aia 1 pdf - Slavko Kacunko

In allen Fiktionen entscheidet sich ein
Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten
für eine und eliminiert die
anderen; im Werk des schier unentwirrbaren
Ts’ui Pên entscheidet er sich –
gleichzeitig – für alle. Er erschafft so verschiedene
Zukünfte, verschiedene Zeiten,
die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen.*
Jorge Luis Borges
1941 imaginiert Borges nicht nur die Auflösung
des linearen Erzählens im ›unendlichen
Buch‹, sondern geradezu prophetisch
die Wucherungen des nicht-linearen Erzählens.
Als Literat und Archivar hätte
Borges gewußt, daß sich für zukünftige
Generationen auch eine unscheinbare CD-
ROM als von unschätzbarem (Sammler-)
Wert erweisen kann, so sie denn einen
Schatz birgt. Zur Eröffnung des eigenen
Hauses im Oktober 1997 kann das ZKM/
Zentrum für Kunst und Medientechnologie
inzwischen auf eine Sammlung von Kunstschätzen
ganz spezieller Art blicken: artintact
ist eines der wenigen originären Beispiele
spezifischer Konzepte für das
Medium CD-ROM, wie sich immer deutlicher
zeigt. Was sich bei der zweiten Ausgabe
noch als ›kleine Galerie‹ darstellte, ist
mit nunmehr vier Editionen ein facettenreicher
Querschnitt der Medienkunst. Jede
Edition wirft ein anderes Licht auf Ideen
und Konzepte künstlerischer Praxis angesichts
der vielfältigen Verzweigungen, die
das Medium programmatisch bietet.
Das ZKM widmet sich dezidiert dem Experimentieren/Produzieren
und dem Sammeln.
Dieses auch kritisch zu reflektieren
und diskutierend zu begleiten, darin liegt
der Erfolg von vier Jahren artintact. Der
Editorial
Internationale Videokunstpreis, von ZKM
und Südwestfunk ebenfalls im jährlichen
Turnus vergeben, kann 1997 auf eine sechsjährige
Tradition zurückblicken. Im Zuge
der diesjährigen Öffnung des Preises auch
für CD-ROM und Internet-Kunst fügt es
sich aufs beste, daß diese beiden ZKM-
Initiativen zur Förderung und Verbreitung
von Medienkunst nun eine synergetische
Verbindung eingehen, denn mit Dieter
Kiessling und Marina Grzˇinić &Aina Sˇ mid
sind ehemalige Preisträger vertreten, wobei
letztere mit ihrem Werk für artintact endlich
den ihnen bereits 1993 zugesprochenen
Förderpreis umsetzen konnten.
Die Erzählung als die Realisation einer
zeitlichen Folge von Ereignissen wird im
barocken Universum der beiden Sloweninnen
Grzˇinić & Sˇ mid zu einem lehrreichen
Pfad durch die europäische Geschichte.
Dieter Kiesslings minimalistische Konzeptkunst
operiert mit dem Dualismus linearen
Erzählens, das nur immer neue Anfänge
kennt. Anja Wieses Semantik aus Licht und
Ton ist dagegen eher raumbezogen und ein
weiteres Beispiel der Modifikation eines
Installationsprojekts für die interaktive
Fläche. Bei allen Künstlern handelt es sich
um Premieren insofern, als sie hier erstmals
interaktive Kunstwerke geschaffen haben –
die jedoch nicht so sehr spielerisch als vielmehr
kritisch die Parameter unserer Entscheidung
für einen bestimmten Weg in der
Zeit und im Raum analysieren.
Rudolf Frieling
Kurator der ZKM/Mediathek 1994–2001
* Jorge Luis Borges: ›Der Garten der
Pfade, die sich verzweigen.‹ – Fiktionen.
Erzählungen, Frankfurt/M., 1992, S. 86.
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