit<br />
gemacht, auch was die Erfolgsaussichten profilierter<br />
Oppositioneller angeht. Denn obwohl viele von<br />
ihnen jahrelang im politischen Geschäft sind, hat<br />
es bisher kein Politiker geschafft, zu einem ernstzunehmenden<br />
Konkurrenten für Lukašenko zu<br />
werden. Dies zeigen die jährlichen Umfragen des<br />
Unabhängigen Instituts für Sozialökonomische<br />
und Politische Forschung NISEPI auf die Sonntagsfrage<br />
im Zeitraum zwischen 2005 und 2009<br />
(siehe unten stehende Tabelle).<br />
Keine Frage: Lukašenko lag über den gesamten<br />
Zeitraum in der Wählergunst nahezu unerreichbar<br />
weit vorne. Natürlich kann man behaupten, in einem<br />
autoritären System antworte kein Bürger offen<br />
und ehrlich auf politische Meinungsumfragen,<br />
egal, wer sie durchführt. Überprüfen lässt sich diese<br />
These des politischen Bias allerdings nicht. Ein<br />
Trostpflaster für die Opposition mag die Tatsache<br />
sein, dass ihre Einigkeit immerhin Milinkevič zu<br />
einem Popularitäts-Quantensprung von 0.8 auf<br />
18,4 Prozent verhalf. Doch blieb es beim Achtungserfolg,<br />
von ernsthafter Konkurrenz kann im Vergleich<br />
zu Lukašenkos souveränen Umfragewerten<br />
auch hier keine Rede sein.<br />
Gleichzeitig lässt der Dialog zwischen Minsk und<br />
Brüssel die Erfolgsaussichten für die Opposition<br />
weiter schwinden, zeigt doch das Tauwetter zwischen<br />
Minsk und der EU, dass Brüssel das Drehbuch<br />
für eine Revolution tief in der strategischen<br />
Schublade vergraben hat.<br />
Persönliche Ambitionen, innenpolitische Schwäche<br />
und fehlende Unterstützung von außen sind<br />
also die Gründe für das vorläufige Ende der oppositionellen<br />
Einheitsstrategie. Heute kämpft jeder<br />
im Oppositionslager für sich allein. Viele sagen<br />
hinter vorgehaltener Hand, schlimmer als 2006<br />
könne das Wahlergebnis sowieso nicht werden.<br />
Weit gefehlt – das kann es. Zum Beispiel könnte<br />
Lukašenko einen wirklichen 80-Prozentsieg erringen,<br />
ganz ohne Wahlbetrug. Sollte dies geschehen,<br />
wäre es ein herber Schlag für die Opposition. Aber<br />
vielleicht auch ein heilsamer.<br />
Innenpolitik<br />
Antworten auf<br />
die Frage:<br />
„Wen würden Sie<br />
wählen, wenn morgenPräsidentschaftswahlen<br />
wären?“<br />
Quelle: NISEPI,<br />
www.iiseps.org<br />
Mögliche Antwort 05'05 09'05 12'05 02'06 04'06 08'06 11'06 01'07 09'07 09'08 12'08 03'09 06'09 09'09 12'09<br />
A. Lukašenko 41.7 47.3 51.2 57.6 60.3 54.9 49.7 50.9 44.9 42.5 40.2 39.2 40.9 39.4 42.5<br />
A. Milinkevič 0.8 1.4 6.6 15.4 18.4 11.6 10.3 11.4 12.3 6.2 3.6 4.4 3.1 3.4 4.3<br />
A. Kozulin 0.9 1.8 0.8 5.2 3.7 3.2 3.5 4.2 3.2 5.2 5.0 2.3 2.4 2 2.4<br />
C. Gajdukevič 0.4 0.3 1.2 4.3 1.0 0.6 1.8 1.2 1.3 1.7 0.7 0.5 0.6 0.6 0.5<br />
A. Lebedko 2.0 3.5 2.4 0.1 0.1 0.1 0.2 0.5 0.3 0.2 0.3 0.3 0.4 0.4 0.4<br />
C. Kaljakin 0.8 1.1 0.2 0 0 0 0.1 0.1 0 0.1 0.1 0.1 0.2 0.4 0.1<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 13
Innenpolitik<br />
Harte Schläge gegen Polenverband<br />
Seit fast fünf Jahren kriselt es innerhalb der polnischen Minderheit in Belarus. Angeheizt wird der Konflikt von der belarussischen<br />
Staatsmacht. Die Unstimmigkeiten hatten mit der Wahl des Vorsitzenden 2005 begonnen, als sich der pro-staatliche Flügel des<br />
Verbandes abspaltete und als alleiniger Interessenverband vom Staat anerkannt wurde. Der andere Teil – unter Führung der<br />
bisherigen Vorsitzenden Anżelika Borys – ist in Belarus nicht zugelassen und gerät in letzter Zeit zunehmend unter Druck.<br />
Unliebsame polnische<br />
Fraktion:<br />
(v.l.n.r.)<br />
Andrzej Poczobut,<br />
Anżelika Borys,<br />
Tereza Sobol‘.<br />
Foto: bymedia.net<br />
14 Belarus Perspektiven<br />
Der Konflikt um den nicht registrierten, regimekritischen<br />
Polenverband verschärfte sich Anfang 2010,<br />
als die belarussischen Behörden erneut versuchten,<br />
den Verband aus seinem Haus im Kleinstädtchen<br />
Iveniec in Westbelarus zu vertreiben. Im Laufe des<br />
vergangenen Jahres hatte die Regierung mehrfach<br />
versucht, dem Verband nachzuweisen, dass seine<br />
Arbeit illegal sei. Am achten Februar machte die<br />
Staatsmacht dann Nägel mit Köpfen und schickte<br />
Gerichtsvollzieher nach Iveniec. Diese erfassten<br />
den Besitz des Hauses und vertrieben die Verbandsmitglieder.<br />
Nur eine Woche später, am 15. Februar,<br />
überschrieb ein Gericht das Haus offiziell dem<br />
staatlich genehmen Polenverband. 40 Aktivisten,<br />
die an dem Gerichtsverfahren teilnehmen wollten,<br />
wurden auf dem Weg zum Gerichtssaal verhaftet,<br />
darunter Anżelika Borys, Igor Bancer (der Sprecher<br />
des Verbandes), Mieczysław Jaskiewicz (der<br />
stellvertretende Vorsitzende) und Andrzej Poczobut<br />
(der Vorsitzende des Aufsichtsrates). Das Haus<br />
in Iveniec ist das fünfzehnte von sechzehn Häusern<br />
aus Verbandsbesitz, das nun dem anerkannten Polenverband<br />
gehört. Der „alte“ Zweig unter Anżelika<br />
Borys verfügt inzwischen nur noch über ein Haus<br />
in Baranoviči. Bis dato hatten Borys und ihr un-<br />
Aleksej Šota, Grodno<br />
erwünschter Verband ihre Tätigkeit vor allem unter<br />
dem Dach der Firma „Polonika” weiter geführt.<br />
Doch auch diesen Schutzschild durchlöchern die<br />
belarussischen Behörden. Am 16. März wurde in<br />
einem nur halbstündigen Gerichtsverfahren eine<br />
Strafe von 71 Millionen Rubeln (ca. 18 000 Euro)<br />
gegen „Polonika“ verhängt – wegen angeblicher<br />
Steuervergehen.<br />
Die hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik,<br />
Catherine Ashton, äußerte inzwischen<br />
ihre Besorgnis über die Ereignisse rund um<br />
die polnische Minderheit in Belarus. Auch vom<br />
Europäischen Parlament gab es rethorische Schelte.<br />
Belarus bemühte sich indes vermeintlich um<br />
Schlichtung. Präsident Lukašenko einigte sich mit<br />
dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski<br />
auf die Gründung einer gemeinsamen Expertengruppe,<br />
die den Konflikt beilegen soll. Allerdings<br />
ist fraglich, ob Belarus tatsächlich an einer Lösung<br />
des Konflikts gelegen ist. Zumindest ist kaum verständlich,<br />
weshalb der belarussische Leiter der Expertengruppe<br />
– der Staatliche Beauftragte für Nationalitäten-<br />
und Religionsfragen Leonid Guljako<br />
– bei Gründung des Gremiums schlichtweg nichts<br />
von seiner neuen Aufgabe wusste.<br />
Das harsche Vorgehen der belarussischen Regierung<br />
wirkt vor allem in Bezug auf die zaghaften<br />
belarussischen Versuche einer schrittweisen Annäherung<br />
an Polen und die EU wie ein Schuss ins eigene<br />
Bein. In regierungskritischen Kreisen treiben<br />
nun Spekulationen wilde Blüten: Hat Lukašenko<br />
eventuell die Lage nicht mehr unter Kontrolle?<br />
Oder handelt es sich um eine raffinierte Strategie<br />
der belarussischen Regierung, mit der sie Verhandlungsmasse<br />
für die Anerkennung der Kommunalwahlen<br />
Ende April aufbauen will – nach dem Motto:<br />
wir geben dem Polenverband mal eine Auszeit<br />
und ihr erkennt uns dafür ein paar Wahlkreise an?<br />
Sollte sich nach den Wahlen der Konflikt um den<br />
Nr. 48 02 / 10
Verband beruhigen, würde sich diese These bestätigen.<br />
Wobei auch ein sanfteres staatliches Vorgehen<br />
keine dauerhafte Lösung für den Konflikt wäre.<br />
Eigentlich gibt es nur zwei Varianten: entweder<br />
erkennt die belarussische Regierung den Flügel<br />
um Anżelika Borys an – oder die beiden Verbände<br />
werden unter einer neutralen Führung wieder<br />
vereint. Nach den monatelangen Auseinandersetzungen<br />
zwischen dem „alten“ Flügel auf der einen<br />
Innenpolitik<br />
Zu den Waffen?<br />
Nach wie vor gibt es in Belarus kein Zivildienst-Gesetz, obwohl die Verfassung einen solchen Dienst ausdrücklich gestattet.<br />
Pech für Verweigerer: Im Frühjahr wurden wieder drei von ihnen zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt.<br />
Gennadij Kesner, Minsk<br />
Das belarussische Gesetzbuch sieht für Wehrdienstverweigerer<br />
Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren<br />
vor. Bei Betrugsversuchen, vorgetäuschten Krankheiten<br />
oder gefälschten Dokumenten kann die Strafe<br />
auf bis zu fünf Jahre erhöht werden. Am ersten<br />
Februar wurde in Minsk Ivan Michajlov, ein gläubiger<br />
messianischer Jude, zu drei Monaten Haft verurteilt.<br />
Er hatte sich geweigert, den Wehrdienst zu absolvieren.<br />
Nach Aussagen von Valentin Stefanovič,<br />
Mitglied der Menschenrechtsorganisation Ves‘na,<br />
hatten sich die Eltern von Michajlov mehrfach mit<br />
der Bitte um einen alternativen Dienst an das Verteidigungsministerium<br />
gewendet. Stefanovič fasste<br />
das ernüchternde Ergebnis der Bemühungen zusammen:<br />
„Die Antworten der Abteilung liefen alle<br />
darauf hinaus, dass Michajlov höchstens zur Reservetruppe<br />
gehen könnte, weil es keinen Zivildienst in<br />
Belarus gäbe.“ Allerdings, meinte Stefanovič, habe<br />
Michajlov seines Wissens nach auch keinen Einberufungsbescheid<br />
erhalten. Die Verurteilung entbehre<br />
damit ihrer Grundlage. Kein Einzelfall, meint<br />
Stefanovič. In diesem wie auch schon im vergangenen<br />
Jahr habe es mehrere ähnliche Fälle gegeben,<br />
in denen Gewissensverweigerern kurzerhand der<br />
Prozess gemacht worden sei.<br />
Auch Evgenij Jakovenko aus Gomel‘ wurde mit einer<br />
Geldstrafe bestraft, weil er am 20. Dezember<br />
ohne ausreichende Begründung nicht der Einberufung<br />
gefolgt war. Das Gericht berücksichtigte dabei<br />
nicht, dass Jakovenko zuvor mehrfach das Verteidigungskommissariat<br />
angeschrieben und um eine Alternative<br />
zum Wehrdienst gebeten hatte. Auch die<br />
sowie der Staatsmacht und ihrer „neuen“ Union<br />
auf der anderen Seite ist jedoch fraglich, ob der<br />
Borys-Fraktion an einer solchen Lösung gelegen<br />
wäre. Schließlich könnte in einem wiedervereinigten<br />
Polenverband die vom Regime geförderte prostaatliche<br />
Übermacht schnell den regimekritischen<br />
Flügel niederringen. Die Abtrünnigen um Anżelika<br />
Borys werden also aller Wahrscheinlichkeit nach für<br />
ihren eigenen Verband kämpfen.<br />
Bitten von Dmitrij Smyk ignorierten die Behörden<br />
einfach: Der junge Anhänger der Zeugen Jehovas<br />
wurde zum Jahresende in Gomel‘ für seine Verweigerung<br />
zu einer Strafe von 3,5 Millionen Belarussischer<br />
Rubel (ca. 880 Euro) verurteilt. Mehrmals<br />
hatte er schriftlich darum gebeten, alternativ einen<br />
Zivildienst machen zu dürfen, da seine Religion es<br />
ihm verbiete, eine Waffe in die Hand zu nehmen.<br />
Ein Verfassungsbruch, findet Menschenrechtler Valentin<br />
Stefanovič. In Belarus fehlt weiterhin die gesetzliche<br />
Grundlage für den Zivildienst, obwohl dieser<br />
im Paragrafen 75 der Verfassung erwähnt wird.<br />
Dort heißt es, dass die Pflicht, das Vaterland zu<br />
verteidigen, durch einen Dienst in der Armee oder<br />
durch andere Dienste ausgeführt werden könne,<br />
darunter den Zivildienst. „Das heißt, der Paragraf<br />
75 sieht einen Zivildienst vor. Dazu gab es bereits<br />
2000 einen Beschluss des Verfassungsgerichts, der<br />
besagt, dass die belarussischen Bürger das Recht<br />
hätten, einen Zivildienst einzufordern – und dass<br />
das Parlament ein entsprechendes Gesetz unmittelbar<br />
nach Annahme der Verfassung von 1994 hätte<br />
verabschieden müssen,” betont Stefanovič. Bisher<br />
ohne Ergebnis. Die Staatsmacht scheint nun jedoch<br />
zu reagieren. Am 18. Februar beauftragte Aleksandr<br />
Lukašenko den Staatssekretär des Sicherheitsrates,<br />
Leonid Mal‘cev – bis vor kurzem selber Verteidigungsminister<br />
– damit, einen Gesetzesentwurf zu<br />
erarbeiten. Bis dieses Gesetz jedoch tatsächlich in<br />
Kraft tritt, werden noch viele junge Männer in Belarus<br />
als vermeintliche Verbrecher vor Gericht stehen,<br />
trotz des liberalen Verfassungsparagraphen.<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 15
Innenpolitik<br />
„Das sind doch keine Wahlen!“<br />
In der vergangenen Ausgabe verfasste unser Redakteur Martin Schön einen kritischen Kommentar zur Partei Belarussische<br />
Christliche Demokratie Partei (BCHD) und ihrem Co-Vorsitzenden Pavel Severenec. Diesmal wollten wir Pavel Severinec<br />
selbst zu Wort kommen lassen.<br />
Das Interview führte Martin Schön.<br />
Pavel Severinec<br />
Foto: bymedia.net<br />
16 Belarus Perspektiven<br />
Herr Severenec, Sie kommen gerade vom Sammeln<br />
von Unterschriften für ihre Kandidaten bei den<br />
Lokalwahlen. Waren Sie erfolgreich?<br />
Ja, das klappt sehr gut. Die Belarussen freuen sich,<br />
wenn sie von unseren Parteimitgliedern auf Belarussisch<br />
angesprochen werden, das imponiert ihnen.<br />
Außerdem unterschreiben viele, weil wir dafür<br />
kämpfen, dass die Menschen in Belarus in Zukunft<br />
keine Angst mehr haben müssen. Die Bürger spüren,<br />
dass für uns christliche Werte und Gerechtigkeit<br />
noch etwas zählen.<br />
Wie stehen denn die Chancen, dass die BCHD Abgeordnetensitze<br />
bei den Lokalwahlen gewinnt?<br />
Im Moment gibt es keine Wahlen, sondern platte<br />
Kampagnen und Wahlfälschung, und am Ende<br />
werden die Fälscher leider als Sieger dastehen. Kein<br />
einziger unser Vertreter wurde in eine Gebietswahlkommission<br />
aufgenommen. Auch in 90 Prozent der<br />
lokalen Wahlkommissionen sind wir nicht vertreten.<br />
Das sind doch keine Wahlen! Selbst wenn Kandidaten<br />
gewinnen, bekommen sie in Wirklichkeit kein<br />
Mandat.<br />
In ihrem Parteiprogramm steht, die BCHD setze<br />
sich für einen liberalen Wirtschaftskurs und für<br />
den Ausbau von Spitzentechnologien in Belarus ein.<br />
Heute ist die Mehrheit der Arbeiter in der Schwerindustrie<br />
beschäftigt. Würde ein solcher Kurs nicht zu<br />
Massenarbeitslosigkeit führen?<br />
Der Wandel wird sicher nicht leicht. Aber Arbeitslosigkeit<br />
wird sich bestimmt nicht verhindern lassen<br />
mit veralteten Technologien, Kollektiveigentum<br />
und riesigen, unzeitgemäßen Fabriken. Wir wollen,<br />
dass aktive Menschen mit ihrem Engagement Geld<br />
verdienen können. In erster Linie betrifft das die<br />
kleinen und mittleren Unternehmen. Diese Leute<br />
brauchen Freiheit und Steuerprivilegien, um ihre<br />
Tätigkeit ausüben zu können. Wir müssen ein Bankennetz<br />
einrichten, das günstige Kredite an Kleinunternehmer<br />
vergibt, wir brauchen ausländische Investitionen.<br />
Nur so kann die Massenarbeitslosigkeit<br />
verhindert werden.<br />
In Ihren Aussagen und Schriften taucht sehr häufig<br />
der Begriff „moralischer Verfall“ auf. Was genau<br />
meinen Sie damit?<br />
Es geht dabei um die Grundlage für einen effektiven<br />
Staat. Ein effektiver Staat muss sein Wort halten,<br />
nicht lügen und nicht stehlen. Kein Staat sollte diese<br />
Prinzipien vernachlässigen, da er sonst in Richtung<br />
Korruption und moralischer Verfall abgleitet. Es<br />
geht hier nicht um einen persönlichen moralischen<br />
Verfall, sondern um den Verfall staatlicher Grundsätze.<br />
Die Belarussen werden dann einen effektiven<br />
Staat aufbauen können, wenn stehlen nicht mehr die<br />
Norm ist und Menschen für Diebstahl endlich bestraft<br />
werden, anstatt zur Staatsführung zu gehören.<br />
Fällt unter „moralischer Verfall“ auch der öffentliche<br />
Auftritt Homosexueller?<br />
Wir tolerieren homosexuelle Menschen. Aber wir<br />
lehnen die öffentliche Propaganda von Homosexualität<br />
ab, zum Beispiel Schwulenparaden. Als gläubige<br />
Christen müssen wir uns an Gottes Wort halten,<br />
und danach ist Homosexualität eine Sünde, wie etwa<br />
Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit. Und wir<br />
müssen verhindern, dass mehr Menschen zu Homosexuellen<br />
werden, weil die Gesellschaft Homosexualität<br />
als etwas normales darstellt.<br />
Ist Lukašenko eigentlich wirklich so eine Strafe für<br />
die Belarussen? Umfragen zeigen, dass die Bürgerinnen<br />
und Bürger mit ihrem Lebensstandard durchaus<br />
zufrieden sind.<br />
Die Belarussen haben eben keinen Vergleich. Sicher,<br />
heute kann man sich ein Auto kaufen, seine Wohnung<br />
hübsch einrichten. Aber wenn wir uns nicht<br />
mit Russland und der Ukraine vergleichen, sondern<br />
mit Polen und Deutschland, dann ist das Ergebnis<br />
eindeutig, zumindest für alle, die schon einmal im<br />
Ausland waren. Der Großteil der Belarussen war<br />
aber noch nie im Ausland. Viele Menschen halten<br />
deshalb unsere „Kolchosendiktatur“ für das kleinere<br />
Übel. Das gefällt mir nicht, denn die Menschen<br />
sollten nach dem Besten streben und nicht nur versuchen,<br />
das Schlimmste zu vermeiden.<br />
Nr. 48 02 / 10
Innenpolitik<br />
Die Belaja Rus‘ – Reservetruppe oder<br />
eigenständige politische Kraft?<br />
Bei den Lokalwahlen hat sich die ‚zivilgesellschaftliche‘ Organisation Belaja Rus‘ als staatlicher Partner bewährt. Politisch<br />
relevant ist das staatstreue Kollektiv zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht. Aber die angebliche NGO hat ihre staatstragende<br />
Zukunft fest im Visier.<br />
Aleksandr Dautin, Minsk<br />
Die neue Wahlgesetzgebung hatte zunächst für viel<br />
Hoffnung bei allen Freunden des politischen Wechsels<br />
gesorgt. Schließlich, sollten Vertreter nichtstaatlicher<br />
Organisationen und Parteien mindestens ein<br />
Drittel der Wahlkommissionen bilden. Aufgehorcht<br />
hatten die demokratischen Kräfte jedoch als Lidija<br />
Ermošina, Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission,<br />
verkündete, man habe diese Quote sogar<br />
um knapp zwei Prozent übertroffen. Der kleine<br />
Haken an der Geschichte: insgesamt gingen nur 76<br />
Plätze an Vertreter von Oppositionsparteien. Die<br />
Belaja Rus‘, deren offizieller Status der einer unabhängigen<br />
NGO ist, sahnte hingegen 3341 Plätze ab.<br />
So viel zur neuen Wahlgesetzgebung.<br />
Was die Belarussen aber von der Belaja Rus‘ zu<br />
erwarten haben, konnte man am 28. Januar in<br />
der Staatszeitung Narodnaja Gazeta lesen: „Gesellschaftliche<br />
<strong>Initiativen</strong> finden immer besser<br />
ihren Weg in der Gesellschaft, wenn sie von unten<br />
kommen, von den Bürgern. Ein gutes Beispiel<br />
dafür ist die landesweite NGO Belaja Rus‘, deren<br />
Name jedem Belarussen sofort einleuchtet und am<br />
Herzen liegt. Genauso so sehr wie die Ideale der<br />
Belaja Rus‘: ein unabhängiger, blühender Staat,<br />
eine starke und effektive Wirtschaft, ein würdiger<br />
Lebensstandard. In den Regionen beginnend, wurde<br />
die Belaja Rus‘ in etwa zwei Jahren zur größten<br />
und mitgliedsstärksten Organisation im Lande und<br />
zum einmaligen Glied zwischen Staat und Bürgern.<br />
Heute hat sie 87 Tausend Mitglieder, darunter<br />
viele in Belarus und im Ausland bekannte und<br />
angesehene Bürger: belarussische Helden, angesehene<br />
Gelehrte, ausgezeichnete Sportler. Auch die<br />
Hälfte des derzeitigen Parlaments ist bei der Belaja<br />
Rus‘ Mitglied.”<br />
Übersetzt man den sowjetischen Pathos in einfache<br />
Worte, heißt das so viel wie: die Belaja Rus‘ ist<br />
der Prototyp einer Regierungspartei. Wie auch bei<br />
der Edinaja Rossija begann ihre Tätigkeit als ‚zivil-<br />
gesellschaftliche‘ Organisation. Doch <strong>Bildungs</strong>minister<br />
Rad‘kov, der nebenbei auch den Vorsitz der<br />
Belaja Rus‘ übernommen hat, hält sich im Bezug<br />
auf die politische Karriere seiner Organisation zurück:<br />
„Wir haben keine Analogie zur Edinaja Rossija<br />
gesucht. Die Belaja Rus‘ beeilt sich nicht, zur<br />
politischen Partei zu werden, man wird sehen. Wir<br />
hätten natürlich ausreichend Erfahrung in der Parteieinarbeit,<br />
denn irgendwann waren wir alle Parteimitglieder,<br />
aber der Satzung nach, sind wir eine<br />
nationale zivilgesellschaftliche Organisation.”<br />
Auch Aleksandr Lukašenko sprach sich gegen<br />
eine Edinaja Belarus aus, da eine solche Partei<br />
ein Sammelbecken für Beamte bilde und deshalb<br />
nicht lebensfähig sei. Ignoriert man die Propaganda<br />
der Belaja Rus‘ in den Massenmedien und ihre<br />
durchaus gewichtige Rolle bei den Lokalwahlen, so<br />
ist sie politisch momentan höchstens zweitrangig.<br />
Zum jetzigen Zeitpunkt scheint den Machthabern<br />
das Format einer ‚zivilgesellschaftlichen‘ Organisation<br />
zu genügen. Doch die bloße Existenz einer solchen<br />
Organisation zeugt davon, dass ihre politische<br />
Aktivierung jederzeit möglich ist. Die Partei wird<br />
kommen, fragt sich nur, wann.<br />
Eine zivilgesellschaft-<br />
liche Organisation?<br />
Aleksandr Rad‘kov<br />
bei einem Kongress<br />
der Belaja Rus‘.<br />
Foto: bymedia.net<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 17
Chronologie<br />
Chronologie<br />
01. Februar bis 30. April 2010<br />
01. - 07. Februar<br />
Aleksandr Lukašenko unterzeichnet<br />
einen Erlass, der alle Internetressourcen<br />
in Belarus registrierungspflichtig<br />
macht.<br />
Die belarussischen regionalen Wahlkommissionen<br />
für die Kommunalwahlen<br />
sind gebildet. Von den 12.000 Mitgliedern<br />
sind etwa 35 Prozent Vertreter<br />
von staatsnahen NGO.<br />
Nach Angaben des Finanzminsteriums<br />
hat Belarus seine Auslandsschulden im<br />
Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Sie<br />
betrugen im Januar 2010 knapp 7,9 Milliarden<br />
Dollar.<br />
Russland veröffentlicht seine Verteidigungsdokrtin,<br />
in der die Zusammenarbeit<br />
mit Belarus an erster Stelle genannt<br />
wird.<br />
08. - 14. Februar<br />
Der belarussische Außenminister Sergej<br />
Martynov nimmt an der Münchner Sicherheitskonferenz<br />
teil und trifft sich<br />
dort mit seinem Kollegen Guido Westerwelle.<br />
Der Warenhandel setzte laut Statistikkomitee<br />
in Belarus 2009 drei Prozent<br />
mehr Produkte ab, als im Vorjahr. Über<br />
78 Prozent waren belarussischer Produktion.<br />
Die Außenminister von Belarus und Polen,<br />
Martynov und Sikorski, unterzeichnen<br />
in Warschau ein Abkommen über<br />
die Vereinfachung des Reiseverkehrs.<br />
Bei einer friedlichen Aktion der oppositionellen<br />
Jungen Front zum Valentinstag<br />
werden etwa 20 Personen festgenommen.<br />
18 Belarus Perspektiven<br />
15. - 21. Februar<br />
Der polnische Präsident Lech Kaczynski<br />
erklärt in einem Brief an Präsident<br />
Lukašenko, er protestiere „gegen die<br />
verstärkten Repressionen gegen den Polenverband<br />
in Belarus.“<br />
Laut Statistikkomitee beträgt die belarussische<br />
Handelsbilanz 2009 minus<br />
5,5 Milliarden Dollar.<br />
Präsident Lukašenko beauftragt Leonid<br />
Mal‘cev, Sekretär des staatlichen Sicherheitsrates,<br />
mit der Erarbeitung eines Zivildienst-Gesetzes.<br />
Außenminister Martynov trifft sich in<br />
Teheran mit dem iranischen Präsidenten<br />
Mahmud Ahmadinedschad. Thema sind<br />
vor allem gemeinsame Wirtschaftsprojekte.<br />
22. - 28. Februar<br />
Aleksandr Lukašenko trifft sich mit seinem<br />
ukrainischen Kollegen Viktor Janukovič<br />
zu dessen Amtsantritt in Kiev. Beide Seiten<br />
betonen den strategischen Charakter<br />
der Beziehungen beider Länder.<br />
Das belarussische Finanzminsterium<br />
hat den Haushaltsmonat Januar mit einem<br />
Plus von etwa 410.000 Euro abgeschlossen.<br />
Grund für den Erfolg seien<br />
Sparmaßnahmen.<br />
01. - 07. März<br />
In Minsk trifft eine Delegation des<br />
NATO-Hauptquartierts ein, um die Zusammenarbeit<br />
im Programm Partnerschaft<br />
für den Frieden zu besprechen.<br />
Außenminister Martynov trifft sich in<br />
Budapest mit seinem Kollegen Péter Balázs.<br />
Thema ist unter anderem die Östliche<br />
Partnerschaft.<br />
Das belarussische Justizministerium<br />
lehnt zum dritten Mal die Registrierung<br />
des Dachverbandes NGO-Assembly ab.<br />
Aleksandr Lukašenko regelt in einem<br />
Erlass den Verkauf der staatlichen Uhrenfabrik<br />
Luch an den Schweizer Uhrenfabrikanten<br />
Franck Müller.<br />
Das belarussische Zollkomitee fordert<br />
Russland auf, seine Verpflichtungen der<br />
Zollunion zu erfüllen und Ausfuhrzölle<br />
für russisches Öl umgehend abzuschaffen.<br />
08. - 14. März<br />
Belarus feiert den internationalen Frauentag.<br />
Belarussische Frauen stellen ein<br />
Drittel der Abgeordneten im Parlament<br />
und ein Fünftel aller staatlichen Führungskräfte.<br />
Präsident Lukašenko ordnet die Vorbereitung<br />
der Privatisierung von fünf<br />
Staatsbetreiben an, darunter Unternehmen<br />
der Maschinenbau- und Textilindustrie.<br />
Jacek Protasewicz, Leiter der Delegation<br />
des Europäischen Parlaments für<br />
Belarus, erklärt, das Parlament wolle in<br />
Euronest ausschließlich Oppositionelle<br />
und NGO-Vertreter berufen.<br />
15. - 21. März<br />
Aleksandr Lukašenko einigt sich in Caracas<br />
mit Venezuelas Präsident Chavez<br />
über Öllieferungen. Belarus werde zudem<br />
bis 2011 mindestens drei Fabriken<br />
in Venezuela errichten, so Lukašenko.<br />
Der russische Premier Putin erklärt in<br />
Brest, Russland subventioniere die belarussische<br />
Wirtschaft durch billige Energieträger<br />
mit etwa 4,2 Milliarden Dollar<br />
jährlich.<br />
Nr. 48 02 / 10
Belarus eröffnet in Zürich ein Ehrenkonsulat<br />
zu Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen<br />
mit der Schweiz.<br />
Philippe Le Houerou, Vizechef der Weltbank,<br />
trifft sich mit Premier Sidorski in<br />
Minsk und erklärt, die Weltbank wolle<br />
ihr Engagement in Belarus ausweiten.<br />
Vertreter der Organisation des Vertrags<br />
über Kollektive Sicherheit (OVKS) und<br />
der UNO unterzeichnen eine Kooperationserklärung.<br />
Belarus richtet zwei zum Tode verurteilte<br />
Kriminelle hin.<br />
22. – 28. März<br />
In Rio de Janeiro trifft sich Aleksandr<br />
Lukašenko mit seinem brasilianischen<br />
Kollegen Lula da Silva. Beide Staaten<br />
wollen in Kürze Botschaften eröffnen.<br />
Xi Jingping, stellvertretender Präsident<br />
der Volksrepublik China, trifft in<br />
Minsk ein. China wird Belarus Kredite<br />
in Höhe von einer Milliarde Dollar zur<br />
Verfügung stellen.<br />
Die belarussische Opposition begeht den<br />
inoffiziellen Unabhängigkeitstag „Tag<br />
des Willens.“ Mehrere Tausend Menschen<br />
demonstrieren in Minsk gegen das<br />
Regime, es gibt keine Verhaftungen.<br />
Außenminister Martynov erklärt, die enge<br />
Zusammenarbeit mit Venezuela ändere<br />
nichts an der Rolle Russlands als wichtigstem<br />
strategischen Partner von Belarus.<br />
29. März – 04. April<br />
Vertreter mehrerer großer US-Firmen,<br />
darunter Microsoft, treffen sich in<br />
Minsk mit Aleksandr Lukašenko. Die<br />
USA sind die größte Quelle ausländischer<br />
Direktinvestitionen für Belarus.<br />
Die hohe Vertreterin der EU für Außen-<br />
und Sicherheitspolitik, Catherine<br />
Ashton, erklärt, die EU sei besorgt aufgrund<br />
von Repressionen im Vorfeld der<br />
Kommunalwahlen.<br />
Die Europäische Kommission verschiebt<br />
die Bildung von Euronest auf unbestimmte<br />
Zeit aufgrund der Uneinigkeit<br />
mit Belarus über deren Zusammensetzung.<br />
Alle sechs Partnerländer der Östlichen<br />
Partnerschaft fordern eine gleichberechtigte<br />
Teilnahme des belarussischen Parlaments<br />
an Euronest und stärken damit<br />
die belarussischen Position.<br />
Der ukrainische Präsident Janukovič erklärt,<br />
er werde keine Integration in den<br />
russisch-belarussischen Unionsstaat anstreben.<br />
Strategisches Ziel seines Landes<br />
sei eine Integration in die EU.<br />
05. – 11. April<br />
Alle wichtigen belarussischen Oppositionsparteien<br />
erklären in einem gemeinsamen<br />
Papier, in Belarus fänden nach wie<br />
vor keine demokratischen Wahlen statt.<br />
Die staatlich kontrollierte Föderation<br />
der Belarussischen Gerwerkschaften<br />
äußert ihre Besorgnis darüber, dass 2009<br />
die Reallöhne um 4,2 Prozent gesunken<br />
seien.<br />
Vizepremier Semaško erklärt, die Minsker<br />
Motorradfabrik „Motovelo“ stehe<br />
still, die Privatisierung sei fehlgeschlagen.<br />
Das Unternehmern war 2007 von<br />
der Österreichischen ATEC gekauft<br />
worden.<br />
12. – 18. April<br />
Aleksandr Lukašenko begibt sich auf<br />
Inspektionsfahrt in die belarussischen<br />
Regionen.<br />
Präsident Lukašenko erklärt, die Auslieferung<br />
der belarussischen Atomsprengköpfe<br />
in den 1990er Jahren ohne angemessene<br />
Vergütung sei ein „riesengroßer<br />
Fehler“ gewesen.<br />
In Moskau treffen sich die GUS-Verteidigungsminister.<br />
Auf der Tagesordnung<br />
steht unter anderem das gemeinsame<br />
Luftabwehrsystem.<br />
Chronologie<br />
Wirtschaftsminister Nikolaj Snopkov<br />
erklärt, Belarus werde einen Wertpapiermarkt<br />
schaffen, auf dem zunächst<br />
nur europäische Obligationen gehandelt<br />
würden.<br />
19. – 25. April<br />
Aleksandr Lukašenko verkündet, der<br />
geflohene Kirgisische Präsident Kurmanbek<br />
Bakiev befinde sich in Minsk.<br />
In Odessa trifft der erste Tanker mit<br />
80.000 Tonnen venezuelischem Öl für<br />
Belarus ein.<br />
26. – 30. April<br />
Das belarussische Oberhaus ratifiziert<br />
Abkommen mit der Ukraine über die<br />
gemeinsame Staatsgrenze und ein vereinfachtes<br />
Aufenthaltsrecht der Bürger.<br />
Der brandenburgische Ministerpräsident<br />
Matthias Platzeck trifft sich in<br />
Minsk mit Premier Sidorski, Außenminister<br />
Martynov und dem Chef der Präsidialadministration,<br />
Vladimir Makej.<br />
Gewerkschaftschef Leonid Kozik schlägt<br />
vor, zur Stimulierung der Geburtenrate<br />
eine Steuer für kinderlose Männer zwischen<br />
25 und 40 Jahren einzuführen.<br />
Der ukrainische Präsident Janukovič<br />
trifft sich in Minsk mit seinem Kollegen<br />
Lukašenko. Themen sind vor allem<br />
Wirtschaftskooperation und Handel.<br />
Die Parlamentarische Versammlung des<br />
Europarats friert ihre Beziehungen zu<br />
Belarus auf höchster Regierungsebene<br />
ein. Als Hauptgrund wird die Anwendung<br />
der Todesstrafe genannt.<br />
Premier Sidorski triff sich in Vilnius mit<br />
seinem litauischen Kollegen Andrius<br />
Kubilius.<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 19
Wirtschaft & Umwelt<br />
Belarus 2009 – Ein Jahr<br />
der Hoffnung und Enttäuschung<br />
Das Jahr 2009 war in vielerlei Hinsicht besonders für Belarus. Einerseits bekannte sich der belarussische Staat zu einer Reihe<br />
wirtschaftlicher Probleme (freilich ohne die Unrentabilität des gegenwärtigen Modells zuzugeben). Andererseits gingen Worte<br />
wie Reform, Liberalisierung, Privatisierung, IWF, internationale Zusammenarbeit und Östliche Partnerschaft in den alltäglichen<br />
Sprachgebrauch des Normalbürgers ein.<br />
Elena Rakova, Minsk<br />
Volkswirtschaftliche<br />
Indikatoren<br />
* Quelle: Belstat<br />
20 Belarus Perspektiven<br />
Aus wirtschaftlicher Sicht war 2009 für Belarus<br />
das schlechteste in Jahr der vergangenen Dekade.<br />
Die sinkende Nachfrage und der erdrutschartige<br />
Preisverfall bei den Exporten zeigten die ganze<br />
Unsicherheit und Unbeständigkeit in der gegenwärtigen<br />
Wirtschaftspolitik. Die sich verschlechternde<br />
Handelsbilanz zwang Belarus dazu, neue<br />
Schulden aufzunehmen und zugleich einer Reihe<br />
unpopulärer Reformen zuzustimmen.<br />
Die schlechteste Bilanz wiesen die Industriebetriebe<br />
auf, wobei das Ergebnis noch negativer hätte<br />
sein können. Doch der Staat reagierte auf die wachsenden<br />
Lagerbestände und drosselte die Produktion<br />
in der zweiten Jahreshälfte. Die Ursache für<br />
den sprunghaften Anstieg der Lagerbestände war<br />
ein Einbruch bei den wichtigsten belarussischen<br />
Exportgütern wie Maschinen und Werkzeugmaschinen<br />
(nach Russland), Erdölerzeugnisse (nach<br />
Europa) und Kalidünger (nach China und Indien).<br />
Der Handelsbilanz zufolge betrug der Export 2009<br />
21,3 Mrd. USD und der Import 28,6 Mrd. USD.<br />
Im Vergleich zum Vorjahr verringerte sich der Umfang<br />
der Exporte also um 34,7 Prozent (11,3 Mrd.<br />
USD), die Importe sanken um 27,5 % (10,8 Mrd.<br />
USD). Insgesamt erlebte der Import einen geringeren<br />
Einbruch als der Export.<br />
2009 im Verhältnis zu 2008 in %<br />
prognostiziert faktisch<br />
Bruttoinlandsprodukt (BIP) 110-112 100,2<br />
Industrielle Produktion 112 97,2<br />
Produktion von Konsumgütern 113 99,9<br />
Realeinkommen der Bevölkerung 115 102,9<br />
Arbeitsproduktivität (nach BIP) 108,1 99,5<br />
Warenexport 118,5 65,3<br />
Warenimport 117 72,5<br />
Saldo der Außenhandelsbilanz, in Mio. USD -4065 -7281,4<br />
Energieintensität des BIP in % -8 -5,1<br />
Ungeachtet der wachsenden Lagerbestände und der<br />
Hilfe des IWF unterstützte der belarussische Staat<br />
weiterhin exportorientierte Unternehmen. Die Politik<br />
verhinderte, dass Programme zur Arbeitskräftereduzierung<br />
wie in Russland oder der Ukraine in<br />
Kraft treten konnten. Allerdings nutzte ein Drittel<br />
der belarussischen Unternehmen auf die eine<br />
oder andere Weise Mechanismen der Kurzarbeit<br />
(verkürzte Arbeitstage/-wochen). Da in größeren<br />
Unternehmen oft Privateigentümer fehlen, wurde<br />
keine Strategie gegen die Krise ausgearbeitet und<br />
umgesetzt, welche die Verringerung von Produktion<br />
und Personal und damit die Minimierung der<br />
Verluste bedeutet hätte. Man entschied sich stattdessen<br />
dafür, die soziale Stabilität im Land künstlich<br />
aufrecht zu erhalten.<br />
Die Betriebe poduzierten zunächst trotz einer<br />
scharf zurückgehenden Nachfrage weiter – auf<br />
Kosten der belarussischen Goldreserven, die ihrerseits<br />
durch neue Staatsschulden aufgestockt<br />
worden waren. All dies kann auch der alten Landwirtschaftspolitik<br />
angerechnet werden, die Verluste<br />
anhäuft und steigende Preise in den belarussischen<br />
Geschäften zur Folge hat. Es gibt allen Grund zur<br />
Annahme, dass diese Politik auch im folgenden<br />
Jahr fortgesetzt wird und Belarus 2011/12 vor einer<br />
Reihe ungelöster Probleme und Herausforderungen<br />
stehen wird, wenn die aufgenommenen Kredite an<br />
den IWF, Russland und Venezuela zurückgezahlt<br />
werden müssen. Zugleich glaubt die belarussische<br />
Bevölkerung mehrheitlich, dass die Krise ihr Land<br />
nahezu unberührt lasse und die Regierung sie erfolgreich<br />
bekämpfe.<br />
Als eine positive Entwicklung des letzten Jahres<br />
kann die Verbesserung des Geschäftsklimas gelten.<br />
Besonders bemerkenswert sind das neue Verfahren<br />
zur Unternehmensgründung, die ersten Schritte<br />
hin zu einer Reform der Steuergesetzgebung<br />
Nr. 48 02 / 10
und die Liberalisierung der Preise. Der Aufstieg<br />
von Belarus beim Rating-Index „Doing Business“<br />
der Weltbank um dreißig Positionen auf Platz 84<br />
scheint daher gerechtfertigt. Die belarussischen<br />
Machthaber verfolgen den Weg einer wirtschaftlichen<br />
Liberalisierung, allerdings nicht systematisch:<br />
viele Änderungen sind partiell oder haben<br />
kosmetischen Charakter. Zudem bringt eine Gesetzänderung<br />
wenig, wenn die Beamten an ihren<br />
Arbeitsplätzen nicht dazu gezwungen werden, sie<br />
auch umzusetzen. Ein besonderes, bisher ungelöstes<br />
Problem für den privaten Sektor besteht in den<br />
ungleichen Wettbewerbsbedingungen mit staatlichen<br />
Unternehmen.<br />
Zu den Enttäuschungen und Misserfolgen des vergangen<br />
Jahres muss gezählt werden, dass es nahezu<br />
keine Privatisierungen gab (vom Verkauf der<br />
Belpromstroibank einmal abgesehen) und neue<br />
Privatisierungen kaum gefördert wurden. Die belarussische<br />
Politik neigt dazu Privatisierungen ausschließlich<br />
unter fiskalischen Gesichtspunkten zu<br />
betrachten: Statt vorhandenes Eigentum zu neuen<br />
Preisen zu verkaufen, zieht man es vor, staatliche<br />
Kredite aufzunehmen. Doch Privatisierungen sind<br />
das wichtigste Element der strukturellen Reformen,<br />
die das Land so dringend braucht. Sie aufzuschieben<br />
bedeutet vor allem, die Kosten für alternative<br />
Reformstrategien zu erhöhen.<br />
Die zu Beginn des Jahres durchgeführte Abwertung<br />
des Belarussischen Rubels um 20 Prozent<br />
hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Dieser<br />
politische Kompromiss mit dem IWF hatte meiner<br />
Meinung nach einen negativen Einfluss auf die<br />
Wirtschaft, weil Bevölkerung und Unternehmen<br />
das Vertrauen in die nationale Währung verloren.<br />
Die Abwertung hätte entweder größer sein müssen,<br />
um die belarussischen Importe erkennbar zu verringern<br />
– oder sie hätte überhaupt nicht stattfinden<br />
sollen.<br />
Alles in allem war 2009 ein durchwachsenes Jahr.<br />
Es versprach viel und in gewisser Weise wurden die<br />
Hoffnungen übertroffen. Aber es hinterließ auch<br />
Enttäuschungen, in erster Linie, weil die bela-<br />
russischen Machthaber die Unzulänglichkeit der<br />
gegenwärtigen Politik nicht erkannten und auf früheren<br />
Prognosen, Indikatoren und Programmen<br />
beharrten. Wieder wurde ein Jahr verloren, wieder<br />
Kredite aufgenommen und Ressourcen sinnlos<br />
verbraucht. Zumindest hat Belarus begonnen, das<br />
sich öffnende Fenster internationaler technischer<br />
Hilfe zu nutzen. Dass diese Mittel jedoch nur unzureichend<br />
effektiv oder teilweise sogar ineffektiv<br />
eingesetzt werden, ist eine andere Geschichte.<br />
Das wichtigste Verdienst der internationalen Wirtschaftskrise<br />
war die allgemeine Umgestaltung der<br />
globalen Konjunktur und internationalen Wirtschaftspolitik.<br />
Das bedeutet, dass Belarus sich weiterhin<br />
ändern wird und verändern muss. In diesem<br />
Sinn stellen sich in 2010 die gleichen spannenden<br />
Fragen an die BY-Wirtschaft, wie in 2009. So tun,<br />
als ob nichts geschehe, klappt nicht mehr: Entweder<br />
muss der Staat die Produktion vieler Fabriken<br />
auf Eis legen, oder neue Finanzierungsquellen für<br />
ihre Arbeit suchen. Jene Mengen zu verkaufen, die<br />
momentan produziert werden, ist jedenfalls unrealistisch.<br />
Im Jahr 2009 stritten belarussische Policy-Maker<br />
auch öffentlich über verschiedene Entwicklungsszenarien.<br />
Diese Debatten werden sich fortsetzen<br />
und die Staatsführung wird sich zu konkreten Reformschritten<br />
durchringen müssen. Für 2010 darf<br />
mit einer Fortsetzung der Liberalisierung des Geschäftsklimas<br />
sowie einem Aufstieg von Belarus in<br />
verschiedenen Ratings gerechnet werden, auch wird<br />
es sicher einige größere Privatisierungen geben.<br />
Doch im großen und ganzen werden wegweisende<br />
strategische Entscheidungen sicher erst nach den<br />
Präsidentschaftswahlen im Winter 2011 fallen.<br />
Wirtschaft & Umwelt<br />
Das Vertrauen in den<br />
belarussichen Rubel<br />
war dahin.<br />
Foto: bymedia.net<br />
Elena Rakova ist Wirtschaftswissenschaftlerin am Institut für angewandte<br />
Mathematik der Russischen Akademie der Wissenschaften,<br />
Moskau. Sie hat 1995 ihr Studium an der Fakultät für Handel und<br />
Marketing der Universität Sankt Petersburg mit einer Arbeit zu Preisbildung<br />
abgeschlossen. Ihre Dissertation widmete sie dem Schwerpunkt<br />
„Nationale Wirtschaftsführung“. Seit 1995 unterrichtet Elena Rakova<br />
an verschiedenen belarussischen Hochschulen.<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 21
Wirtschaft & Umwelt<br />
Zuverlässigkeit und Vertrauen<br />
In den Beziehungen zwischen Belarus und der EU spielt die wirtschaftliche Zusammenarbeit eine große Rolle. Deutschland<br />
ist einer der wichtigsten europäischen Wirtschaftspartner des Landes, und als solcher auch direkt durch Repräsentanzen und<br />
Beteiligungen im belarussischen Wirtschafts- und Bankensystem vertreten. Warum sich die deutschen Banken für Belarus interessieren<br />
und welche Rolle sie in den Beziehungen zwischen beiden Ländern spielen, haben wir Oliver Schufmann gefragt,<br />
Vertreter der Commerzbank in Minsk.<br />
Das Interview führte Natal‘ ja Pčëlkina.<br />
22 Belarus Perspektiven<br />
Herr Schufmann, die Commerzbank hat als erste<br />
westliche Bank bereits 1993 eine Repräsentanz<br />
in Belarus eröffnet. Welche Rolle spielt die Commerzbank<br />
in der Zusammenarbeit zwischen Belarus<br />
und Deutschland?<br />
Deutschland ist nach Russland der wichtigste Handelspartner<br />
von Belarus. Ein Großteil der Technologiegüterimporte<br />
und Warenimporte kommt aus<br />
Deutschland. Diese Importe werden oft durch ausländische<br />
Kredite finanziert. Die Commerzbank<br />
hat bei der Finanzierung der gesamten deutschen<br />
Exporte einen Anteil von 20 bis 30 Prozent und<br />
ist in diesem Bereich Marktführer. Außerdem sind<br />
wir aufgrund unseres verzweigten Korrespondenzbankennetzes<br />
in der Lage, den Zahlungsverkehr<br />
zwischen den belarussischen Unternehmen und<br />
ihren Partnern nahezu überall in der Welt abzuwickeln.<br />
Worin liegt zurzeit der Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit<br />
in Minsk?<br />
Die Repräsentanz pflegt ihre Partnerschaften mit<br />
belarussischen Banken, sie berät deutsche und<br />
belarussische Unternehmen in Finanzierungs- und<br />
Investitionsfragen, sie berät belarussische Regierungsstellen<br />
und Mitarbeiter in staatlichen Gremien.<br />
Des weiteren analysiert sie die wirtschaftliche<br />
Situation vor Ort, betreibt Öffentlichkeitsarbeit<br />
und Imagewerbung und vermittelt belarussische<br />
Kollegen für Ausbildungs- und Schulungsmaßnahmen<br />
an die Zentrale.<br />
Was genau ist die Closed Joint-Stock Company<br />
„Belarusian Bank for Small Business“, an der die<br />
Commerzbank beteiligt ist?<br />
Wir beteiligen uns bereits seit dem Jahr 2000 an<br />
Mikrofinanzbanken. Anfänglich waren wir im<br />
Rahmen einer Public Private Partnership zusammen<br />
mit Förderinstituten wie der Kreditanstalt<br />
für Wiederaufbau, der Europäischen Bank für<br />
Wiederaufbau und Entwicklung sowie der Inter-<br />
national Finance Corporation der Weltbank an<br />
insgesamt sieben Instituten in Südosteuropa direkt<br />
beteiligt. Inzwischen wurden die Anteile der<br />
Aktionäre weitestgehend in die ProCredit Holding<br />
AG eingebracht, die nunmehr die Mehrheit an den<br />
meisten lokalen ProCredit-Banken hält. In Belarus<br />
hat die Commerzbank 2007 zusammen mit<br />
anderen internationalen Partnern die Belarusian<br />
Bank for Small Business gegründet. Die Bank soll<br />
im belarussischen Bankensystem eine Nische besetzten,<br />
indem sie vor allem kleinen Unternehmen<br />
Finanzierungsmittel zur Verfügung stellt.<br />
Was bringt das der belarussischen Volkswirtschaft?<br />
Mit dem Konzept der Beteiligung an Mikrofinanzbanken<br />
verfolgen wir das Ziel, die Entwicklung<br />
eines starken, eigenverantwortlich wirtschaftenden<br />
Mittelstands voranzutreiben und gleichzeitig<br />
im Finanzsektor die Etablierung von marktwirtschaftlichen<br />
Grundsätzen zu unterstützen. Um<br />
die Kreditnehmer schrittweise an den verantwortungsvollen<br />
Umgang mit den zur Verfügung gestellten<br />
Mitteln heranzuführen, werden zunächst<br />
nur kleine Darlehen mit kurzer Laufzeit vergeben.<br />
Erst nach deren Rückzahlung können die Unternehmen<br />
dann bei Bedarf einen höheren und länger<br />
laufenden Kredit beantragen.<br />
Wie passen das edle Ziel, die belarussische Wirtschaft<br />
zu fördern, und das Ziel, das Kapital der<br />
Commerzbank zu mehren, zusammen?<br />
Von einem guten Geschäft haben immer beide<br />
Seiten etwas. Insofern besteht kein Widerspruch<br />
darin, dass die Vorteile der einen Seite auch mit<br />
Vorteilen für die andere Seite verbunden sind. Die<br />
finanziellen Ressourcen, die die Commerzbank<br />
der belarussischen Wirtschaft zur Verfügung stellt,<br />
ermöglichen Wachstum und Modernisierung der<br />
Wirtschaft und erhöhen so ihre Konkurrenz- und<br />
Zukunftsfähigkeit. Auf diese Weise werden letzt-<br />
Nr. 48 02 / 10
endlich auch Arbeitsplätze in Belarus gesichert.<br />
Da wir keine Förderinstitution sind, sondern ein<br />
auf Gewinnerzielung ausgerichtetes, kommerzielles<br />
Institut können wir diese Ressourcen natürlich<br />
nicht kostenlos zur Verfügung stellen.<br />
Ist Belarus Ihrer Meinung nach für Investoren<br />
attraktiv?<br />
Belarus hat potenziellen Investoren einiges zu<br />
bieten: Neben einem hohen Grad an sozialer Stabilität<br />
und öffentlicher Sicherheit schlagen in wirtschaftlicher<br />
Hinsicht durchweg gut ausgebildete<br />
Arbeitskräfte sowie eine gute Infrastruktur positiv<br />
zu Buche. Die Regierung von Belarus unternimmt<br />
darüber hinaus eine ganze Reihe von Reformmaßnahmen,<br />
um das Land attraktiv für Auslandsinvestitionen<br />
zu machen. Der Erfolg spiegelt sich unter<br />
anderem in dem Bericht Doing Business 2010 der<br />
Weltbank wider, in dem sich das Land binnen einem<br />
Jahr von Platz 82 auf Platz 58 verbessert hat.<br />
Als Commerzbank versuchen wir, die Regierung<br />
durch konstruktives Mitwirken bei ihren Reformbestrebungen<br />
zu unterstützen. So ist unsere Bank<br />
Mitglied des Foreign Investment Advisory Councils<br />
beim Ministerrat, einem Gremium, das die<br />
ausdrückliche Zielsetzung verfolgt, das Investitionsklima<br />
in Belarus zu verbessern. Da wir zudem<br />
als einzige westliche Bank seit 1993 mit einer eigenen<br />
Repräsentanz vor Ort vertreten sind, können<br />
wir aus unserer eigenen geschäftlichen Erfahrung<br />
sagen, dass Zuverlässigkeit und Vertrauen in der<br />
Einhaltung von Absprachen in Belarus einen ähnlichen<br />
Stellenwert wie in den westlichen Ländern<br />
genießen. Eine der großen Herausforderungen für<br />
die belarussische Regierung bleibt, die Herstellung<br />
gleicher Bedingungen für alle Unternehmen,<br />
unabhängig von Größe, Rechtsform und Eigentümerstruktur.<br />
Dies bedeutet, ein vernünftiges Maß<br />
an staatlicher Regulierung und Kontrolle zu finden<br />
sowie gerade auch für kleine und mittelständische<br />
Unternehmen eine weitgehende Unabhängigkeit<br />
ihrer geschäftspolitischen Entscheidungen von politischer<br />
Einflussnahme sicher zu stellen.<br />
Wirtschaft & Umwelt<br />
Ein wenig Glanz<br />
der deutschen<br />
Commerzbank-<br />
Repräsentanz fällt<br />
auch auf Belarus ab.<br />
Foto: Ralph Richter,<br />
Commerzbank AG<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 23
Wirtschaft & Umwelt<br />
Gleiche Aufgaben, ungleiche Ziele<br />
Trotz aller Konflikte haben Belarus und Russland ihre Integration durch die Gründung einer Zollunion formal vertieft.<br />
Warum es dennoch permanent zwischen den beiden Staaten kriselt und worin die Wurzeln des Konflikts liegen, analysiert<br />
Jaroslav Romančuk vom Forschungszentrum Mises.<br />
Jaroslav Romančuk, Minsk<br />
Jaroslav Romančuk,<br />
Foto: bymedia.net<br />
24 Belarus Perspektiven<br />
Obwohl immer mehr Dokumente zur Integration<br />
zwischen Belarus und Russland unterzeichnet werden,<br />
verbessern sich die Bedingungen für Handel,<br />
Investitionen und die Realisierung gemeinsamer<br />
Projekte kaum. Am 24. September 1993 unterschrieben<br />
beide Länder den ersten Vertrag über die<br />
Schaffung einer Wirtschaftsunion, die Vereinbarung<br />
über eine Zollunion folgte am 6. Januar 1995.<br />
Der Vertrag über die Zollunion zwischen Belarus,<br />
Russland und Kasachstan, der im November<br />
2009 unterzeichnet wurde, war mithin ein weiteres<br />
Dokument in der langen Liste wenig bedeutender<br />
<strong>Initiativen</strong>. Bereits auf der Oktoberkonferenz 2003<br />
zeigten die belarussische und die russische Führung,<br />
dass es grundsätzliche politische Fragen gibt, in<br />
denen Minsk und Moskau sich unversöhnlich<br />
gegenüberstehen. Auch zwischen 2004 und 2009<br />
wurden die belarussisch-russischen Beziehungen<br />
immer wieder von Konflikten erschüttert. Dabei<br />
ging es unter anderem um Gas, Öl, Transport,<br />
Süßwaren, Zement, Traktoren und Kredite. Statt<br />
die zwei Perspektiven anzunähern, sind die von<br />
den Verträgen festgelegten Bedingungen immer<br />
wieder Quelle für Meinungsverschiedenheiten. Es<br />
ist offensichtlich, dass der gemeinsame Unionsstaat<br />
nicht funktioniert.<br />
Belarussische Ziele<br />
Die belarussische Führung betrachtet den Staatenbund<br />
ebenso wie den Vertrag über die Zollunion<br />
zwischen Russland, Belarus und Kasachstan als<br />
ein rechtliches Instrument, um eine Reihe wertvoller<br />
Vorteile und Vergünstigungen zu erhalten:<br />
Sowohl Gas und Öl zu innerrussischen Preisen, als<br />
auch einen freien Zugang zu den Waren-, Dienstleistungs-,<br />
Geld- und Arbeitsmärkten Russlands,<br />
so dass belarussische Waren und Dienstleistungen<br />
auf russischem Territorium innerrussische Privilegien<br />
beanspruchen können; außerdem will Belarus<br />
gleichberechtigten Zugang zu Ausschreibungen<br />
und Auktionen, die auf dem russischen Markt umgesetzt<br />
werden. Hinzu kommen günstige Preise für<br />
den Kauf von Rüstungsgütern und den Erhalt von<br />
langfristigen Devisenkrediten.<br />
Russische Ziele<br />
Die russische Führung ihrerseits betrachtet den<br />
Staatenbund und die Zollunion als rechtliche<br />
Instrumente, um supranationale Organe zu bilden<br />
und politische Macht von Minsk nach Moskau zu<br />
transferieren. Sie will die belarussischen Außengrenzen<br />
kontrollieren, die Zollgesetzgebung von<br />
Belarus mit der russischen vereinheitlichen, in<br />
Belarus perspektivisch den russischen Rubel als<br />
Währung etablieren, die russischen Militärbasen<br />
in Belarus kostenlos nutzen und sich die Unterstützung<br />
ihrer Militär-, Verteidigungs- und Innenpolitik<br />
sichern. Nützlich sind Staatenbund und<br />
Zollunion ebenfalls, damit russische Investoren<br />
die Filetstücke der belarussischen Wirtschaft (darunter<br />
auch die führenden belarussischen Banken)<br />
erwerben, sowie die Kontrolle über die Gas- und<br />
Erdölpipelines aufrecht erhalten können; Russland<br />
will weiterhin die freie Zirkulation von Geld,<br />
Waren, Arbeitskräften und Dienstleistungen sowie<br />
die Einführung eines russischen Businessklima<br />
gewährleisten.<br />
Nr. 48 02 / 10
Sackgassen<br />
Die Ziele beider Regierungen unterscheiden sich<br />
offensichtlich grundsätzlich voneinander. Begriffe<br />
wie „Vereinheitlichung“, „Integration“ und „Konsolidierung“<br />
werden deshalb von beiden Seiten mit<br />
völlig anderen Inhalten gefüllt. Die bisher vorhandenen,<br />
gemeinsamen bürokratischen Strukturen,<br />
die eher dem Selbstzweck dienen als effektiv zu<br />
arbeiten, vermochten es bisher nicht, klare, gemeinsame<br />
Ziele zu definieren. Dies ist eine der Hauptquellen<br />
von Differenzen und Konflikten. Das Fehlen<br />
klarer Absprachen mit dem Kreml erlaubt es Minsk,<br />
unterschriebene Vereinbarungen nach eigener Lesart<br />
zu interpretieren und sich bestimmte politische<br />
Handlungsmöglichkeiten offen zu halten. Dazu<br />
gehören ein strenger Protektionismus des Binnenhandels,<br />
die Vergabe von Zuschüssen für belarussische<br />
Exportgüter nach Russland, eine eigene belarussische<br />
Währung, eine eigenständige Regulierung<br />
des Geschäftsklimas, die Kontrolle über privates<br />
Eigentum. Zudem kann Minsk sich so vom Einfluss<br />
russischer Informationen isolieren, das enorme<br />
Potenzial, welches Transport- und Transitwege<br />
bieten, zu Geld machen und eine eigenständige<br />
Position gegenüber den außenpolitischen und militärischen<br />
<strong>Initiativen</strong> Russlands bewahren. Dass<br />
Russland Belarus subventioniert, ergibt sich nicht<br />
aus offiziellen Verträgen und Dokumenten, die<br />
von beiden Seiten unterzeichnet wurden, sondern<br />
aus der vergleichenden Analyse von Preisen und<br />
Handelsbedingungen, die Russland mit anderen<br />
Staaten unterhält. Da gegenwärtig nicht auf Grundlage<br />
einer vertraglich geregelten Basis argumentiert<br />
wird, ruft dies emotionale Reaktionen bei der<br />
belarussischen Führung hervor. Die Abwesenheit<br />
klarer Vereinbarungen zu Handelsbeziehungen,<br />
Gas- und Ölpreisen, die übermäßige Politisierung<br />
der Beziehungen und die Versuche, die Entscheidung<br />
politischer Probleme an Wirtschaftsfragen zu<br />
knüpfen, sind Gründe für die Anspannung in den<br />
belarussisch-russischen Beziehungen.<br />
Neue Qualität<br />
Nach 2009 erreichte der Konflikt zwischen Russland<br />
und Belarus eine neue Qualität. Es kam zu<br />
persönlichen Beleidigungen gegenüber hohen<br />
russischen Amtspersonen. Die belarussischen<br />
Massenmedien verbreiteten über einen längeren<br />
Zeitraum ein negatives Bild der russischen Regierung<br />
und großer russischer Unternehmen, was sich<br />
schließlich auch auf die Beziehungen gewöhnlicher<br />
Belarussen zu ihren russischen Nachbarn auswirkte.<br />
Ungeachtet des unterschriebenen Vertrags über<br />
die Zollunion kritisieren belarussische Beamte<br />
die neue Zweckgemeinschaft regelmäßig. So geriet<br />
die belarussische Führung in den letzten zwei<br />
Jahren aufgrund persönlicher Ambitionen in einen<br />
scharfen Konflikt mit der offiziellen Position Russlands.<br />
Wirtschaftliche Indikatoren<br />
2009 verringerte sich der Warenaustausch zwischen<br />
beiden Ländern um 31,2 Prozent. Der<br />
Export fiel um 36,4 Prozent auf 6,7 Milliarden<br />
USD, der Import ging um 28,9 Prozent zurück auf<br />
16,7 Milliarden USD. Der Umfang der Exporte<br />
fiel damit auf das Niveau des Jahres 2005/06, und<br />
bei den Importen sah sich Belarus auf das Jahr<br />
2006/2007 zurückgeworfen. Doch die gegenwärtige<br />
Wirtschaftskrise erklärt diesen starken Abfall<br />
nur teilweise. Ein weiterer Grund ist, dass die<br />
russischen Hersteller von Transportmitteln, Maschinen<br />
und Ausrüstung sich nicht mehr damit abfinden<br />
wollen, dass staatliche Subventionen es belarussischen<br />
Betrieben erlauben, ihre Erzeugnisse<br />
auf dem russischen Markt zu Dumpingpreisen<br />
anzubieten. Die schlechten Beziehungen zwischen<br />
Aleksandr Lukašenko und dem Kreml tragen erheblich<br />
zur angespannten Lage bei. Folge sind<br />
Dutzende von non-tarif barriers und Differenzen<br />
im Energiesektor. Gleichzeitig erhöht die Wirtschaftskrise<br />
die Neigung der Beamten zu Protektionismus,<br />
hohe Amtspersonen tauschen Sticheleien<br />
aus und beschuldigen einander, die Staatenunion<br />
zu untergraben. Ganz offensichtlich ist die Integration<br />
zwischen Belarus und Russland in eine<br />
Sackgasse geraten, ein Ausweg ist momentan nicht<br />
in Sicht. Eines dürfte aber klar sein: die belarussische<br />
Wirtschaft wird aus dem andauernden Konflikt<br />
sicherlich nicht als Gewinner hervorgehen.<br />
Wirtschaft & Umwelt<br />
Das Forschungszent-<br />
rum Mises finden Sie<br />
unter http://libertybelarus.info/.<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 25
25 Jahre nach Tschernobyl<br />
Die Zukunftswerkstatt Minsk<br />
Veranstaltungsreihe zu Tschernobyl<br />
Mehr Informationen<br />
finden Sie unter:<br />
www.ibb-d.de/<br />
tschernobyl<br />
www.ost-west-initia-<br />
tiven.de<br />
www.eustory.eu<br />
26 Belarus Perspektiven<br />
Das neue Projekt „Zukunftswerkstatt – Energieeffizienz<br />
und erneuerbare Energien nach der Katastrophe<br />
von Tschernobyl“ des IBB Dortmund<br />
und der IBB Minsk stößt auf große Zustimmung<br />
in der belarussischen und deutschen Politik. Dies<br />
machte die Konferenz „Zukunftswerkstatt Minsk<br />
– eine Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare<br />
Energien“ am 27. April in Minsk deutlich.<br />
Ihre vorbehaltlose Unterstützung für die Zukunftswerkstatt<br />
brachten der brandenburgische<br />
Ministerpräsident Matthias Platzeck, der stellvertretende<br />
belarussische Ministerpräsident Vladimir<br />
Semaško und der Vorsitzende des Hauptausschusses<br />
im Landtag NRW Werner Jostmeier zum<br />
Ausdruck. Die Zukunftswerkstatt, die ab 2011 auf<br />
dem Gelände der IBB Minsk mit Unterstützung<br />
aus Belarus, Deutschland und der EU errichtet<br />
werden soll, wäre das erste öffentliche Nullenergiehaus<br />
in Minsk. Es soll sich zu einem Zentrum<br />
des Austauschs zwischen Vertretern von Zivilge-<br />
Fast 25 Jahre nach Tschernobyl droht die mit<br />
Tschernobyl verbundene „letzte Warnung“ (Robert<br />
Gale) zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Das<br />
IBB Dortmund möchte deshalb mit finanzieller<br />
Unterstützung der Mercator-Stiftung in Kooperation<br />
mit dem europäischen Verein EUStory und<br />
der IBB Minsk im Umfeld des 25. Jahrestages dazu<br />
beitragen, die mit Tschernobyl verbundenen drängenden<br />
Fragen fest im europäischen Gedächtnis zu<br />
verankern. Auf inhaltlich und methodisch vielfältigen<br />
Wegen sollen durch das Prisma Tschernobyl<br />
gesellschaftliche Lernprozesse im Umgang mit den<br />
globalen Herausforderungen von Gegenwart und<br />
Zukunft ermöglicht werden. Unter dem Titel „25<br />
Jahre nach Tschernobyl – Europäische Solidarität<br />
und Erinnerungskultur“ wird das IBB Dortmund<br />
die Geschichte, die Aktivitäten und Rahmenbedingungen<br />
der europäischen Hilfsbewegung zu<br />
Tschernobyl in einer Publikation systematisch darlegen.<br />
Da die Geschichte der Solidaritätsbewegung<br />
aber keinesfalls zu Ende ist, richtet das IBB auf<br />
Mechthild vom Büchel, Dortmund & Sabrina Bobowski, Berlin<br />
sellschaft, Staat und Privatwirtschaft aus Belarus,<br />
Deutschland und anderen europäischen Ländern<br />
entwickeln, in dem Seminare, Konferenzen und<br />
Beratungen zu Energieeffizienz und erneuerbaren<br />
Energien stattfinden. Das Gebäude soll des weiteren<br />
ein Demonstrationszentrum für Energieeffizienz<br />
und eine Ausstellung zur Katastrophe von<br />
Tschernobyl beherbergen. Nach Ansicht aller Befürworter<br />
soll die Zukunftswerkstatt auch zu einer<br />
zentralen Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare<br />
Energiequellen zwischen Ost und West werden.<br />
Vladimir Semaško, erster Stellvertreter des<br />
Ministerpräsidenten der Republik Belarus, sagte,<br />
er sei fest davon überzeugt, dass die Zukunftswerkstatt<br />
das erste wahre gemeinsame Projekt für eine<br />
langfristige, sichere Energieversorgung zwischen<br />
Ost und West werde.<br />
Jetzt gilt es vor allem auf europäischer Ebene, insbesondere<br />
bei den Institutionen der Europäischen<br />
Union, Unterstützung für das Projekt zu finden.<br />
der Internetplattform www.ost-west-initiativen.de<br />
ein „Tschernobyl-Forum“ ein, auf dem <strong>Initiativen</strong><br />
aktuelle Fragen, Aktionen und Events diskutieren<br />
können. In dem Forum werden zudem die Geschichten<br />
von Zeitzeugen und europäischen Hilfsorganisationen<br />
veröffentlicht. Um die Generation,<br />
die Tschernobyl nicht mehr bewusst erlebt hat,<br />
auch für das Thema zu sensibilisieren, gestaltet das<br />
IBB die interaktive Wanderausstellung „Menschen<br />
– Orte – Solidarität“, die zwischen Januar und April<br />
2011 an 25 Orten in ganz Deutschland gezeigt<br />
werden soll. Parallel zur Ausstellung werden an den<br />
25 Orten Zeitzeugengespräche mit Liquidatoren<br />
stattfinden, die das individuelle Ausmaß der Katastrophe<br />
besonders für junge Menschen erfahrbarer<br />
machen. Auch der europäische Verein EUStory<br />
möchte jungen Menschen die Vergangenheit näher<br />
bringen. EUStory organisiert eine Studienreise<br />
nach Belarus, bei der Jugendliche aus ganz Europa<br />
Zeitzeugen treffen und interviewen. Ab September<br />
2010 bietet der Verein ein Internet-Seminar an,<br />
Nr. 48 02 / 10
in dessen Rahmen 60 Jugendliche aus 22 europäischen<br />
Ländern in ihren Heimatorten nach Spuren<br />
von Tschernobyl forschen.<br />
Für den April 2011 plant das IBB jeweils eine<br />
Veranstaltung in Berlin und in Minsk. In Minsk<br />
kommen vom 13. bis 20. April bei der Internationalen<br />
Partnerschaftskonferenz etwa 1500 Menschen<br />
zusammen, darunter viele Zeitzeugen und<br />
Vertreter europäischer <strong>Initiativen</strong>. Die Teilnehmer<br />
werden sich bei der Veranstaltung vernetzen,<br />
in thematischen Arbeitsgruppen diskutieren und<br />
die belarussische Nationalversammlung besuchen.<br />
Das gesamte Projekt endet schließlich mit der Abschlussveranstaltung<br />
„Tschernobyl als europäische<br />
Herausforderung“ (in Kooperation mit der Evangelischen<br />
Akademie zu Berlin) am 26. April 2011 im<br />
Französischen Dom in Berlin, bei der die Ergebnisse<br />
des gesamten Projekts vorgestellt werden. sb<br />
25 Jahre nach Tschernobyl<br />
Das IBB sucht für die Betreuung der Ausstellung und der Zeitzeugen <strong>Initiativen</strong><br />
aus ganz Deutschland. Für den Transport der Ausstellung fallen<br />
voraussichtlich keine Kosten an. Die <strong>Initiativen</strong> müssten Unterkunft und<br />
Verpflegung für den Zeitzeugen stellen. Bei Interesse oder Fragen melden<br />
Sie sich bitte bei Frau Yanina Lyesnyak (lyesnyak@ibb-d.de).<br />
Am Vorabend des Gedenkens<br />
Aktivitäten europäischer <strong>Initiativen</strong> zum 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl<br />
Um das Reaktorunglück von Tschernobyl und seine Folgen nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen, planen viele europäische<br />
<strong>Initiativen</strong> vielfältige Aktionen für das kommende Jahr. Beim Vernetzungstreffen „Am Vorabend des Gedenkens“ am<br />
23. und 24. April 2010 in Dortmund konnten sich die <strong>Initiativen</strong> aus Deutschland, Belarus, der Ukraine, den Niederlanden,<br />
Frankreich, Belgien und Luxemburg über ihre geplanten Aktivitäten austauschen.<br />
Wie kann der 25. Jahrestag der Tschernobyl-<br />
Katastrophe begangen werden, damit die Erinnerung<br />
an das Reaktorunglück auch über das<br />
Jubiläum hinaus wach gehalten wird? Diese und<br />
viele weitere Fragen rund um das Gedenken an<br />
Tschernobyl bewegten um die 60 Vertreter europäischer<br />
<strong>Initiativen</strong> bei einem Vernetzungstreffen<br />
in Dortmund. Die Stichting Rusland Kinderhulp<br />
(www.ruslandkinderhulp.nl) aus den Niederlanden<br />
plant für den Jahrestag ein Vernetzungstreffen<br />
zwischen ihren niederländischen Engagierten<br />
und den belarussischen Partnern. Die<br />
belgische Initiative Les Enfants de Tchernobyl<br />
(www.enfants-de-tchernobyl.be) möchte zum<br />
25. Jahrestag das Buch „Blicke, die sich kreuzen“<br />
publizieren, das insbesondere die interkulturelle<br />
Dimension der Kinderaufenthalte belarussischer<br />
Kinder in Belgien reflektiert. Die luxemburgische<br />
Initiative Parents Accueil de Tchernobyl du Luxembourg<br />
(www.patlux.com) erwägt die Initialisierung<br />
eines gemeinsamen Lobbyprozesses auf EU-<br />
Ebene und ein Vernetzungstreffen mit Vertretern<br />
von <strong>Initiativen</strong> aus allen EU-Ländern, und aus<br />
Belarus und der Ukraine. Auch bei den deutschen<br />
<strong>Initiativen</strong> laufen schon die Vorbereitungen für<br />
den kommenden Jahrestag. Heim-statt Tschernobyl<br />
(www.heimstatt-tschernobyl.org) plant für den<br />
26. April 2011 in der Berliner Gedächtniskirche<br />
einen ökumenischen Gottesdienst sowie in Kooperation<br />
mit der deutschen Sektion des Verbandes<br />
IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung<br />
des Atomkriegs) ein Konzert und eine Lesung in<br />
der Berliner Philharmonie. Zudem sollen bis zum<br />
Sommer 2011 deutschlandweit über hundert Konzerte<br />
zum Gedenken an Tschernobyl stattfinden.<br />
Die Stiftung des Landes Niedersachsen Kinder von<br />
Tschernobyl (www.ms.niedersachsen.de) möchte<br />
einer breiten Öffentlichkeitsarbeit vermitteln, dass<br />
auch 25 Jahre nach Tschernobyl in den betroffenen<br />
Gebieten ein großer Bedarf an Unterstützung<br />
besteht. Dazu plant sie einen Film mit aktuellem<br />
Material aus der Ukraine und aus Belarus, der bei<br />
einer zentralen Gedenkveranstaltung am 26.April<br />
2011 im niedersächsischen Landtag und an Schulen<br />
gezeigt werden soll. Die Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
(BAG) Den Kindern von Tschernobyl (www.<br />
bag-tschernobyl.net) plant neben einer europaweiten<br />
Kerzenaktion eine Friedensfahrt für ein Europa<br />
ohne atomare Bedrohung. Die Fahrt soll in<br />
Minsk beginnen und durch Polen, Deutschland<br />
und eventuell Frankreich führen. Am 26. April<br />
2010 soll die Friedensfahrt in Genf enden, wo vor<br />
dem Sitz der WHO mehr Aufklärung über die Folgen<br />
von Tschernobyl gefordert werden soll. sb<br />
Wer das Vernetzungs-<br />
treffen verpasst hat,<br />
kann sich auf der<br />
Internetplattform<br />
www.ost-westinitiativen.de<br />
mit den<br />
<strong>Initiativen</strong> vernetzen<br />
und Projektideen<br />
austauschen. Dort<br />
wird auch über alle<br />
Veranstaltungen<br />
informiert.<br />
Heim-statt Tscherno-<br />
byl sucht <strong>Initiativen</strong>,<br />
die sich an der Aktion<br />
100 Konzerte zum<br />
Gedenken an Tschernobyl<br />
beteiligen<br />
möchten. Bitte kontaktieren<br />
Sie dafür<br />
Herrn Dietrich<br />
von Bodelschwingh<br />
heim-statt-tschernobyl<br />
@t-online.de.<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 27
NGOs & Gesellschaft<br />
Städte im Dialog<br />
Weltweit gibt es rund 15.000 offizielle Städtepartnerschaften. Die Zahl der informellen Partnerschaften oder Freundschaften<br />
zwischen Städten liegt jedoch noch um ein Vielfaches höher. Gelebt wird diese Partnerschaft zwischen Städten auf der Ebene<br />
der Zusammenarbeit von Stadtverwaltungen und Unternehmen sowie, in erster Linie, auf der Ebene der Bürger – durch Kontakte<br />
von Partnerschaftsvereinen, Schulen, Sportvereinen, Kirchengemeinden und Kulturaustausche.<br />
Peter Franke, Berlin<br />
Peter Franke ist<br />
Vorsitzender des<br />
Bundesverbandes<br />
Deutscher West-Ost-<br />
Gesellschaften<br />
(www.bdwo.de).<br />
28 Belarus Perspektiven<br />
Die Zahl der Städtepartnerschaften zwischen Belarus<br />
und Deutschland ist recht überschaubar: Etwa<br />
19 deutsche und 16 belarussische Städte haben<br />
formelle Partnerschaften mit Städten im jeweils<br />
anderen Land abgeschlossen. Dazu zählen unter<br />
anderem die Partnerschaften zwischen Bonn und<br />
Minsk, Nienburg und Vitebsk, Eisenach und Mogilëv,<br />
Friedrichshafen und Polock. Daneben gibt es<br />
noch eine Zahl von Städtefreundschaften wie zwischen<br />
Wittenberg und Eisenach. Die kommunale<br />
Zusammenarbeit in Form von Städtepartnerschaften<br />
bildet heute eine wichtige Säule des Dialogs<br />
zwischen Deutschland und Belarus. Dabei kann<br />
die Möglichkeit im privaten und beruflichen Umfeld<br />
der Kommune konkrete Projekte zu gestalten,<br />
Städte wie Bürger motivieren, ihr Engagement und<br />
Wissen in eine derartige Partnerschaft einzubringen.<br />
Mit dem Wandel der Städte hat sich auch das<br />
Profil der Zusammenarbeit gewandelt. Die Mehrzahl<br />
der Partnerschaften zwischen deutschen und<br />
belarussischen Städten, wurde ab Mitte der 80er<br />
und bis Mitte der 90er Jahre begründet. Ging es<br />
zunächst darum, nach dem kalten Krieg Brücken<br />
zwischen Ost und West zu bauen, und nahm das<br />
Interesse am östlichen Partner und der Partnerschaftsarbeit<br />
Ende der 80er Jahre stark zu, gerade<br />
auch vor dem Hintergrund der Tschernobyl-<br />
Katastrophe, so haben sich in den letzten Jahren mit<br />
den Veränderungen in Belarus und in Deutschland<br />
auch die Beziehungen der Partnerstädte gewandelt.<br />
Während die Leistung von humanitärer Hilfe, die<br />
insbesondere Anfang bis Mitte der 90er Jahre von<br />
großer Bedeutung war, in den Hintergrund rückte,<br />
traten in den letzten Jahren stärker Aktivitäten in<br />
Kultur und Politik, der Fach-, Schüler- und Jugendaustausch<br />
sowie Kooperationen in der Wirtschaft<br />
und im Umweltschutz in den Vordergrund.<br />
Um die Akteure in ihrer Partnerschaftsarbeit zu<br />
unterstützen und ein Netzwerk zwischen ihnen<br />
aufzubauen, werden seit einigen Jahren Städtepartnerschaftskonferenzen<br />
zwischen den deutschen<br />
und belarussischen Partnerstädten durchgeführt.<br />
Die Konferenzen finden alle zwei bis drei Jahre<br />
im Wechsel in Belarus und in Deutschland statt.<br />
Sie richteten sich zunächst nur an Bürgermeister<br />
und Entscheidungsträger der kooperierenden<br />
Städte. Doch bei den letzten Konferenzen wurden<br />
auch Vertreter von Vereinen, <strong>Initiativen</strong> und<br />
gesellschaftlichen Organisationen einbezogen, die<br />
an der Intensivierung der Zusammenarbeit auf<br />
kommunaler Ebene sowie an der Ausweitung der<br />
Kooperation auf neue Bereiche interessiert sind.<br />
Die Konferenzen versuchen Perspektiven und<br />
Themenfelder für eine intensivere Zusammenarbeit<br />
auf regionaler und kommunaler Ebene sowie<br />
neue Kooperationsmöglichkeiten zwischen Bürgerinitiativen<br />
und Kommunen aufzuzeigen. Denn<br />
die Palette der Projekte von Städten wie Vereinen<br />
ist überaus vielfältig und die Partner können sich<br />
durchaus ergänzen.<br />
Auch bei der siebten Deutsch-belarussischen Städtepartnerkonferenz<br />
vom 16. bis 18. Oktober 2009<br />
in Mogilëv wurde bei allen Diskussionen sichtbar,<br />
wie stark sich das Engagement der Bürgerinitiativen<br />
versachlicht und professionalisiert hat und wie<br />
viel offener die Akzeptanz ehrenamtlicher Arbeit<br />
bei den Kommunalpolitikern und in den kommunalen<br />
Verwaltungen geworden ist. Zwischen der<br />
belarussischen und der deutschen Position gibt es<br />
diesbezüglich graduelle, aber keine prinzipiellen<br />
Unterschiede.<br />
Die existierenden Städtepartnerschaften sind ein<br />
wichtiger institutioneller Rahmen für die Arbeit<br />
von Vereinen und Gesellschaften, zumal gerade die<br />
Arbeit ihrer Mitglieder diese Städtepartnerschaften<br />
mit Leben füllt und sich ein Austausch nicht<br />
allein auf die Verwaltungen beschränkt. Dort, wo<br />
Verwaltungen und Vereine auf beiden Seiten gemeinsam<br />
eine Städtepartnerschaft pflegen, sind<br />
diese tatsächlich auf vielerlei Art lebendig.<br />
Beachtenswert ist, dass etwa seit dem Jahre 2000<br />
deutsche Städte und Gemeinden kaum noch Städtepartnerschaften<br />
schließen, dabei verweisen sie vor<br />
allem auf ihre knappen finanziellen Mittel. Mehr<br />
Nr. 48 02 / 10
und mehr treten die offeneren Formen der binationalen<br />
Freundschaften zwischen Städten an die<br />
Stelle der Städtepartnerschaften. Doch die Erfahrung<br />
zeigt, dass die Form der Städtepartnerschaft<br />
eine Partnerschaft nachhaltiger mit Leben füllt und<br />
die Zusammenarbeit hin zu konkreteren Formen<br />
entwickelt. Daher sollte in Städten nicht nur nachdrücklich<br />
auf eine Vertiefung der bestehenden Partnerschaften<br />
gedrängt, sondern auch der Abschluss<br />
neuer Partnerschaften gefördert werden. Dabei,<br />
und dies müsste für die Städte und Gemeinden interessant<br />
sein, besteht durchaus die Möglichkeit,<br />
dass Vereine und Gesellschaften den Verwaltungen<br />
– angesichts knapper Kassen – Aufgaben in der<br />
Pflege der Städtepartnerschaften abnehmen.<br />
Persönliche Begegnungen von Bürgerinnen und<br />
Bürgern, vor allem aber von Jugendlichen zu<br />
ermöglichen, ist deshalb der erste und überhaupt<br />
wichtigste Schritt in der Partnerschaftsarbeit.<br />
Durch gegenseitiges Kennenlernen können<br />
Freundschaften entstehen, die häufig zu längerer<br />
Zusammenarbeit führen. Und gemeinsam entwickelte<br />
Projekte legen dazu den Grundstein. Die<br />
Themenpalette dieser Projekte ist überaus vielfältig<br />
– Fragen der gemeinsamen Geschichte, des<br />
Tourismus, der Ökologie und des interkulturellen<br />
Dialogs gehören ebenso dazu wie Politik oder<br />
gesellschaftliche Entwicklung.<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
Best Practice: Eisenach und Mogilëv<br />
Seit fast 15 Jahren besteht eine Städtepartnerschaft zwischen Eisenach und Mogilëv. Wie es zu der Partnerschaft kam und wie<br />
sich die Beziehungen gestalten, fragten wir Heike Apel, 1. Vorsitzende des Vereins Eisenacher Städtepartnerschaften.<br />
Das Interview führte Sabrina Bobowski.<br />
Frau Apel, Sie sind in Eisenach für die Städtepartnerschaften<br />
zuständig, darunter auch für die<br />
Partnerschaft mit Mogilëv, die bereits seit 1996 besteht.<br />
Wie kam es zu der Partnerschaft?<br />
Die Städtepartnerschaft entwickelte sich vor allem<br />
durch die Ferienaufenthalte belarussischer Kinder<br />
in Eisenach. Seit vielen Jahren kamen jährlich<br />
Kinder im Sommer für drei Wochen zu uns. Diese<br />
Aufenthalte wurden schließlich zu einer festen<br />
Tradition und zur offiziellen Städtepartnerschaft,<br />
was vor allem der damalige Oberbürgermeister Dr.<br />
Hans-Peter Brodhun initiierte.<br />
Was sind weitere Schwerpunkte der Kooperation?<br />
Neben den Kinderaufenthalten gibt es noch eine<br />
Kooperation mit dem Musikkonservatorium in<br />
Mogilëv. Seit drei Jahren kommen belarussische<br />
Studenten zu einem dreiwöchigen Musikpraktikum<br />
nach Eisenach. Sie verbringen ihre Zeit im<br />
Bachhaus und in der Musikschule, wo sie ihre musikalischen<br />
Kenntnisse und Fähigkeiten ausbauen.<br />
Daneben kooperieren unsere Städte auch im<br />
wirtschaftlichen Bereich, insbesondere durch den<br />
Technologiepark Gründer und Innovationszentrum<br />
(GIS).<br />
Der Technologiepark Mogilev, der von einer Eisenacher<br />
Firma mit aufgebaut wurde, gilt als besonders<br />
erfolgreiches deutsch-belarussisches Projekt.<br />
Wie kam es zu dieser Kooperation?<br />
Das Gründer- und Innovationszentrum aus Eisenach<br />
bewarb sich damals bei der Kreditanstalt<br />
für Wiederaufbau und der Arbeitsgemeinschaft<br />
Deutscher Technologiezentren e.V. um eine Förderung<br />
für den Aufbau eines belarussischen Technologieparks.<br />
Der Technologiepark entstand 1996<br />
als eine deutsch-belarussische Kooperation in Mogilëv.<br />
Das Projekt ist längst abgeschlossen, aber der<br />
Kontakt zwischen dem GIS und dem Technopark<br />
besteht nach wie vor. Erst im vergangenen Herbst<br />
besuchte eine deutsche Wirtschaftsdelegation Mogilëv,<br />
um weitere Kontakte mit Unternehmen vor<br />
Ort zu knüpfen.<br />
Frau Apel, wie soll sich die Partnerschaft zwischen<br />
Eisenach und Mogilev in den nächsten zehn Jahren<br />
Ihrer Ansicht nach gestalten?<br />
Zehn Jahre ist eine lange Zeit, aber ich wünsche<br />
mir, dass das Niveau der Städtepartnerschaft bleibt<br />
und dass es schrittweise weiter ausgebaut wird. Vor<br />
allem die zwischenmenschlichen Beziehungen<br />
sollten sich weiter vertiefen, denn so funktioniert<br />
eine gute Städtepartnerschaft!<br />
Heike Apel im Dienst.<br />
Foto: eisenach.de<br />
Weitere Informatio-<br />
nen finden Sie unter<br />
www.eisenach.de,<br />
www.vesp.eisenachonline.de.<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 29
NGOs & Gesellschaft<br />
ewoca³ im Landtag NRW<br />
ewoca³, ein einzigartiges Förderprogramm für internationale<br />
Jugendarbeit in Nordrhein-Westfalen, war bis zum 16. April<br />
2010 Thema einer Ausstellung im Düsseldorfer Landtag. Landtagspräsidentin<br />
Regina van Dinther sagte bei der Eröffnung<br />
der Ausstellung am 24. März vor Landtagsabgeordneten und<br />
geladenen Gästen: „Ich finde die Idee des Internationalen <strong>Bildungs</strong>-<br />
und Begegnungswerks und der Stiftung Mercator großartig,<br />
Jugendeinrichtungen in Europa zu vernetzen und damit<br />
die interkulturelle wie soziale Kompetenz junger Menschen zu<br />
fördern.“ Auf 20 Tafeln vermittelt die Ausstellung Eindrücke<br />
von den internationalen Workcamps in Nordrhein-Westfalen<br />
Ausstellung von Leonid Levin in Berlin<br />
„Letzten Endes kommt es darauf an, dass wir unsere Herzen<br />
zu Orten der Erinnerung machen.“ Mit diesen Worten<br />
eröffnete Staatssekretär Michael Mertes am Mittwoch, 27.<br />
Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, die Ausstellung<br />
„Wider das Vergessen! Gedenkorte in Belarus“ mit<br />
Werken des belarussischen Künstlers Leonid Levin in der<br />
NRW-Landesvertretung in Berlin. Das IBB hatte diese Ausstellung<br />
in Kooperation mit der NRW-Landesvertretung in<br />
Berlin realisiert. Unter den rund 200 Gästen begrüßte Mertes<br />
besonders Christina Rau, die Witwe des vor vier Jahren<br />
Neues Lehrbuch erschienen<br />
Am 19. März wurde zum siebten Jahrestag der Geschichtswerkstatt<br />
Minsk das Lehrbuch „Gerettetes Leben: Leben und<br />
Überleben im Minsker Ghetto“ in der IBB Minsk präsentiert.<br />
Das Buch arbeitet vor allem mit Erinnerungen von Zeitzeugen<br />
des Zweiten Weltkrieges, wodurch Schülern jenseits abstrakter<br />
Opferzahlen, die Tragödie jener schrecklichen Ereignisse nahe<br />
gebracht wird und sie die Leiden jener Menschen begreifen<br />
können, die zu Geächteten und Kriegsgefangenen wurden. Allerdings<br />
werfen Erinnerungen auch viele Fragen auf, die unmittelbar<br />
mit der Weitergabe von Erfahrung der älteren Generation<br />
an die jüngere Generation verbunden sind. Die IBB Minsk<br />
wurde am 19. März zum Diskussionsort dieser und anderer<br />
Fragen zwischen Zeitzeugen, Lehrern und Schülern. Das im<br />
30 Belarus Perspektiven<br />
Mechthild vom Büchel, Dortmund<br />
und den europäischen Partnerländern im Jahr 2009. 13 Jugendeinrichtungen<br />
aus Nordrhein-Westfalen hatten 2009 zum<br />
ersten Mal an dem auf drei Jahre angelegten Förderprogramm<br />
teilgenommen, das die Stiftung Mercator mit 1,75 Millionen<br />
Euro fördert. Programmleitung und -koordination obliegem<br />
dem IBB, das unter anderem die Einrichtungen dabei betreute,<br />
Kontakte zu je zwei Partnerländern in Europa zu knüpfen.<br />
In drei aufeinander folgenden Jahren kommen Jugendliche im<br />
Alter von 16 bis 23 Jahren aus drei verschiedenen Ländern für<br />
jeweils drei Wochen in Workcamps zusammen und arbeiten an<br />
ökologischen, gemeinnützigen Projekten. www.ewoca.org<br />
Mechthild vom Büchel, Dortmund<br />
verstorbenen ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau,<br />
der sich unter anderem auch für den deutsch-belarussischen<br />
Dialog eingesetzt hatte. Der heute 73-jährige Künstler und<br />
Architekt Leonid Levin hat seit den 60-er Jahren mehr als 20<br />
Gedenkstätten in Belarus und Russland geschaffen, die die<br />
Tragödie des Krieges und des Holocaust symbolisieren und<br />
nachfühlbar machen. „Wenn ein Besucher die Gedenkstätte<br />
verlässt und vergisst, was er dort gesehen hat, habe ich mein<br />
Ziel verfehlt“, hat Levin selbst seine künstlerische Intention<br />
beschrieben.<br />
Nina Špakovskaja, Minsk<br />
Rahmen der Tätigkeit der Geschichtswerkstatt herausgegebene<br />
Buch „Gerettetes Leben: Leben und Überleben im Minsker<br />
Ghetto“ umfasst die Schicksalsgeschichten von vier Menschen,<br />
zwei Häftlingen des Minsker Ghettos und zwei Gerechten<br />
unter den Völkern der Welt. Die im Lehrbuch angewendete<br />
Oral History-Methode ist eine persönliche Herausforderung<br />
für die beiden Gesprächspartner, die sich in einen intensiven<br />
persönlichen Dialog begeben. Dadurch wird das Interview zu<br />
mehr als einer Wissensquelle: es erschließt neue Perspektiven<br />
in der Interpretation von historischen Ereignissen und es bereichert<br />
die Sozialgeschichte, indem es eine Vorstellung über<br />
das Alltagsleben und die Mentalität sogenannter „einfacher<br />
Menschen“ gibt.<br />
Nr. 48 02 / 10
Kultur & Wissenschaft<br />
Good as you? Homosexualität in Belarus<br />
Jeanna Krömer, Wien<br />
Am 1. Februar 2010 ist die erste Nummer der<br />
Online-Zeitschrift „GAY: good as you“ in belarussischer<br />
Sprache erschienen. Der hauptverantwortliche<br />
Redakteur Sergej Pradzed meint, er sei zwar<br />
nicht der einzige Medienvertreter, der sich in Belarus<br />
dem Thema Homosexualität zuwende. Wohl<br />
aber sei er der Erste, der beabsichtige, regelmäßig<br />
Original-Artikel und Fotos der eigenen Autoren<br />
zu publizieren. Ein großer Schritt, denn „die Gesellschaft<br />
ist immer noch intolerant. Immerhin<br />
sind viele inzwischen bereit, das Thema offen zu<br />
diskutieren“ so Sergej Androsenko, der Vorsitzende<br />
des Rechtschutzprojekts „Gay Belarus“. Gemäß der<br />
„Greenwood Encyclopedia of LGBT Issues Worldwide“<br />
(Lesbian, Gay, Bisexual und Trans) von 2009<br />
ist der Umgang mit sexuellen Minderheiten in Belarus<br />
nach wie vor bedenklich. Zwar schaffte der<br />
belarussische Staat 1994 den Artikel 119 und die<br />
entsprechende Kriminalisierung von freiwilligen<br />
homosexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen<br />
ab – in den Köpfen vieler Beamter hat sich seitdem<br />
jedoch nichts verändert. Es kommt immer wieder<br />
vor, dass sich Parlamentarier für die Wiedereinführung<br />
des Artikels aussprechen.<br />
Auch in oppositionellen Kreisen stößt man regelmäßig<br />
auf homophobe Aussagen. So erhielten<br />
erst kürzlich mehrere belarussische Menschenrechtsorganisationen<br />
wie der Dachverband NGO-<br />
Assembley, das Menschenrechtszentrum Ves‘na<br />
und das Belarussische Helsinki-Komitee einen<br />
Brief von dem oppositionellen Aktivisten Aleksandr<br />
Strel‘cov-Karvackij, in dem er die Organisationen<br />
aufforderte, die „traditionellen Werte der<br />
belarussischen Familie zu respektieren“ und von<br />
der Unterstützung Homosexueller abzusehen. Für<br />
besonderes Aufsehen sorgte vor einem Jahr der<br />
Vorsitzende der oppositionellen Jugendorganisation<br />
Junge Front, Dmitrij Daškevič, der in einem<br />
Interview Homosexuelle als Vertreter des Teufels<br />
bezeichnete.<br />
Es gibt jedoch auch Hoffnungsschimmer. In der<br />
Bevölkerung beispielsweise scheint sich das Ansehen<br />
sexueller Minderheiten erheblich verbessert zu<br />
haben: Während 2002 noch 47 Prozent der Belarussen<br />
Homosexuelle als Verbrecher einstuften,<br />
hat sich diese Zahl bis 2007 auf nur 12 Prozent<br />
reduziert. Auch war Belarus das erste postsowjeti-<br />
sche Land, in dem Aktionen zur gleichgeschlechtlichen<br />
Liebe stattfanden, so beispielsweise der Belarus<br />
Gay Pride March, bei dem 2001 um die 300<br />
Teilnehmer über den Hauptprospekt in Minsk spazierten.<br />
„Natürlich ist es kein Dreimillionenkarneval<br />
wie in Brasilien, aber für eine konservative Republik<br />
der ehemaligen UdSSR war das schon ein<br />
ziemlich beeindruckendes Ereignis“, findet Sergej<br />
Androsenko.<br />
Für den 15. Mai ist der zweite Slavic Gay Pride in<br />
Minsk geplant, doch ob die Behörden ihre Zustimmung<br />
zu dem Event erteilen, scheint noch ungewiss<br />
– obwohl die Entscheidung mehr als überfällig ist.<br />
Laut Umfragen von 2009 stören sich 42 Prozent<br />
der Einwohner von Minsk nicht an öffentlichen<br />
Veranstaltungen der LGBT-Szene in der Hauptstadt.<br />
„Die Anzahl der Leute, die positiv oder<br />
neutral zu den öffentlichen Aktionen der LGBT-<br />
Bewegung in Minsk eingestellt sind, nähert sich<br />
der 50-Prozent-Marke. Das ist deutlich mehr, als<br />
in Moskau“ – so Nikolaj Alekseev, Leiter des russischen<br />
Projekts GayRussia.ru und Mitorganisator<br />
des Slavic Gay Prides in Minsk. Im Vergleich zu<br />
den Nachbarn im Osten scheinen die Belarussen<br />
in den vergangenen Jahren also toleranter geworden<br />
zu sein. Gesellschaftlicher Konsens ist diese<br />
Toleranz aber bei weitem noch nicht. Wie sich die<br />
Lage für gleichgeschlechtliche Paare in den nächsten<br />
Jahren entwickeln wird, hängt wohl wesentlich<br />
davon ab, in welche Richtung es insgesamt für Belarus<br />
geht: nach Osten oder nach Westen.<br />
Documents, please!<br />
Der LGBT-Aktivist<br />
Nikolaj Alekseev mit<br />
einer transsexuellen<br />
Braut beim Slavic<br />
Pride 2009 in Moskau.<br />
Foto: Nikolaj Alekseev<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 31
Kultur & Wissenschaft<br />
Ob das gelingt?<br />
Der bekannteste belarussische Rockmusiker Lavon Volski über das Regime Lukašenko, die belarussische Musikszene und die<br />
zögerliche Liberalisierung in Belarus.<br />
Das Gespräch führte Ingo Petz.<br />
Petz und Volski im<br />
Doppelpack<br />
Foto: Ingo Petz<br />
32 Belarus Perspektiven<br />
Herr Volski! Als einer der Begründer der belarussischen<br />
Rockmusik prägen Sie die Musikgeschichte<br />
Ihres Landes seit fast 30 Jahren. Das ist eine lange<br />
Zeit für ein Land, das nahezu keine Musikindustrie<br />
hat.<br />
Na ja. Selbst auf dieser speziellen belarussischen<br />
Bühne gibt es Künstler und Musiker, die älter als ich<br />
sind. Außerdem unterscheiden sich die Bedingungen,<br />
unter denen so genannte Pop- und Rockstars<br />
wie ich leben und arbeiten, im Westen und in Belarus<br />
gewaltig. Bei uns gibt es keine monatelangen<br />
Touren. Es gibt keine Paparazzi, die dir das Leben<br />
zur Hölle machen. Man muss sich nicht in todlangweiligen<br />
Fernseh-Shows verdingen. Und natürlich<br />
verdient man kein großes Geld. Das alles sichert ein<br />
langes Überleben. So hat selbst die belarussische<br />
Musikszene ihre positiven Seiten. (lacht).<br />
Als der berühmteste Rockstar in Belarus führen Sie<br />
ein sehr bescheidenes Leben. Welche speziellen Herausforderungen<br />
bringt die belarusische Musikszene<br />
mit sich?<br />
Die Situation ist tatsächlich sehr spezifisch. Es gibt<br />
kaum Know-how über moderne Techniken. Das betrifft<br />
weniger den Aufnahme- und Studio-Bereich<br />
als vielmehr die Produktion, das Management,<br />
Marketing und PR. Professionalität ist selten. Bei<br />
uns gibt es keine bedeutenden Labels. Niemand investiert<br />
großes Geld in die Musik. Selbst wenn man<br />
viele Fans hat, kann man keine großen Gewinne erwarten.<br />
Unsere CDs müssen wir selbst finanzieren<br />
und produzieren. Das fertige Produkt geht dann an<br />
ein Label, das im Allgemeinen nur für die Distribu-<br />
tion zuständig ist. Dennoch sind wir zuversichtlich,<br />
dass wir die Situation verbessert haben und weiterhin<br />
verbessern werden.<br />
Warum haben Sie Anfang der Achtziger begonnen,<br />
Rockmusik auf Belarussisch zu schreiben?<br />
Als ich 16 Jahre alt war, wollte ich etwas machen,<br />
was noch niemand getan hatte. Wir haben schnell<br />
gemerkt, dass wir keine genialen Musiker werden,<br />
die sich durch ihre fantastische Technik auszeichnen.<br />
Mit dem Belarussischen konnten wir aber einen<br />
Unterschied machen. Sie hob uns selbst von den<br />
qualitativ hochwertigen Bands im Land ab.<br />
1994, im Jahr als Aleksandr Lukašenko zum Präsidenten<br />
gewählt wurde, gründeten Sie die Band<br />
N.R.M., die schnell zur populärsten Gruppe des<br />
Landes wurde. Welche Idee steckte hinter der Gründung?<br />
Wir wollten etwas Neues, Attraktives und Alternatives<br />
schaffen. So gründeten wir nicht nur eine Gruppe,<br />
sondern einen ganzen Staat: Die unabhängige<br />
Republik der Träume, N.R.M. eben. Mit nicht nur<br />
vier Band-Mitgliedern, sondern vier Ministern. Zu<br />
jener Zeit passierten so viele unerfreuliche Dinge in<br />
Belarus, dass ich beschloss, mir mein eigenes Land<br />
im Land zu erschaffen. Ein Land, wo man sich vor<br />
der Wirklichkeit verstecken kann. Wie sich herausstellte,<br />
gefiel das nicht nur mir, sondern auch vielen<br />
jungen Belarussen.<br />
Mit der Band N.RM. spielten Sie sich an die Spitze<br />
der kritischen belarussischsprachigen Rockmusik.<br />
Ihre Songs wurden zu Hymnen und durften schließlich<br />
nicht mehr im Radio gespielt werden, ihre Konzerte<br />
wurden verboten. War dies eine schwere Zeit<br />
für Sie?<br />
Es ist immer schwer, wenn man vor seinem Publikum<br />
nicht mehr auftreten kann. Ich war deprimiert,<br />
sogar depressiv. Wir standen wohl auf einer „schwarzen<br />
Liste“, und uns wurden Fernseh- und Radioauftritte<br />
verwehrt (ganz abgesehen davon, dass die Rotation<br />
noch nie unser Hauptziel war), alle Interviews<br />
und Konzerte wurden gecancelt. Ich hätte mich auf<br />
Nr. 48 02 / 10
Musik konzentrieren können, bin aber in eine Krise<br />
gerutscht – eine Schreibblockade, es klappte überhaupt<br />
nichts... ich war wütend auf unsere Obrigkeit,<br />
alles wurde in dieser Zeit zum Politikum. Solche<br />
Verbote sind immer zum Scheitern verurteilt. Jeder,<br />
der verbietet, verliert im Endeffekt. Nehmen Sie<br />
die Alkoholprohibition in den USA oder Mitte der<br />
Achtziger die in der Sowjetunion. So ist es auch bei<br />
der absurden Untersagung eines kreativen Produkts.<br />
Man muss sich das mal vorstellen. Jemand geht zur<br />
Arbeit, um sich in seinem Büro an den Tisch zu setzen<br />
und dann ein Lied oder ein Gedicht zu verbieten.<br />
Das ist doch zum Lachen - und zum Heulen.<br />
Mit dem Beginn des neuen Millenniums haben Sie<br />
andere Projekte begonnen. So gründeten Sie die<br />
Band „Krambambulya“, die tanzbare Musik spielte<br />
– zu absurden, komischen Texten, die anders als<br />
bei N.R.M. nicht gesellschaftskritisch waren. Viele<br />
Ihrer Fans warfen Ihnen vor, unpolitisch und soft<br />
geworden zu sein. Mit welcher Absicht haben Sie<br />
„Krambambulya“ auf die Beine gestellt?<br />
Das ist komisch, aber in Belarus gab es damals keine<br />
lustigen, verrückten und durchgeknallten Musikprojekte.<br />
Nur die Band „Lyapis Trubeckoj“, aber die<br />
arbeitete mehr in Richtung Russland. Deshalb habe<br />
ich beschlossen, so eine Band zu gründen. Für ein<br />
breites Publikum. Für einfache Leute, die Spaß haben<br />
und tanzen wollen. Unser Lied „Gosci“ kennen<br />
seitdem sehr viele Menschen. Und immerhin ist es<br />
auf Belarussisch. So haben wir auch das Belarussische<br />
in gewisser Weise popularisiert.<br />
Ihre Musik wird weitgehend als oppositionell gegenüber<br />
dem Regime Lukašenko verstanden. Sehen Sie<br />
sich als Teil der Opposition?<br />
Ja, ich bin oppositionell eingestellt – und zwar gegenüber<br />
Grobheiten, Angst, Heuchelei, Lügen, Agitation<br />
und Propaganda, Dummheiten und Hysterie<br />
– all das und Ähnliches begleitet uns bereits seit<br />
über 15 Jahren.<br />
Können Sie erklären, warum das Regime Lukašenko<br />
derart stabil und langlebig ist?<br />
Dass das Regime bereits 15 Jahre existiert und nicht<br />
zusammengebrochen ist, verdient an sich schon eine<br />
gewisse Beachtung. In dieser Zeit war keine vom<br />
Westen gestützte Opposition erfolgreich. Es gibt<br />
einiges, über das man ins Grübeln geraten könnte.<br />
Aus dem Westen sind große Gelder in die belarussische<br />
Politik geflossen. Und das Ergebnis? Gleich<br />
null. Zur selben Zeit musste die Kultur in einer<br />
miserablen isolierten Situation existieren. Aber immerhin<br />
ist daraus etwas entstanden. Und was die<br />
Stabilität des Regimes angeht: diejenigen, die schon<br />
in den ersten Jahren dagegen waren, sind aufgezehrt<br />
worden oder sie haben sich längst mit der Situation<br />
arrangiert. Und wer sich nicht arrangiert hat, hat<br />
das Land verlassen. Die meisten hier interessieren<br />
sich für solche elementaren Dinge wie Freiheit, Demokratie<br />
oder die europäische Integration einfach<br />
nicht. Anfang der Neunziger haben die Menschen<br />
darum förmlich gebettelt. Heute aber kauft man<br />
lieber Autos zu Wucher-Krediten. Es scheint anormal.<br />
Aber den Menschen gefällt das. Dass sie nicht<br />
nachdenken, nicht die Initiative ergreifen müssen.<br />
Für dich entscheiden die da oben. Sie sagen dir, was<br />
du zu tun hast. Du bekommst ein Gehalt, kein großes,<br />
aber ein stabiles. Die Menschen haben sich mit<br />
diesem Leben arrangiert. Sie fürchten die Veränderung.<br />
Denn es könnte ja plötzlich alles noch schlechter<br />
werden.<br />
Seit einiger Zeit gibt es eine vorsichtige Annäherung<br />
zwischen der EU und Belarus und demzufolge eine<br />
zögerliche wirtschaftliche Liberalisierung. Was halten<br />
Sie von dieser Entwicklung?<br />
Ich wiederhole noch einmal, dass eine Politik der<br />
Verbote und Sanktionen nicht funktioniert. Was ändert<br />
sich schon im globalen Sinne, wenn man den<br />
Regime-Leuten verbietet, in den Westen zu fahren?<br />
Nichts. All die Jahre haben die USA und die EU<br />
sich an unsere Opposition gehalten. Konkrete Resultate<br />
oder Veränderungen hat dies nicht erbracht.<br />
Nun versucht man also mit dem Regime zu verhandeln,<br />
um Veränderungen herbeizuführen. Ob das<br />
gelingt? Mal sehen. Aber dass wir wieder auftreten<br />
dürfen, dass manche Zeitungen wieder an den Kiosken<br />
erhältlich sind, dass einige politische Gefangene<br />
freigelassen wurden, all das sind durchaus positive<br />
Entwicklungen dieser neuen Politik. Trotzdem,<br />
bald sind bei uns Präsidentschaftswahlen, und vor<br />
Wahlen ist es bei uns üblich, die Daumenschrauben<br />
wieder anzuziehen…<br />
Kultur & Wissenschaft<br />
Blog von Lavon<br />
Volski (Belarussisch):<br />
http://lvolski.livejournal.com<br />
Polnische Seite von<br />
N.R.M.:<br />
www.nrm.info.pl<br />
Projekt von Volski:<br />
www.lvolski.com<br />
Lavon Volski, 1965 in Minsk geboren, ist der bekannteste belarussische<br />
Rockmusiker und Songschreiber. Anfang der Achtziger gründete er die<br />
Band Mroya (Träume), die als erste belarussischsprachige Rockband vom<br />
sowjetischen Staatslabel Melodija produziert wurde. Mit der Band N.RM.<br />
(Die unabhängige Republik der Träume) schrieb er Lieder, die heute als<br />
Hymnen der Oppositionskultur gelten. Zudem gründete er Projekte wie<br />
Krambambulya oder Zet und wirkte an musikalischen Projekten wie<br />
„Narodny Albom“ (Das Volksalbum) oder „Ja Naradziusia Tut” (Ich bin<br />
hier geboren) mit. Er malt und schreibt Gedichte und Prosa.<br />
02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 33
Kultur & Wissenschaft<br />
Rammstein ist für alle da!<br />
Am 7. März stellte die deutsche Metal-Band Rammstein in Minsk ihr neuestes Album „Liebe ist für alle da” vor. Nicht alle<br />
Belarussen freuten sich über den Auftritt der deutschen Provokateure.<br />
Aleksej Šota, Grodno<br />
Foto: Matt Foster<br />
34 Belarus Perspektiven<br />
Belarus ist weder mit vielen weltberühmten Bands<br />
gesegnet, noch gehören Auftritte von Stars wie Rammstein<br />
zum kulturellen Alltag des Landes. Nicht häufig<br />
bekommt man eine 140-köpfige Crew und eine zwei<br />
kilometerlange Schlange mit Equipment-Fahrzeugen<br />
auf den belarussischen Straßen zu sehen. Allein die<br />
Tatsache, dass die deutschen Musiker nach Minsk<br />
kamen, hätte also für ein gewaltiges Medienecho<br />
sorgen müssen. Statt dessen schob sich der „Gesellschaftliche<br />
Moralrat“ – nach dem bis dato kein Hahn<br />
gekräht hatte – in den Mittelpunkt des Geschehens.<br />
„Diese Gruppe propagiert unverhüllt Homosexualität,<br />
Masochismus und andere Perversionen, Grausamkeit,<br />
Gewalt und unwürdiges Gezeter” – so die<br />
Hüter der belarussischen Moral. Der Rat war 2009 mit<br />
Unterstützung des Präsidenten von der belarussischen<br />
orthodoxen Kirche und dem pro-staatlichen Schriftstellerverband<br />
gegründet worden und sollte über die<br />
Belarus Inside Out<br />
Bestellung des<br />
Journals bei<br />
Olga Jungius<br />
smirolga@gmail.com<br />
Im August 2009 trafen in dem kleinen belarussischen<br />
Dorf Berdauka im Nordwesten des Landes zehn<br />
junge Fotografen, Journalisten, Sound-Künstler und<br />
Comiczeichner aus allen Winkeln der EU auf zehn<br />
junge belarussische Journalisten, Fotografen und Studenten.<br />
Die beiden Gruppen standen vor einer großen<br />
Herausforderung: in nur zehn Tagen sollten die Gäste<br />
aus der EU in die belarussische Realität eintauchen<br />
und so ein anderes Land kennen lernen als das aus<br />
den europäischen Medien bekannte repressive, unfreie<br />
Belarus. Auf der Grundlage der Eindrücke sollte<br />
ein gemeinsames Journal entstehen. In kleinen Zweiergruppen<br />
aus einem Belarussen und einem Landes-<br />
öffentliche Moral in Belarus wachen. Da bot Rammstein<br />
wohl einen guten Anlass. „Sie [Rammstein]<br />
werden die noch sehr fragile belarussische Identität<br />
einreißen und zerstören, die Erinnerung an den Sieg<br />
und seine Helden zertreten und letzten Endes die<br />
belarussische Staatlichkeit zerstören.“ Harte Vorwürfe<br />
gegen eine Metal-Band, die wohl kaum nach Minsk<br />
gekommen war, um es zu zerstören und den belarussischen<br />
Staat in Schutt und Asche zu legen. Trotz<br />
Moralgezeter kam es, wie es kommen musste, und<br />
das Konzert fand am 7. März wie geplant in Minsk<br />
statt. Die Meinungen der Fans bewegten sich am<br />
Folgetag zwischen „super“ und „grandios“. Nachdem<br />
Rammstein die Minsk Arena nun ‚entweiht‘ haben,<br />
erwartet die belarussischen Fans bald ein Konzert<br />
der deutschen Bands „Scorpions“. Doch der „Wind<br />
of Change“ wird wohl kaum so viel Wind aufwirbeln<br />
wie die Schwarzen Männer von Rammstein.<br />
Olga Jungius, Berlin<br />
fremden zogen die wissbegierigen Medienmacher mit<br />
individueller Roadmap durchs Land. Kann Minsk als<br />
Freilichtmuseum sowjetischer Architektur Touristen<br />
anziehen? Wo befindet sich der europäische Amazonas<br />
und was ist aus den Sümpfen und Mooren geworden,<br />
die einst ein Drittel des Landes bedeckten? Was<br />
sind die Kosten der kostenlosen Hochschulbildung?<br />
Warum ist es für belarussische Rockmusiker so wichtig,<br />
auf Belarussisch zu singen? Wie lebt es sich als<br />
Rentnerin oder Homosexueller in Minsk? Antworten<br />
auf diese Fragen und eine fotografische Reise durch<br />
das unbekannte Belarus, finden Sie in dem Journal<br />
„Belarus Inside Out. Belarus‘ znutry i zvonku“.<br />
Nr. 48 02 / 10
IMPRESSUM<br />
HERAUSGEBER<br />
Peter Junge-Wentrup, IBB Dortmund<br />
REDAKTION<br />
Sabrina Bobowski, Berlin<br />
Martin Schön, IBB Dortmund<br />
Dr. Edith Spielhagen, Berlin<br />
Dorothea Wolf, Minsk<br />
ART DIRECTOR/LAYOUT<br />
Grit Tobis (www.grittobis.com)<br />
ANSCHRIFT DER REDAKTION<br />
<strong>Internationales</strong> <strong>Bildungs</strong>- und<br />
Begegnungswerk gGmbH<br />
Bornstr. 66<br />
44145 Dortmund<br />
Tel. 0231 9520960<br />
E-Mail: info@ibb-d.de<br />
Website: www.ibb-d.de<br />
ÜBERSETZUNGEN<br />
Sabrina Bobowski, Berlin<br />
DRUCK<br />
druckwerk gmbh, Dortmund<br />
VERTRIEB<br />
Einzelverkauf: 4 Euro,<br />
Jahresabonnement inkl. Versand: 15 Euro.<br />
LESERBRIEFE:<br />
belarusperspektiven@ibb-d.de<br />
Gekennzeichnete Artikel entsprechen nicht<br />
unbedingt der Meinung der Redaktion.