Insider analysieren, Initiativen berichten. - Internationales Bildungs

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02 / 10 Frühling 2010 ISSN 1616-7619 4,- € K 46699<br />

<strong>Insider</strong> <strong>analysieren</strong>, <strong>Initiativen</strong> <strong>berichten</strong>.<br />

48


Liebe Leserinnen und Leser,<br />

Am 26. April 2011 wird sich die Reaktorexplosion<br />

im Atomkraftwerk Tschernobyl zum 25. Mal<br />

jähren. Bis zum 25. Jahrestag der Katastrophe<br />

erwarten Sie vier Ausgaben der Belarus Perspektiven,<br />

die verschiedene Themenkomplexe rund um<br />

Tschernobyl und seine grenzüberschreitenden Folgen<br />

für Europa aufgreifen. Diese Ausgabe, die kurz<br />

nach dem 24. Jahrestag erscheint, steht unter dem<br />

Motto „Am Vorabend des Gedenkens“. Wir möchten<br />

Ihnen besonders die vom IBB initiierten Projekte<br />

„25 Jahre nach Tschernobyl – Wege zu einer transnationalen<br />

Erinnerungskultur“ und „Zukunftswerkstatt<br />

– Energieeffizienz und erneuerbare<br />

Energien nach der Katastrophe von Tschernobyl“<br />

vorstellen (Seite 26 und 27). Aber auch andere<br />

europäische <strong>Initiativen</strong> planen vielfältige Aktionen<br />

und Projekte für den April 2011, die einige von<br />

ihnen kürzlich bei einem Vernetzungstreffen in Dortmund<br />

vorstellen konnten (Seite 27). Weil wir Ihnen<br />

neben diesen Projekten auch von den belarussischen<br />

Lokalwahlen <strong>berichten</strong> wollten, erscheint diese<br />

Frühlingsausgabe einige Wochen später als gewöhnlich.<br />

Belarus indes scheint sich in einer außen- und<br />

innenpolitischen Sackgasse zu befinden. Die<br />

Lokalwahlen vom 25. April hielten viele Menschen-<br />

Autorenvorstellung<br />

Foto: Julia Daraškevič (Naša Niva)<br />

rechtsschützer und Oppositionelle für eine Farce<br />

(Seite 11). Der Europarat hat inzwischen auf die vielerorts<br />

kritisierte innenpolitische Situation reagiert,<br />

indem die PACE die Beziehungen zum offiziellen<br />

Minsk aussetzte (Seite 6). Auch die Beziehungen<br />

zu Russland scheinen zu stagnieren (Seiten 24 und<br />

25), wobei die innige Freundschaft zu Venezuela wenig<br />

von der außenpolitischen Flaute ablenken kann<br />

(Seite 8).<br />

Trotz politischer Querelen, scheint sich kulturell<br />

viel in Belarus zu bewegen. Das zeigen nicht nur<br />

das Interview mit Lavon Volski, dem Dinosaurier<br />

des belarussischen Rocks (Seite 32 und 33), sondern<br />

auch Projekte wie Belarus Inside Out (Seite<br />

34). Auch die Einstellung zu sexuellen Minderheiten<br />

dürfte sich in den letzten Jahren ein wenig<br />

entspannt haben, wie Jeanna Krömer auf Seite 31<br />

beschreibt. Politisch mag vieles stagnieren, aber die<br />

kulturellen Freiräume lassen Belarus-Freunde nicht<br />

ganz hoffnungslos zurück. Grün ist die Hoffnung<br />

und grün ist auch diese Frühlingsausgabe der Bela-<br />

rus Perspektiven. Die nächste Ausgabe erscheint<br />

Mitte Juli.<br />

Herzlich Ihr<br />

Peter Junge-Wentrup<br />

Editorial<br />

Immer im Zentrum des Geschehens?<br />

So nah an Präsident Lukašenko kommen nicht viele belarussische<br />

Journalisten heran – unserer Autorin Marina Rachlej ist es diesmal<br />

gelungen.<br />

Marina Rachlej arbeitet als politische Analystin für die älteste belarussische<br />

unabhängige Nachrichtenagentur BelaPAN. Für die Belarus<br />

Perspektiven schreibt sie regelmäßig Hintergrundberichte zur belarussischen<br />

Innenpolitik. Nebenbei interessiert sie sich für Menschen,<br />

Kultur, klassischen indischen Tanz und sammelt verloren gegangene<br />

Knöpfe. Mehr Artikel von Marina Rachlej finden Sie unter<br />

http://blogs.euobserver.com/rakhlei.


Inhalt<br />

4 Belarus Perspektiven<br />

6<br />

Mit dem Latein am Ende<br />

PACE friert die Beziehungen zu<br />

Belarus ein<br />

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates<br />

hat beschlossen, den Kontakt zum belarussischen<br />

Parlament und hohen Regierungsvertretern<br />

einzufrieren. Der Dialog wird mit Vertretern der<br />

Zivilgesellschaft und der Opposition fortgesetzt.<br />

Wie wird die Entscheidung in Belarus bewertet?<br />

Außenpolitik<br />

Beschluss der PACE 6<br />

Milinkevich in Berlin 7<br />

Ölkrieg mit Russland 8<br />

Neuer Leiter des OSZE-Büros, Minsk 9<br />

MP Platzeck in Minsk 10<br />

NGO/Gesellschaft<br />

Städtepartnerschaften 28<br />

Eisenach – Mogilev 29<br />

ewoca³ 30<br />

Ausstellung von Leonid Levin 30<br />

Neues Lehrbuch erschienen 30<br />

11<br />

Foto: Xavier Häpe Foto: bymedia.net<br />

Keine Wahl?<br />

Keine Überraschungen bei den<br />

Lokalwahlen in Belarus<br />

Zu Anfang des Jahres reformierte das belarussische<br />

Parlament die Wahlgesetzgebung. Die Lokalwahlen<br />

vom 25. April galten als Prüfstein für die<br />

Reformen. Weit gefehlt: unter den 21.288<br />

gewählten Abgeordneten befanden sich nach<br />

Aussagen der Opposition nur neun Vertreter<br />

regimekritischer Parteien. Ins Minsker Stadtparlament<br />

schaffte es kein einziger Vertreter der<br />

Opposition. Waren die Wahlen eine Farce?<br />

Innenpolitik<br />

Lokalwahlen in Belarus 11<br />

Kommentar Opposition 12<br />

Wehrdienstverweigerer 14<br />

Polenverband 15<br />

Interview P. Severenec 16<br />

Belaja Rus‘ 17<br />

Chronologie 18<br />

Kultur/Wissenschaft<br />

Homosexualität in Belarus 31<br />

Interview mit L. Volski 32<br />

Rammstein in Minsk 34<br />

Belarus Inside Out 34<br />

Nr. 48 02 / 10


26<br />

25 Jahre nach Tschernobyl<br />

Wege zu einer transnationalen Erinnerungskultur<br />

„Chernobyl“ is a word we would all like to erase<br />

from our memory... Yet there are two compelling<br />

reasons why this tragedy must not be forgotten.<br />

First, if we forget Chernobyl we increase the risk<br />

of more such technological and environmental<br />

disasters in the future... Secondly, more than seven<br />

million of our fellow human beings do not<br />

have the luxury of forgetting. They are still suffering...<br />

Indeed, the legacy of Chernobyl will be<br />

with us, and with our descendants, for generations<br />

to come.“ (Kofi Annan, New York 2000)<br />

Wirtschaft & Umwelt<br />

Analyse 2010 20<br />

Interview Leiter Citybank 22<br />

Beziehungen BY-RUS 24<br />

Editorial 3<br />

Inhalt 4<br />

Chronologie 18<br />

Impressum 35<br />

32<br />

Ob das gelingt?<br />

Ingo Petz trifft Lavon Volski<br />

Der bekannteste belarussische Rockmusiker<br />

Lavon Volski über das Regime Lukašenko, die<br />

belarussische Musikszene und die zögerliche<br />

Liberalisierung in Belarus.<br />

25 Jahre nach Tschernobyl<br />

Foto: Ingo Petz<br />

Zukunftswerkstatt 26<br />

IBB Projekte 26<br />

Am Vorabend des Gedenkens 27<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 5<br />

Inhalt


Außenpolitik<br />

Mit dem Latein am Ende<br />

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat beschlossen den Kontakt zum offiziellen Minsk auf höchster Ebene<br />

(hohe Regierungsvertreter und Parlament) einzufrieren. Der Dialog wird mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der<br />

Opposition fortgesetzt. Wie wird die Entscheidung in Belarus bewertet? Dieser Artikel ist am 30. April in voller Länge auf<br />

www.dw-world.de/belarus erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung der Russischen Redaktion der Deutschen<br />

Welle abgedruckt.<br />

Natal‘ ja Grigor‘eva, Bonn<br />

Da hing der<br />

Haussegen noch nicht<br />

schief: Eröffnung des<br />

Europarat-Infopunktes<br />

an der Staatlichen<br />

Universität<br />

in Minsk im<br />

Juni 2009.<br />

Foto: bymedia.net<br />

6 Belarus Perspektiven<br />

Am 29. April fand in Straßburg eine außerordentliche<br />

Debatte zur Lage in Belarus statt. Im Ergebnis<br />

beschloss die Parlamentarische Versammlung des<br />

Europarates (PACE) mit Mehrheit ihrer Stimmen,<br />

den Kontakt zum offiziellen Minsk auf höchster<br />

Ebene einzufrieren. Grund dafür, heißt es in der<br />

verabschiedeten Resolution, sei der „mangelnde<br />

Fortschritt“ im Hinblick auf die Normen des Europarates<br />

gewesen. Zu der Resolution hatten vor<br />

allem die Hinrichtungen der verurteilten Kriminellen<br />

Andrej Šuk und Vasil Jazepčuk, die Lage<br />

der polnischen Minderheit und das Fehlen von<br />

internationalen Beobachtern bei den Lokalwahlen<br />

geführt.<br />

Außenministerium reagiert<br />

Das belarussische Außenministerium bezeichnete<br />

die Resolution als „impulsiv und inkonsequent“.<br />

Der Pressesprecher des Ministeriums, Andrej Savinych,<br />

kritisierte, dass die PACE zwar einerseits<br />

behaupte, Anhänger des Dialogs zu sein, aber andererseits<br />

nun die Kontakte einfriere. „In dieser<br />

Situation ist die Position der belarussischen Seite<br />

konsequenter“, findet Savinych. Minsk betrachte<br />

den Dialog als Mittel zum gegenseitigen Verständnis<br />

und hoffe darauf, dass die europäischen Partner<br />

auch zu diesem Ergebnis gelangen werden, so<br />

der Pressesprecher.<br />

Enttäuscht vom Dialog<br />

Nach Aussagen von Menschenrechtlern hat sich<br />

trotz der Besuche hochgestellter europäischer Politiker<br />

im vergangenen Jahr nichts im Hinblick auf<br />

bürgerliche Rechte und demokratische Freiheiten<br />

in Belarus verändert. Der Jurist Vladimir Labkovič<br />

vom Menschenrechtszentrum Ves‘na hält die<br />

PACE-Resolution deshalb für die konsequente<br />

Reaktion eines enttäuschten Europas. Trotz vieler<br />

Eingeständnisse und eines Vertrauensvorschusses,<br />

habe die belarussische Seite keine Schritte<br />

in Richtung Demokratie unternommen. Ganz im<br />

Gegenteil, so Labkovič: Der Druck von Seiten der<br />

Staatsführung nehme ein Jahr vor dem Präsidentschaftswahlen<br />

eher zu. Das verlange nach einer<br />

Reaktion.<br />

Wirtschaft ist die beste Politik<br />

Die Resolution werde allerdings kaum Einfluss auf<br />

die Situation in Belarus haben, vermutet der Politologe<br />

Denis Mel‘jancov. Da Belarus als einziges<br />

europäisches Land nicht Mitglied im Europarat<br />

ist, seien die Resolutionen des Gremiums praktisch<br />

bedeutungslos für das Land. Heute gelte für<br />

Belarus vor allem, mit der Europäischen Union<br />

und dem Internationalen Währungsfonds zu kommunizieren,<br />

mit denen Belarus „technische Beziehungen“<br />

unterhalte.<br />

Die Ukraine wird´s schon richten<br />

Die Einführung demokratischer Standards hänge<br />

indes nur von dem politischen Willen der Staatsführung<br />

ab, meint Mel‘jancov. Gleichzeitig setze<br />

Minsk auf Schützenhilfe aus dem Ausland. Erst<br />

kürzlich verkündete der ukrainische Präsident Viktor<br />

Janukovič, er werde Belarus auf den richtigen<br />

Weg bringen und dafür sorgen, dass Belarus „schon<br />

sehr bald Mitglied im Europarat“ werde. Ein interessantes<br />

Angebot, zumal die Ukraine nächstes Jahr<br />

den Vorsitz von PACE inne hat.<br />

Nr. 48 02 / 10


Außenpolitik<br />

Finnlandisierung ja,<br />

Aserbaidschanisierung – nein danke!<br />

Auftritte auf westeuropäischem Boden sind für Aleksandr Milinkevič das, was im Fußball als „Heimspiel” bezeichnet wird.<br />

Europa liebt diesen oppositionellen Gentleman für sein europäisches Auftreten und seinen gemäßigten Konservatismus. Kein<br />

Wunder, dass Milinkevič am zweiten Februar in der Berliner DGAP vor über 130 Besuchern sprechen konnte.<br />

Vladimir Dorochov, Bonn & Martin Schön, Dortmund<br />

Milinkevič skizzierte in seinem Vortrag strategische<br />

Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Belarus<br />

und der EU. Demnach muss ein EU-Beitritt das<br />

zentrale langfristige Ziel des Landes sein, allerdings<br />

solle sich Belarus, so Milinkevič, seine Neutralität<br />

bewahren. Milinkevič wies auf erste bescheidene Erfolge<br />

des Dialogs hin und betonte dabei, dass viele<br />

Belarussen in den letzten Jahren endlich verstanden<br />

hätten, dass sie Europäer seien. Sogar die derzeitigen<br />

Machthaber hätten inzwischen einsehen müssen,<br />

dass der größte Feind des Landes nicht der Westen,<br />

sondern die marode Wirtschaft sei. Bester Partner in<br />

diesem Kampf sei gerade die EU. Allerdings, mahnte<br />

Milinkevič, müsse der Dialog mit der EU in Abhängigkeit<br />

von der politischen Liberalisierung verlaufen,<br />

ansonsten drohe Belarus die „Aserbaidschanisierung”:<br />

Auch wenn der Westen die Wahlergebnisse in<br />

Aserbaidschan anerkannt habe, in Wirklichkeit sei<br />

keine kritische Meinungsäußerung möglich, die loyale<br />

Opposition „wiederholt bloß die Worte der Machthaber.”<br />

So weit dürfe es in Belarus auf keinen Fall<br />

kommen.<br />

Russland – Partner auf ewig<br />

Auch die Beziehungen zu Moskau standen auf<br />

Milinkevičs Agenda. Russland sei der strategische<br />

Partner Nummer eins seines Landes, allerdings hätten<br />

gute Beziehungen ihre Grenzen: „Ich bin absolut<br />

für die Unabhängigkeit und Souveränität unseres<br />

Landes”, meinte Milinkevič. Die „Finnlandisierung”<br />

sei da der richtige Weg für Belarus: als kleiner Nachbar<br />

müsse man mit einer klugen Politik demokratische<br />

Strukturen und einen guten Lebensstandard<br />

aufbauen, ohne dass sich dadurch die Beziehungen<br />

zum großen Nachbarn verschlechterten. Auf diese<br />

freie Begriffsjonglage reagierte das Publikum ein<br />

wenig irritiert: In der EU habe der Begriff eine sehr<br />

uneindeutige Reputation, meinte ein deutscher Politologe.<br />

Auch der ehemalige OSZE-Botschafter<br />

Hans-Georg Wieck warnte Milinkevič davor, fremde<br />

historische Konzepte mechanisch auf die Situation in<br />

Belarus anwenden zu wollen.<br />

Wie zur Demokratie finden?<br />

Dann fiel die Gretchenfrage: Wie, fragte ein Zuhörer,<br />

könnten denn nun die demokratischen Veränderungen<br />

in Belarus eingeläutet werden? Milinkevič blieb<br />

vorsichtig mit eindeutigen Aussagen, betonte jedoch,<br />

dass er für einen Strategiewechsel bei der Opposition<br />

eintrete. Man müsse sich vom Konzept einer Farbrevolution<br />

verabschieden, die unter dem autoritären Regime<br />

in Minsk unmöglich sei; stattdessen müsse die<br />

„belarussische Frage” durch Dialog und eine schrittweise<br />

Liberalisierung gelöst werden. Der europäische<br />

Weg sei ohne eine Intensivierung der Zusammenarbeit<br />

mit der EU undenkbar, so Milinkevič. Allerdings<br />

stünden dieser Annäherung praktische Hindernisse<br />

im Weg, allem voran die Schengen-Visa, für die Bela-<br />

russen momentan doppelt so viel zahlen müssen wie<br />

Russen oder Ukrainer. Milinkevič sprach sich für<br />

eine schnelle Lösung dieser Frage aus. Insgesamt<br />

hinterließ Milinkevič einen guten Eindruck beim<br />

Berliner Publikum. Während der eloquente Oppositionelle<br />

sein außenpolitisches Renommee erfolgreich<br />

pflegte, wartete in Belarus wohl bereits der graue<br />

politische Alltag auf ihn: Um sich bei den belarussischen<br />

Arbeitern und Angestellten beliebt zu machen,<br />

wird Milinkevič das intellektuelle Image eher<br />

hinderlich sein. Schließlich ist sein Widersacher,<br />

Amtsinhaber Aleksandr Lukašenko, nicht nur berühmt-berüchtigt<br />

für seine politische Kaltblütigkeit,<br />

sondern auch für seine rhetorische Stärke. Mit dieser<br />

und seinem hemdsärmligen Macher-Image kommt<br />

Lukašenko in Umfragen nach wie vor auf stabile 40<br />

Prozent, ein Wert, von dem Milinkevič meilenweit<br />

entfernt ist. Vermutlich wird die Demokratisierung<br />

à la Milinkevič also noch einige Jahre auf sich warten<br />

lassen.<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 7


Außenpolitik<br />

Am Öle hängt,<br />

zum Öle drängt doch alles<br />

Staatliche und nichtstaatliche Experten sind sich ausnahmsweise einig: für Belarus macht die Zollunion mit Russland und<br />

Kasachstan ohne günstige Erdöl- und Gaspreise wenig Sinn. Ist das gemeinsame Projekt noch zu retten?<br />

Alternative zu<br />

Russland? Lukašenko<br />

bei seiner Visite in<br />

Venezuela.<br />

Foto: president.gov.by<br />

8 Belarus Perspektiven<br />

Bereits bei der Unterzeichnung der Dokumente für<br />

die Zollunion im November 2009 kam es zwischen<br />

Russland und Belarus wegen der Gas- und Erdölpreise<br />

zu Streitigkeiten. Kein Wunder, denn es geht<br />

um sehr viel Geld. 6,3 Millionen Tonnen für den<br />

Eigenbedarf bot Moskau zum Freundschaftspreis,<br />

weitere 20 Millionen Tonnen für die Erdölverarbeitung<br />

und den Re-Export sollten verzollt werden.<br />

Das Angebot schmeckte Minsk nicht, und so zogen<br />

sich die Verhandlungen mehr als einen Monat<br />

hin. Am 13. Februar willigte Präsident Lukašenko<br />

ein. Da das Dokument bis 15. Februar ratifiziert<br />

werden musste, blieb schlichtweg keine Zeit mehr<br />

für weiteren Zwist. Sonst hätte Belarus womöglich<br />

auch ohne die 6,3 Millionen Tonnen günstigen<br />

Erdöls dagestanden. Aber Vereinbarung hin oder<br />

her, kurze Zeit später brachte die belarussische<br />

Seite die Diskussion erneut ins Rollen. Zunächst<br />

äußerte Anton Kudasov, stellvertretender Direktor<br />

der Wirtschaftsabteilung des Außenministeriums,<br />

seine Unzufriedenheit. Die Vereinbarung, so Kudasov,<br />

entspräche nicht den Prinzipien einer gemeinsamen<br />

Zollunion. Vor allem im Hinblick auf<br />

die vergleichsweise hohen wirtschaftlichen Verluste,<br />

die sich aus der neuen Vereinbarung ergeben, ist<br />

Kudasovs Position nachvollziehbar. In den letzten<br />

Jahren hatte Belarus an dem Re-Export von Erdölprodukten<br />

nämlich fürstlich verdient und darüber<br />

das Gros seiner Deviseneinnahmen erwirtschaftet.<br />

Zudem muss die erdölverarbeitende Industrie<br />

durch die neue Vereinbarung mit wesentlich weni-<br />

Andrej Aleksandrovič, Minsk<br />

ger Rohstoffen auskommen, so dass die Effizienz<br />

des Wirtschaftszweiges zunehmend gefährdet ist.<br />

Am 26. Februar fanden weitere Verhandlungen in<br />

Moskau statt. Doch auch dieses Mal bissen sich die<br />

Beamten in den Verhandlungen fest. Kurze Zeit<br />

später schimpfte Präsident Lukašenko: Wenn die<br />

Russen „jetzt mit Ausreden kommen und beginnen,<br />

Öl, Ölprodukte, Gas, Zucker, Milch, Butter,<br />

Fleisch, Weizen und so weiter rauszunehmen [aus<br />

der Zollunion] – dann brauchen wahrscheinlich<br />

weder Russland, noch Kasachstan, noch Belarus<br />

so eine Zollunion.“ Den belarussischen Kommissionsbeamten<br />

trichterte der Präsident ein, sie sollen<br />

ja „nicht von den eigenen Interessen abweichen“.<br />

Auch dürfe Belarus das Problem nicht aufschieben,<br />

denn Russland mache sonst Nägel mit Köpfen.<br />

Zur Sicherheit signalisierte Lukašenko seinen<br />

Verhandlungspartnern aus Moskau, dass es auch<br />

Alternativen zum russischen Öl gibt. Mitte März<br />

besuchte er seinen Busenfreund und Kollegen<br />

Hugo Chavez in Venezuela. Man habe sich mit<br />

Caracas auf eine verstärkte Zusammenarbeit bei<br />

der Erdölverarbeitung geeingt, meinte Lukašenko<br />

hinterher zufrieden. Venezuela werde täglich 80<br />

Tausend Barrel Öl an die belarussische Industrie<br />

liefern, gemeinsam wolle man das Endprodukt auf<br />

dem europäischen Markt vertreiben. Ambitionierte<br />

Pläne, wenn man bedenkt, dass Belarus und<br />

Venezuela nicht gerade Nachbarn sind, die Rentabilität<br />

eines solchen transkontinentalen Unterfangens<br />

weckt also begründete Zweifel. Selbst wenn<br />

es Belarus gelingen sollte, das südamerikanische<br />

Öl günstig quer über den Globus zu pumpen: Die<br />

Zollunion mit Russland macht unter diesen Bedingungen<br />

– ohne günstige Rohstoffe – für Belarus<br />

keinen Sinn. Solange die Frage nach den Rohstoffen<br />

aber nicht ausgestanden ist, bleibt das Projekt<br />

in der Schwebe.<br />

Nr. 48 02 / 10


Außenpolitik<br />

Auf das Gleichgewicht achten<br />

Seit dem 15. Januar ist Benedikt Haller neuer Leiter des OSZE-Büros in Minsk. Im Gespräch mit der Deutschen Welle berichtet<br />

Botschafter Haller über die Pläne und Schwerpunkt der OSZE-Arbeit in Belarus und über mögliche Wege einer Annäherung<br />

an die EU. Das Interview wurde am 3. Februar 2010 in voller Länge auf www.dw-world.de/belarus veröffentlicht und<br />

wird mit freundlicher Genehmigung der Russischen Redaktion der Deutschen Welle abgedruckt.<br />

Das Interview führte Gennadij Kesner.<br />

Herr Botschafter was ist ihre Aufgabe in Belarus?<br />

Die Schwerpunkte meiner Tätigkeit beinhalten sowohl<br />

wirtschaftliche, als auch zwischenmenschliche<br />

Bereiche. Wir hoffen, in beiden Dimensionen<br />

gleichwertig tätig zu sein.<br />

Und woran wollen Sie den Erfolg ihrer Arbeit in<br />

Minsk messen?<br />

Ich denke, wir können hier in erster Linie eine<br />

ganze Reihe sinnvoller Projekte in den genannten<br />

Bereichen realisieren, an denen alle interessierten<br />

Partner aus Belarus teilnehmen können. Zudem<br />

hoffen wir, dazu beizutragen, dass die anderen<br />

OSZE-Staaten vielseitig und objektiv über unsere<br />

hiesige Tätigkeit, über die Situation im Lande und<br />

über alles, was ihr Interesse an Belarus verstärken<br />

könnte, informiert werden.<br />

Ihr Vorgänger wurde von einem Teil der belarussischen<br />

Opposition wiederholt kritisiert, er hätte zu<br />

sehr auf die Meinung der Staatsmacht gehört. Wie<br />

planen Sie, das Verhältnis zwischen der belarussischen<br />

Regierung und ihren Gegnern zu gestalten?<br />

Es wird eine unserer Aufgaben sein, in dieser Hinsicht<br />

auf ein Gleichgewicht zu achten. Wir müssen<br />

unter anderem die Regierung in ihrem Dialog mit<br />

zivilgesellschaftlichen Strukturen unterstützen,<br />

dafür müssen wir mit beiden Seiten gleichwertig<br />

sprechen.<br />

Sind Sie bereit, sich der Kritik zu stellen, die sich<br />

aus der Situation ergeben könnte?<br />

Ich bin offen für jegliche Kritik und durchaus bereit,<br />

sie anzunehmen. Allerdings bitte ich darum,<br />

mir Zeit zu geben, bis ich Konkretes verwirklicht<br />

und mich mit den anderen Playern in Belarus vertraut<br />

gemacht habe. Ich bin erst seit zwei Wochen<br />

hier, das ist noch nicht besonders lange.<br />

Die Minsker OSZE-Gruppe wird vor allem von<br />

deutschen Repräsentanten geleitet. Ist dies Zufall<br />

oder steckt mehr dahinter?<br />

Mit Oke Peterson gab es einen schwedischen Leiter.<br />

Aber vermutlich liegt es daran, dass Deutschland<br />

aufgrund seiner Geschichte und geographischen<br />

Lage ein großes Interesse an Osteuropa<br />

hat. Gleichzeitig bemühte sich Deutschland, in<br />

bestimmten Situationen zwischen Belarus und anderen<br />

Partnern zu vermitteln.<br />

Wie kann man Belarus bei einer Annäherung an<br />

Europa helfen?<br />

Belarus befindet sich im Zentrum Europas. Bei<br />

Gesprächen, die ich bereits hier im Land geführt<br />

habe, habe ich ein großes Interesse an Europa und<br />

den europäischen Werten festgestellt. Ich möchte<br />

dieses Interesse nutzen, um Kontakte zu schaffen,<br />

um Reisen und Seminare zu ermöglichen, die dieses<br />

Interesse noch stärken können. Den Kontakt<br />

zwischen den Menschen herzustellen, erscheint<br />

mir dabei besonders wichtig.<br />

Herr Botschafter Haller, wir danken Ihnen für<br />

dieses Gespäch.<br />

Botschafter Haller<br />

Foto: bymedia.net<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 9


Außenpolitik<br />

Platzeck unterstützt Projekte<br />

erneuerbarer Energien in Belarus<br />

Matthias Platzeck besuchte vom 26. bis 28. April die belarussische Hauptstadt Minsk. Auf dem Programm des brandenburgischen<br />

Ministerpräsidenten standen sowohl Treffen mit hochrangigen Regierungsvertretern wie auch mit der Zivilgesellschaft.<br />

Begleitet wurde Platzeck von einer Delegation brandenburgischer Unternehmer. Wie ein roter Faden zog sich das Thema<br />

„erneuerbare Energien“ durch Platzecks Reise, die rund um den 24. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl stattfand.<br />

Ministerpräsident<br />

Platzeck bei der<br />

Konferenz<br />

„Zukunftswerkstatt<br />

Minsk – eine Brücke<br />

für Energieeffizienz<br />

und erneuerbare<br />

Energien“ am<br />

27. April in der IBB<br />

Minsk<br />

Foto: IBB<br />

10 Belarus Perspektiven<br />

Während seiner dreitätigen Visite traf sich der Ministerpräsident<br />

mit Vertretern aus der Regierung<br />

und sprach auf einer Veranstaltung der Friedrich-<br />

Ebert-Stiftung über Brandenburgs Erfahrungen<br />

beim Aufbau einer modernen Verwaltung. Auch<br />

gedachte Platzeck gemeinsam mit ehemaligen<br />

Zwangsarbeitern, Lager- und Ghettoinsassen an<br />

der „Jama“ („Grube“) und auf dem ehemaligen jüdischen<br />

Friedhof der getöteten Insassen des Minsker<br />

Ghettos und der aus Deutschland deportierten Juden.<br />

Platzeck besuchte weiter die Geschichtswerkstatt,<br />

die ein Ort des Lernens aus der Geschichte<br />

zur Gestaltung von Zukunft geworden ist. Eine<br />

besonders wichtige Rolle spielten bei dem Besuch<br />

Platzecks Ideen und Projekte rund um das Thema<br />

„Energie“.<br />

Vorbild Brandenburg<br />

Auf der Konferenz „Zukunftswerkstatt Minsk –<br />

eine Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare<br />

Energien“, die am 27. April in der Internationalen<br />

<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“<br />

Minsk stattfand, sprach der Ministerpräsident zu<br />

Dorothea Wolf, Minsk<br />

dem Thema, „das die Menschheit im nächsten Jahrzehnt<br />

überall auf der Welt gleichermaßen beschäftigen<br />

wird: Wie können wir Strom aus der Steckdose<br />

beziehen, ohne dabei unsere Umwelt zu zerstören?“<br />

Am Beispiel des Landes Brandenburg erzählte er<br />

den Konferenzteilnehmern, wie der schwierige<br />

Übergang von fossilen Energieträgern hin zu einer<br />

Energieversorgung aus erneuerbaren Energien bewältigt<br />

werden kann. Brandenburg gilt schon heute<br />

als Vorreiter der Bundesländer bei der Nutzung erneuerbarer<br />

Energien. Bis 2020 strebt das Bundesland<br />

sogar eine hundertprozentige Deckung seines<br />

Strombedarfs aus erneuerbaren Energien an.<br />

Zukunftsperspektiven<br />

Der Ministerpräsident sieht für erneuerbare Energiequellen<br />

in Belarus eine große Chance und begrüßte<br />

dementsprechend zwei deutsch-belarussische<br />

Projekte zum Thema. Zum einen unterstützte<br />

Platzeck, der seit gut einem Jahr Schirmherr der<br />

IBB Minsk ist, ganz ausdrücklich das gemeinsame<br />

Projekt von IBB Dortmund und Minsk für eine<br />

„Zukunftswerkstatt Minsk“, die als Ausstellungs-<br />

und Dokumentationszentrum zu den Folgen von<br />

Tschernobyl wie auch als Beratungs- und Lernort<br />

zum Thema erneuerbare Energien ab 2011 auf<br />

dem Gelände der IBB gebaut wird. Zum anderen<br />

verkündete er den Journalisten und Gästen der<br />

Konferenz, dass bis 2012 mit brandenburgischen<br />

Know-how in Belarus ein Windpark entstehen soll.<br />

Im Hinblick auf das geplante belarussische Atomkraftwerk<br />

betonte Ministerpräsident Platzeck, dass<br />

es heute nicht mehr einfach sei, die Finanzierung<br />

eines solchen Projekts sicherzustellen. Was die Natur<br />

dagegen bereitstelle – Wind, Sonne, Biomasse<br />

– das gäbe es erst eimal umsonst. Und nach einer<br />

gewissen Betriebszeit habe sich auch der Bau der<br />

Sonnenkollektoren und Windräder refinanziert.<br />

Nr. 48 02 / 10


Innenpolitik<br />

Keine Wahl?<br />

Zu Anfang des Jahres reformierte das belarussische Parlament die Wahlgesetzgebung. Bei den Lokalwahlen vom 25. April<br />

sollten sich die neuen Paragrafen bewähren. Weit gefehlt: unter den 21.288 gewählten Abgeordneten befanden sich nach<br />

Aussagen der Opposition nur neun Vertreter regimekritischer Parteien. Ins Minsker Stadtparlament schaffte es kein einziger<br />

Vertreter der Opposition. Waren die Wahlen eine Farce?<br />

Marina Rachlej, Minsk<br />

79,5 Prozent der Wahlberechtigten hatten angeblich<br />

ihre Stimme abgegeben, rekordverdächtige 29<br />

Prozent sogar schon bei den Vorwahlen. Unregelmäßigkeiten,<br />

so die Zentrale Wahlkommission,<br />

habe es nur vereinzelt gegeben. Das sehen Regimekritiker<br />

anders. Oppositionelle Politiker kritisierten<br />

nicht nur das Ergebnis, sondern vor allem den<br />

Verlauf des Wahlkampfs. Mit nur 0,3 Prozent war<br />

die Opposition in den Wahlkommissionen vertreten,<br />

bei den Wahlen selbst nur mit 2 Prozent der<br />

registrierten Kandidaten. „Bei solch einer homöopathischen<br />

Dosierung, kann man auch nur mit<br />

einer homöopathischen Wirkung der Opposition<br />

rechnen“ – so Stefanie Schiffer, Geschäftsführerin<br />

des Europäischen Austauschs, der die Initiative<br />

„Menschenrechtler für freie Wahlen“ bei der Wahlbeobachtung<br />

unterstützte. Ein Teil der Opposition<br />

entschied sich sogar für einen Boykott der Wahlen,<br />

so unter anderem die Vereinte Bürgerpartei. Aber<br />

selbst jene Parteien, die hart um ihre Parlamentssitze<br />

kämpften, mussten sich mit mageren Ergebnissen<br />

zufrieden geben: die kommunistische Gerechte<br />

Welt erlangte vier Sitze, die Belarussische<br />

Christliche Demokratie drei, die sozialdemokratische<br />

Narodnaja Gramada zwei und die sozialdemokratische<br />

Gramada einen. Volksfront und Für die<br />

Freiheit gingen ganz leer aus.<br />

„In Wirklichkeit gab es doch gar keine Wahlen“ –<br />

so Pavel Severenec, Co-Vorsitzender der Belarussischen<br />

Christlichen Demokratie (siehe Interview<br />

auf Seite 16). Die Wahlkampagne sei sehr repressiv<br />

gewesen: der Staat habe auf die oppositionellen<br />

Kandidaten großen Druck ausgeübt, ihm selber sei<br />

völlig grundlos die Registrierung verwehrt worden,<br />

und auch innerhalb der Wahlkommissionen sei die<br />

Beteiligung der Opposition verschwindend gering<br />

gewesen. Alles sei also schon von vornherein klar<br />

gewesen, findet Severenec. Die Regierung wolle sich<br />

mit hohen Zahlen vor allem absichern, bestätigt der<br />

Menschenrechtsschützer Ales‘ Beljackij: ,.Allein die<br />

unvergleichlich hohe Wahlbeteiligung und der rekordverdächtige<br />

Anteil bei den Vorwahlen, deuten<br />

darauf hin, dass administrative Ressourcen mobilisiert<br />

wurden, um den ganzen Prozess sehr genau<br />

zu kontrollieren.“ Die belarussische Staatsführung<br />

dürfte sich indes ins Fäustchen lachen. Schließlich<br />

betrachtet sie, nach Meinung des Politologen Valerij<br />

Karbalevič, alle Wahlen als Teil ihrer Legitimation.<br />

„In der offiziellen belarussischen Ideologie<br />

wird die Staatsführung vom gesamten Volk unterstützt.<br />

Hier hat sie erneut gezeigt, dass sie tatsächlich<br />

vom gesamten Volk gewählt wurde.“<br />

Vermutlich liegt der Staatsführung das Ergebnis der<br />

realpolitisch unbedeutenden Wahlen zu sehr am<br />

Herzen, als dass sie hätte die Zügel locker lassen<br />

können. Die Situation wird sich aller Voraussicht<br />

schon bei den kommenden Präsidentschaftswahlen<br />

wiederholen, die eventuell auf Ende des Jahres vorverlegt<br />

werden könnten, um tatsächlich alle Überraschungen<br />

auszuschließen. Was die Europäische<br />

Union von solchen Fortschritten auf dem Papier<br />

hält, bleibt abzuwarten. Aleksandr Lukašenko hat<br />

zumindest nicht vor, seine Wiederwahl auf die<br />

leichte Schulter zu nehmen: „Das wird eine sehr<br />

schwierige Wahlkampagne“ versicherte der Präsident<br />

belarussischen Journalisten.<br />

Die Belarussen<br />

nehmen ihre Bürgerpflichten<br />

sehr ernst.<br />

Vielleicht erklärt das<br />

die unschlagbaren<br />

79,5 Prozent<br />

Wahlbeteiligung?<br />

Fotos: bymedia.net<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 11


Innenpolitik<br />

Bellum omnium contra omnes<br />

Die belarussische Opposition am Vorabend der Präsidentschaftswahlen<br />

In Belarus ist nur ein Wahltermin von realpolitischer Bedeutung – die Präsidentschaftswahlen. Wie rüsten sich Lukašenkos<br />

Gegner für die große Schlacht im Frühjahr 2011? Völlig anders als noch fünf Jahre zuvor, findet Jurij Drakochrust, Analyst und<br />

Moderator beim regimekritischen Sender Radio Svaboda.<br />

Jurij Drakochrust, Prag<br />

Jurij Drakochrust<br />

Foto: svaboda.org<br />

12 Belarus Perspektiven<br />

„Nur gemeinsam sind wir stark!“ - das war die<br />

Lehre, die die belarussische Opposition vor zehn<br />

Jahren aus ihrer politischen Bedeutungslosigkeit<br />

zog. Deshalb versuchten sich die großen Oppositionsparteien<br />

bei beiden Wahlen auf einen gemeinsamen<br />

Kandidaten zu einigen. 2001 gelang<br />

das verhandlungstechnische Kunststück – unter<br />

tätiger Mithilfe des damaligen OSZE-Botschafters<br />

Hans-Georg Wieck – und der erste Einheitskandidat<br />

Vladimir Gončarik war geboren. Auch 2005<br />

siegte der Pragmatismus über persönliche Ambitionen,<br />

und die Vertreter der Vielparteienkoalition<br />

Vereinte Demokratische Kräfte aus Kommunisten,<br />

Bürgerpartei und Volksfront einigten sich auf den<br />

NGO-Aktivisten Aleksandr Milinkevič.<br />

Zwar machte Ex-Apparatschik Aleksandr Kozulin<br />

ihm Konkurrenz, die Mehrheit der Opposition<br />

akzeptierte allerdings die Entscheidung ihres<br />

Delegiertenkongresses und konsolidierte sich sogar<br />

für kurze Zeit um Milinkevič. Dann kam die<br />

Wahl 2006, die bittere Niederlage, die Massenproteste,<br />

der gescheiterter Versuch einer Farbrevolution.<br />

Und die belarussische Opposition stürzte<br />

in ihre schwerste Krise seit Jahren, angeheizt<br />

von den streitsüchtigen Leitwölfen der VDK, dem<br />

Vorsitzenden der Vereinten Bürgerpartei Anatolij<br />

Lebedko, dem Chef der Kommunistischen Partei<br />

(heute „Gerechte Welt“), Sergej Kaljakin, und<br />

dem damaligen Vorsitzenden der Volksfront, Vincuk<br />

Večërko. Allen dreien schien es unerträglich,<br />

Milinkevič weiterhin den Posten als VDK-Vorsitzender<br />

zu überlassen. Besonders wurmte sie, dass<br />

Milinkevič die Opposition im Ausland repräsentierte.<br />

Im darauf folgenden Machtkampf wurde<br />

Milinkevič seine Unabhängigkeit zum Verhängnis,<br />

die ihn zuvor zum idealen Kompromisskandidaten<br />

gemacht hatte. Denn der Präsidentschaftskandidat<br />

hatte keinerlei politische Struktur hinter sich, die<br />

es ihm ermöglicht hätte, im Kampf mit den mächtigen<br />

Parteibossen zu bestehen.<br />

Milinkevičs Versuche, sich mit der neu gegründeten<br />

Bewegung Für die Freiheit gegen die alten, etablierten<br />

Oppositionsparteien durchzusetzen, blieben<br />

erfolglos – das VDK-Triumvirat aus Kaljakin,<br />

Lebedko und Večërko blieb tonangebend. Zumindest<br />

die belarussische Regierung konnte aus der<br />

Bewegung politisches Kapital schlagen, indem sie<br />

Für die Freiheit offiziell registrierte und dies der<br />

EU als großen Liberalisierungserfolg verkaufte.<br />

Im Jahr 2007 machten dann die Männer der Parteiopposition<br />

Nägel mit Köpfen und entledigten sich<br />

ihres ehemaligen Mitstreiters beim VDK-Kongess.<br />

Milinkevičs Posten wurde abgeschafft, stattdessen<br />

einigten sich die oppositionellen Delegierten auf<br />

ein Rotationsprinzip, nach dem die Vorsitzenden<br />

der Koalitionsparteien seither abwechselnd das<br />

Bündnis leiten. Aleksandr Milinkevič drohte, in<br />

der politischen Bedeutungslosigkeit zu versinken,<br />

denn seine Bewegung war zu diesem Zeitpunkt weder<br />

registriert noch populär. Doch 2009 schlug der<br />

gechasste Ex-Hoffnungsträger zurück. Seine guten<br />

Beziehungen zur EU, wo man ihn für sein Ja zum<br />

Dialog zwischen Belarus und der EU schätzt, und<br />

die Palastrevolte bei der Belarussischen Volksfront,<br />

wo Milinkevičs Anhänger die Macht übernahmen,<br />

Nr. 48 02 / 10


achten den ruhigen Physiker zurück ins Spiel.<br />

Milinkevič schaltete schnell und initiierte den Belarussischen<br />

Block der Unabhängigkeit (BNB), in<br />

den sofort die Volksfront, Für die Freiheit, die Belarussische<br />

Christliche Demokratie und die Junge<br />

Front eintraten. Die neu gegründete Koalition hatte<br />

es nicht nötig, den Kontakt zur schwächelnden<br />

VDK aufrechtzuerhalten. Diese verhedderte sich in<br />

den komplizierten Vorbereitungen für Primeries,<br />

bei denen die Bürger im ganzen Land den oppositionellen<br />

Kandidaten bestimmen sollten. Vermutlich<br />

nur ein aufwendiger PR-Gag, sieht es doch ganz<br />

danach aus, dass Lebedko und Kaljakin die VDK<br />

als Sprungbrett für ihre eigene Kandidatur nutzen<br />

wollen. Kein Wunder, dass ein Mitglied nach dem<br />

anderen die Koalition verlässt, zuletzt die christlich-nationale<br />

Jugendorganisation Junge Front.<br />

Indessen hat bereits eine Reihe oppositioneller Politiker<br />

angekündigt, kandidieren zu wollen: Vom<br />

kürzlich gestürzten Volksfront-Vorsitzenden Ljavon<br />

Borščevskij, über den parteilosen Ales‘ Michalevič<br />

und den Koordinator des oppositionellen Internetportals<br />

charter97.org, Vjačeslav Sivčik. Allerdings<br />

bleibt abzuwarten, wer es überhaupt schafft, die erforderlichen<br />

hunderttausend Unterschriften für die<br />

Zulassung zur Wahl zu bekommen. Einen gemeinsamen<br />

Kandidaten zumindest hat das Gros der Opposition<br />

bereits abgeschrieben – ein solcher hätte<br />

sowieso keine Chancen auf einen Sieg, mögen sich<br />

die oppositionellen Strategen gedacht haben. Denn<br />

Lukašenko sitzt fester denn je im Sattel. Trotz<br />

Finanzkrise, die nicht etwa die von der Opposition<br />

erhofften sozialen Unruhen unter den Belarussen<br />

hervorrief, sondern die Masse der revolutionsresistenten<br />

Bevölkerung noch tiefer in ihre politische<br />

Apathie und die völlige Konzentration auf Alltagsprobleme<br />

zog. 2001 und 2006 ließen sich die<br />

oppositionelle Elite und ein wesentlicher Teil der<br />

belarussischen Politologen vom Schwung und der<br />

Euphorie der Farbenrevolutionen mitreißen und<br />

rechneten – teils hoffnungsvoll, teils angsterfüllt,<br />

je nach politischer Couleur – mit ähnlichen Prozessen<br />

in Belarus. Heute hat sich Ernüchterung breit<br />

gemacht, auch was die Erfolgsaussichten profilierter<br />

Oppositioneller angeht. Denn obwohl viele von<br />

ihnen jahrelang im politischen Geschäft sind, hat<br />

es bisher kein Politiker geschafft, zu einem ernstzunehmenden<br />

Konkurrenten für Lukašenko zu<br />

werden. Dies zeigen die jährlichen Umfragen des<br />

Unabhängigen Instituts für Sozialökonomische<br />

und Politische Forschung NISEPI auf die Sonntagsfrage<br />

im Zeitraum zwischen 2005 und 2009<br />

(siehe unten stehende Tabelle).<br />

Keine Frage: Lukašenko lag über den gesamten<br />

Zeitraum in der Wählergunst nahezu unerreichbar<br />

weit vorne. Natürlich kann man behaupten, in einem<br />

autoritären System antworte kein Bürger offen<br />

und ehrlich auf politische Meinungsumfragen,<br />

egal, wer sie durchführt. Überprüfen lässt sich diese<br />

These des politischen Bias allerdings nicht. Ein<br />

Trostpflaster für die Opposition mag die Tatsache<br />

sein, dass ihre Einigkeit immerhin Milinkevič zu<br />

einem Popularitäts-Quantensprung von 0.8 auf<br />

18,4 Prozent verhalf. Doch blieb es beim Achtungserfolg,<br />

von ernsthafter Konkurrenz kann im Vergleich<br />

zu Lukašenkos souveränen Umfragewerten<br />

auch hier keine Rede sein.<br />

Gleichzeitig lässt der Dialog zwischen Minsk und<br />

Brüssel die Erfolgsaussichten für die Opposition<br />

weiter schwinden, zeigt doch das Tauwetter zwischen<br />

Minsk und der EU, dass Brüssel das Drehbuch<br />

für eine Revolution tief in der strategischen<br />

Schublade vergraben hat.<br />

Persönliche Ambitionen, innenpolitische Schwäche<br />

und fehlende Unterstützung von außen sind<br />

also die Gründe für das vorläufige Ende der oppositionellen<br />

Einheitsstrategie. Heute kämpft jeder<br />

im Oppositionslager für sich allein. Viele sagen<br />

hinter vorgehaltener Hand, schlimmer als 2006<br />

könne das Wahlergebnis sowieso nicht werden.<br />

Weit gefehlt – das kann es. Zum Beispiel könnte<br />

Lukašenko einen wirklichen 80-Prozentsieg erringen,<br />

ganz ohne Wahlbetrug. Sollte dies geschehen,<br />

wäre es ein herber Schlag für die Opposition. Aber<br />

vielleicht auch ein heilsamer.<br />

Innenpolitik<br />

Antworten auf<br />

die Frage:<br />

„Wen würden Sie<br />

wählen, wenn morgenPräsidentschaftswahlen<br />

wären?“<br />

Quelle: NISEPI,<br />

www.iiseps.org<br />

Mögliche Antwort 05'05 09'05 12'05 02'06 04'06 08'06 11'06 01'07 09'07 09'08 12'08 03'09 06'09 09'09 12'09<br />

A. Lukašenko 41.7 47.3 51.2 57.6 60.3 54.9 49.7 50.9 44.9 42.5 40.2 39.2 40.9 39.4 42.5<br />

A. Milinkevič 0.8 1.4 6.6 15.4 18.4 11.6 10.3 11.4 12.3 6.2 3.6 4.4 3.1 3.4 4.3<br />

A. Kozulin 0.9 1.8 0.8 5.2 3.7 3.2 3.5 4.2 3.2 5.2 5.0 2.3 2.4 2 2.4<br />

C. Gajdukevič 0.4 0.3 1.2 4.3 1.0 0.6 1.8 1.2 1.3 1.7 0.7 0.5 0.6 0.6 0.5<br />

A. Lebedko 2.0 3.5 2.4 0.1 0.1 0.1 0.2 0.5 0.3 0.2 0.3 0.3 0.4 0.4 0.4<br />

C. Kaljakin 0.8 1.1 0.2 0 0 0 0.1 0.1 0 0.1 0.1 0.1 0.2 0.4 0.1<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 13


Innenpolitik<br />

Harte Schläge gegen Polenverband<br />

Seit fast fünf Jahren kriselt es innerhalb der polnischen Minderheit in Belarus. Angeheizt wird der Konflikt von der belarussischen<br />

Staatsmacht. Die Unstimmigkeiten hatten mit der Wahl des Vorsitzenden 2005 begonnen, als sich der pro-staatliche Flügel des<br />

Verbandes abspaltete und als alleiniger Interessenverband vom Staat anerkannt wurde. Der andere Teil – unter Führung der<br />

bisherigen Vorsitzenden Anżelika Borys – ist in Belarus nicht zugelassen und gerät in letzter Zeit zunehmend unter Druck.<br />

Unliebsame polnische<br />

Fraktion:<br />

(v.l.n.r.)<br />

Andrzej Poczobut,<br />

Anżelika Borys,<br />

Tereza Sobol‘.<br />

Foto: bymedia.net<br />

14 Belarus Perspektiven<br />

Der Konflikt um den nicht registrierten, regimekritischen<br />

Polenverband verschärfte sich Anfang 2010,<br />

als die belarussischen Behörden erneut versuchten,<br />

den Verband aus seinem Haus im Kleinstädtchen<br />

Iveniec in Westbelarus zu vertreiben. Im Laufe des<br />

vergangenen Jahres hatte die Regierung mehrfach<br />

versucht, dem Verband nachzuweisen, dass seine<br />

Arbeit illegal sei. Am achten Februar machte die<br />

Staatsmacht dann Nägel mit Köpfen und schickte<br />

Gerichtsvollzieher nach Iveniec. Diese erfassten<br />

den Besitz des Hauses und vertrieben die Verbandsmitglieder.<br />

Nur eine Woche später, am 15. Februar,<br />

überschrieb ein Gericht das Haus offiziell dem<br />

staatlich genehmen Polenverband. 40 Aktivisten,<br />

die an dem Gerichtsverfahren teilnehmen wollten,<br />

wurden auf dem Weg zum Gerichtssaal verhaftet,<br />

darunter Anżelika Borys, Igor Bancer (der Sprecher<br />

des Verbandes), Mieczysław Jaskiewicz (der<br />

stellvertretende Vorsitzende) und Andrzej Poczobut<br />

(der Vorsitzende des Aufsichtsrates). Das Haus<br />

in Iveniec ist das fünfzehnte von sechzehn Häusern<br />

aus Verbandsbesitz, das nun dem anerkannten Polenverband<br />

gehört. Der „alte“ Zweig unter Anżelika<br />

Borys verfügt inzwischen nur noch über ein Haus<br />

in Baranoviči. Bis dato hatten Borys und ihr un-<br />

Aleksej Šota, Grodno<br />

erwünschter Verband ihre Tätigkeit vor allem unter<br />

dem Dach der Firma „Polonika” weiter geführt.<br />

Doch auch diesen Schutzschild durchlöchern die<br />

belarussischen Behörden. Am 16. März wurde in<br />

einem nur halbstündigen Gerichtsverfahren eine<br />

Strafe von 71 Millionen Rubeln (ca. 18 000 Euro)<br />

gegen „Polonika“ verhängt – wegen angeblicher<br />

Steuervergehen.<br />

Die hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik,<br />

Catherine Ashton, äußerte inzwischen<br />

ihre Besorgnis über die Ereignisse rund um<br />

die polnische Minderheit in Belarus. Auch vom<br />

Europäischen Parlament gab es rethorische Schelte.<br />

Belarus bemühte sich indes vermeintlich um<br />

Schlichtung. Präsident Lukašenko einigte sich mit<br />

dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski<br />

auf die Gründung einer gemeinsamen Expertengruppe,<br />

die den Konflikt beilegen soll. Allerdings<br />

ist fraglich, ob Belarus tatsächlich an einer Lösung<br />

des Konflikts gelegen ist. Zumindest ist kaum verständlich,<br />

weshalb der belarussische Leiter der Expertengruppe<br />

– der Staatliche Beauftragte für Nationalitäten-<br />

und Religionsfragen Leonid Guljako<br />

– bei Gründung des Gremiums schlichtweg nichts<br />

von seiner neuen Aufgabe wusste.<br />

Das harsche Vorgehen der belarussischen Regierung<br />

wirkt vor allem in Bezug auf die zaghaften<br />

belarussischen Versuche einer schrittweisen Annäherung<br />

an Polen und die EU wie ein Schuss ins eigene<br />

Bein. In regierungskritischen Kreisen treiben<br />

nun Spekulationen wilde Blüten: Hat Lukašenko<br />

eventuell die Lage nicht mehr unter Kontrolle?<br />

Oder handelt es sich um eine raffinierte Strategie<br />

der belarussischen Regierung, mit der sie Verhandlungsmasse<br />

für die Anerkennung der Kommunalwahlen<br />

Ende April aufbauen will – nach dem Motto:<br />

wir geben dem Polenverband mal eine Auszeit<br />

und ihr erkennt uns dafür ein paar Wahlkreise an?<br />

Sollte sich nach den Wahlen der Konflikt um den<br />

Nr. 48 02 / 10


Verband beruhigen, würde sich diese These bestätigen.<br />

Wobei auch ein sanfteres staatliches Vorgehen<br />

keine dauerhafte Lösung für den Konflikt wäre.<br />

Eigentlich gibt es nur zwei Varianten: entweder<br />

erkennt die belarussische Regierung den Flügel<br />

um Anżelika Borys an – oder die beiden Verbände<br />

werden unter einer neutralen Führung wieder<br />

vereint. Nach den monatelangen Auseinandersetzungen<br />

zwischen dem „alten“ Flügel auf der einen<br />

Innenpolitik<br />

Zu den Waffen?<br />

Nach wie vor gibt es in Belarus kein Zivildienst-Gesetz, obwohl die Verfassung einen solchen Dienst ausdrücklich gestattet.<br />

Pech für Verweigerer: Im Frühjahr wurden wieder drei von ihnen zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt.<br />

Gennadij Kesner, Minsk<br />

Das belarussische Gesetzbuch sieht für Wehrdienstverweigerer<br />

Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren<br />

vor. Bei Betrugsversuchen, vorgetäuschten Krankheiten<br />

oder gefälschten Dokumenten kann die Strafe<br />

auf bis zu fünf Jahre erhöht werden. Am ersten<br />

Februar wurde in Minsk Ivan Michajlov, ein gläubiger<br />

messianischer Jude, zu drei Monaten Haft verurteilt.<br />

Er hatte sich geweigert, den Wehrdienst zu absolvieren.<br />

Nach Aussagen von Valentin Stefanovič,<br />

Mitglied der Menschenrechtsorganisation Ves‘na,<br />

hatten sich die Eltern von Michajlov mehrfach mit<br />

der Bitte um einen alternativen Dienst an das Verteidigungsministerium<br />

gewendet. Stefanovič fasste<br />

das ernüchternde Ergebnis der Bemühungen zusammen:<br />

„Die Antworten der Abteilung liefen alle<br />

darauf hinaus, dass Michajlov höchstens zur Reservetruppe<br />

gehen könnte, weil es keinen Zivildienst in<br />

Belarus gäbe.“ Allerdings, meinte Stefanovič, habe<br />

Michajlov seines Wissens nach auch keinen Einberufungsbescheid<br />

erhalten. Die Verurteilung entbehre<br />

damit ihrer Grundlage. Kein Einzelfall, meint<br />

Stefanovič. In diesem wie auch schon im vergangenen<br />

Jahr habe es mehrere ähnliche Fälle gegeben,<br />

in denen Gewissensverweigerern kurzerhand der<br />

Prozess gemacht worden sei.<br />

Auch Evgenij Jakovenko aus Gomel‘ wurde mit einer<br />

Geldstrafe bestraft, weil er am 20. Dezember<br />

ohne ausreichende Begründung nicht der Einberufung<br />

gefolgt war. Das Gericht berücksichtigte dabei<br />

nicht, dass Jakovenko zuvor mehrfach das Verteidigungskommissariat<br />

angeschrieben und um eine Alternative<br />

zum Wehrdienst gebeten hatte. Auch die<br />

sowie der Staatsmacht und ihrer „neuen“ Union<br />

auf der anderen Seite ist jedoch fraglich, ob der<br />

Borys-Fraktion an einer solchen Lösung gelegen<br />

wäre. Schließlich könnte in einem wiedervereinigten<br />

Polenverband die vom Regime geförderte prostaatliche<br />

Übermacht schnell den regimekritischen<br />

Flügel niederringen. Die Abtrünnigen um Anżelika<br />

Borys werden also aller Wahrscheinlichkeit nach für<br />

ihren eigenen Verband kämpfen.<br />

Bitten von Dmitrij Smyk ignorierten die Behörden<br />

einfach: Der junge Anhänger der Zeugen Jehovas<br />

wurde zum Jahresende in Gomel‘ für seine Verweigerung<br />

zu einer Strafe von 3,5 Millionen Belarussischer<br />

Rubel (ca. 880 Euro) verurteilt. Mehrmals<br />

hatte er schriftlich darum gebeten, alternativ einen<br />

Zivildienst machen zu dürfen, da seine Religion es<br />

ihm verbiete, eine Waffe in die Hand zu nehmen.<br />

Ein Verfassungsbruch, findet Menschenrechtler Valentin<br />

Stefanovič. In Belarus fehlt weiterhin die gesetzliche<br />

Grundlage für den Zivildienst, obwohl dieser<br />

im Paragrafen 75 der Verfassung erwähnt wird.<br />

Dort heißt es, dass die Pflicht, das Vaterland zu<br />

verteidigen, durch einen Dienst in der Armee oder<br />

durch andere Dienste ausgeführt werden könne,<br />

darunter den Zivildienst. „Das heißt, der Paragraf<br />

75 sieht einen Zivildienst vor. Dazu gab es bereits<br />

2000 einen Beschluss des Verfassungsgerichts, der<br />

besagt, dass die belarussischen Bürger das Recht<br />

hätten, einen Zivildienst einzufordern – und dass<br />

das Parlament ein entsprechendes Gesetz unmittelbar<br />

nach Annahme der Verfassung von 1994 hätte<br />

verabschieden müssen,” betont Stefanovič. Bisher<br />

ohne Ergebnis. Die Staatsmacht scheint nun jedoch<br />

zu reagieren. Am 18. Februar beauftragte Aleksandr<br />

Lukašenko den Staatssekretär des Sicherheitsrates,<br />

Leonid Mal‘cev – bis vor kurzem selber Verteidigungsminister<br />

– damit, einen Gesetzesentwurf zu<br />

erarbeiten. Bis dieses Gesetz jedoch tatsächlich in<br />

Kraft tritt, werden noch viele junge Männer in Belarus<br />

als vermeintliche Verbrecher vor Gericht stehen,<br />

trotz des liberalen Verfassungsparagraphen.<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 15


Innenpolitik<br />

„Das sind doch keine Wahlen!“<br />

In der vergangenen Ausgabe verfasste unser Redakteur Martin Schön einen kritischen Kommentar zur Partei Belarussische<br />

Christliche Demokratie Partei (BCHD) und ihrem Co-Vorsitzenden Pavel Severenec. Diesmal wollten wir Pavel Severinec<br />

selbst zu Wort kommen lassen.<br />

Das Interview führte Martin Schön.<br />

Pavel Severinec<br />

Foto: bymedia.net<br />

16 Belarus Perspektiven<br />

Herr Severenec, Sie kommen gerade vom Sammeln<br />

von Unterschriften für ihre Kandidaten bei den<br />

Lokalwahlen. Waren Sie erfolgreich?<br />

Ja, das klappt sehr gut. Die Belarussen freuen sich,<br />

wenn sie von unseren Parteimitgliedern auf Belarussisch<br />

angesprochen werden, das imponiert ihnen.<br />

Außerdem unterschreiben viele, weil wir dafür<br />

kämpfen, dass die Menschen in Belarus in Zukunft<br />

keine Angst mehr haben müssen. Die Bürger spüren,<br />

dass für uns christliche Werte und Gerechtigkeit<br />

noch etwas zählen.<br />

Wie stehen denn die Chancen, dass die BCHD Abgeordnetensitze<br />

bei den Lokalwahlen gewinnt?<br />

Im Moment gibt es keine Wahlen, sondern platte<br />

Kampagnen und Wahlfälschung, und am Ende<br />

werden die Fälscher leider als Sieger dastehen. Kein<br />

einziger unser Vertreter wurde in eine Gebietswahlkommission<br />

aufgenommen. Auch in 90 Prozent der<br />

lokalen Wahlkommissionen sind wir nicht vertreten.<br />

Das sind doch keine Wahlen! Selbst wenn Kandidaten<br />

gewinnen, bekommen sie in Wirklichkeit kein<br />

Mandat.<br />

In ihrem Parteiprogramm steht, die BCHD setze<br />

sich für einen liberalen Wirtschaftskurs und für<br />

den Ausbau von Spitzentechnologien in Belarus ein.<br />

Heute ist die Mehrheit der Arbeiter in der Schwerindustrie<br />

beschäftigt. Würde ein solcher Kurs nicht zu<br />

Massenarbeitslosigkeit führen?<br />

Der Wandel wird sicher nicht leicht. Aber Arbeitslosigkeit<br />

wird sich bestimmt nicht verhindern lassen<br />

mit veralteten Technologien, Kollektiveigentum<br />

und riesigen, unzeitgemäßen Fabriken. Wir wollen,<br />

dass aktive Menschen mit ihrem Engagement Geld<br />

verdienen können. In erster Linie betrifft das die<br />

kleinen und mittleren Unternehmen. Diese Leute<br />

brauchen Freiheit und Steuerprivilegien, um ihre<br />

Tätigkeit ausüben zu können. Wir müssen ein Bankennetz<br />

einrichten, das günstige Kredite an Kleinunternehmer<br />

vergibt, wir brauchen ausländische Investitionen.<br />

Nur so kann die Massenarbeitslosigkeit<br />

verhindert werden.<br />

In Ihren Aussagen und Schriften taucht sehr häufig<br />

der Begriff „moralischer Verfall“ auf. Was genau<br />

meinen Sie damit?<br />

Es geht dabei um die Grundlage für einen effektiven<br />

Staat. Ein effektiver Staat muss sein Wort halten,<br />

nicht lügen und nicht stehlen. Kein Staat sollte diese<br />

Prinzipien vernachlässigen, da er sonst in Richtung<br />

Korruption und moralischer Verfall abgleitet. Es<br />

geht hier nicht um einen persönlichen moralischen<br />

Verfall, sondern um den Verfall staatlicher Grundsätze.<br />

Die Belarussen werden dann einen effektiven<br />

Staat aufbauen können, wenn stehlen nicht mehr die<br />

Norm ist und Menschen für Diebstahl endlich bestraft<br />

werden, anstatt zur Staatsführung zu gehören.<br />

Fällt unter „moralischer Verfall“ auch der öffentliche<br />

Auftritt Homosexueller?<br />

Wir tolerieren homosexuelle Menschen. Aber wir<br />

lehnen die öffentliche Propaganda von Homosexualität<br />

ab, zum Beispiel Schwulenparaden. Als gläubige<br />

Christen müssen wir uns an Gottes Wort halten,<br />

und danach ist Homosexualität eine Sünde, wie etwa<br />

Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit. Und wir<br />

müssen verhindern, dass mehr Menschen zu Homosexuellen<br />

werden, weil die Gesellschaft Homosexualität<br />

als etwas normales darstellt.<br />

Ist Lukašenko eigentlich wirklich so eine Strafe für<br />

die Belarussen? Umfragen zeigen, dass die Bürgerinnen<br />

und Bürger mit ihrem Lebensstandard durchaus<br />

zufrieden sind.<br />

Die Belarussen haben eben keinen Vergleich. Sicher,<br />

heute kann man sich ein Auto kaufen, seine Wohnung<br />

hübsch einrichten. Aber wenn wir uns nicht<br />

mit Russland und der Ukraine vergleichen, sondern<br />

mit Polen und Deutschland, dann ist das Ergebnis<br />

eindeutig, zumindest für alle, die schon einmal im<br />

Ausland waren. Der Großteil der Belarussen war<br />

aber noch nie im Ausland. Viele Menschen halten<br />

deshalb unsere „Kolchosendiktatur“ für das kleinere<br />

Übel. Das gefällt mir nicht, denn die Menschen<br />

sollten nach dem Besten streben und nicht nur versuchen,<br />

das Schlimmste zu vermeiden.<br />

Nr. 48 02 / 10


Innenpolitik<br />

Die Belaja Rus‘ – Reservetruppe oder<br />

eigenständige politische Kraft?<br />

Bei den Lokalwahlen hat sich die ‚zivilgesellschaftliche‘ Organisation Belaja Rus‘ als staatlicher Partner bewährt. Politisch<br />

relevant ist das staatstreue Kollektiv zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht. Aber die angebliche NGO hat ihre staatstragende<br />

Zukunft fest im Visier.<br />

Aleksandr Dautin, Minsk<br />

Die neue Wahlgesetzgebung hatte zunächst für viel<br />

Hoffnung bei allen Freunden des politischen Wechsels<br />

gesorgt. Schließlich, sollten Vertreter nichtstaatlicher<br />

Organisationen und Parteien mindestens ein<br />

Drittel der Wahlkommissionen bilden. Aufgehorcht<br />

hatten die demokratischen Kräfte jedoch als Lidija<br />

Ermošina, Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission,<br />

verkündete, man habe diese Quote sogar<br />

um knapp zwei Prozent übertroffen. Der kleine<br />

Haken an der Geschichte: insgesamt gingen nur 76<br />

Plätze an Vertreter von Oppositionsparteien. Die<br />

Belaja Rus‘, deren offizieller Status der einer unabhängigen<br />

NGO ist, sahnte hingegen 3341 Plätze ab.<br />

So viel zur neuen Wahlgesetzgebung.<br />

Was die Belarussen aber von der Belaja Rus‘ zu<br />

erwarten haben, konnte man am 28. Januar in<br />

der Staatszeitung Narodnaja Gazeta lesen: „Gesellschaftliche<br />

<strong>Initiativen</strong> finden immer besser<br />

ihren Weg in der Gesellschaft, wenn sie von unten<br />

kommen, von den Bürgern. Ein gutes Beispiel<br />

dafür ist die landesweite NGO Belaja Rus‘, deren<br />

Name jedem Belarussen sofort einleuchtet und am<br />

Herzen liegt. Genauso so sehr wie die Ideale der<br />

Belaja Rus‘: ein unabhängiger, blühender Staat,<br />

eine starke und effektive Wirtschaft, ein würdiger<br />

Lebensstandard. In den Regionen beginnend, wurde<br />

die Belaja Rus‘ in etwa zwei Jahren zur größten<br />

und mitgliedsstärksten Organisation im Lande und<br />

zum einmaligen Glied zwischen Staat und Bürgern.<br />

Heute hat sie 87 Tausend Mitglieder, darunter<br />

viele in Belarus und im Ausland bekannte und<br />

angesehene Bürger: belarussische Helden, angesehene<br />

Gelehrte, ausgezeichnete Sportler. Auch die<br />

Hälfte des derzeitigen Parlaments ist bei der Belaja<br />

Rus‘ Mitglied.”<br />

Übersetzt man den sowjetischen Pathos in einfache<br />

Worte, heißt das so viel wie: die Belaja Rus‘ ist<br />

der Prototyp einer Regierungspartei. Wie auch bei<br />

der Edinaja Rossija begann ihre Tätigkeit als ‚zivil-<br />

gesellschaftliche‘ Organisation. Doch <strong>Bildungs</strong>minister<br />

Rad‘kov, der nebenbei auch den Vorsitz der<br />

Belaja Rus‘ übernommen hat, hält sich im Bezug<br />

auf die politische Karriere seiner Organisation zurück:<br />

„Wir haben keine Analogie zur Edinaja Rossija<br />

gesucht. Die Belaja Rus‘ beeilt sich nicht, zur<br />

politischen Partei zu werden, man wird sehen. Wir<br />

hätten natürlich ausreichend Erfahrung in der Parteieinarbeit,<br />

denn irgendwann waren wir alle Parteimitglieder,<br />

aber der Satzung nach, sind wir eine<br />

nationale zivilgesellschaftliche Organisation.”<br />

Auch Aleksandr Lukašenko sprach sich gegen<br />

eine Edinaja Belarus aus, da eine solche Partei<br />

ein Sammelbecken für Beamte bilde und deshalb<br />

nicht lebensfähig sei. Ignoriert man die Propaganda<br />

der Belaja Rus‘ in den Massenmedien und ihre<br />

durchaus gewichtige Rolle bei den Lokalwahlen, so<br />

ist sie politisch momentan höchstens zweitrangig.<br />

Zum jetzigen Zeitpunkt scheint den Machthabern<br />

das Format einer ‚zivilgesellschaftlichen‘ Organisation<br />

zu genügen. Doch die bloße Existenz einer solchen<br />

Organisation zeugt davon, dass ihre politische<br />

Aktivierung jederzeit möglich ist. Die Partei wird<br />

kommen, fragt sich nur, wann.<br />

Eine zivilgesellschaft-<br />

liche Organisation?<br />

Aleksandr Rad‘kov<br />

bei einem Kongress<br />

der Belaja Rus‘.<br />

Foto: bymedia.net<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 17


Chronologie<br />

Chronologie<br />

01. Februar bis 30. April 2010<br />

01. - 07. Februar<br />

Aleksandr Lukašenko unterzeichnet<br />

einen Erlass, der alle Internetressourcen<br />

in Belarus registrierungspflichtig<br />

macht.<br />

Die belarussischen regionalen Wahlkommissionen<br />

für die Kommunalwahlen<br />

sind gebildet. Von den 12.000 Mitgliedern<br />

sind etwa 35 Prozent Vertreter<br />

von staatsnahen NGO.<br />

Nach Angaben des Finanzminsteriums<br />

hat Belarus seine Auslandsschulden im<br />

Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Sie<br />

betrugen im Januar 2010 knapp 7,9 Milliarden<br />

Dollar.<br />

Russland veröffentlicht seine Verteidigungsdokrtin,<br />

in der die Zusammenarbeit<br />

mit Belarus an erster Stelle genannt<br />

wird.<br />

08. - 14. Februar<br />

Der belarussische Außenminister Sergej<br />

Martynov nimmt an der Münchner Sicherheitskonferenz<br />

teil und trifft sich<br />

dort mit seinem Kollegen Guido Westerwelle.<br />

Der Warenhandel setzte laut Statistikkomitee<br />

in Belarus 2009 drei Prozent<br />

mehr Produkte ab, als im Vorjahr. Über<br />

78 Prozent waren belarussischer Produktion.<br />

Die Außenminister von Belarus und Polen,<br />

Martynov und Sikorski, unterzeichnen<br />

in Warschau ein Abkommen über<br />

die Vereinfachung des Reiseverkehrs.<br />

Bei einer friedlichen Aktion der oppositionellen<br />

Jungen Front zum Valentinstag<br />

werden etwa 20 Personen festgenommen.<br />

18 Belarus Perspektiven<br />

15. - 21. Februar<br />

Der polnische Präsident Lech Kaczynski<br />

erklärt in einem Brief an Präsident<br />

Lukašenko, er protestiere „gegen die<br />

verstärkten Repressionen gegen den Polenverband<br />

in Belarus.“<br />

Laut Statistikkomitee beträgt die belarussische<br />

Handelsbilanz 2009 minus<br />

5,5 Milliarden Dollar.<br />

Präsident Lukašenko beauftragt Leonid<br />

Mal‘cev, Sekretär des staatlichen Sicherheitsrates,<br />

mit der Erarbeitung eines Zivildienst-Gesetzes.<br />

Außenminister Martynov trifft sich in<br />

Teheran mit dem iranischen Präsidenten<br />

Mahmud Ahmadinedschad. Thema sind<br />

vor allem gemeinsame Wirtschaftsprojekte.<br />

22. - 28. Februar<br />

Aleksandr Lukašenko trifft sich mit seinem<br />

ukrainischen Kollegen Viktor Janukovič<br />

zu dessen Amtsantritt in Kiev. Beide Seiten<br />

betonen den strategischen Charakter<br />

der Beziehungen beider Länder.<br />

Das belarussische Finanzminsterium<br />

hat den Haushaltsmonat Januar mit einem<br />

Plus von etwa 410.000 Euro abgeschlossen.<br />

Grund für den Erfolg seien<br />

Sparmaßnahmen.<br />

01. - 07. März<br />

In Minsk trifft eine Delegation des<br />

NATO-Hauptquartierts ein, um die Zusammenarbeit<br />

im Programm Partnerschaft<br />

für den Frieden zu besprechen.<br />

Außenminister Martynov trifft sich in<br />

Budapest mit seinem Kollegen Péter Balázs.<br />

Thema ist unter anderem die Östliche<br />

Partnerschaft.<br />

Das belarussische Justizministerium<br />

lehnt zum dritten Mal die Registrierung<br />

des Dachverbandes NGO-Assembly ab.<br />

Aleksandr Lukašenko regelt in einem<br />

Erlass den Verkauf der staatlichen Uhrenfabrik<br />

Luch an den Schweizer Uhrenfabrikanten<br />

Franck Müller.<br />

Das belarussische Zollkomitee fordert<br />

Russland auf, seine Verpflichtungen der<br />

Zollunion zu erfüllen und Ausfuhrzölle<br />

für russisches Öl umgehend abzuschaffen.<br />

08. - 14. März<br />

Belarus feiert den internationalen Frauentag.<br />

Belarussische Frauen stellen ein<br />

Drittel der Abgeordneten im Parlament<br />

und ein Fünftel aller staatlichen Führungskräfte.<br />

Präsident Lukašenko ordnet die Vorbereitung<br />

der Privatisierung von fünf<br />

Staatsbetreiben an, darunter Unternehmen<br />

der Maschinenbau- und Textilindustrie.<br />

Jacek Protasewicz, Leiter der Delegation<br />

des Europäischen Parlaments für<br />

Belarus, erklärt, das Parlament wolle in<br />

Euronest ausschließlich Oppositionelle<br />

und NGO-Vertreter berufen.<br />

15. - 21. März<br />

Aleksandr Lukašenko einigt sich in Caracas<br />

mit Venezuelas Präsident Chavez<br />

über Öllieferungen. Belarus werde zudem<br />

bis 2011 mindestens drei Fabriken<br />

in Venezuela errichten, so Lukašenko.<br />

Der russische Premier Putin erklärt in<br />

Brest, Russland subventioniere die belarussische<br />

Wirtschaft durch billige Energieträger<br />

mit etwa 4,2 Milliarden Dollar<br />

jährlich.<br />

Nr. 48 02 / 10


Belarus eröffnet in Zürich ein Ehrenkonsulat<br />

zu Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen<br />

mit der Schweiz.<br />

Philippe Le Houerou, Vizechef der Weltbank,<br />

trifft sich mit Premier Sidorski in<br />

Minsk und erklärt, die Weltbank wolle<br />

ihr Engagement in Belarus ausweiten.<br />

Vertreter der Organisation des Vertrags<br />

über Kollektive Sicherheit (OVKS) und<br />

der UNO unterzeichnen eine Kooperationserklärung.<br />

Belarus richtet zwei zum Tode verurteilte<br />

Kriminelle hin.<br />

22. – 28. März<br />

In Rio de Janeiro trifft sich Aleksandr<br />

Lukašenko mit seinem brasilianischen<br />

Kollegen Lula da Silva. Beide Staaten<br />

wollen in Kürze Botschaften eröffnen.<br />

Xi Jingping, stellvertretender Präsident<br />

der Volksrepublik China, trifft in<br />

Minsk ein. China wird Belarus Kredite<br />

in Höhe von einer Milliarde Dollar zur<br />

Verfügung stellen.<br />

Die belarussische Opposition begeht den<br />

inoffiziellen Unabhängigkeitstag „Tag<br />

des Willens.“ Mehrere Tausend Menschen<br />

demonstrieren in Minsk gegen das<br />

Regime, es gibt keine Verhaftungen.<br />

Außenminister Martynov erklärt, die enge<br />

Zusammenarbeit mit Venezuela ändere<br />

nichts an der Rolle Russlands als wichtigstem<br />

strategischen Partner von Belarus.<br />

29. März – 04. April<br />

Vertreter mehrerer großer US-Firmen,<br />

darunter Microsoft, treffen sich in<br />

Minsk mit Aleksandr Lukašenko. Die<br />

USA sind die größte Quelle ausländischer<br />

Direktinvestitionen für Belarus.<br />

Die hohe Vertreterin der EU für Außen-<br />

und Sicherheitspolitik, Catherine<br />

Ashton, erklärt, die EU sei besorgt aufgrund<br />

von Repressionen im Vorfeld der<br />

Kommunalwahlen.<br />

Die Europäische Kommission verschiebt<br />

die Bildung von Euronest auf unbestimmte<br />

Zeit aufgrund der Uneinigkeit<br />

mit Belarus über deren Zusammensetzung.<br />

Alle sechs Partnerländer der Östlichen<br />

Partnerschaft fordern eine gleichberechtigte<br />

Teilnahme des belarussischen Parlaments<br />

an Euronest und stärken damit<br />

die belarussischen Position.<br />

Der ukrainische Präsident Janukovič erklärt,<br />

er werde keine Integration in den<br />

russisch-belarussischen Unionsstaat anstreben.<br />

Strategisches Ziel seines Landes<br />

sei eine Integration in die EU.<br />

05. – 11. April<br />

Alle wichtigen belarussischen Oppositionsparteien<br />

erklären in einem gemeinsamen<br />

Papier, in Belarus fänden nach wie<br />

vor keine demokratischen Wahlen statt.<br />

Die staatlich kontrollierte Föderation<br />

der Belarussischen Gerwerkschaften<br />

äußert ihre Besorgnis darüber, dass 2009<br />

die Reallöhne um 4,2 Prozent gesunken<br />

seien.<br />

Vizepremier Semaško erklärt, die Minsker<br />

Motorradfabrik „Motovelo“ stehe<br />

still, die Privatisierung sei fehlgeschlagen.<br />

Das Unternehmern war 2007 von<br />

der Österreichischen ATEC gekauft<br />

worden.<br />

12. – 18. April<br />

Aleksandr Lukašenko begibt sich auf<br />

Inspektionsfahrt in die belarussischen<br />

Regionen.<br />

Präsident Lukašenko erklärt, die Auslieferung<br />

der belarussischen Atomsprengköpfe<br />

in den 1990er Jahren ohne angemessene<br />

Vergütung sei ein „riesengroßer<br />

Fehler“ gewesen.<br />

In Moskau treffen sich die GUS-Verteidigungsminister.<br />

Auf der Tagesordnung<br />

steht unter anderem das gemeinsame<br />

Luftabwehrsystem.<br />

Chronologie<br />

Wirtschaftsminister Nikolaj Snopkov<br />

erklärt, Belarus werde einen Wertpapiermarkt<br />

schaffen, auf dem zunächst<br />

nur europäische Obligationen gehandelt<br />

würden.<br />

19. – 25. April<br />

Aleksandr Lukašenko verkündet, der<br />

geflohene Kirgisische Präsident Kurmanbek<br />

Bakiev befinde sich in Minsk.<br />

In Odessa trifft der erste Tanker mit<br />

80.000 Tonnen venezuelischem Öl für<br />

Belarus ein.<br />

26. – 30. April<br />

Das belarussische Oberhaus ratifiziert<br />

Abkommen mit der Ukraine über die<br />

gemeinsame Staatsgrenze und ein vereinfachtes<br />

Aufenthaltsrecht der Bürger.<br />

Der brandenburgische Ministerpräsident<br />

Matthias Platzeck trifft sich in<br />

Minsk mit Premier Sidorski, Außenminister<br />

Martynov und dem Chef der Präsidialadministration,<br />

Vladimir Makej.<br />

Gewerkschaftschef Leonid Kozik schlägt<br />

vor, zur Stimulierung der Geburtenrate<br />

eine Steuer für kinderlose Männer zwischen<br />

25 und 40 Jahren einzuführen.<br />

Der ukrainische Präsident Janukovič<br />

trifft sich in Minsk mit seinem Kollegen<br />

Lukašenko. Themen sind vor allem<br />

Wirtschaftskooperation und Handel.<br />

Die Parlamentarische Versammlung des<br />

Europarats friert ihre Beziehungen zu<br />

Belarus auf höchster Regierungsebene<br />

ein. Als Hauptgrund wird die Anwendung<br />

der Todesstrafe genannt.<br />

Premier Sidorski triff sich in Vilnius mit<br />

seinem litauischen Kollegen Andrius<br />

Kubilius.<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 19


Wirtschaft & Umwelt<br />

Belarus 2009 – Ein Jahr<br />

der Hoffnung und Enttäuschung<br />

Das Jahr 2009 war in vielerlei Hinsicht besonders für Belarus. Einerseits bekannte sich der belarussische Staat zu einer Reihe<br />

wirtschaftlicher Probleme (freilich ohne die Unrentabilität des gegenwärtigen Modells zuzugeben). Andererseits gingen Worte<br />

wie Reform, Liberalisierung, Privatisierung, IWF, internationale Zusammenarbeit und Östliche Partnerschaft in den alltäglichen<br />

Sprachgebrauch des Normalbürgers ein.<br />

Elena Rakova, Minsk<br />

Volkswirtschaftliche<br />

Indikatoren<br />

* Quelle: Belstat<br />

20 Belarus Perspektiven<br />

Aus wirtschaftlicher Sicht war 2009 für Belarus<br />

das schlechteste in Jahr der vergangenen Dekade.<br />

Die sinkende Nachfrage und der erdrutschartige<br />

Preisverfall bei den Exporten zeigten die ganze<br />

Unsicherheit und Unbeständigkeit in der gegenwärtigen<br />

Wirtschaftspolitik. Die sich verschlechternde<br />

Handelsbilanz zwang Belarus dazu, neue<br />

Schulden aufzunehmen und zugleich einer Reihe<br />

unpopulärer Reformen zuzustimmen.<br />

Die schlechteste Bilanz wiesen die Industriebetriebe<br />

auf, wobei das Ergebnis noch negativer hätte<br />

sein können. Doch der Staat reagierte auf die wachsenden<br />

Lagerbestände und drosselte die Produktion<br />

in der zweiten Jahreshälfte. Die Ursache für<br />

den sprunghaften Anstieg der Lagerbestände war<br />

ein Einbruch bei den wichtigsten belarussischen<br />

Exportgütern wie Maschinen und Werkzeugmaschinen<br />

(nach Russland), Erdölerzeugnisse (nach<br />

Europa) und Kalidünger (nach China und Indien).<br />

Der Handelsbilanz zufolge betrug der Export 2009<br />

21,3 Mrd. USD und der Import 28,6 Mrd. USD.<br />

Im Vergleich zum Vorjahr verringerte sich der Umfang<br />

der Exporte also um 34,7 Prozent (11,3 Mrd.<br />

USD), die Importe sanken um 27,5 % (10,8 Mrd.<br />

USD). Insgesamt erlebte der Import einen geringeren<br />

Einbruch als der Export.<br />

2009 im Verhältnis zu 2008 in %<br />

prognostiziert faktisch<br />

Bruttoinlandsprodukt (BIP) 110-112 100,2<br />

Industrielle Produktion 112 97,2<br />

Produktion von Konsumgütern 113 99,9<br />

Realeinkommen der Bevölkerung 115 102,9<br />

Arbeitsproduktivität (nach BIP) 108,1 99,5<br />

Warenexport 118,5 65,3<br />

Warenimport 117 72,5<br />

Saldo der Außenhandelsbilanz, in Mio. USD -4065 -7281,4<br />

Energieintensität des BIP in % -8 -5,1<br />

Ungeachtet der wachsenden Lagerbestände und der<br />

Hilfe des IWF unterstützte der belarussische Staat<br />

weiterhin exportorientierte Unternehmen. Die Politik<br />

verhinderte, dass Programme zur Arbeitskräftereduzierung<br />

wie in Russland oder der Ukraine in<br />

Kraft treten konnten. Allerdings nutzte ein Drittel<br />

der belarussischen Unternehmen auf die eine<br />

oder andere Weise Mechanismen der Kurzarbeit<br />

(verkürzte Arbeitstage/-wochen). Da in größeren<br />

Unternehmen oft Privateigentümer fehlen, wurde<br />

keine Strategie gegen die Krise ausgearbeitet und<br />

umgesetzt, welche die Verringerung von Produktion<br />

und Personal und damit die Minimierung der<br />

Verluste bedeutet hätte. Man entschied sich stattdessen<br />

dafür, die soziale Stabilität im Land künstlich<br />

aufrecht zu erhalten.<br />

Die Betriebe poduzierten zunächst trotz einer<br />

scharf zurückgehenden Nachfrage weiter – auf<br />

Kosten der belarussischen Goldreserven, die ihrerseits<br />

durch neue Staatsschulden aufgestockt<br />

worden waren. All dies kann auch der alten Landwirtschaftspolitik<br />

angerechnet werden, die Verluste<br />

anhäuft und steigende Preise in den belarussischen<br />

Geschäften zur Folge hat. Es gibt allen Grund zur<br />

Annahme, dass diese Politik auch im folgenden<br />

Jahr fortgesetzt wird und Belarus 2011/12 vor einer<br />

Reihe ungelöster Probleme und Herausforderungen<br />

stehen wird, wenn die aufgenommenen Kredite an<br />

den IWF, Russland und Venezuela zurückgezahlt<br />

werden müssen. Zugleich glaubt die belarussische<br />

Bevölkerung mehrheitlich, dass die Krise ihr Land<br />

nahezu unberührt lasse und die Regierung sie erfolgreich<br />

bekämpfe.<br />

Als eine positive Entwicklung des letzten Jahres<br />

kann die Verbesserung des Geschäftsklimas gelten.<br />

Besonders bemerkenswert sind das neue Verfahren<br />

zur Unternehmensgründung, die ersten Schritte<br />

hin zu einer Reform der Steuergesetzgebung<br />

Nr. 48 02 / 10


und die Liberalisierung der Preise. Der Aufstieg<br />

von Belarus beim Rating-Index „Doing Business“<br />

der Weltbank um dreißig Positionen auf Platz 84<br />

scheint daher gerechtfertigt. Die belarussischen<br />

Machthaber verfolgen den Weg einer wirtschaftlichen<br />

Liberalisierung, allerdings nicht systematisch:<br />

viele Änderungen sind partiell oder haben<br />

kosmetischen Charakter. Zudem bringt eine Gesetzänderung<br />

wenig, wenn die Beamten an ihren<br />

Arbeitsplätzen nicht dazu gezwungen werden, sie<br />

auch umzusetzen. Ein besonderes, bisher ungelöstes<br />

Problem für den privaten Sektor besteht in den<br />

ungleichen Wettbewerbsbedingungen mit staatlichen<br />

Unternehmen.<br />

Zu den Enttäuschungen und Misserfolgen des vergangen<br />

Jahres muss gezählt werden, dass es nahezu<br />

keine Privatisierungen gab (vom Verkauf der<br />

Belpromstroibank einmal abgesehen) und neue<br />

Privatisierungen kaum gefördert wurden. Die belarussische<br />

Politik neigt dazu Privatisierungen ausschließlich<br />

unter fiskalischen Gesichtspunkten zu<br />

betrachten: Statt vorhandenes Eigentum zu neuen<br />

Preisen zu verkaufen, zieht man es vor, staatliche<br />

Kredite aufzunehmen. Doch Privatisierungen sind<br />

das wichtigste Element der strukturellen Reformen,<br />

die das Land so dringend braucht. Sie aufzuschieben<br />

bedeutet vor allem, die Kosten für alternative<br />

Reformstrategien zu erhöhen.<br />

Die zu Beginn des Jahres durchgeführte Abwertung<br />

des Belarussischen Rubels um 20 Prozent<br />

hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Dieser<br />

politische Kompromiss mit dem IWF hatte meiner<br />

Meinung nach einen negativen Einfluss auf die<br />

Wirtschaft, weil Bevölkerung und Unternehmen<br />

das Vertrauen in die nationale Währung verloren.<br />

Die Abwertung hätte entweder größer sein müssen,<br />

um die belarussischen Importe erkennbar zu verringern<br />

– oder sie hätte überhaupt nicht stattfinden<br />

sollen.<br />

Alles in allem war 2009 ein durchwachsenes Jahr.<br />

Es versprach viel und in gewisser Weise wurden die<br />

Hoffnungen übertroffen. Aber es hinterließ auch<br />

Enttäuschungen, in erster Linie, weil die bela-<br />

russischen Machthaber die Unzulänglichkeit der<br />

gegenwärtigen Politik nicht erkannten und auf früheren<br />

Prognosen, Indikatoren und Programmen<br />

beharrten. Wieder wurde ein Jahr verloren, wieder<br />

Kredite aufgenommen und Ressourcen sinnlos<br />

verbraucht. Zumindest hat Belarus begonnen, das<br />

sich öffnende Fenster internationaler technischer<br />

Hilfe zu nutzen. Dass diese Mittel jedoch nur unzureichend<br />

effektiv oder teilweise sogar ineffektiv<br />

eingesetzt werden, ist eine andere Geschichte.<br />

Das wichtigste Verdienst der internationalen Wirtschaftskrise<br />

war die allgemeine Umgestaltung der<br />

globalen Konjunktur und internationalen Wirtschaftspolitik.<br />

Das bedeutet, dass Belarus sich weiterhin<br />

ändern wird und verändern muss. In diesem<br />

Sinn stellen sich in 2010 die gleichen spannenden<br />

Fragen an die BY-Wirtschaft, wie in 2009. So tun,<br />

als ob nichts geschehe, klappt nicht mehr: Entweder<br />

muss der Staat die Produktion vieler Fabriken<br />

auf Eis legen, oder neue Finanzierungsquellen für<br />

ihre Arbeit suchen. Jene Mengen zu verkaufen, die<br />

momentan produziert werden, ist jedenfalls unrealistisch.<br />

Im Jahr 2009 stritten belarussische Policy-Maker<br />

auch öffentlich über verschiedene Entwicklungsszenarien.<br />

Diese Debatten werden sich fortsetzen<br />

und die Staatsführung wird sich zu konkreten Reformschritten<br />

durchringen müssen. Für 2010 darf<br />

mit einer Fortsetzung der Liberalisierung des Geschäftsklimas<br />

sowie einem Aufstieg von Belarus in<br />

verschiedenen Ratings gerechnet werden, auch wird<br />

es sicher einige größere Privatisierungen geben.<br />

Doch im großen und ganzen werden wegweisende<br />

strategische Entscheidungen sicher erst nach den<br />

Präsidentschaftswahlen im Winter 2011 fallen.<br />

Wirtschaft & Umwelt<br />

Das Vertrauen in den<br />

belarussichen Rubel<br />

war dahin.<br />

Foto: bymedia.net<br />

Elena Rakova ist Wirtschaftswissenschaftlerin am Institut für angewandte<br />

Mathematik der Russischen Akademie der Wissenschaften,<br />

Moskau. Sie hat 1995 ihr Studium an der Fakultät für Handel und<br />

Marketing der Universität Sankt Petersburg mit einer Arbeit zu Preisbildung<br />

abgeschlossen. Ihre Dissertation widmete sie dem Schwerpunkt<br />

„Nationale Wirtschaftsführung“. Seit 1995 unterrichtet Elena Rakova<br />

an verschiedenen belarussischen Hochschulen.<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 21


Wirtschaft & Umwelt<br />

Zuverlässigkeit und Vertrauen<br />

In den Beziehungen zwischen Belarus und der EU spielt die wirtschaftliche Zusammenarbeit eine große Rolle. Deutschland<br />

ist einer der wichtigsten europäischen Wirtschaftspartner des Landes, und als solcher auch direkt durch Repräsentanzen und<br />

Beteiligungen im belarussischen Wirtschafts- und Bankensystem vertreten. Warum sich die deutschen Banken für Belarus interessieren<br />

und welche Rolle sie in den Beziehungen zwischen beiden Ländern spielen, haben wir Oliver Schufmann gefragt,<br />

Vertreter der Commerzbank in Minsk.<br />

Das Interview führte Natal‘ ja Pčëlkina.<br />

22 Belarus Perspektiven<br />

Herr Schufmann, die Commerzbank hat als erste<br />

westliche Bank bereits 1993 eine Repräsentanz<br />

in Belarus eröffnet. Welche Rolle spielt die Commerzbank<br />

in der Zusammenarbeit zwischen Belarus<br />

und Deutschland?<br />

Deutschland ist nach Russland der wichtigste Handelspartner<br />

von Belarus. Ein Großteil der Technologiegüterimporte<br />

und Warenimporte kommt aus<br />

Deutschland. Diese Importe werden oft durch ausländische<br />

Kredite finanziert. Die Commerzbank<br />

hat bei der Finanzierung der gesamten deutschen<br />

Exporte einen Anteil von 20 bis 30 Prozent und<br />

ist in diesem Bereich Marktführer. Außerdem sind<br />

wir aufgrund unseres verzweigten Korrespondenzbankennetzes<br />

in der Lage, den Zahlungsverkehr<br />

zwischen den belarussischen Unternehmen und<br />

ihren Partnern nahezu überall in der Welt abzuwickeln.<br />

Worin liegt zurzeit der Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit<br />

in Minsk?<br />

Die Repräsentanz pflegt ihre Partnerschaften mit<br />

belarussischen Banken, sie berät deutsche und<br />

belarussische Unternehmen in Finanzierungs- und<br />

Investitionsfragen, sie berät belarussische Regierungsstellen<br />

und Mitarbeiter in staatlichen Gremien.<br />

Des weiteren analysiert sie die wirtschaftliche<br />

Situation vor Ort, betreibt Öffentlichkeitsarbeit<br />

und Imagewerbung und vermittelt belarussische<br />

Kollegen für Ausbildungs- und Schulungsmaßnahmen<br />

an die Zentrale.<br />

Was genau ist die Closed Joint-Stock Company<br />

„Belarusian Bank for Small Business“, an der die<br />

Commerzbank beteiligt ist?<br />

Wir beteiligen uns bereits seit dem Jahr 2000 an<br />

Mikrofinanzbanken. Anfänglich waren wir im<br />

Rahmen einer Public Private Partnership zusammen<br />

mit Förderinstituten wie der Kreditanstalt<br />

für Wiederaufbau, der Europäischen Bank für<br />

Wiederaufbau und Entwicklung sowie der Inter-<br />

national Finance Corporation der Weltbank an<br />

insgesamt sieben Instituten in Südosteuropa direkt<br />

beteiligt. Inzwischen wurden die Anteile der<br />

Aktionäre weitestgehend in die ProCredit Holding<br />

AG eingebracht, die nunmehr die Mehrheit an den<br />

meisten lokalen ProCredit-Banken hält. In Belarus<br />

hat die Commerzbank 2007 zusammen mit<br />

anderen internationalen Partnern die Belarusian<br />

Bank for Small Business gegründet. Die Bank soll<br />

im belarussischen Bankensystem eine Nische besetzten,<br />

indem sie vor allem kleinen Unternehmen<br />

Finanzierungsmittel zur Verfügung stellt.<br />

Was bringt das der belarussischen Volkswirtschaft?<br />

Mit dem Konzept der Beteiligung an Mikrofinanzbanken<br />

verfolgen wir das Ziel, die Entwicklung<br />

eines starken, eigenverantwortlich wirtschaftenden<br />

Mittelstands voranzutreiben und gleichzeitig<br />

im Finanzsektor die Etablierung von marktwirtschaftlichen<br />

Grundsätzen zu unterstützen. Um<br />

die Kreditnehmer schrittweise an den verantwortungsvollen<br />

Umgang mit den zur Verfügung gestellten<br />

Mitteln heranzuführen, werden zunächst<br />

nur kleine Darlehen mit kurzer Laufzeit vergeben.<br />

Erst nach deren Rückzahlung können die Unternehmen<br />

dann bei Bedarf einen höheren und länger<br />

laufenden Kredit beantragen.<br />

Wie passen das edle Ziel, die belarussische Wirtschaft<br />

zu fördern, und das Ziel, das Kapital der<br />

Commerzbank zu mehren, zusammen?<br />

Von einem guten Geschäft haben immer beide<br />

Seiten etwas. Insofern besteht kein Widerspruch<br />

darin, dass die Vorteile der einen Seite auch mit<br />

Vorteilen für die andere Seite verbunden sind. Die<br />

finanziellen Ressourcen, die die Commerzbank<br />

der belarussischen Wirtschaft zur Verfügung stellt,<br />

ermöglichen Wachstum und Modernisierung der<br />

Wirtschaft und erhöhen so ihre Konkurrenz- und<br />

Zukunftsfähigkeit. Auf diese Weise werden letzt-<br />

Nr. 48 02 / 10


endlich auch Arbeitsplätze in Belarus gesichert.<br />

Da wir keine Förderinstitution sind, sondern ein<br />

auf Gewinnerzielung ausgerichtetes, kommerzielles<br />

Institut können wir diese Ressourcen natürlich<br />

nicht kostenlos zur Verfügung stellen.<br />

Ist Belarus Ihrer Meinung nach für Investoren<br />

attraktiv?<br />

Belarus hat potenziellen Investoren einiges zu<br />

bieten: Neben einem hohen Grad an sozialer Stabilität<br />

und öffentlicher Sicherheit schlagen in wirtschaftlicher<br />

Hinsicht durchweg gut ausgebildete<br />

Arbeitskräfte sowie eine gute Infrastruktur positiv<br />

zu Buche. Die Regierung von Belarus unternimmt<br />

darüber hinaus eine ganze Reihe von Reformmaßnahmen,<br />

um das Land attraktiv für Auslandsinvestitionen<br />

zu machen. Der Erfolg spiegelt sich unter<br />

anderem in dem Bericht Doing Business 2010 der<br />

Weltbank wider, in dem sich das Land binnen einem<br />

Jahr von Platz 82 auf Platz 58 verbessert hat.<br />

Als Commerzbank versuchen wir, die Regierung<br />

durch konstruktives Mitwirken bei ihren Reformbestrebungen<br />

zu unterstützen. So ist unsere Bank<br />

Mitglied des Foreign Investment Advisory Councils<br />

beim Ministerrat, einem Gremium, das die<br />

ausdrückliche Zielsetzung verfolgt, das Investitionsklima<br />

in Belarus zu verbessern. Da wir zudem<br />

als einzige westliche Bank seit 1993 mit einer eigenen<br />

Repräsentanz vor Ort vertreten sind, können<br />

wir aus unserer eigenen geschäftlichen Erfahrung<br />

sagen, dass Zuverlässigkeit und Vertrauen in der<br />

Einhaltung von Absprachen in Belarus einen ähnlichen<br />

Stellenwert wie in den westlichen Ländern<br />

genießen. Eine der großen Herausforderungen für<br />

die belarussische Regierung bleibt, die Herstellung<br />

gleicher Bedingungen für alle Unternehmen,<br />

unabhängig von Größe, Rechtsform und Eigentümerstruktur.<br />

Dies bedeutet, ein vernünftiges Maß<br />

an staatlicher Regulierung und Kontrolle zu finden<br />

sowie gerade auch für kleine und mittelständische<br />

Unternehmen eine weitgehende Unabhängigkeit<br />

ihrer geschäftspolitischen Entscheidungen von politischer<br />

Einflussnahme sicher zu stellen.<br />

Wirtschaft & Umwelt<br />

Ein wenig Glanz<br />

der deutschen<br />

Commerzbank-<br />

Repräsentanz fällt<br />

auch auf Belarus ab.<br />

Foto: Ralph Richter,<br />

Commerzbank AG<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 23


Wirtschaft & Umwelt<br />

Gleiche Aufgaben, ungleiche Ziele<br />

Trotz aller Konflikte haben Belarus und Russland ihre Integration durch die Gründung einer Zollunion formal vertieft.<br />

Warum es dennoch permanent zwischen den beiden Staaten kriselt und worin die Wurzeln des Konflikts liegen, analysiert<br />

Jaroslav Romančuk vom Forschungszentrum Mises.<br />

Jaroslav Romančuk, Minsk<br />

Jaroslav Romančuk,<br />

Foto: bymedia.net<br />

24 Belarus Perspektiven<br />

Obwohl immer mehr Dokumente zur Integration<br />

zwischen Belarus und Russland unterzeichnet werden,<br />

verbessern sich die Bedingungen für Handel,<br />

Investitionen und die Realisierung gemeinsamer<br />

Projekte kaum. Am 24. September 1993 unterschrieben<br />

beide Länder den ersten Vertrag über die<br />

Schaffung einer Wirtschaftsunion, die Vereinbarung<br />

über eine Zollunion folgte am 6. Januar 1995.<br />

Der Vertrag über die Zollunion zwischen Belarus,<br />

Russland und Kasachstan, der im November<br />

2009 unterzeichnet wurde, war mithin ein weiteres<br />

Dokument in der langen Liste wenig bedeutender<br />

<strong>Initiativen</strong>. Bereits auf der Oktoberkonferenz 2003<br />

zeigten die belarussische und die russische Führung,<br />

dass es grundsätzliche politische Fragen gibt, in<br />

denen Minsk und Moskau sich unversöhnlich<br />

gegenüberstehen. Auch zwischen 2004 und 2009<br />

wurden die belarussisch-russischen Beziehungen<br />

immer wieder von Konflikten erschüttert. Dabei<br />

ging es unter anderem um Gas, Öl, Transport,<br />

Süßwaren, Zement, Traktoren und Kredite. Statt<br />

die zwei Perspektiven anzunähern, sind die von<br />

den Verträgen festgelegten Bedingungen immer<br />

wieder Quelle für Meinungsverschiedenheiten. Es<br />

ist offensichtlich, dass der gemeinsame Unionsstaat<br />

nicht funktioniert.<br />

Belarussische Ziele<br />

Die belarussische Führung betrachtet den Staatenbund<br />

ebenso wie den Vertrag über die Zollunion<br />

zwischen Russland, Belarus und Kasachstan als<br />

ein rechtliches Instrument, um eine Reihe wertvoller<br />

Vorteile und Vergünstigungen zu erhalten:<br />

Sowohl Gas und Öl zu innerrussischen Preisen, als<br />

auch einen freien Zugang zu den Waren-, Dienstleistungs-,<br />

Geld- und Arbeitsmärkten Russlands,<br />

so dass belarussische Waren und Dienstleistungen<br />

auf russischem Territorium innerrussische Privilegien<br />

beanspruchen können; außerdem will Belarus<br />

gleichberechtigten Zugang zu Ausschreibungen<br />

und Auktionen, die auf dem russischen Markt umgesetzt<br />

werden. Hinzu kommen günstige Preise für<br />

den Kauf von Rüstungsgütern und den Erhalt von<br />

langfristigen Devisenkrediten.<br />

Russische Ziele<br />

Die russische Führung ihrerseits betrachtet den<br />

Staatenbund und die Zollunion als rechtliche<br />

Instrumente, um supranationale Organe zu bilden<br />

und politische Macht von Minsk nach Moskau zu<br />

transferieren. Sie will die belarussischen Außengrenzen<br />

kontrollieren, die Zollgesetzgebung von<br />

Belarus mit der russischen vereinheitlichen, in<br />

Belarus perspektivisch den russischen Rubel als<br />

Währung etablieren, die russischen Militärbasen<br />

in Belarus kostenlos nutzen und sich die Unterstützung<br />

ihrer Militär-, Verteidigungs- und Innenpolitik<br />

sichern. Nützlich sind Staatenbund und<br />

Zollunion ebenfalls, damit russische Investoren<br />

die Filetstücke der belarussischen Wirtschaft (darunter<br />

auch die führenden belarussischen Banken)<br />

erwerben, sowie die Kontrolle über die Gas- und<br />

Erdölpipelines aufrecht erhalten können; Russland<br />

will weiterhin die freie Zirkulation von Geld,<br />

Waren, Arbeitskräften und Dienstleistungen sowie<br />

die Einführung eines russischen Businessklima<br />

gewährleisten.<br />

Nr. 48 02 / 10


Sackgassen<br />

Die Ziele beider Regierungen unterscheiden sich<br />

offensichtlich grundsätzlich voneinander. Begriffe<br />

wie „Vereinheitlichung“, „Integration“ und „Konsolidierung“<br />

werden deshalb von beiden Seiten mit<br />

völlig anderen Inhalten gefüllt. Die bisher vorhandenen,<br />

gemeinsamen bürokratischen Strukturen,<br />

die eher dem Selbstzweck dienen als effektiv zu<br />

arbeiten, vermochten es bisher nicht, klare, gemeinsame<br />

Ziele zu definieren. Dies ist eine der Hauptquellen<br />

von Differenzen und Konflikten. Das Fehlen<br />

klarer Absprachen mit dem Kreml erlaubt es Minsk,<br />

unterschriebene Vereinbarungen nach eigener Lesart<br />

zu interpretieren und sich bestimmte politische<br />

Handlungsmöglichkeiten offen zu halten. Dazu<br />

gehören ein strenger Protektionismus des Binnenhandels,<br />

die Vergabe von Zuschüssen für belarussische<br />

Exportgüter nach Russland, eine eigene belarussische<br />

Währung, eine eigenständige Regulierung<br />

des Geschäftsklimas, die Kontrolle über privates<br />

Eigentum. Zudem kann Minsk sich so vom Einfluss<br />

russischer Informationen isolieren, das enorme<br />

Potenzial, welches Transport- und Transitwege<br />

bieten, zu Geld machen und eine eigenständige<br />

Position gegenüber den außenpolitischen und militärischen<br />

<strong>Initiativen</strong> Russlands bewahren. Dass<br />

Russland Belarus subventioniert, ergibt sich nicht<br />

aus offiziellen Verträgen und Dokumenten, die<br />

von beiden Seiten unterzeichnet wurden, sondern<br />

aus der vergleichenden Analyse von Preisen und<br />

Handelsbedingungen, die Russland mit anderen<br />

Staaten unterhält. Da gegenwärtig nicht auf Grundlage<br />

einer vertraglich geregelten Basis argumentiert<br />

wird, ruft dies emotionale Reaktionen bei der<br />

belarussischen Führung hervor. Die Abwesenheit<br />

klarer Vereinbarungen zu Handelsbeziehungen,<br />

Gas- und Ölpreisen, die übermäßige Politisierung<br />

der Beziehungen und die Versuche, die Entscheidung<br />

politischer Probleme an Wirtschaftsfragen zu<br />

knüpfen, sind Gründe für die Anspannung in den<br />

belarussisch-russischen Beziehungen.<br />

Neue Qualität<br />

Nach 2009 erreichte der Konflikt zwischen Russland<br />

und Belarus eine neue Qualität. Es kam zu<br />

persönlichen Beleidigungen gegenüber hohen<br />

russischen Amtspersonen. Die belarussischen<br />

Massenmedien verbreiteten über einen längeren<br />

Zeitraum ein negatives Bild der russischen Regierung<br />

und großer russischer Unternehmen, was sich<br />

schließlich auch auf die Beziehungen gewöhnlicher<br />

Belarussen zu ihren russischen Nachbarn auswirkte.<br />

Ungeachtet des unterschriebenen Vertrags über<br />

die Zollunion kritisieren belarussische Beamte<br />

die neue Zweckgemeinschaft regelmäßig. So geriet<br />

die belarussische Führung in den letzten zwei<br />

Jahren aufgrund persönlicher Ambitionen in einen<br />

scharfen Konflikt mit der offiziellen Position Russlands.<br />

Wirtschaftliche Indikatoren<br />

2009 verringerte sich der Warenaustausch zwischen<br />

beiden Ländern um 31,2 Prozent. Der<br />

Export fiel um 36,4 Prozent auf 6,7 Milliarden<br />

USD, der Import ging um 28,9 Prozent zurück auf<br />

16,7 Milliarden USD. Der Umfang der Exporte<br />

fiel damit auf das Niveau des Jahres 2005/06, und<br />

bei den Importen sah sich Belarus auf das Jahr<br />

2006/2007 zurückgeworfen. Doch die gegenwärtige<br />

Wirtschaftskrise erklärt diesen starken Abfall<br />

nur teilweise. Ein weiterer Grund ist, dass die<br />

russischen Hersteller von Transportmitteln, Maschinen<br />

und Ausrüstung sich nicht mehr damit abfinden<br />

wollen, dass staatliche Subventionen es belarussischen<br />

Betrieben erlauben, ihre Erzeugnisse<br />

auf dem russischen Markt zu Dumpingpreisen<br />

anzubieten. Die schlechten Beziehungen zwischen<br />

Aleksandr Lukašenko und dem Kreml tragen erheblich<br />

zur angespannten Lage bei. Folge sind<br />

Dutzende von non-tarif barriers und Differenzen<br />

im Energiesektor. Gleichzeitig erhöht die Wirtschaftskrise<br />

die Neigung der Beamten zu Protektionismus,<br />

hohe Amtspersonen tauschen Sticheleien<br />

aus und beschuldigen einander, die Staatenunion<br />

zu untergraben. Ganz offensichtlich ist die Integration<br />

zwischen Belarus und Russland in eine<br />

Sackgasse geraten, ein Ausweg ist momentan nicht<br />

in Sicht. Eines dürfte aber klar sein: die belarussische<br />

Wirtschaft wird aus dem andauernden Konflikt<br />

sicherlich nicht als Gewinner hervorgehen.<br />

Wirtschaft & Umwelt<br />

Das Forschungszent-<br />

rum Mises finden Sie<br />

unter http://libertybelarus.info/.<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 25


25 Jahre nach Tschernobyl<br />

Die Zukunftswerkstatt Minsk<br />

Veranstaltungsreihe zu Tschernobyl<br />

Mehr Informationen<br />

finden Sie unter:<br />

www.ibb-d.de/<br />

tschernobyl<br />

www.ost-west-initia-<br />

tiven.de<br />

www.eustory.eu<br />

26 Belarus Perspektiven<br />

Das neue Projekt „Zukunftswerkstatt – Energieeffizienz<br />

und erneuerbare Energien nach der Katastrophe<br />

von Tschernobyl“ des IBB Dortmund<br />

und der IBB Minsk stößt auf große Zustimmung<br />

in der belarussischen und deutschen Politik. Dies<br />

machte die Konferenz „Zukunftswerkstatt Minsk<br />

– eine Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare<br />

Energien“ am 27. April in Minsk deutlich.<br />

Ihre vorbehaltlose Unterstützung für die Zukunftswerkstatt<br />

brachten der brandenburgische<br />

Ministerpräsident Matthias Platzeck, der stellvertretende<br />

belarussische Ministerpräsident Vladimir<br />

Semaško und der Vorsitzende des Hauptausschusses<br />

im Landtag NRW Werner Jostmeier zum<br />

Ausdruck. Die Zukunftswerkstatt, die ab 2011 auf<br />

dem Gelände der IBB Minsk mit Unterstützung<br />

aus Belarus, Deutschland und der EU errichtet<br />

werden soll, wäre das erste öffentliche Nullenergiehaus<br />

in Minsk. Es soll sich zu einem Zentrum<br />

des Austauschs zwischen Vertretern von Zivilge-<br />

Fast 25 Jahre nach Tschernobyl droht die mit<br />

Tschernobyl verbundene „letzte Warnung“ (Robert<br />

Gale) zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Das<br />

IBB Dortmund möchte deshalb mit finanzieller<br />

Unterstützung der Mercator-Stiftung in Kooperation<br />

mit dem europäischen Verein EUStory und<br />

der IBB Minsk im Umfeld des 25. Jahrestages dazu<br />

beitragen, die mit Tschernobyl verbundenen drängenden<br />

Fragen fest im europäischen Gedächtnis zu<br />

verankern. Auf inhaltlich und methodisch vielfältigen<br />

Wegen sollen durch das Prisma Tschernobyl<br />

gesellschaftliche Lernprozesse im Umgang mit den<br />

globalen Herausforderungen von Gegenwart und<br />

Zukunft ermöglicht werden. Unter dem Titel „25<br />

Jahre nach Tschernobyl – Europäische Solidarität<br />

und Erinnerungskultur“ wird das IBB Dortmund<br />

die Geschichte, die Aktivitäten und Rahmenbedingungen<br />

der europäischen Hilfsbewegung zu<br />

Tschernobyl in einer Publikation systematisch darlegen.<br />

Da die Geschichte der Solidaritätsbewegung<br />

aber keinesfalls zu Ende ist, richtet das IBB auf<br />

Mechthild vom Büchel, Dortmund & Sabrina Bobowski, Berlin<br />

sellschaft, Staat und Privatwirtschaft aus Belarus,<br />

Deutschland und anderen europäischen Ländern<br />

entwickeln, in dem Seminare, Konferenzen und<br />

Beratungen zu Energieeffizienz und erneuerbaren<br />

Energien stattfinden. Das Gebäude soll des weiteren<br />

ein Demonstrationszentrum für Energieeffizienz<br />

und eine Ausstellung zur Katastrophe von<br />

Tschernobyl beherbergen. Nach Ansicht aller Befürworter<br />

soll die Zukunftswerkstatt auch zu einer<br />

zentralen Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare<br />

Energiequellen zwischen Ost und West werden.<br />

Vladimir Semaško, erster Stellvertreter des<br />

Ministerpräsidenten der Republik Belarus, sagte,<br />

er sei fest davon überzeugt, dass die Zukunftswerkstatt<br />

das erste wahre gemeinsame Projekt für eine<br />

langfristige, sichere Energieversorgung zwischen<br />

Ost und West werde.<br />

Jetzt gilt es vor allem auf europäischer Ebene, insbesondere<br />

bei den Institutionen der Europäischen<br />

Union, Unterstützung für das Projekt zu finden.<br />

der Internetplattform www.ost-west-initiativen.de<br />

ein „Tschernobyl-Forum“ ein, auf dem <strong>Initiativen</strong><br />

aktuelle Fragen, Aktionen und Events diskutieren<br />

können. In dem Forum werden zudem die Geschichten<br />

von Zeitzeugen und europäischen Hilfsorganisationen<br />

veröffentlicht. Um die Generation,<br />

die Tschernobyl nicht mehr bewusst erlebt hat,<br />

auch für das Thema zu sensibilisieren, gestaltet das<br />

IBB die interaktive Wanderausstellung „Menschen<br />

– Orte – Solidarität“, die zwischen Januar und April<br />

2011 an 25 Orten in ganz Deutschland gezeigt<br />

werden soll. Parallel zur Ausstellung werden an den<br />

25 Orten Zeitzeugengespräche mit Liquidatoren<br />

stattfinden, die das individuelle Ausmaß der Katastrophe<br />

besonders für junge Menschen erfahrbarer<br />

machen. Auch der europäische Verein EUStory<br />

möchte jungen Menschen die Vergangenheit näher<br />

bringen. EUStory organisiert eine Studienreise<br />

nach Belarus, bei der Jugendliche aus ganz Europa<br />

Zeitzeugen treffen und interviewen. Ab September<br />

2010 bietet der Verein ein Internet-Seminar an,<br />

Nr. 48 02 / 10


in dessen Rahmen 60 Jugendliche aus 22 europäischen<br />

Ländern in ihren Heimatorten nach Spuren<br />

von Tschernobyl forschen.<br />

Für den April 2011 plant das IBB jeweils eine<br />

Veranstaltung in Berlin und in Minsk. In Minsk<br />

kommen vom 13. bis 20. April bei der Internationalen<br />

Partnerschaftskonferenz etwa 1500 Menschen<br />

zusammen, darunter viele Zeitzeugen und<br />

Vertreter europäischer <strong>Initiativen</strong>. Die Teilnehmer<br />

werden sich bei der Veranstaltung vernetzen,<br />

in thematischen Arbeitsgruppen diskutieren und<br />

die belarussische Nationalversammlung besuchen.<br />

Das gesamte Projekt endet schließlich mit der Abschlussveranstaltung<br />

„Tschernobyl als europäische<br />

Herausforderung“ (in Kooperation mit der Evangelischen<br />

Akademie zu Berlin) am 26. April 2011 im<br />

Französischen Dom in Berlin, bei der die Ergebnisse<br />

des gesamten Projekts vorgestellt werden. sb<br />

25 Jahre nach Tschernobyl<br />

Das IBB sucht für die Betreuung der Ausstellung und der Zeitzeugen <strong>Initiativen</strong><br />

aus ganz Deutschland. Für den Transport der Ausstellung fallen<br />

voraussichtlich keine Kosten an. Die <strong>Initiativen</strong> müssten Unterkunft und<br />

Verpflegung für den Zeitzeugen stellen. Bei Interesse oder Fragen melden<br />

Sie sich bitte bei Frau Yanina Lyesnyak (lyesnyak@ibb-d.de).<br />

Am Vorabend des Gedenkens<br />

Aktivitäten europäischer <strong>Initiativen</strong> zum 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl<br />

Um das Reaktorunglück von Tschernobyl und seine Folgen nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen, planen viele europäische<br />

<strong>Initiativen</strong> vielfältige Aktionen für das kommende Jahr. Beim Vernetzungstreffen „Am Vorabend des Gedenkens“ am<br />

23. und 24. April 2010 in Dortmund konnten sich die <strong>Initiativen</strong> aus Deutschland, Belarus, der Ukraine, den Niederlanden,<br />

Frankreich, Belgien und Luxemburg über ihre geplanten Aktivitäten austauschen.<br />

Wie kann der 25. Jahrestag der Tschernobyl-<br />

Katastrophe begangen werden, damit die Erinnerung<br />

an das Reaktorunglück auch über das<br />

Jubiläum hinaus wach gehalten wird? Diese und<br />

viele weitere Fragen rund um das Gedenken an<br />

Tschernobyl bewegten um die 60 Vertreter europäischer<br />

<strong>Initiativen</strong> bei einem Vernetzungstreffen<br />

in Dortmund. Die Stichting Rusland Kinderhulp<br />

(www.ruslandkinderhulp.nl) aus den Niederlanden<br />

plant für den Jahrestag ein Vernetzungstreffen<br />

zwischen ihren niederländischen Engagierten<br />

und den belarussischen Partnern. Die<br />

belgische Initiative Les Enfants de Tchernobyl<br />

(www.enfants-de-tchernobyl.be) möchte zum<br />

25. Jahrestag das Buch „Blicke, die sich kreuzen“<br />

publizieren, das insbesondere die interkulturelle<br />

Dimension der Kinderaufenthalte belarussischer<br />

Kinder in Belgien reflektiert. Die luxemburgische<br />

Initiative Parents Accueil de Tchernobyl du Luxembourg<br />

(www.patlux.com) erwägt die Initialisierung<br />

eines gemeinsamen Lobbyprozesses auf EU-<br />

Ebene und ein Vernetzungstreffen mit Vertretern<br />

von <strong>Initiativen</strong> aus allen EU-Ländern, und aus<br />

Belarus und der Ukraine. Auch bei den deutschen<br />

<strong>Initiativen</strong> laufen schon die Vorbereitungen für<br />

den kommenden Jahrestag. Heim-statt Tschernobyl<br />

(www.heimstatt-tschernobyl.org) plant für den<br />

26. April 2011 in der Berliner Gedächtniskirche<br />

einen ökumenischen Gottesdienst sowie in Kooperation<br />

mit der deutschen Sektion des Verbandes<br />

IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung<br />

des Atomkriegs) ein Konzert und eine Lesung in<br />

der Berliner Philharmonie. Zudem sollen bis zum<br />

Sommer 2011 deutschlandweit über hundert Konzerte<br />

zum Gedenken an Tschernobyl stattfinden.<br />

Die Stiftung des Landes Niedersachsen Kinder von<br />

Tschernobyl (www.ms.niedersachsen.de) möchte<br />

einer breiten Öffentlichkeitsarbeit vermitteln, dass<br />

auch 25 Jahre nach Tschernobyl in den betroffenen<br />

Gebieten ein großer Bedarf an Unterstützung<br />

besteht. Dazu plant sie einen Film mit aktuellem<br />

Material aus der Ukraine und aus Belarus, der bei<br />

einer zentralen Gedenkveranstaltung am 26.April<br />

2011 im niedersächsischen Landtag und an Schulen<br />

gezeigt werden soll. Die Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

(BAG) Den Kindern von Tschernobyl (www.<br />

bag-tschernobyl.net) plant neben einer europaweiten<br />

Kerzenaktion eine Friedensfahrt für ein Europa<br />

ohne atomare Bedrohung. Die Fahrt soll in<br />

Minsk beginnen und durch Polen, Deutschland<br />

und eventuell Frankreich führen. Am 26. April<br />

2010 soll die Friedensfahrt in Genf enden, wo vor<br />

dem Sitz der WHO mehr Aufklärung über die Folgen<br />

von Tschernobyl gefordert werden soll. sb<br />

Wer das Vernetzungs-<br />

treffen verpasst hat,<br />

kann sich auf der<br />

Internetplattform<br />

www.ost-westinitiativen.de<br />

mit den<br />

<strong>Initiativen</strong> vernetzen<br />

und Projektideen<br />

austauschen. Dort<br />

wird auch über alle<br />

Veranstaltungen<br />

informiert.<br />

Heim-statt Tscherno-<br />

byl sucht <strong>Initiativen</strong>,<br />

die sich an der Aktion<br />

100 Konzerte zum<br />

Gedenken an Tschernobyl<br />

beteiligen<br />

möchten. Bitte kontaktieren<br />

Sie dafür<br />

Herrn Dietrich<br />

von Bodelschwingh<br />

heim-statt-tschernobyl<br />

@t-online.de.<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 27


NGOs & Gesellschaft<br />

Städte im Dialog<br />

Weltweit gibt es rund 15.000 offizielle Städtepartnerschaften. Die Zahl der informellen Partnerschaften oder Freundschaften<br />

zwischen Städten liegt jedoch noch um ein Vielfaches höher. Gelebt wird diese Partnerschaft zwischen Städten auf der Ebene<br />

der Zusammenarbeit von Stadtverwaltungen und Unternehmen sowie, in erster Linie, auf der Ebene der Bürger – durch Kontakte<br />

von Partnerschaftsvereinen, Schulen, Sportvereinen, Kirchengemeinden und Kulturaustausche.<br />

Peter Franke, Berlin<br />

Peter Franke ist<br />

Vorsitzender des<br />

Bundesverbandes<br />

Deutscher West-Ost-<br />

Gesellschaften<br />

(www.bdwo.de).<br />

28 Belarus Perspektiven<br />

Die Zahl der Städtepartnerschaften zwischen Belarus<br />

und Deutschland ist recht überschaubar: Etwa<br />

19 deutsche und 16 belarussische Städte haben<br />

formelle Partnerschaften mit Städten im jeweils<br />

anderen Land abgeschlossen. Dazu zählen unter<br />

anderem die Partnerschaften zwischen Bonn und<br />

Minsk, Nienburg und Vitebsk, Eisenach und Mogilëv,<br />

Friedrichshafen und Polock. Daneben gibt es<br />

noch eine Zahl von Städtefreundschaften wie zwischen<br />

Wittenberg und Eisenach. Die kommunale<br />

Zusammenarbeit in Form von Städtepartnerschaften<br />

bildet heute eine wichtige Säule des Dialogs<br />

zwischen Deutschland und Belarus. Dabei kann<br />

die Möglichkeit im privaten und beruflichen Umfeld<br />

der Kommune konkrete Projekte zu gestalten,<br />

Städte wie Bürger motivieren, ihr Engagement und<br />

Wissen in eine derartige Partnerschaft einzubringen.<br />

Mit dem Wandel der Städte hat sich auch das<br />

Profil der Zusammenarbeit gewandelt. Die Mehrzahl<br />

der Partnerschaften zwischen deutschen und<br />

belarussischen Städten, wurde ab Mitte der 80er<br />

und bis Mitte der 90er Jahre begründet. Ging es<br />

zunächst darum, nach dem kalten Krieg Brücken<br />

zwischen Ost und West zu bauen, und nahm das<br />

Interesse am östlichen Partner und der Partnerschaftsarbeit<br />

Ende der 80er Jahre stark zu, gerade<br />

auch vor dem Hintergrund der Tschernobyl-<br />

Katastrophe, so haben sich in den letzten Jahren mit<br />

den Veränderungen in Belarus und in Deutschland<br />

auch die Beziehungen der Partnerstädte gewandelt.<br />

Während die Leistung von humanitärer Hilfe, die<br />

insbesondere Anfang bis Mitte der 90er Jahre von<br />

großer Bedeutung war, in den Hintergrund rückte,<br />

traten in den letzten Jahren stärker Aktivitäten in<br />

Kultur und Politik, der Fach-, Schüler- und Jugendaustausch<br />

sowie Kooperationen in der Wirtschaft<br />

und im Umweltschutz in den Vordergrund.<br />

Um die Akteure in ihrer Partnerschaftsarbeit zu<br />

unterstützen und ein Netzwerk zwischen ihnen<br />

aufzubauen, werden seit einigen Jahren Städtepartnerschaftskonferenzen<br />

zwischen den deutschen<br />

und belarussischen Partnerstädten durchgeführt.<br />

Die Konferenzen finden alle zwei bis drei Jahre<br />

im Wechsel in Belarus und in Deutschland statt.<br />

Sie richteten sich zunächst nur an Bürgermeister<br />

und Entscheidungsträger der kooperierenden<br />

Städte. Doch bei den letzten Konferenzen wurden<br />

auch Vertreter von Vereinen, <strong>Initiativen</strong> und<br />

gesellschaftlichen Organisationen einbezogen, die<br />

an der Intensivierung der Zusammenarbeit auf<br />

kommunaler Ebene sowie an der Ausweitung der<br />

Kooperation auf neue Bereiche interessiert sind.<br />

Die Konferenzen versuchen Perspektiven und<br />

Themenfelder für eine intensivere Zusammenarbeit<br />

auf regionaler und kommunaler Ebene sowie<br />

neue Kooperationsmöglichkeiten zwischen Bürgerinitiativen<br />

und Kommunen aufzuzeigen. Denn<br />

die Palette der Projekte von Städten wie Vereinen<br />

ist überaus vielfältig und die Partner können sich<br />

durchaus ergänzen.<br />

Auch bei der siebten Deutsch-belarussischen Städtepartnerkonferenz<br />

vom 16. bis 18. Oktober 2009<br />

in Mogilëv wurde bei allen Diskussionen sichtbar,<br />

wie stark sich das Engagement der Bürgerinitiativen<br />

versachlicht und professionalisiert hat und wie<br />

viel offener die Akzeptanz ehrenamtlicher Arbeit<br />

bei den Kommunalpolitikern und in den kommunalen<br />

Verwaltungen geworden ist. Zwischen der<br />

belarussischen und der deutschen Position gibt es<br />

diesbezüglich graduelle, aber keine prinzipiellen<br />

Unterschiede.<br />

Die existierenden Städtepartnerschaften sind ein<br />

wichtiger institutioneller Rahmen für die Arbeit<br />

von Vereinen und Gesellschaften, zumal gerade die<br />

Arbeit ihrer Mitglieder diese Städtepartnerschaften<br />

mit Leben füllt und sich ein Austausch nicht<br />

allein auf die Verwaltungen beschränkt. Dort, wo<br />

Verwaltungen und Vereine auf beiden Seiten gemeinsam<br />

eine Städtepartnerschaft pflegen, sind<br />

diese tatsächlich auf vielerlei Art lebendig.<br />

Beachtenswert ist, dass etwa seit dem Jahre 2000<br />

deutsche Städte und Gemeinden kaum noch Städtepartnerschaften<br />

schließen, dabei verweisen sie vor<br />

allem auf ihre knappen finanziellen Mittel. Mehr<br />

Nr. 48 02 / 10


und mehr treten die offeneren Formen der binationalen<br />

Freundschaften zwischen Städten an die<br />

Stelle der Städtepartnerschaften. Doch die Erfahrung<br />

zeigt, dass die Form der Städtepartnerschaft<br />

eine Partnerschaft nachhaltiger mit Leben füllt und<br />

die Zusammenarbeit hin zu konkreteren Formen<br />

entwickelt. Daher sollte in Städten nicht nur nachdrücklich<br />

auf eine Vertiefung der bestehenden Partnerschaften<br />

gedrängt, sondern auch der Abschluss<br />

neuer Partnerschaften gefördert werden. Dabei,<br />

und dies müsste für die Städte und Gemeinden interessant<br />

sein, besteht durchaus die Möglichkeit,<br />

dass Vereine und Gesellschaften den Verwaltungen<br />

– angesichts knapper Kassen – Aufgaben in der<br />

Pflege der Städtepartnerschaften abnehmen.<br />

Persönliche Begegnungen von Bürgerinnen und<br />

Bürgern, vor allem aber von Jugendlichen zu<br />

ermöglichen, ist deshalb der erste und überhaupt<br />

wichtigste Schritt in der Partnerschaftsarbeit.<br />

Durch gegenseitiges Kennenlernen können<br />

Freundschaften entstehen, die häufig zu längerer<br />

Zusammenarbeit führen. Und gemeinsam entwickelte<br />

Projekte legen dazu den Grundstein. Die<br />

Themenpalette dieser Projekte ist überaus vielfältig<br />

– Fragen der gemeinsamen Geschichte, des<br />

Tourismus, der Ökologie und des interkulturellen<br />

Dialogs gehören ebenso dazu wie Politik oder<br />

gesellschaftliche Entwicklung.<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

Best Practice: Eisenach und Mogilëv<br />

Seit fast 15 Jahren besteht eine Städtepartnerschaft zwischen Eisenach und Mogilëv. Wie es zu der Partnerschaft kam und wie<br />

sich die Beziehungen gestalten, fragten wir Heike Apel, 1. Vorsitzende des Vereins Eisenacher Städtepartnerschaften.<br />

Das Interview führte Sabrina Bobowski.<br />

Frau Apel, Sie sind in Eisenach für die Städtepartnerschaften<br />

zuständig, darunter auch für die<br />

Partnerschaft mit Mogilëv, die bereits seit 1996 besteht.<br />

Wie kam es zu der Partnerschaft?<br />

Die Städtepartnerschaft entwickelte sich vor allem<br />

durch die Ferienaufenthalte belarussischer Kinder<br />

in Eisenach. Seit vielen Jahren kamen jährlich<br />

Kinder im Sommer für drei Wochen zu uns. Diese<br />

Aufenthalte wurden schließlich zu einer festen<br />

Tradition und zur offiziellen Städtepartnerschaft,<br />

was vor allem der damalige Oberbürgermeister Dr.<br />

Hans-Peter Brodhun initiierte.<br />

Was sind weitere Schwerpunkte der Kooperation?<br />

Neben den Kinderaufenthalten gibt es noch eine<br />

Kooperation mit dem Musikkonservatorium in<br />

Mogilëv. Seit drei Jahren kommen belarussische<br />

Studenten zu einem dreiwöchigen Musikpraktikum<br />

nach Eisenach. Sie verbringen ihre Zeit im<br />

Bachhaus und in der Musikschule, wo sie ihre musikalischen<br />

Kenntnisse und Fähigkeiten ausbauen.<br />

Daneben kooperieren unsere Städte auch im<br />

wirtschaftlichen Bereich, insbesondere durch den<br />

Technologiepark Gründer und Innovationszentrum<br />

(GIS).<br />

Der Technologiepark Mogilev, der von einer Eisenacher<br />

Firma mit aufgebaut wurde, gilt als besonders<br />

erfolgreiches deutsch-belarussisches Projekt.<br />

Wie kam es zu dieser Kooperation?<br />

Das Gründer- und Innovationszentrum aus Eisenach<br />

bewarb sich damals bei der Kreditanstalt<br />

für Wiederaufbau und der Arbeitsgemeinschaft<br />

Deutscher Technologiezentren e.V. um eine Förderung<br />

für den Aufbau eines belarussischen Technologieparks.<br />

Der Technologiepark entstand 1996<br />

als eine deutsch-belarussische Kooperation in Mogilëv.<br />

Das Projekt ist längst abgeschlossen, aber der<br />

Kontakt zwischen dem GIS und dem Technopark<br />

besteht nach wie vor. Erst im vergangenen Herbst<br />

besuchte eine deutsche Wirtschaftsdelegation Mogilëv,<br />

um weitere Kontakte mit Unternehmen vor<br />

Ort zu knüpfen.<br />

Frau Apel, wie soll sich die Partnerschaft zwischen<br />

Eisenach und Mogilev in den nächsten zehn Jahren<br />

Ihrer Ansicht nach gestalten?<br />

Zehn Jahre ist eine lange Zeit, aber ich wünsche<br />

mir, dass das Niveau der Städtepartnerschaft bleibt<br />

und dass es schrittweise weiter ausgebaut wird. Vor<br />

allem die zwischenmenschlichen Beziehungen<br />

sollten sich weiter vertiefen, denn so funktioniert<br />

eine gute Städtepartnerschaft!<br />

Heike Apel im Dienst.<br />

Foto: eisenach.de<br />

Weitere Informatio-<br />

nen finden Sie unter<br />

www.eisenach.de,<br />

www.vesp.eisenachonline.de.<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 29


NGOs & Gesellschaft<br />

ewoca³ im Landtag NRW<br />

ewoca³, ein einzigartiges Förderprogramm für internationale<br />

Jugendarbeit in Nordrhein-Westfalen, war bis zum 16. April<br />

2010 Thema einer Ausstellung im Düsseldorfer Landtag. Landtagspräsidentin<br />

Regina van Dinther sagte bei der Eröffnung<br />

der Ausstellung am 24. März vor Landtagsabgeordneten und<br />

geladenen Gästen: „Ich finde die Idee des Internationalen <strong>Bildungs</strong>-<br />

und Begegnungswerks und der Stiftung Mercator großartig,<br />

Jugendeinrichtungen in Europa zu vernetzen und damit<br />

die interkulturelle wie soziale Kompetenz junger Menschen zu<br />

fördern.“ Auf 20 Tafeln vermittelt die Ausstellung Eindrücke<br />

von den internationalen Workcamps in Nordrhein-Westfalen<br />

Ausstellung von Leonid Levin in Berlin<br />

„Letzten Endes kommt es darauf an, dass wir unsere Herzen<br />

zu Orten der Erinnerung machen.“ Mit diesen Worten<br />

eröffnete Staatssekretär Michael Mertes am Mittwoch, 27.<br />

Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, die Ausstellung<br />

„Wider das Vergessen! Gedenkorte in Belarus“ mit<br />

Werken des belarussischen Künstlers Leonid Levin in der<br />

NRW-Landesvertretung in Berlin. Das IBB hatte diese Ausstellung<br />

in Kooperation mit der NRW-Landesvertretung in<br />

Berlin realisiert. Unter den rund 200 Gästen begrüßte Mertes<br />

besonders Christina Rau, die Witwe des vor vier Jahren<br />

Neues Lehrbuch erschienen<br />

Am 19. März wurde zum siebten Jahrestag der Geschichtswerkstatt<br />

Minsk das Lehrbuch „Gerettetes Leben: Leben und<br />

Überleben im Minsker Ghetto“ in der IBB Minsk präsentiert.<br />

Das Buch arbeitet vor allem mit Erinnerungen von Zeitzeugen<br />

des Zweiten Weltkrieges, wodurch Schülern jenseits abstrakter<br />

Opferzahlen, die Tragödie jener schrecklichen Ereignisse nahe<br />

gebracht wird und sie die Leiden jener Menschen begreifen<br />

können, die zu Geächteten und Kriegsgefangenen wurden. Allerdings<br />

werfen Erinnerungen auch viele Fragen auf, die unmittelbar<br />

mit der Weitergabe von Erfahrung der älteren Generation<br />

an die jüngere Generation verbunden sind. Die IBB Minsk<br />

wurde am 19. März zum Diskussionsort dieser und anderer<br />

Fragen zwischen Zeitzeugen, Lehrern und Schülern. Das im<br />

30 Belarus Perspektiven<br />

Mechthild vom Büchel, Dortmund<br />

und den europäischen Partnerländern im Jahr 2009. 13 Jugendeinrichtungen<br />

aus Nordrhein-Westfalen hatten 2009 zum<br />

ersten Mal an dem auf drei Jahre angelegten Förderprogramm<br />

teilgenommen, das die Stiftung Mercator mit 1,75 Millionen<br />

Euro fördert. Programmleitung und -koordination obliegem<br />

dem IBB, das unter anderem die Einrichtungen dabei betreute,<br />

Kontakte zu je zwei Partnerländern in Europa zu knüpfen.<br />

In drei aufeinander folgenden Jahren kommen Jugendliche im<br />

Alter von 16 bis 23 Jahren aus drei verschiedenen Ländern für<br />

jeweils drei Wochen in Workcamps zusammen und arbeiten an<br />

ökologischen, gemeinnützigen Projekten. www.ewoca.org<br />

Mechthild vom Büchel, Dortmund<br />

verstorbenen ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau,<br />

der sich unter anderem auch für den deutsch-belarussischen<br />

Dialog eingesetzt hatte. Der heute 73-jährige Künstler und<br />

Architekt Leonid Levin hat seit den 60-er Jahren mehr als 20<br />

Gedenkstätten in Belarus und Russland geschaffen, die die<br />

Tragödie des Krieges und des Holocaust symbolisieren und<br />

nachfühlbar machen. „Wenn ein Besucher die Gedenkstätte<br />

verlässt und vergisst, was er dort gesehen hat, habe ich mein<br />

Ziel verfehlt“, hat Levin selbst seine künstlerische Intention<br />

beschrieben.<br />

Nina Špakovskaja, Minsk<br />

Rahmen der Tätigkeit der Geschichtswerkstatt herausgegebene<br />

Buch „Gerettetes Leben: Leben und Überleben im Minsker<br />

Ghetto“ umfasst die Schicksalsgeschichten von vier Menschen,<br />

zwei Häftlingen des Minsker Ghettos und zwei Gerechten<br />

unter den Völkern der Welt. Die im Lehrbuch angewendete<br />

Oral History-Methode ist eine persönliche Herausforderung<br />

für die beiden Gesprächspartner, die sich in einen intensiven<br />

persönlichen Dialog begeben. Dadurch wird das Interview zu<br />

mehr als einer Wissensquelle: es erschließt neue Perspektiven<br />

in der Interpretation von historischen Ereignissen und es bereichert<br />

die Sozialgeschichte, indem es eine Vorstellung über<br />

das Alltagsleben und die Mentalität sogenannter „einfacher<br />

Menschen“ gibt.<br />

Nr. 48 02 / 10


Kultur & Wissenschaft<br />

Good as you? Homosexualität in Belarus<br />

Jeanna Krömer, Wien<br />

Am 1. Februar 2010 ist die erste Nummer der<br />

Online-Zeitschrift „GAY: good as you“ in belarussischer<br />

Sprache erschienen. Der hauptverantwortliche<br />

Redakteur Sergej Pradzed meint, er sei zwar<br />

nicht der einzige Medienvertreter, der sich in Belarus<br />

dem Thema Homosexualität zuwende. Wohl<br />

aber sei er der Erste, der beabsichtige, regelmäßig<br />

Original-Artikel und Fotos der eigenen Autoren<br />

zu publizieren. Ein großer Schritt, denn „die Gesellschaft<br />

ist immer noch intolerant. Immerhin<br />

sind viele inzwischen bereit, das Thema offen zu<br />

diskutieren“ so Sergej Androsenko, der Vorsitzende<br />

des Rechtschutzprojekts „Gay Belarus“. Gemäß der<br />

„Greenwood Encyclopedia of LGBT Issues Worldwide“<br />

(Lesbian, Gay, Bisexual und Trans) von 2009<br />

ist der Umgang mit sexuellen Minderheiten in Belarus<br />

nach wie vor bedenklich. Zwar schaffte der<br />

belarussische Staat 1994 den Artikel 119 und die<br />

entsprechende Kriminalisierung von freiwilligen<br />

homosexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen<br />

ab – in den Köpfen vieler Beamter hat sich seitdem<br />

jedoch nichts verändert. Es kommt immer wieder<br />

vor, dass sich Parlamentarier für die Wiedereinführung<br />

des Artikels aussprechen.<br />

Auch in oppositionellen Kreisen stößt man regelmäßig<br />

auf homophobe Aussagen. So erhielten<br />

erst kürzlich mehrere belarussische Menschenrechtsorganisationen<br />

wie der Dachverband NGO-<br />

Assembley, das Menschenrechtszentrum Ves‘na<br />

und das Belarussische Helsinki-Komitee einen<br />

Brief von dem oppositionellen Aktivisten Aleksandr<br />

Strel‘cov-Karvackij, in dem er die Organisationen<br />

aufforderte, die „traditionellen Werte der<br />

belarussischen Familie zu respektieren“ und von<br />

der Unterstützung Homosexueller abzusehen. Für<br />

besonderes Aufsehen sorgte vor einem Jahr der<br />

Vorsitzende der oppositionellen Jugendorganisation<br />

Junge Front, Dmitrij Daškevič, der in einem<br />

Interview Homosexuelle als Vertreter des Teufels<br />

bezeichnete.<br />

Es gibt jedoch auch Hoffnungsschimmer. In der<br />

Bevölkerung beispielsweise scheint sich das Ansehen<br />

sexueller Minderheiten erheblich verbessert zu<br />

haben: Während 2002 noch 47 Prozent der Belarussen<br />

Homosexuelle als Verbrecher einstuften,<br />

hat sich diese Zahl bis 2007 auf nur 12 Prozent<br />

reduziert. Auch war Belarus das erste postsowjeti-<br />

sche Land, in dem Aktionen zur gleichgeschlechtlichen<br />

Liebe stattfanden, so beispielsweise der Belarus<br />

Gay Pride March, bei dem 2001 um die 300<br />

Teilnehmer über den Hauptprospekt in Minsk spazierten.<br />

„Natürlich ist es kein Dreimillionenkarneval<br />

wie in Brasilien, aber für eine konservative Republik<br />

der ehemaligen UdSSR war das schon ein<br />

ziemlich beeindruckendes Ereignis“, findet Sergej<br />

Androsenko.<br />

Für den 15. Mai ist der zweite Slavic Gay Pride in<br />

Minsk geplant, doch ob die Behörden ihre Zustimmung<br />

zu dem Event erteilen, scheint noch ungewiss<br />

– obwohl die Entscheidung mehr als überfällig ist.<br />

Laut Umfragen von 2009 stören sich 42 Prozent<br />

der Einwohner von Minsk nicht an öffentlichen<br />

Veranstaltungen der LGBT-Szene in der Hauptstadt.<br />

„Die Anzahl der Leute, die positiv oder<br />

neutral zu den öffentlichen Aktionen der LGBT-<br />

Bewegung in Minsk eingestellt sind, nähert sich<br />

der 50-Prozent-Marke. Das ist deutlich mehr, als<br />

in Moskau“ – so Nikolaj Alekseev, Leiter des russischen<br />

Projekts GayRussia.ru und Mitorganisator<br />

des Slavic Gay Prides in Minsk. Im Vergleich zu<br />

den Nachbarn im Osten scheinen die Belarussen<br />

in den vergangenen Jahren also toleranter geworden<br />

zu sein. Gesellschaftlicher Konsens ist diese<br />

Toleranz aber bei weitem noch nicht. Wie sich die<br />

Lage für gleichgeschlechtliche Paare in den nächsten<br />

Jahren entwickeln wird, hängt wohl wesentlich<br />

davon ab, in welche Richtung es insgesamt für Belarus<br />

geht: nach Osten oder nach Westen.<br />

Documents, please!<br />

Der LGBT-Aktivist<br />

Nikolaj Alekseev mit<br />

einer transsexuellen<br />

Braut beim Slavic<br />

Pride 2009 in Moskau.<br />

Foto: Nikolaj Alekseev<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 31


Kultur & Wissenschaft<br />

Ob das gelingt?<br />

Der bekannteste belarussische Rockmusiker Lavon Volski über das Regime Lukašenko, die belarussische Musikszene und die<br />

zögerliche Liberalisierung in Belarus.<br />

Das Gespräch führte Ingo Petz.<br />

Petz und Volski im<br />

Doppelpack<br />

Foto: Ingo Petz<br />

32 Belarus Perspektiven<br />

Herr Volski! Als einer der Begründer der belarussischen<br />

Rockmusik prägen Sie die Musikgeschichte<br />

Ihres Landes seit fast 30 Jahren. Das ist eine lange<br />

Zeit für ein Land, das nahezu keine Musikindustrie<br />

hat.<br />

Na ja. Selbst auf dieser speziellen belarussischen<br />

Bühne gibt es Künstler und Musiker, die älter als ich<br />

sind. Außerdem unterscheiden sich die Bedingungen,<br />

unter denen so genannte Pop- und Rockstars<br />

wie ich leben und arbeiten, im Westen und in Belarus<br />

gewaltig. Bei uns gibt es keine monatelangen<br />

Touren. Es gibt keine Paparazzi, die dir das Leben<br />

zur Hölle machen. Man muss sich nicht in todlangweiligen<br />

Fernseh-Shows verdingen. Und natürlich<br />

verdient man kein großes Geld. Das alles sichert ein<br />

langes Überleben. So hat selbst die belarussische<br />

Musikszene ihre positiven Seiten. (lacht).<br />

Als der berühmteste Rockstar in Belarus führen Sie<br />

ein sehr bescheidenes Leben. Welche speziellen Herausforderungen<br />

bringt die belarusische Musikszene<br />

mit sich?<br />

Die Situation ist tatsächlich sehr spezifisch. Es gibt<br />

kaum Know-how über moderne Techniken. Das betrifft<br />

weniger den Aufnahme- und Studio-Bereich<br />

als vielmehr die Produktion, das Management,<br />

Marketing und PR. Professionalität ist selten. Bei<br />

uns gibt es keine bedeutenden Labels. Niemand investiert<br />

großes Geld in die Musik. Selbst wenn man<br />

viele Fans hat, kann man keine großen Gewinne erwarten.<br />

Unsere CDs müssen wir selbst finanzieren<br />

und produzieren. Das fertige Produkt geht dann an<br />

ein Label, das im Allgemeinen nur für die Distribu-<br />

tion zuständig ist. Dennoch sind wir zuversichtlich,<br />

dass wir die Situation verbessert haben und weiterhin<br />

verbessern werden.<br />

Warum haben Sie Anfang der Achtziger begonnen,<br />

Rockmusik auf Belarussisch zu schreiben?<br />

Als ich 16 Jahre alt war, wollte ich etwas machen,<br />

was noch niemand getan hatte. Wir haben schnell<br />

gemerkt, dass wir keine genialen Musiker werden,<br />

die sich durch ihre fantastische Technik auszeichnen.<br />

Mit dem Belarussischen konnten wir aber einen<br />

Unterschied machen. Sie hob uns selbst von den<br />

qualitativ hochwertigen Bands im Land ab.<br />

1994, im Jahr als Aleksandr Lukašenko zum Präsidenten<br />

gewählt wurde, gründeten Sie die Band<br />

N.R.M., die schnell zur populärsten Gruppe des<br />

Landes wurde. Welche Idee steckte hinter der Gründung?<br />

Wir wollten etwas Neues, Attraktives und Alternatives<br />

schaffen. So gründeten wir nicht nur eine Gruppe,<br />

sondern einen ganzen Staat: Die unabhängige<br />

Republik der Träume, N.R.M. eben. Mit nicht nur<br />

vier Band-Mitgliedern, sondern vier Ministern. Zu<br />

jener Zeit passierten so viele unerfreuliche Dinge in<br />

Belarus, dass ich beschloss, mir mein eigenes Land<br />

im Land zu erschaffen. Ein Land, wo man sich vor<br />

der Wirklichkeit verstecken kann. Wie sich herausstellte,<br />

gefiel das nicht nur mir, sondern auch vielen<br />

jungen Belarussen.<br />

Mit der Band N.RM. spielten Sie sich an die Spitze<br />

der kritischen belarussischsprachigen Rockmusik.<br />

Ihre Songs wurden zu Hymnen und durften schließlich<br />

nicht mehr im Radio gespielt werden, ihre Konzerte<br />

wurden verboten. War dies eine schwere Zeit<br />

für Sie?<br />

Es ist immer schwer, wenn man vor seinem Publikum<br />

nicht mehr auftreten kann. Ich war deprimiert,<br />

sogar depressiv. Wir standen wohl auf einer „schwarzen<br />

Liste“, und uns wurden Fernseh- und Radioauftritte<br />

verwehrt (ganz abgesehen davon, dass die Rotation<br />

noch nie unser Hauptziel war), alle Interviews<br />

und Konzerte wurden gecancelt. Ich hätte mich auf<br />

Nr. 48 02 / 10


Musik konzentrieren können, bin aber in eine Krise<br />

gerutscht – eine Schreibblockade, es klappte überhaupt<br />

nichts... ich war wütend auf unsere Obrigkeit,<br />

alles wurde in dieser Zeit zum Politikum. Solche<br />

Verbote sind immer zum Scheitern verurteilt. Jeder,<br />

der verbietet, verliert im Endeffekt. Nehmen Sie<br />

die Alkoholprohibition in den USA oder Mitte der<br />

Achtziger die in der Sowjetunion. So ist es auch bei<br />

der absurden Untersagung eines kreativen Produkts.<br />

Man muss sich das mal vorstellen. Jemand geht zur<br />

Arbeit, um sich in seinem Büro an den Tisch zu setzen<br />

und dann ein Lied oder ein Gedicht zu verbieten.<br />

Das ist doch zum Lachen - und zum Heulen.<br />

Mit dem Beginn des neuen Millenniums haben Sie<br />

andere Projekte begonnen. So gründeten Sie die<br />

Band „Krambambulya“, die tanzbare Musik spielte<br />

– zu absurden, komischen Texten, die anders als<br />

bei N.R.M. nicht gesellschaftskritisch waren. Viele<br />

Ihrer Fans warfen Ihnen vor, unpolitisch und soft<br />

geworden zu sein. Mit welcher Absicht haben Sie<br />

„Krambambulya“ auf die Beine gestellt?<br />

Das ist komisch, aber in Belarus gab es damals keine<br />

lustigen, verrückten und durchgeknallten Musikprojekte.<br />

Nur die Band „Lyapis Trubeckoj“, aber die<br />

arbeitete mehr in Richtung Russland. Deshalb habe<br />

ich beschlossen, so eine Band zu gründen. Für ein<br />

breites Publikum. Für einfache Leute, die Spaß haben<br />

und tanzen wollen. Unser Lied „Gosci“ kennen<br />

seitdem sehr viele Menschen. Und immerhin ist es<br />

auf Belarussisch. So haben wir auch das Belarussische<br />

in gewisser Weise popularisiert.<br />

Ihre Musik wird weitgehend als oppositionell gegenüber<br />

dem Regime Lukašenko verstanden. Sehen Sie<br />

sich als Teil der Opposition?<br />

Ja, ich bin oppositionell eingestellt – und zwar gegenüber<br />

Grobheiten, Angst, Heuchelei, Lügen, Agitation<br />

und Propaganda, Dummheiten und Hysterie<br />

– all das und Ähnliches begleitet uns bereits seit<br />

über 15 Jahren.<br />

Können Sie erklären, warum das Regime Lukašenko<br />

derart stabil und langlebig ist?<br />

Dass das Regime bereits 15 Jahre existiert und nicht<br />

zusammengebrochen ist, verdient an sich schon eine<br />

gewisse Beachtung. In dieser Zeit war keine vom<br />

Westen gestützte Opposition erfolgreich. Es gibt<br />

einiges, über das man ins Grübeln geraten könnte.<br />

Aus dem Westen sind große Gelder in die belarussische<br />

Politik geflossen. Und das Ergebnis? Gleich<br />

null. Zur selben Zeit musste die Kultur in einer<br />

miserablen isolierten Situation existieren. Aber immerhin<br />

ist daraus etwas entstanden. Und was die<br />

Stabilität des Regimes angeht: diejenigen, die schon<br />

in den ersten Jahren dagegen waren, sind aufgezehrt<br />

worden oder sie haben sich längst mit der Situation<br />

arrangiert. Und wer sich nicht arrangiert hat, hat<br />

das Land verlassen. Die meisten hier interessieren<br />

sich für solche elementaren Dinge wie Freiheit, Demokratie<br />

oder die europäische Integration einfach<br />

nicht. Anfang der Neunziger haben die Menschen<br />

darum förmlich gebettelt. Heute aber kauft man<br />

lieber Autos zu Wucher-Krediten. Es scheint anormal.<br />

Aber den Menschen gefällt das. Dass sie nicht<br />

nachdenken, nicht die Initiative ergreifen müssen.<br />

Für dich entscheiden die da oben. Sie sagen dir, was<br />

du zu tun hast. Du bekommst ein Gehalt, kein großes,<br />

aber ein stabiles. Die Menschen haben sich mit<br />

diesem Leben arrangiert. Sie fürchten die Veränderung.<br />

Denn es könnte ja plötzlich alles noch schlechter<br />

werden.<br />

Seit einiger Zeit gibt es eine vorsichtige Annäherung<br />

zwischen der EU und Belarus und demzufolge eine<br />

zögerliche wirtschaftliche Liberalisierung. Was halten<br />

Sie von dieser Entwicklung?<br />

Ich wiederhole noch einmal, dass eine Politik der<br />

Verbote und Sanktionen nicht funktioniert. Was ändert<br />

sich schon im globalen Sinne, wenn man den<br />

Regime-Leuten verbietet, in den Westen zu fahren?<br />

Nichts. All die Jahre haben die USA und die EU<br />

sich an unsere Opposition gehalten. Konkrete Resultate<br />

oder Veränderungen hat dies nicht erbracht.<br />

Nun versucht man also mit dem Regime zu verhandeln,<br />

um Veränderungen herbeizuführen. Ob das<br />

gelingt? Mal sehen. Aber dass wir wieder auftreten<br />

dürfen, dass manche Zeitungen wieder an den Kiosken<br />

erhältlich sind, dass einige politische Gefangene<br />

freigelassen wurden, all das sind durchaus positive<br />

Entwicklungen dieser neuen Politik. Trotzdem,<br />

bald sind bei uns Präsidentschaftswahlen, und vor<br />

Wahlen ist es bei uns üblich, die Daumenschrauben<br />

wieder anzuziehen…<br />

Kultur & Wissenschaft<br />

Blog von Lavon<br />

Volski (Belarussisch):<br />

http://lvolski.livejournal.com<br />

Polnische Seite von<br />

N.R.M.:<br />

www.nrm.info.pl<br />

Projekt von Volski:<br />

www.lvolski.com<br />

Lavon Volski, 1965 in Minsk geboren, ist der bekannteste belarussische<br />

Rockmusiker und Songschreiber. Anfang der Achtziger gründete er die<br />

Band Mroya (Träume), die als erste belarussischsprachige Rockband vom<br />

sowjetischen Staatslabel Melodija produziert wurde. Mit der Band N.RM.<br />

(Die unabhängige Republik der Träume) schrieb er Lieder, die heute als<br />

Hymnen der Oppositionskultur gelten. Zudem gründete er Projekte wie<br />

Krambambulya oder Zet und wirkte an musikalischen Projekten wie<br />

„Narodny Albom“ (Das Volksalbum) oder „Ja Naradziusia Tut” (Ich bin<br />

hier geboren) mit. Er malt und schreibt Gedichte und Prosa.<br />

02 / 10 Nr. 48 Belarus Perspektiven 33


Kultur & Wissenschaft<br />

Rammstein ist für alle da!<br />

Am 7. März stellte die deutsche Metal-Band Rammstein in Minsk ihr neuestes Album „Liebe ist für alle da” vor. Nicht alle<br />

Belarussen freuten sich über den Auftritt der deutschen Provokateure.<br />

Aleksej Šota, Grodno<br />

Foto: Matt Foster<br />

34 Belarus Perspektiven<br />

Belarus ist weder mit vielen weltberühmten Bands<br />

gesegnet, noch gehören Auftritte von Stars wie Rammstein<br />

zum kulturellen Alltag des Landes. Nicht häufig<br />

bekommt man eine 140-köpfige Crew und eine zwei<br />

kilometerlange Schlange mit Equipment-Fahrzeugen<br />

auf den belarussischen Straßen zu sehen. Allein die<br />

Tatsache, dass die deutschen Musiker nach Minsk<br />

kamen, hätte also für ein gewaltiges Medienecho<br />

sorgen müssen. Statt dessen schob sich der „Gesellschaftliche<br />

Moralrat“ – nach dem bis dato kein Hahn<br />

gekräht hatte – in den Mittelpunkt des Geschehens.<br />

„Diese Gruppe propagiert unverhüllt Homosexualität,<br />

Masochismus und andere Perversionen, Grausamkeit,<br />

Gewalt und unwürdiges Gezeter” – so die<br />

Hüter der belarussischen Moral. Der Rat war 2009 mit<br />

Unterstützung des Präsidenten von der belarussischen<br />

orthodoxen Kirche und dem pro-staatlichen Schriftstellerverband<br />

gegründet worden und sollte über die<br />

Belarus Inside Out<br />

Bestellung des<br />

Journals bei<br />

Olga Jungius<br />

smirolga@gmail.com<br />

Im August 2009 trafen in dem kleinen belarussischen<br />

Dorf Berdauka im Nordwesten des Landes zehn<br />

junge Fotografen, Journalisten, Sound-Künstler und<br />

Comiczeichner aus allen Winkeln der EU auf zehn<br />

junge belarussische Journalisten, Fotografen und Studenten.<br />

Die beiden Gruppen standen vor einer großen<br />

Herausforderung: in nur zehn Tagen sollten die Gäste<br />

aus der EU in die belarussische Realität eintauchen<br />

und so ein anderes Land kennen lernen als das aus<br />

den europäischen Medien bekannte repressive, unfreie<br />

Belarus. Auf der Grundlage der Eindrücke sollte<br />

ein gemeinsames Journal entstehen. In kleinen Zweiergruppen<br />

aus einem Belarussen und einem Landes-<br />

öffentliche Moral in Belarus wachen. Da bot Rammstein<br />

wohl einen guten Anlass. „Sie [Rammstein]<br />

werden die noch sehr fragile belarussische Identität<br />

einreißen und zerstören, die Erinnerung an den Sieg<br />

und seine Helden zertreten und letzten Endes die<br />

belarussische Staatlichkeit zerstören.“ Harte Vorwürfe<br />

gegen eine Metal-Band, die wohl kaum nach Minsk<br />

gekommen war, um es zu zerstören und den belarussischen<br />

Staat in Schutt und Asche zu legen. Trotz<br />

Moralgezeter kam es, wie es kommen musste, und<br />

das Konzert fand am 7. März wie geplant in Minsk<br />

statt. Die Meinungen der Fans bewegten sich am<br />

Folgetag zwischen „super“ und „grandios“. Nachdem<br />

Rammstein die Minsk Arena nun ‚entweiht‘ haben,<br />

erwartet die belarussischen Fans bald ein Konzert<br />

der deutschen Bands „Scorpions“. Doch der „Wind<br />

of Change“ wird wohl kaum so viel Wind aufwirbeln<br />

wie die Schwarzen Männer von Rammstein.<br />

Olga Jungius, Berlin<br />

fremden zogen die wissbegierigen Medienmacher mit<br />

individueller Roadmap durchs Land. Kann Minsk als<br />

Freilichtmuseum sowjetischer Architektur Touristen<br />

anziehen? Wo befindet sich der europäische Amazonas<br />

und was ist aus den Sümpfen und Mooren geworden,<br />

die einst ein Drittel des Landes bedeckten? Was<br />

sind die Kosten der kostenlosen Hochschulbildung?<br />

Warum ist es für belarussische Rockmusiker so wichtig,<br />

auf Belarussisch zu singen? Wie lebt es sich als<br />

Rentnerin oder Homosexueller in Minsk? Antworten<br />

auf diese Fragen und eine fotografische Reise durch<br />

das unbekannte Belarus, finden Sie in dem Journal<br />

„Belarus Inside Out. Belarus‘ znutry i zvonku“.<br />

Nr. 48 02 / 10


IMPRESSUM<br />

HERAUSGEBER<br />

Peter Junge-Wentrup, IBB Dortmund<br />

REDAKTION<br />

Sabrina Bobowski, Berlin<br />

Martin Schön, IBB Dortmund<br />

Dr. Edith Spielhagen, Berlin<br />

Dorothea Wolf, Minsk<br />

ART DIRECTOR/LAYOUT<br />

Grit Tobis (www.grittobis.com)<br />

ANSCHRIFT DER REDAKTION<br />

<strong>Internationales</strong> <strong>Bildungs</strong>- und<br />

Begegnungswerk gGmbH<br />

Bornstr. 66<br />

44145 Dortmund<br />

Tel. 0231 9520960<br />

E-Mail: info@ibb-d.de<br />

Website: www.ibb-d.de<br />

ÜBERSETZUNGEN<br />

Sabrina Bobowski, Berlin<br />

DRUCK<br />

druckwerk gmbh, Dortmund<br />

VERTRIEB<br />

Einzelverkauf: 4 Euro,<br />

Jahresabonnement inkl. Versand: 15 Euro.<br />

LESERBRIEFE:<br />

belarusperspektiven@ibb-d.de<br />

Gekennzeichnete Artikel entsprechen nicht<br />

unbedingt der Meinung der Redaktion.

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